Die Urenkelin des Aurëus - Sina Blackwood - E-Book

Die Urenkelin des Aurëus E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Seit Stella, die bislang stärkste Elfe, in die Gedanken des Succubus Lahara eingedrungen ist, und dessen Erinnerungen völlig durcheinandergebracht hat, kann er seine Dimension nicht mehr verlassen. Der Aurëus-Clan lebt nun in trügerischer Sicherheit, weil niemand weiß, wie lange der Zauber Stellas die männermordende Bestie fernhalten kann. Thomas gelingt es, die Elfe für sich zu gewinnen, und bald schon kündigt sich Nachwuchs an. Als ihre Tochter, Viola, geboren wird, geschieht das Unfassbare - böse Energien, die der Traumfänger der kleinen Elfe aufhalten kann, kündigen an, dass in Kürze wieder mit Lahara zu rechnen ist. Viola, von Geburt an noch mächtiger als alle anderen Aurëus-Elfen, macht sich kampfbereit.

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Inhaltsverzeichnis

Die Schöne und das Biest

Zufallstreffen

Die Jagd beginnt

Zeus in Nöten

Energieausbrüche

Showdown

Zeit für Freunde

Abenteuer auf der Insel der Winde

Auf der Suche nach Lars’ Leier

Lösegeld für Ares

Rückkehr in die Menschenwelt

Urlaubsvergnügen

Überraschung gelungen

Flitterwochen

Kindersegen

Weitreichende Entscheidungen

Der Apfel fällt nicht weit vom Baum

Große Gefühle

Die Schöne und das Biest

Stella, die Halbelfe, und Thomas, der Unsterbliche, hatten sich ins Strohlager im Schutz der Drachenhöhle zurückgezogen.

Die beiden Hausherren, die Drachen Zephyra und Pyron, hockten aufgeregt in der Hauptgrotte und warteten. Wenn sie Stella richtig verstanden hatten, dann sollte in dieser Nacht noch deren und Thomas’ gemeinsames Baby geboren werden. Noch unruhiger war nur der werdende Vater, dem tausend überflüssige Fragen durch den Kopf spukten.

Mit den Worten: „Keine Sorge, wir sind hier im Elfenreich“, versuchte ihn Stella, auf andere Gedanken zu bringen.

„Weiß ich doch alles! Ich kann nur meine menschliche Herkunft und die so gemachten Erfahrungen nicht einfach beiseiteschieben“, seufzte Thomas, liebevoll ihre Hand streichelnd. „Ich versuche doch schon, ganz entspannt zu sein.“

Stella lächelte milde. Sie konnte ihn sehr gut verstehen. Auf sein ungläubiges Staunen, wie die Geburt einer Blumenelfe vonstattengehen werde, freute sie sich schon die ganze Zeit. „In ein paar Minuten ist es soweit“, flüsterte sie. „Komm, lass uns zu den Drachen gehen, damit sie mit uns gemeinsam den ersten Atemzug der Kleinen erleben können.“

Thomas nickte eher mechanisch. Auch wenn es ihm Galantha, Stellas Mutter, sicher schon hundert Mal erklärt hatte, wie die Kleine auf die Welt kommen werde, drängten sich ihm immer wieder Bilder von Kreißsälen, Blut und Schreien auf.

Stella fasste ihn einfach bei der Hand und zog ihn aus dem Seitenstollen mit den Schlafplätzen. Zephyra schürte sofort das Feuer, um anheimelndes Licht für ihre Gäste zu schaffen. Pyron erwärmte mit seinem heißen Atem die Grotte. Dann saßen alle vier schweigend beisammen und warteten.

Thomas’ Blick huschte immer wieder über Stellas Bauch, dem man nicht ansah, welches Wunder sich darin verbarg. So war er aber der Erste, der das wundervolle blaue Leuchten sehen konnte, das langsam aus Stellas Haut hervorbrach.

Sie blinzelte ihm lächelnd zu, nahm seine Hände in die ihren und legte sie sacht auf ihre Haut. Einen Wimpernschlag später zog sie sie ganz langsam zurück und Thomas bemerkte mit wahrhaft tellergroßen Augen, wie sich das Blau in ihrer beider Händen sammelte und merklich Gewicht bekam. Im selben Moment formte es sich auch schon zu einem wonnigen Baby mit hauchzarten bunt schillernden Flügeln.

Thomas ließ den Glückstränen freien Lauf und auch Pyron wischte verstohlen seine Augen trocken, während Zephyra andächtig das neue kleine Blumenelfchen betrachtete.

„Wir werden dich immer beschützen und für dich da sein“, flüsterte sie, es ganz, ganz vorsichtig mit der Nase anstupsend.

„Sie ist so winzig und so zart“, fügte Pyron gerührt hinzu. „Dabei ist es für mich fast wie ein Déjà-vu. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, schon einmal solch ein Wunder erlebt zu haben.“

Stella streichelte seine Nase. „Du bist und bleibst mein treuester Freund aus Kindertagen. Was haben wir beide nicht alles angestellt!“

Thomas wiegte sein Töchterchen im Arm. „Dann wirst du dich wohl bald erneut als besiegt erklären, wenn sich ein geflügelter Wirbelwind auf dich stürzt, den du eigentlich mit einem sanften Pusten in die Wolken blasen könntest.“ Er blinzelte dem riesigen Drachen fröhlich zu.

„Oh ja!“, kicherte Pyron mit blitzenden Augen. „Das wird wieder ein Spaß!“

Zephyra nickte amüsiert. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welch verrückte Sachen ihr Gefährte aushecken werde, nur um das Mini-Elfchen immer glücklich zu sehen.

„Jemand zu Hause?“, rief eine Stimme vor dem Höhleneingang.

„Heh, heh, Magmatus und Vulkanus sind da!“, frohlockte Pyron, zu seinen Brüdern hinauseilend.

Die anderen folgten ihm rasch. Sie merkten nicht einmal, dass das Spiegelportal zu leuchten begann und noch mehr Gäste in ihre Welt entließ. Umso größer war die Freude, als die frischgebackenen Großeltern, Urgroßeltern und Tante Diandra mit Onkel Bromer in den Kreis der Versammelten traten, die alle mit großen Augen das Baby bestaunten.

Die Kleine hatte die gleichen seegrünen Augen und genau so eichhörnchenrote Locken wie Mama und Oma. Selbst die schillernden Flügel schienen mit deren Flügeln identisch zu sein.

„Möchtest du ihr einen Namen geben?“, wandte sich Stella an Pyron.

Der große Drache zuckte zusammen. „Ich … ich … ich darf wirklich?“, stotterte er ungläubig.

Stella nickte und auch die anderen waren einstimmig der Meinung, dass sich Pyron diese Ehre verdient hatte.

„Dann möchte ich, dass sie Viola heißt“, entschied er sofort. „Das blaue Leuchten, als sie zur Welt kam, hatte die gleiche Farbe wie die duftenden Veilchen auf unserem Berg.“

Stella küsste ihn lachend auf die Nasenspitze. „Perfekt!“

Im selben Moment bewegte Viola die Flügelchen und schwebte direkt auf ihn zu. Um sie nicht versehentlich einzuatmen, fing er sie mit seiner riesigen Klaue vorsichtig ab und bekam ein herzhaftes Lachen zur Antwort.

„Ich glaube, der Spaß geht schon los“, schmunzelte er, das winzige Geschöpfchen mit der Nase antupfend, worauf erneut ein fröhliches Kichern ertönte.

„Dann bekommt sie jetzt auch den passenden Schmuck“, strahlten die zauberkundigen Groß- und Urgroßväter. Aurëus ließ silberne Ohrringe und Marc das dazu passende Collier mit Veilchen erscheinen.

„Von Onkel Bromer gibt es das Armband“, lachte der dritte Zauberer.

Viola blinzelte die drei vergnügt an und kicherte silberhell.

Diandra hatte noch ein anderes Geräusch geortet – das Trommeln von Hufen in vollem Galopp. „Da! Die Einhörner kommen!“

„Ist das schön“, freute sich Stella. „Ich fliege mit Viola zu ihnen hinunter. Wer kommt mit?“

„Alle!“, rief Aurëus und jene, die nicht selber fliegen oder zaubern konnten, nahmen dankend die Hilfe der Drachen an.

Unten umringten die silberweißen Einhörner das neue Blumenelfchen und jedes sprach einen guten Wunsch aus, der sich für Viola erfüllen möge.

„Die Nixen warten schon auf Nachricht“, verriet der Leithengst schließlich.

„Denkt ihr, was ich denke?“, schmunzelte Pyron.

Aurëus blinzelte ihm zu. „Sicher doch.“

Wenige Augenblicke später flogen oder galoppierten alle hinüber zum See und ließen eine Party steigen, wie schon lange nicht mehr. Die Zauberer Aurëus und Marc füllten Tafel und Futterkrippen für alle Gäste mit den edelsten Leckereien, die Elfen- und Menschenwelt zu bieten hatten. Diandra saß im Kreis ihrer Nixen-Schwestern und erzählte, besonders für jene, die hiergeblieben waren, was sich in den letzten Monaten hinter dem Spiegeltor ereignet hatte.

Drachen und Einhörner schnaubten unwillig, als sie von den ewigen Kriegsstreitereien berichtete, die immer wieder weite Teile der Menschenwelt erschütterten.

„Na ja, bei uns ist auch nicht überall alles Gold, was glänzt“, seufzte Zephyra. „Zwar haben sich die bösartigen Zwerge nicht wieder blicken lassen, aber das heißt nicht, dass sie nicht auf Rache sinnen.“

„Und Lahara gibt es ja auch noch“, murmelte Thomas. „Wer weiß schon, wie lange Stellas Zauber sie abhalten kann, wieder auf Jagd nach Männern zu gehen. Ich hasse Succubi.“

Aurëus und Bromer nickten düster, während Marc seinem Freund und Schwiegersohn, eine Hand auf die Schulter legte. „Wir werden auf der Hut sein.“

Thomas zuckte kaum merklich, aber recht hilflos, mit den Schultern. Viola spürte wohl die plötzliche Schwermut ihres Papas. Sie schwebte nämlich direkt in seine Arme, kuschelte sich an und streichelte sein Gesicht.

Ich werde auf euch aufpassen, hörte er ihre Stimme in seinen Gedanken und drückte sein Töchterchen fest an sich.

Silvestra blinzelte ihm zu. Das war ein Schwur für die Ewigkeit.

Ich weiß, gab Thomas glücklich lächelnd zurück. Aber wie konntest du es hören?

Sie hat es für alle verwandten Elfen hörbar gesagt. Stella und Galantha haben also die gleiche Nachricht empfangen. Meine jetzt, war nur für dich bestimmt.

Viola huschte inzwischen von einem zum anderen, landete auf Einhörnern und Drachen, planschte mit beiden Händen im Wasser, wobei die Nixen aufpassten, damit die Kleine nicht hineinfiel. Dann näherte sich vom Wald her eine schillernde Wolke.

Viola flog ihr neugierig entgegen. Niemand hielt sie zurück, aber alle beobachteten schmunzelnd, wie sie lachend im schillernden, wogenden Nebel verschwand. Marc nahm seine Frau Galantha in den Arm. Damals, als er sie kennenlernte, war sie genau so winzig gewesen, wie die vielen Wald- und Wiesenelfen, die nun mit seiner Enkelin Viola spielten. Er war schuld daran, dass Galantha Menschengröße angenommen und diese nie mehr abgelegt hatte.

Die winzigen Elfen beschenkten das sehr viel größere Baby, als sie selber waren, mit den wundervollsten Dingen aus der Natur. Die einen brachten in allen Farben irisierende Vogelfedern, andere Trockenblumen und die nächsten hübsch geformte Samenkörner. Auch die Nixen hatten, statt der Perlen, lieber die Schalen der Muscheln gebracht.

„Traumfänger“, warf Pyron in die Runde, worauf Marc und Thomas in herzhaftes Lachen ausbrachen.

Der lustige Indianerabend in der Drachengrotte vor vielen, vielen Jahren war immer wieder Gesprächsthema der verschworenen Gemeinschaft. Und es war eine Ehrensache, dass sofort alle die noch nötigen Weidenruten und Schnüre aus Birkenbast zusammensuchten. Dann schauten sie interessiert zu, wie sich Marc und Thomas an die Arbeit machten.

Zephyra flüsterte Aurëus ins Ohr: „Ich habe noch einen winzigen trockenen Kürbis zu Hause.“

„Ich hole ihn“, wisperte der und teleportierte sich im Bruchteil eines Wimpernschlages hin und zurück.

Viola ließ sich nicht ablenken, gespannt schaute sie zu, wie in die Ringe aus Weidenruten Netze geknüpft wurden, deren Fäden durch Nussfrüchte gezogen worden waren. Galantha fertigte inzwischen kunstvolle Bänder, deren Enden Muschelschalen und daran befestigte Quasten aus Vogelfedern zierten. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, dann schaukelte der große Traumfänger für die kleine Elfe an einem Zweig im Sommerwind.

Nun erst höhlten Bromer und Alfons den Kürbis aus, füllten fünf kleine Haselnüsse hinein und klebten alles mit Baumharz an einen kurzen Griff. Viola bekam große Augen, als Bromer die Rassel erklingen ließ. Mit bittendem Blick hielt sie ihm die Hand hin und erhielt natürlich das begehrte Spielzeug, welches sie für den Rest des Tages nicht mehr aus der Hand legte und abends sogar mit ins Heubettchen im Schlafstollen der Höhle nahm. An der felsigen Decke über ihrem Schlafplatz drehte sich der Traumfänger im leisesten Luftzug. Zephyra war nicht minder glücklich, weil ihr Kürbis genau zu dem geworden war, was sie schon lange erhofft hatte.

„Tante Zephyra und Onkel Pyron sind die Allerbesten“, gestanden Pyrons Brüder völlig neidlos.

Thomas streichelte die beiden. „Mit euch hatte sie heute auch viel Spaß.“

„Wir werden immer für sie da sein“, schworen Magmatus und Vulkanus, sich langsam auf den Heimweg zum Himmelsschloss vorbereitend.

In der Nacht fühlten Marc und Thomas immer wieder und intervallweise einen zarten Lufthauch auf ihren Gesichtern. Marc ließ schließlich eine kleine Leuchtkugel zwischen seinen Händen entstehen, um die Ursache zu ergründen. Er glaubte, noch immer zu träumen – Viola huschte zwischen ihnen hin und her, mit ihren Flügeln einen dunklen Schatten fernhaltend. Im Lichtkegel deutete sie stumm auf den Traumfänger, der eine pechschwarze Wolke gefangen hatte, von der sich nur das winzige Nebelchen lösen konnte, welches Viola fast spielerisch in Schach hielt. Auch die anderen erwachten von der plötzlichen Helle.

„Willst du ihr nicht helfen?“, fragte Silvestra beunruhigt Stella.

Die schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Das schafft sie allein. Sie hat jetzt schon die gleichen Fähigkeiten wie ich. Mindestens.“

„Bei den Vorfahren kein Wunder“, witzelte Thomas, Marc und Aurëus fröhlich anblinzelnd. Was war schon seine eigene Unsterblichkeit gegen deren Zauberkräfte.

Viola hatte wohl genug vom Spielen, sie schnippte den kleinen Alptraumrest mit einem Flügelschlag ins Netz des Traumfängers, schwebte zu ihrem Heubettchen, schlief auf der Stelle ein und wirkte, als läge sie schon die ganz Nacht in friedlichem Schlummer.

Erst jetzt streckte Stella die Hand aus, um nachzuschauen, welcher Art finsterer Traum sich zu ihnen gewagt hatte. Sie zog sie auf der Stelle zurück. „Lahara“, hauchte sie.

„Oh nein!“, Silvestra fasste nach Aurëus’ Arm. „Bist du sicher?“

Stella nickte düster. „Kein Zweifel. Offenbar hat sie ihr Erinnerungsvermögen wiedergefunden, kann aber noch nicht die Dimensionen wechseln. Also schickt sie böse Gedanken, um uns klarzumachen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie wieder bei vollen Kräften ist.“ Sie hockte sich neben Violas Bettchen, betrachtete ihr Baby mit liebevollem Blick. „Sie wird eines Tages tun, was ich versäumt habe.“

„Du meinst, sie wird … sie wird … Lahara …“ Thomas sprach es nicht aus.

„Ja.“ Stella erhob sich. „Sie wird Lahara ein Ende bereiten. Seit dieser Nacht sind beide Todfeindinnen. Ich werde Viola in allen Kampfstilen unterrichten, die ihr nützlich sein könnten.“

Galantha schlug die Hände vors Gesicht. Der Krieg mit Zwergen, Bären und Wölfen war nicht vergessen, nur verdrängt. Diandra, die damals unter Todesgefahr in den See im Berg geschwommen war, überlief ein eiskalter Schauer.

Aurëus brachte es auf den Punkt: „Wir sind gewarnt. Mehr sollten wir jetzt nicht aus der Sache machen, denn dann hätte sie erreicht, was sie wollte – Angst schüren. Es kann noch viele Menschenjahre dauern, bis sie für uns wirklich wieder gefährlich wird. Zeit genug, Viola charakterlich so stark zu machen, dass sie selbst keinen Schaden nimmt, wenn es zu einem Zusammentreffen kommt.“

„Ich hasse Succubi“, wiederholte Thomas seufzend, seinem schlafenden Töchterchen einen dankbaren Blick sendend. Hatte es ihn doch vor finsteren Träumen bewahrt.

„Alles in Ordnung?“, fragten die Drachen beunruhigt, kaum dass die Gäste im Hauptraum der Höhle erschienen.

Marc klärte sie mit wenigen Sätzen über das unschöne Vorkommnis auf. Pyron machte eine Bewegung, als würde er jemandem den Hals umdrehen, worauf Zephyra begeistert nickte. Auf Jagd für ein Frühstück zu gehen, konnten sie sich diesmal sparen, die Zauberer, Bromer eingeschlossen, tafelten auf, dass jeder satt werden konnte. Pyron ließ wieder mit geschlossenen Augen hunderte Schinkenröllchen auf seiner Zunge zergehen, verputzte ein Omelett, mit dem man hätte eine ganze Armee ernähren können und streichelte am Ende zufrieden seinen kugelrunden Bauch. „Feiern ist was Schönes.“

Uroma Martha spürte plötzlich ein unsichtbares Gewicht auf ihrem Schoß, welches sich langsam zu Viola formte.

„Hab doch gesagt, sie hat jetzt schon mindestens meine Fähigkeiten“, grinste Stella vergnügt und schob den beiden Pfirsichnektar über den Tisch.

Danke, hörten alle, Viola in Gedanken sagen.

„Nur mit dem für alle hörbaren Sprechen dauert es wohl noch“, überlegte Aurëus amüsiert und laut.

Nein. Ich habe nur den Mund voll. Viola deutete auf den Teller vor sich, wo sie etwas Marmelade von Marthas Brötchen geleckt hatte.

Pyrons wieherndes Gelächter ließ die ganze Grotte erzittern. Die anderen hätten nicht sagen können, über wen der beiden sie mehr lachen mussten.

Viola wischte sich mit ihren kleinen Fingerchen die Lippen ab. „Mit vollem Mund spricht man nicht, sagt Mama immer, wenn Papa das macht.“

„Ach herrje!“ Thomas verschluckte sich glatt am Kaffee.

Pyron kicherte noch mehr, er hielt sich den Bauch und schnappte nach Luft. „Das … ist … eindeutig … Vaters … Tochter!“, brachte er mühsam heraus, ehe er die nächste Lachsalve von sich gab.

Stella schmunzelte. „Du weißt doch, die schlimmsten Verräter leben in der eigenen Familie und sind allesamt minderjährig.“

„Ich … kann … nicht … mehr“, japste Pyron. „Thomas hat die nächste Sprüche-Konkurrenz aus den eigenen Reihen bekommen! Dass ich so was mal erlebe, hätte ich nicht gedacht!“

Auch, wenn Stella sehr martialisch geklungen hatte, als sie über die Kampfausbildung ihrer Tochter sprach, ging sie es ganz in Ruhe an. Viola verbrachte eine fröhliche Kindheit in der Elfenwelt, spielte sorglos mit deren Bewohnern und lernte ganz nebenbei die Tücken des Lebens kennen. Hin und wieder besuchte sie Verwandte und Freunde in der Menschenwelt, um sich auch hier bestmöglich zurechtzufinden.

Pyron war auch für sie wie ein großer Bruder, der mit ihr Dummheiten ausheckte und oft genug für Viola die ganze Strafe auf sich nahm, wenn sie es wieder einmal völlig übertrieben hatte.

An einem Tag hatten sie verbotenerweise die Brutkolonie der riesigen Brontornis-Vögel aufgesucht und Pyron war von diesen so schwer verletzt worden, dass Stella helfen musste, seine tiefen Wunden zu heilen. Stella wusste ziemlich genau, wer den Flug angezettelt hatte, auch wenn Pyron Stein und Bein schwor, der alleinige Schuldige zu sein. So sprach sie die schlimmste Strafe aus, die beide treffen konnte, eine ganze Woche nicht miteinander fliegen zu dürfen.

Erstaunt stellte sie fest, dass sich beide daran hielten, immer in verschiedene Richtungen die Grotte verließen und sich auch nicht heimlich trafen. Dafür brachten sie sich gegenseitig kleine Geschenke mit. Viola bat die Nixen, ihr im Tausch gegen Beeren, ein paar große Fische für die Drachen zu fangen und Pyron ließ sich von den winzigen Waldelfen Pilze und Vogelfedern bringen, die er mit Gurken und Kürbissen bezahlte, die die kleinen Elfen nicht selber hätten öffnen können.

Zephyra versuchte, unparteiisch zu bleiben. Sie verstand Stella bestens, litt aber innerlich mit beiden Bestraften. Thomas hielt sich auf gleiche Weise heraus. Er wusste genau, dass seine Frau Recht hatte. In dieser Woche legte Viola auch besondere Sorgfalt auf die Lernaufgaben aus der Menschenwelt, die ihr ihre Mutter gestellt hatte. Pyron hockte hinter ihr, um einfach nur da zu sein, wenn Viola nicht weiter wusste. Meist streichelte sie dann ihren großen Freund, bis ihr ein Gedankenblitz kam, der zur Lösung der jeweiligen Aufgabe führte.

Bei den Stippvisiten in der Menschwelt lernte sie den perfekten Umgang mit jedweder Elektronik. Ihre Eltern führten nicht umsonst ein florierendes Unternehmen und kreierten Jahr für Jahr neue Spiele, die die Elfenwelt zeigten, für die Menschen aber reine Utopie schienen. Kein Wunder, dass Viola eines Tages offiziell ein Studium aufnahm und einen hervorragenden Abschluss machte.

Seitdem pendelte sie ganz regelmäßig zwischen beiden Welten, denn die Wochenenden verbrachte sie fast immer im Kreise der Drachen und Nixen.

So waren an einem lauen Sommerabend die vier Elfen noch in der Stadt unterwegs. Sie ließen den Tag im Lokal ihres Lieblingsitalieners bei einem Becher Eis mit vielen Früchten ausklingen, als sich eine alte runzelige Frau an den Nebentisch setzte. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, nur dass die Fremde den vier lachenden Frauen hasserfüllte Blicke zuwarf, wenn sie sich unbeobachtet wähnte.

Auf dem Heimweg wirkte Viola auf die anderen in sich gekehrt, beteiligte sich kaum an der Unterhaltung und schrak manchmal zusammen, wenn sie angetippt wurde, weil sie nicht auf direkte Ansprache reagierte.

„Was geht dir durch den Kopf?“, fragte Galantha, als Viola ohne ersichtlichen Grund die Augenbrauen zusammenzog.

„Die alte Frau vom Nebentisch.“

„Was war an ihr so seltsam, das dich so grübeln lässt?“, staunte Stella.

„Alles.“ Viola zog ein Gesicht, als habe sie in eine Zitrone gebissen. „Ich glaube, sie zu kennen, weiß aber nicht woher.“

„Hä?“, machte Silvestra überrascht. „Das sagst du, die selbst jeden Käfer seinem genauen Umfeld zuordnen kann?“

Viola kratzte sich an der Stirn. „Ich weiß nicht, wer sie ist, hab aber ein verdammt ekliges Gefühl, wenn ich an sie denke. Vielleicht fällt es mir ja wieder ein.“

Die drei anderen wechselten nur kurze Blicke, dann flüsterte Stella: „Lahara“.

„Das ist es!“ Viola sprang auf. „Ihre hässliche Energie steckte in der schwarzen Wolke im Traumfänger, als ich noch ein Baby war! Wir müssen sofort nach Hause und die Männer warnen! Meine Güte! Wie lange braucht denn die Straßenbahn noch für die paar Haltestellen!!!“

Silvestra drückte sie auf ihren Sitz zurück, während sie gleichzeitig die Männer kontaktierte. „Hoffen wir, dass Diandra und Martha etwas ausrichten können, sollte das elende Biest vor uns auftauchen.“

Aurëus, Marc und Bromer hatten die Warnung sehr ernst genommen, den ganzen Straßenzug mit all seinen Häusern in eine magische Glocke eingeschlossen und warteten auf die Frauen.

„Alles gut“, rief Martha gleich an der Tür.

„Da fallen mir ganze Gebirge vom Herzen!“ Galantha eilte zu Marc, um sich persönlich zu überzeugen, dass Lahara, oder Ischtar, wie man sie vor Jahrtausenden noch nannte, nicht heimlich zugeschlagen hatte.

Viola musste mehrmals erzählen, warum sie auf die alte Frau aufmerksam geworden war.

„Keinen Schritt mehr ohne uns!“, forderte Stella von den Männern und bekam von allen Seiten volle Zustimmung.

Nun gab es aber Orte, zu denen die Frauen keinen Zutritt hatten, und genau dort lauerte ein paar Monate später das Verhängnis.

Marc und Galantha waren zu einem Opernball eingeladen und amüsierten sich prächtig. Das Buffet bot viel, was auch eine Elfe essen konnte, ohne mit der Auswahl aufzufallen. So naschte sich Galantha durch Obstsalate, Eiscreme und Obstgelees. Marc hielt sich an die fleischhaltigen Speisen, trank Champagner und flüsterte zu später Stunde seiner Gattin ins Ohr, für einen Augenblick dahin zu verschwinden, wo auch der Kaiser zu Fuß hingehen müsse.

Galantha begleitete ihn hinaus und wartete etwas abseits auf dem Gang, der nach zwei Biegungen zur Toilette führte. Ein zweiter Herr schlug die gleiche Richtung wie Marc ein, und traf in etwa dort, wo die Elfe stand, auf einen Freund, der soeben auf dem Weg zurück zum Ballsaal war.

„Mein Gott“, hörte sie ihn sagen. „Die Null-Null-Dame ist ja ausnehmend hässlich. Da kann einem das Geschäft glatt vergehen.“

„Musst sie doch nicht heiraten“, antwortete der andere lachend und lief rasch weiter.

Sekunden später ertönte ein Schrei, der Galantha losspurten ließ. Entgegen jeder Etikette riss sie die Toilettentür auf und hätte beinahe den Mann umgerannt, der gerade noch mit seinem Freund gewitzelt hatte. Er stand, aschfahl im Gesicht, im Raum, den Finger zu einer der Kabinen ausgestreckt, wo zwei Füße einer liegenden Person hervorragten und aus welcher grauenvolles Röcheln erklang.

Galantha trat mit Elfenkraft gegen die Tür, welche aus den Angeln flog und dabei die hässliche alte Vettel Lahara von ihrem wehrlosen Opfer fegte.

Ohne auf den Succubus zu achten, oder ihn gar an der Flucht zu hindern, beugte sich Galantha nieder, um mit zitternden Fingern am Hals der mumiengleich ausgetrockneten Gestalt nach einem Puls zu suchen. „Marc“, hauchte sie mit Tränen in den Augen.

Der Mann an der Tür stand noch immer wie eine Salzsäule, unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Er reagierte nicht einmal, als plötzlich zwei andere Männer aus dem Nichts erschienen. Einer von ihnen verschwand mit dem Toten, genau so seltsam, wie er erschienen war. Der andere wandte sich ihm zu, legte ihm beide Hände an die Schläfen und flüsterte: „Du hast nichts gesehen.“ Dann nahm er die zitternde Frau in den Arm und löste sich mit ihr ebenfalls in Luft auf.

Zurück blieb der Ballgast, der sich über die Augen strich, als sei er aus einem tiefen Schlaf erwacht, und auf eine der Kabinen zusteuerte, als habe es die letzten Minuten nie gegeben.

Im Haus von Marc und Galantha herrschte da schon fieberhafte Tätigkeit, um Marcs allerletzten Lebensfunken am Leuchten zu halten. Viola und Stella, die beiden stärksten Elfen, übertrugen ihm Lebenskraft, wobei Aurëus und Bromer gleichzeitig ihnen Energie zuführten. Alfons stand leichenblass, mit geballten Fäusten daneben und hoffte inständig, dass sein Sohn wieder ins Leben zurückkehren möge.

„Wir haben ihn“, hauchte Viola nach einer Weile.

„Gut. Dann schicke ich ihn für ein paar Stunden in einen tiefen Schlaf“, entgegnete Stella.

Galantha schaltete die Fußbodenheizung an, weil man es nicht riskieren konnte, Marc auch nur einen Millimeter zu bewegen, geschweige denn, ihn ins Bett zu bringen. Martha eilte mit einer Decke herbei.

Viola schaute in die Runde. „Ich denke, jetzt reicht es. Sobald Großvater das Gröbste überstanden hat, gehe ich auf die Suche nach der Hexe. Versucht gar nicht erst, mich davon abhalten zu wollen. Ich werde erst ruhen, wenn ich sie gefunden und vernichtet habe.“

„Wir haben schon am Tag deiner Geburt gewusst, dass es genau so kommen werde“, erklärte Stella. „Das war auch der Grund, weshalb wir dir nie verboten haben, an den Drachenkämpfen teilzunehmen, obwohl klar war, dass du am Anfang oft verletzt werden würdest. Du hast Härte und Ausdauer gelernt und trägst das Herz an genau dem richtigen Fleck. Ich weiß, dass du alles geben wirst, für die, die du liebst. Also sage ich einfach: Pass auf dich auf, meine Tochter.“

Viola flog ihr in die Arme. „Danke Mum.“

„Dann ist es wohl jetzt an der Zeit, intensiv zu trainieren, wie man Dimensionsportale richtig nutzt“, wandte sich Aurëus an seine Urenkelin. „Komm, wir haben viel zu tun.“

Ehe sich die anderen von der Überraschung erholen konnten, waren die beiden im Zimmer mit dem Spiegelportal verschwunden und in selbigem abgetaucht. Als sie zwei Stunden später wiederkamen, klebte Viola zäher Schlamm bis in die Haarspitzen.

„Um Himmelswillen! Wie siehst du denn aus?“, erschreckte sich Martha.

„Wie jemand, der sich zu doof angestellt hat, richtig zu landen“, kicherte Viola, ganz vorsichtig ins Bad laufend, statt fliegend, um bloß nicht überall Dreck zu verteilen.

Aurëus winkte ab. „Ich hab sie in die fürchterlichsten Ecken gebracht, die das Universum zu bieten hat. Dafür sieht sie allerdings wieder ausnehmend gut aus.“

„Habt ihr Spuren von Ischtar gefunden?“, wollte Bromer wissen.

„Überall. Die schlägt Haken wie ein Hase.“

„Ich kriege sie trotzdem!“, rief Viola aus dem Badezimmer.

Thomas atmete tief durch, als er Stella in den Arm nahm. „Unsere Kleine. Warum kann das Leben nicht einfach nur friedlich sein?“

„Weil es Ischtar gibt“, erklang es zwischen Wasserrauschen und Haartrocknersummen.

„Na ja, wo sie Recht hat …“ Bromer spitzte die Lippen, zuckte mit den Schultern und schaute zu Marc hinüber, der, noch immer einem Toten ähnelnd, in einem magischen Heilschlaf lag.

Thomas überlief ein Schauer. „Ich glaube, ich bin der Einzige hier, den die Hexe noch nicht ausgesaugt hat.“

Stella tippte ihm auf die Brust. „Ich hoffe auch sehr, dass das so bleibt.“

Martha zog Diandra in die Küche und schon bald duftete es nach frischem Brot, Wurst, Käse und Tee. „Ich hab mir gedacht, dass ein Nachthäppchen bei all der Aufregung nicht schaden könnte. Schlafen will ja doch keiner von uns.“

„Du sprichst goldene Worte“, bestätigte Aurëus, als er demonstrativ zu essen begann.

Viola fasste auch tüchtig zu, denn die Lektionen im Dimensionstunnelfinden hatten ihr alles abverlangt. Galantha nahm ihren Teller auf den Schoß, als sie sich im Schneidersitz neben Marc auf dem Fußboden niederließ. Jeder wusste, dass sie so lange hier sitzen bleiben werde, bis man Marc gefahrlos aufwecken konnte.

Weil Viola so bettelte, begann Aurëus, noch einmal zu erzählen, wann der ganze Ärger mit und um Ischtar begonnen hatte – aus einer uralten Zeit, als man ihn noch Utanapischti nannte, von Gilgamesch und Enkidu.

Stella gab Violas Drängen ebenfalls nach, und berichtete, wie sie den Heißluftballon des triganischen Sängers Lars gesucht, und sich sogar mit den Winden angelegt hatten.

„Der einzige Vernünftige war Boreas“, bestätigte Thomas. „Obwohl man denkt, dass der raue Nordwind ein Hitzkopf sein müsse. Zwar hat er versucht, mir deine Mutter abspenstig zu machen, aber das sehe ich ihm gern nach. Was bin ich schon gegen einen Gott.“

„Püh! Das lassen wir mal fast unkommentiert stehen“, lachte Viola, ihrem Vater einen Kuss auf die Wange drückend. „Wenn ich die Wahl zwischen einer Göttin, wie Ischtar, und zehn Unsterblichen von deiner Sorte habe, dann verzichte ich doch gern auf die Dame.“

„Nur, dass du einen Ehrenmann, wie Boreas, nicht mit einem hinterhältigen Biest, wie Ischtar, das zudem noch ein Succubus ist, vergleichen kannst“, wandte Thomas ein. „Trotzdem, danke für die Lorbeeren.“

Viola wollte eigentlich in die Küche schweben, blieb aber neben Marc abrupt auf dem Fleck hängen, wandte sich sehr langsam zu Galantha um und fragte: „Ist euch nicht aufgefallen, dass irgendwas nicht stimmt?“

„Nein. Was?“ Galantha ließ den Blick akribisch über ihren leblos liegenden Mann gleiten.

„Er ist voll bekleidet. Habt ihr nicht alle gesagt, sie sauge ihren Opfern das Leben durch einen Liebesakt aus?“

Im nächsten Augenblick umringten alle Marc und mussten Viola recht geben. Irgendetwas stimmte nicht.

„Entweder war es nicht Ischtar“, überlegte Viola, „oder Stella hat diese ihrer Daten so verwurstelt, dass sie plötzlich eine andere Technik anwendet, weil sie sich an die alte nicht mehr erinnern kann.“

„Das klingt am plausibelsten“, ließ sich Aurëus vernehmen.

Thomas stieß einen Laut aus, der einem Grunzen ähnelte. „Wenn ich nur an das widerliche Monster denke, wird mir speiübel.“

„Ich mache sie fertig!“, versuchte Viola, ihn zu trösten.

Thomas nahm ihre Hand. „Du musst mir im Gegenzug schwören, dass du dabei jede Hilfe annehmen wirst, egal, wer sie dir bietet.“

Alle warteten gespannt auf die Antwort.

„Ich schwöre es“, sagte Viola nach kurzem Zögern. „Ich weiß ja, dass ich es nicht ganz allein schaffen kann, dass mindestens zwei, wenn nicht gar drei, Frauen nötig sind, um einen rasenden Succubus zu bändigen. Zudem wird die Jagd nicht einfach werden. Sie nutzt die Portale schon seit Jahrtausenden. Wer weiß, was sie für Türen kennt, von denen ich nicht einmal ahne, dass es welche sein könnten.“

Auf die entschlossenen Blicke der anderen Elfen schüttelte Viola energisch den Kopf. „Nein, meine Lieben. Das ist meine Mission. Wenn es ganz böse kommt, ziehe ich mit Zephyra in die Schlacht. Ihrem Eisatem kann auch ein Succubus nicht entfliehen.“

Ich habe Durst, wisperte es mitten in der Brandrede in Violas Kopf.

„Oh, ich glaube da regen sich Lebensgeister“, rief sie, auf Marc deutend, nach Teeglas und Löffel fassend.

„Jetzt schon?“, staunte Silvestra.

Marc versuchte, die Augen zu öffnen, doch mehr als einen spaltbreit ging es nicht. Aber immerhin.

Viola muss rasch handeln, hörten alle seine telepathische Stimme, weil er zum Sprechen viel zu schwach war. Sie darf wegen mir nicht warten. Wer weiß, was Lahara hier schon ausspioniert hat. Weder das Auftauchen im Eiscafé noch in der Oper sind Zufälle gewesen.

Viola flößte ihm tropfenweise den Tee ein. „Ich ziehe genau um Mitternacht los. Mit dem letzten Glockenschlag werde ich den Spiegel durchqueren. Außer guten Wünschen, einer kleinen Gürtelflasche mit Wasser und meinem Kommunikator, will ich nichts mitnehmen. So bin ich gezwungen, fürs Überleben andere zu suchen, die mir am Ende vielleicht zur Seite stehen.“

Die Uhr zeigte bereits den Beginn der letzten Tagesstunde an.

Galantha öffnete einen Schub der Schrankwand. „Nimm das mit!“

„Aber das ist ja der magische Kompass!“, rief Viola erstaunt, die ihn nur aus Erzählungen kannte.

„Ich will sicher sein, dass du im allerschlimmsten Fall, das Tor in der Drachengrotte finden kannst, um dich in Sicherheit zu bringen, wo immer du auch sein magst“, erklärte Galantha, ihre Enkelin noch einmal fest umarmend.

Zufallstreffen

Boreas fegte übel gelaunt über das Gebirge. Unter ihm, in eine Felsnische gedrückt, um nicht davongeweht zu werden, harrte Viola aus. Sie hatte keine Lust, ihre Kräfte sinnlos zu vergeuden. Irgendwann musste sich der finstere Gott ja ausgetobt haben.

Der fühlte plötzlich eine, ihm sehr gut bekannte und schmerzlich vermisste, Energie. Beinahe übergangslos stoppte er seine wilde Hatz und strich suchend um die Felsen.

Als er die Elfe entdeckte, nahm er Menschengestalt an. „Stella? Du, hier?“, flüsterte er freudig überrascht.

„Ich bin Viola“, entgegnete sie, ins Freie tretend.

„Viola?“ Boreas’ Stimme klang ein wenig enttäuscht, weil er seine heimliche Liebe in diesem Spalt vermutet hatte. Gleichzeitig taxierte er sie neugierig. „Du scheinst auch eine Blumenelfe zu sein. Was tust du hier? Bist du allein unterwegs?“

„Ich vermute, du heißt Boreas“, schmunzelte Viola, weil sich der Fremde, über den sie schon so viel gehört hatte, nicht einmal vorstellte. „Bist du immer so neugierig?“

„Ja“, antwortete der Windgott etwas irritiert, weil die Schöne keinerlei Furcht zeigte. Wie er es bisher nur von den Frauen um Aurëus erlebt hatte.

Viola begann zu kichern. „Ist das jetzt die Antwort auf die zweite Frage, auf die erste oder auf beide?“

Über Boreas’ Gesicht zog ein beinahe heiteres Lächeln, das ihn ihr sofort sympathisch machte. Mutter hatte ja auch erzählt, dass der finstere Geselle im tiefsten Innersten butterweich sei.

„Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe“, bat der Nordwind, ihre Hand küssend. „Ich bin in der Tat Boreas und so ungebührlich neugierig bin ich deshalb, weil du jemandem energetisch täuschend ähnelst, den ich sehr verehre.“

„Du sprichst von meiner Mutter, denke ich.“ Viola ordnete ihr Haar, das Boreas’ Sturm zerzaust hatte.

Der Nordwind riss erstaunt die Augen auf. „D … deine Mutter?“

Viola nickte, sprach aber gleichzeitig: „Jetzt komm bloß nicht auf den Gedanken, mir den Hof machen zu wollen.“

Boreas zuckte zusammen und starrte die Elfe mit offenem Mund an. „Bist du immer so abweisend“, stotterte er, ehe er: „Bin wohl nicht dein Typ“, hinterher setzte.

„Das wird sich zeigen“, erwiderte sie äußerlich ungerührt. Innerlich hingegen zog sie der schwarzhaarige, beinahe düstere Boreas bereits auf den ersten Augenblick sehr an. Zudem hatte sie nicht vermutet, ausgerechnet ihm, hier zu begegnen.

„Darf ich dich wenigstens in eine freundlichere Umgebung einladen, als es dieses Gebirge ist?“, wagte er, zu fragen.

Viola ließ, bevor sie antwortete, ihren Blick über die Hänge gleiten. Dass sie gleich am ersten Tag, nachdem ihr Boreas vor die Füße gestolpert war, auch noch Lahara finden werde, wäre zu seltsam gewesen.

„Einverstanden. Ich möchte dir nur die freundliche Mitteilung machen, dass ich über ähnliche Kräfte wie meine Mutter, Großmutter und Urgroßmutter verfüge.“

Boreas atmete tief durch. „Offensichtlich kennst du die alte Geschichte in- und auswendig.“

„Aber sicher“, lachte Viola. „Und nun lass uns gehen. Hier frieren mir sonst glatt noch die Flügel ein.“

„Gehen? Soll ich dich tragen?“, schmunzelte Boreas.

„Ha, das könnte dir wohl so passen?!“

„Aber sicher“, antwortete der Nordwind mit ihren eigenen Worten und grinste schelmisch.

Dann reichte er ihr die Hand, um mit ihr gemeinsam ins feuchte Grau des Himmels zu starten. Noch vor der Küste ließen sie die Regenwolken hinter sich, was Viola mit einem Jubelschrei begleitete.

Boreas schmunzelte in sich hinein. Genau so etwas hatte er mit Stella erleben wollen, deren Platz nun ihre Tochter einnahm.

Auf dem Meer trieb ihnen die Insel des Äolus langsam entgegen.

„Ist das da unten unser Ziel?“, wollte Viola wissen und rief, als es Boreas bestätigte: „Sturzfluuuuuug!“ Sie raste mit angelegten Flügeln dem Boden entgegen.

Besorgt überholte Boreas sie, um sie sanft aufzufangen. Doch Viola machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie breitete plötzlich ihre glitzernden filigranen Flügel aus, stoppte genau vor ihm und erklärte: „Schlag dir so was ganz schnell aus dem Kopf.“

„Spielverderberin.“

Viola lachte übermütig, nahm den dargebotenen Arm und ließ sich in den Palast führen.

Äolus und seine drei anderen Söhne begrüßten den unerwarteten Gast mit allen Ehren. Dabei saßen auch sie dem Irrtum auf, Stella vor sich zu haben. Die Elfe lachte silberhell, als alle schworen, sie hätten glatt ihren Kopf verwettet, dass sie Stella sei.

„Diese Ähnlichkeit sorgt immer wieder für reichlich Verwirrung“, schmunzelte sie, Boreas einen forschenden Blick zuwerfend.

Dem gab es einen heftigen Stich im Herzen, was wiederum Notus nicht entging. Na, hat sie deinen Jagdinstinkt angestachelt, hörte er die telepathische Stimme seines Bruders.

Schon, nur werde ich bei ihr kaum Chancen haben, gab Boreas ebenso zurück. Sie ist mir gegenüber stacheliger als ein Kaktus.

Notus grinste breit. Vielleicht zeigt sie auf diese Weise, dass sie dich mag. Kann natürlich auch sein, sie steht eher auf sanfte Typen, wie mich.

Boreas schnaufte.

Dabei hatten beide keine Ahnung, dass ihnen Viola amüsiert lauschte, obwohl sie sich intensiv mit Äolus unterhielt. Nebenbei naschte sie von der schier überquellenden Tafel süße Früchte und genoss sichtlich die Gesellschaft der fünf Winde. Noch immer war kein Wort darüber gefallen, was die Elfe auf diese Seite des Meeres gelockt hatte und warum sie allein hierher gekommen war. Viola erweckte allerdings ganz den Eindruck, als habe sie vor, längere Zeit diesseits des Ozeans zu bleiben.

Boreas begnügte sich in der Hauptsache mit dem Zuhören. Äußerst selten warf er ein paar Worte ein und dann auch nur, wenn man ihn fast dazu drängte. Er zuckte auch mit keinem Muskel, als Viola Äolus’ Angebot, während ihres Aufenthaltes bei ihnen zu bleiben, dankend annahm.

Freust du dich gar nicht, fragte Notus erstaunt.

Boreas hob die Schultern. In seinem Kopf herrschte eine seltsame Leere. Er erhob sich, lächelte verloren in die Runde. „Viel Spaß noch. Ich mache mich wieder auf den Weg nach Norden“, hörte er sich wie einen Fremden sagen.

Verblüfft starrten ihm alle nach, als er, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Saal schritt.

Es war nicht meine Absicht, dich zu kränken, hallte Violas Stimme in seinen Gedanken.

Das hast du auch nicht. Ich wünsche dir Glück auf allen Wegen. Vielleicht treffen wir uns ja zufällig irgendwo wieder.

Boreas, warte! Fliege nicht nach Norden! Viola war aufgesprungen, um ihm nachzueilen.

Da tanzte auch schon ein riesiger schwarzer Staubteufel zur Tür herein und verwandelte sich zurück in Boreas.

„Wirst du vergesslich?“, witzelte Euros, der Ostwind.

Boreas grinste ihn breit an. „Nein, mein Lieber, vorsichtig.“

„Flieg nicht nach Norden!“, wiederholte Viola laut. „Und wenn, dann mit einem Umweg nach Osten. Ich bitte dich sehr.“

Der Nordwind konnte echte Sorge und sogar eine Spur Panik in ihren Augen sehen. Die anderen schauten die Elfe verständnislos und fragend an.

Boreas legte den Kopf schief. „Weißt du etwas, was wir nicht wissen?“

„Möglich.“ Viola setzte sich wieder und deutete auf den Schemel neben sich. Sie seufzte. „Eigentlich wollte ich keine Hektik verbreiten, stattdessen ganz in Ruhe meinen Plan durchführen, vielleicht ein bisschen Urlaub machen und dann nach Hause zurückkehren. Aber das soll wohl nicht sein. Ich würde mir in alle Ewigkeiten Vorwürfe machen, geschähe Boreas etwas, weil ich geschwiegen habe.“ Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, ließ einen ganz zaghaft kleinen Schmetterling in seinem Bauch flattern.

„Lahara, oder Ischtar, ist hier“, erklärte Viola ohne weitere Umschweife.

„Wie? Was? Sag das nochmal!“, riefen die Männer entsetzt durcheinander.

„Sie ist wirklich hier und ich bin ihr gefolgt, um sie endgültig zur Strecke zu bringen.“ Violas grüne Augen nahmen einen stahlharten Glanz an. „Sie hätte vor Jahren beinahe meinen Urgroßvater getötet und letztens hat sie sich an meinem Großvater vergriffen. Das Maß ist voll. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie endgültig ausgelöscht habe. Deshalb bin ich auch allein aufgebrochen, damit ich auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen muss.“

„Brauchst du einen Lockvogel?“, fragte Boreas sofort. „Ich habe gerade nichts anderes zu tun.“

Viola schluckte. „Das wäre genau so ein Fall, den ich nicht haben will. Jeder Mann, der das tut, spielt mit seinem Leben.“

Der Nordwind winkte müde ab. „Es wird nicht viele geben, die mich wirklich vermissen.“

Äolus hob den Blick und auch seine drei anderen Söhne schauten irritiert auf ihren Bruder.

„Was habt ihr? Ich will doch nur helfen?“

„Indem du dich umbringen lässt?“ Zephyros, der Westwind, schüttelte missbilligend den Kopf.

„Für mich musst du nicht den Helden spielen“, ließ sich Viola vernehmen. „Ich mag dich auch so.“

Boreas klappte der Unterkiefer beinahe bis auf die Schuhspitzen. „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“

Viola blinzelte. „Hab ziemlich viel über dich gehört. In diesem Augenblick weiß ich aber aus eigenem Erleben, dass ich mich darauf verlassen kann, Hilfe zu bekommen, wenn ich sie wirklich brauche. Du wirst es spüren, wenn ich in ernsten Schwierigkeiten stecke.“ Bei diesen Worten nahm sie seine Hand und ließ ein wenig ihrer unglaublichen Elfenenergie auf ihn übergehen.

Boreas durchzog ein wohliger Schauer. Diese Gabe enthielt eine Information, die ihn glücklich machte. Viola mochte ihn wohl doch etwas mehr, als ihre Worte ahnen ließen. Fühlt sich nach erheblich mehr, als Sympathie an.

Ja. Der zugehörige Augenaufschlag hätte ganze Gletscher zum Schmelzen bringen können.

Euros stieß Notus an. „Hast du eine Ahnung, was zwischen den beiden läuft?“

„Nein. Frag am besten sie, statt mich“, grinste der Südwind und klopfte ihm auf die Schulter.