Die Verbrechen meiner Freunde - Georges Simenon - E-Book

Die Verbrechen meiner Freunde E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Simenons autobiographischster Roman Lüttich, nach dem Ersten Weltkrieg. Georges Simenon, junger Reporter der Gazette de Liège, freundet sich mit einigen Gleichaltrigen an. Leidenschaftlich debattieren die Männer in den Cafés der Stadt bis tief in die Nacht über Politik, die Welt und das Leben. Von den dunklen Machenschaften seiner Freunde weiß Simenon da allerdings noch nichts. Erst Jahre später erfährt er von ihren grausamen Taten und verarbeitet sie in diesem autobiographischen Roman. »Ich ahnte nichts, dabei waren meine Freunde Mörder! Auch einige Jahre später ahnte ich nichts, als ich Kriminalromane zu schreiben begann, das heißt Geschichten von erfundenen Verbrechen, während jene, mit denen ich gelebt, dieselbe Luft geatmet, dieselben Freuden geteilt, dieselben Vergnügungen genossen und über dieselben Dinge diskutiert hatte, auf einmal richtige Morde begingen.«

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Georges Simenon

Die Verbrechen meiner Freunde

Die großen Romane – Band 26

Aus dem Französischen von Helmut Kossodo

Mit einem Nachwort von Daniel Kampa

Hoffmann und Campe

1

Es ist verwirrend! Ursprünglich – was sage ich? Jetzt eben noch, als ich meinen Titel schrieb – wollte ich meine Erzählung wie einen Roman beginnen lassen, mit dem Unterschied, dass er diesmal auf Tatsachen beruhen sollte.

Da entdeckte ich plötzlich, wie lebensfremd der Roman im Grunde ist, dass er das Leben nie wirklich wiedergeben kann, und zwar deshalb, weil er an einem Punkt anfängt und an einem anderen aufhört.

Hyacinthe Danse hat am 10. Mai 1933 seine Geliebte und seine Mutter umgebracht. Aber was war der eigentliche Anfang dieses Verbrechens? War es damals, als er in Lüttich die erste Nummer seiner Zeitschrift La Nanesse herausbrachte, deren Mitbegründer ich, trotz meiner noch nicht mal siebzehn Jahre, aufgrund eines unwahrscheinlichen Zufalls geworden war? Oder fing es da an, als wir in Begleitung Deblauwes durch die Straßen der Stadt schlenderten? War es nicht viel früher, während des Krieges, als uns die Mädchen hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten, dass in einer gewissen Buchhandlung hinter verschlossenen Läden …?

Und Deblauwe? Wann fing er an, ein Mörder zu sein? Und der Fakir? Warum habe ich ausgerechnet gestern erfahren, dass er in einem Pariser Krankenhaus vor Armut, an der Trunksucht, an allen möglichen Krankheiten, Lastern und schändlichen Gebrechen einen jener Tode gestorben sei, die sich schon Tage im Voraus durch ihren Gestank ankündigen?

Warum? Wieso? Wo sollte ich anfangen, da es zwischen den drei Verbrechen, den fünf oder sechs Toten, den wenigen Überlebenden zeitlich und räumlich keine andere Verbindung gibt als mich?

Ich höre noch Danses hämmernde Stimme im Saal des Lütticher Schwurgerichts:

»Als ich vier Jahre alt war, hat mich meine Mutter mit aufs Land genommen, und da sah ich, wie der Bauer auf dem Hof eine Sau schlachtete; zuerst schlug er mit einem Hammer auf sie ein, und dann schlitzte er ihr mit einem Messer die Kehle auf …«

Den vierjährigen Danse konnte ich nicht kennen, denn damals war ich noch nicht geboren. Und ich war auch nicht dabei, als er vierzig Jahre später in einem französischen Landhäuschen seine Mutter und seine Geliebte auf genau dieselbe Art abstach wie damals der Bauer die Sau.

Und wer vermöchte zu sagen, an welchem Tag der kleine K. mit seinen durchnässten Stiefeln beschloss, sich am Portal der Kirche von Saint-Pholien zu erhängen? Hatte ich ihn denn nicht wenige Stunden vorher, nachdem er sich alles aus dem Leibe gekotzt, bis zur Bewusstlosigkeit betrunken und immer noch sabbernd, auf meinem Rücken in sein Kabuff getragen?

Drei Verbrechen! Das ist schnell gesagt. Aber was war vorher?

Ich erinnere mich, dass ich damals täglich mindestens drei Romane verschlang, aber befriedigt haben sie mich alle nicht. »Und dann?«, seufzte ich immer nach der letzten Seite. Warum hörte es plötzlich auf, obgleich die Personen der Handlung noch längst nicht tot waren? Warum beschloss der Autor einfach so, nach eigenem Gutdünken und ohne Grund, dass es von einem gegebenen Augenblick an nur noch eine leere Seite mit dem Namen des Druckers gab?

Heute ist es nicht mehr das Ende, das mich stört, sondern der Anfang. Mit welchem Recht werde ich plötzlich einen fünfunddreißigjährigen Deblauwe zeigen, als ob es ihn bis zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben hätte? Und die andern, die ich auch nur eine gewisse Zeit ihres Lebens gekannt habe?

Und die Verbindung, von der ich eben sprach? … Eine Szene im Jahre 1915, an die ich mich erinnere … Eine andere, zwei Jahre später, als ich meine ersten langen Hosen bekam … Danse … Deblauwe … Dann der Fakir und der kleine K.

Ich ahnte nichts, dabei waren meine Freunde Mörder! Auch einige Jahre später ahnte ich nichts, als ich Kriminalromane zu schreiben begann, das heißt Geschichten von erfundenen Verbrechen, während jene, mit denen ich gelebt, dieselbe Luft geatmet, dieselben Freuden geteilt, dieselben Vergnügungen genossen und über dieselben Dinge diskutiert hatte, auf einmal richtige Morde begingen: der eine, indem er auf der Rue de Maubeuge durch die Tasche seines Regenmantels einen Mann niederknallte, der andere in Boullay, weit von dem Ort entfernt, wo er das Licht der Welt erblickt und gelebt hatte, umgeben von französischen Bauern, die ihm fremd waren, was ihn vielleicht dazu trieb, nach Lüttich zurückzukehren, in den vertrauten Straßen herumzuirren und dann aus unmittelbarer Nähe das Magazin seines Revolvers auf einen Jesuitenpater abzufeuern, der früher sein und auch mein Beichtvater gewesen war.

Ist es nicht merkwürdig, dass ich just in dieser Zeit anfing, Kriminalromane zu schreiben, und mich bemühte, Verbrecher zu schildern?

Bei Lichte besehen und wenn man meine Bücher genau liest, vielleicht doch nicht so merkwürdig, denn in meinen Romanen beschreibe ich, kaum verbrämt, dieselben Schauplätze, dieselbe Atmosphäre, dieselben Seelenzustände, die die beiden dazu führten, dass sie …

Die Verbrechen meiner Freunde ähneln den Verbrechen, die ich in meinen Büchern erzählt habe. Und nur weil sie wahr sind, weil ich die Täter kenne, kann ich unmöglich schreiben: »Er hat getötet, weil …«

Weil nichts es erklärt! Weil alles es erklärt! Zuweilen glaube ich, alles zu verstehen, und meine, in wenigen Worten …

Doch im nächsten Moment löst sich die schon fast greifbare Wahrheit in Luft auf, und ich sehe wieder einen ganz anderen Deblauwe vor mir, und einen Danse, wie er lächelnd und schmerbäuchig dasteht, höre ihn reden … Oder dann stößt mir der muffige Geruch des Fakirs wieder auf, und ich sehe mich unter den blau getarnten Laternen der Kriegszeit in den Straßen umherirren.

Es ist unmöglich, die Wahrheit ordentlich und klar zu erzählen: Sie wirkt immer unwahrscheinlicher als ein Roman.

Man müsste sich fast die ganze deutsche Besatzungszeit in Erinnerung rufen, denn ich denke, dass sie die jungen Leute damals ebenso geprägt hat wie die Inflation einige Jahre drauf eine ganze Generation von Deutschen.

Aber gleich wie die Inflation lässt sich die Besatzungszeit nicht erzählen. Denn da geht es nicht um Tatsachen: Es ist eine gewisse Atmosphäre, der Kasernengeruch in den Straßen, die Tupfen der fremden Uniformen in der Menge; es sind die Markscheine, die die Francs in der Tasche ersetzen, es ist die alles verdrängende Sorge um das Essen, die fremdartige Musik, die fahrbaren Feldküchen auf den Gehsteigen; es ist auch die neue Angewohnheit des Auges, nach Maueranschlägen mit den ständig wechselnden Ausgangssperren und Zuckerrationen Ausschau zu halten, oder nach Aufrufen an alle Männer über achtzehn, sich allwöchentlich bei der Kommandantur zu melden, oder nach einem roten Plakat mit den Namen weiterer erschossener Zivilisten …

Natürlich geht das Leben weiter, hat man pünktlich auf dem Gymnasium zu sein, die Schularbeiten zu machen, doch in der Pause redet man über einen Mitschüler, dessen Vater Butter an die Deutschen verkauft, oder über einen anderen, dessen Mutter mit einem Ulanenoffizier gesehen wurde.

Was einen dreizehnjährigen Jungen beschäftigt, ist immer das Gleiche, nur dass bei uns noch ein paar Dinge hinzukamen. Zum Beispiel flüsterte ein Schüler der fünften Klasse auf der Treppe:

»Mein Vater hat zehn Kilo Weizen auf einem Bauernhof ergattert. Als er damit in die Stadt zurückkehrte, wurde er beinahe erwischt …«

Oder:

»Die Franzosen haben eine Schlacht gewonnen. Meine Eltern haben es von jemandem gehört, der über die holländische Grenze kam und eine Zeitung mitgebracht hat …«

Doch natürlich ist vor allem von den Mädchen der Schule nebenan die Rede, von gewissen Dingen, von denen die einen nichts wissen und die andere zu kennen und sogar vollbracht zu haben behaupten und die eine ganze Klasse einen Monat lang dank einem vergilbten und abgegriffenen Foto, auf dem man genau sieht, wie es gemacht wird, in helle Aufregung versetzen. Die zu Abertausenden durch die Stadt marschierenden Soldaten, auf dem Weg zur Front oder zurück, sind wild darauf, und die Plakate an den Mauern sagen es unverblümt: »Jede Frau, die mit einem Soldaten Verkehr hat, ohne sich vorher der Kontrolluntersuchung zu stellen …«

Es gibt auch Einzelheiten bezüglich der Vorsichtsmaßnahmen. Die Straßen sind dunkel. Aus Angst vor Fliegerangriffen sind die Schaufenster nicht erleuchtet, und das Licht der Gaslaternen hinter einer dicken Schicht blauer Farbe ist nur ein schwacher Schimmer.

Die Rue Féronstrée ist eine enge und belebte Straße, in der die Straßenbahnen mit ohrenbetäubendem Lärm dicht an den zu schmalen Gehsteigen vorbeirattern.

In dieser Straße befand sich eine antiquarische Buchhandlung, in der ich gewöhnlich meine Schulbücher kaufte und wieder verkaufte. Sie nahmen, nach Schulen geordnet, ein ganzes Schaufenster ein. Die unseren waren von Jesuiten verfasst: Im Schaufenster daneben lagen Bücher mit bunten Einbänden aus, vor denen wir aus Angst vor dem spöttischen Lächeln eines Passanten nicht stehen zu bleiben wagten.

Denn wenn Hyacinthe Danse auch die meisten Schüler des Gymnasiums belieferte, so war er außerdem ein Spezialist der sogenannten galanten Literatur, und ich erinnere mich, wie außer mir ich war, als ich ganz hinten in seinem Laden ein Regal entdeckte, das mit »Flagellation« überschrieben war.

Der Buchhändler war ein ungeheuer dicker Mann, der seine hundertdreißig Kilo wog und dessen rosiges Gesicht stets fröhlich lächelte. Er war einer, der einem das Handbuch für Literatur von R.P. Verrest am Montag für zwei Mark abkaufen und am Donnerstag für sechs Mark wieder verkaufen konnte, alles mit einem Grinsen und einem freundlichen Klaps auf die Schulter.

Einmal, ich war dreizehn oder vierzehn und wohl wieder einmal blank, entschloss ich mich, ihm drei Bücher zu verkaufen, die mir ein Freund geschenkt hatte; es waren drei prächtig gebundene Bände der Werke von Victor Hugo, die, wie das Lexikon mir bestätigte, zur Erstausgabe gehörten.

Ich sehe Danse noch vor mir, wie er sie befingerte, während ich ihm gegenüberstand und hoffte, ihn mir einen sagenhaften Preis anbieten zu hören.

Ich sehe ihn die Bücher auf den Ladentisch stellen und ein schmieriges Portemonnaie voller kleiner Markscheine aus der Tasche ziehen.

»Wie viel?«, fragte ich mit trockener Kehle.

»Zwanzig Mark für das Ganze, mein Kleiner.«

»Nie im Leben! Da behalte ich lieber die Bücher.«

Warum stellte er sich zwischen sie und mich? Wollte er mich hindern, sie zurückzunehmen?

»Zwanzig Mark habe ich gesagt … Und noch etwas: Es könnte sich als unvorsichtig erweisen, mit diesen unterm Arm zu anderen Buchhändlern zu laufen … Ich mein’s gut mit dir …«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass deine Victor Hugos aus der Universitätsbibliothek kommen … Du brauchst mir nichts zu erklären … Es geht mich nichts an.«

Ich war puterrot geworden, und ich weiß nicht mehr, wie der Zwanzig-Mark-Schein aus Danses Hand in die meine gelangte. Er begleitete mich noch bis zur Tür, und als ich mich umdrehte, sah ich ihn auf der Schwelle stehen, die Hände in den Hosentaschen, den Bauch vorgereckt, sein Mondgesicht zufrieden strahlend.

Ich weiß nicht, ob es am Krieg und an der Besatzung lag oder ob die ersten sexuellen Erfahrungen immer diesen schalen Beigeschmack haben.

Ich erinnere mich eigentlich nur an den Winter, an den Nieselregen und den Nebel, und ich sehe wieder diese lange Straße mit ihren blau getarnten Laternen vor mir, wo wir uns abends nach sieben herumtrieben und wo es so dunkel war, dass wir stets eine Taschenlampe bei uns trugen.

In Lüttich heißt diese Promenade aus unerfindlichen Gründen das Carré, denn man geht nicht etwa im Viereck, sondern eine lange Straße rauf und runter und begegnet so zwanzigmal am Abend denselben Leuten.

Wir waren die Jüngsten. Ich nehme an, dass die Dirnen dort mit mehr oder weniger Glück ihre Geschäfte machten, während wir den Mädchen unseres Alters nachliefen und ihnen zuweilen unsere Taschenlampen unter die Nase hielten. Alles unterernährte Gören, wie wir! Und ebenso schlecht gekleidet. Es gab sogar eine Zeit, da hatten wir nur Schuhe mit Holzsohlen.

In den Kinos wurden Stummfilme mit Klavierbegleitung gespielt, und in jeder Pause wurde die Leinwand begossen.

Von Hotelzimmern konnte natürlich keine Rede sein, und eigentlich waren sie auch gar nicht notwendig.

Unsere ersten Annäherungsversuche fanden in Mauerecken statt, mit vom Regen durchnässten Kleidern, wo die Hand plötzlich heiße Schenkel unter dem eiskalten Regenmantel ertastete, wo Münder sich mit Küssen um ein Vergnügen bemühten, aber nur eine rein theoretische Lust zu wecken vermochten.

»Was hat sie dir gesagt?«

»Ich habe geschworen, es nicht weiterzusagen …«

»Es war nur für mich bestimmt! Nur für mich … Ich werde es niemandem erzählen …«

Man sah einander kaum, aber die unbeholfenen Hände tatschten umso versessener.

»Sag es mir!«

Wie alt waren diese Gören? Vierzehn? Fünfzehn? Kleine Mädchen aus dem Volk, die in Banden kamen und an den Männern mit einem Lachen vorbeigingen, in dem die Angst mitklang. Wir, die Jungen, zählten nicht für sie. Sie hatten Geheimnisse, mit denen sie uns den Mund wässerig machten.

»Ich an ihrer Stelle hätte mir das jedenfalls nicht gefallen lassen … Übrigens hat sie sich danach nicht mal nach Hause getraut …«

»Warum nicht?«

»Das darf ich nicht sagen … Das sind viel zu schlimme Dinge …«

Und naiv, wie wir damals waren, bestanden wir acht Tage lang darauf, dieses berühmte Geheimnis zu teilen, von dem unsere Freundinnen ständig hinter vorgehaltener Hand tuschelten.

»Es ist in einer Buchhandlung …«

»Welche?«

»Das sage ich nicht … Er hat einen Ausweis von der Kommandantur …«

»Wer?«

»Er! Der Mann! Er hat das Recht, alle Frauen auf der Straße festzunehmen und abzuführen …«

»Warum?«

»Um festzustellen, ob sie gesund sind …«

Allein dieses Wort! Wie uns das aus der Fassung bringen konnte!

»Ist er denn Arzt?«

»Nein! Aber er untersucht sie trotzdem … Verflixt! Jetzt habe ich schon zu viel gesagt …«

Und dann tuschelten wir einander die spärlichen Auskünfte zu und brüsteten uns, viel mehr zu wissen, als wir wirklich erfahren hatten.

»Ich weiß, wer es ist … Es ist Danse, der Buchhändler in der Rue Féronstrée …«

»Der, bei dem ich meine Bücher verkaufe?«

Immer wieder die lange dunkle Straße, die für uns die Welt bedeutete, mit ihren verschlossenen Läden und den blauen Gaslaternen, diese Straße mit ihren verstohlenen Schatten, ihren Soldaten, die man am Stapfen ihrer Stiefel erkannte, dem Aufleuchten des stahlgrauen Capes eines Offiziers, dem Klicken seiner Sporen, dem Parfum einer eleganten Dame …

»Sidonie musste ins Krankenhaus gebracht werden …«

»Was hat sie denn?«

»Das geht die Männer nichts an …«

Seltsame Gören, die geheimnisvolle Stunden in der Gesellschaft wahrer Männer verbrachten und von ihnen ins Restaurant eingeladen wurden!

»Gestern waren es vier … Er hat eine Kerze auf einen Totenkopf gesteckt …«

Und Sidonie, die schon mehrere Male dort gewesen war und die mir mit ihrer anämischen Blässe wie eine Madonna erschien, kniff die Lippen zusammen und schnürte sich einen ganz abgeschabten Pelzkragen um den Hals.

»Was hat er mit dir gemacht? … Sag es mir! …«

Der Mann war wirklich Hyacinthe Danse, derselbe, der uns mit seinem fröhlichen Mondgesicht die Bücher abkaufte und wiederverkaufte. Einer von uns hatte ihn tatsächlich in die Kommandantur eintreten sehen. Und es stimmte auch, dass er einen Ausweis mit deutschen Stempeln besaß und dass er am Abend junge Mädchen auf der Straße anhielt und sie in seine Buchhandlung mit den verschlossenen Läden führte.

Auch dass Sidonie ins Krankenhaus gebracht werden musste, entsprach der Wahrheit. Es stimmte ferner, dass …

Das alles erfuhren wir nach und nach, aber worüber sie sich hartnäckig ausschwiegen, waren genaue Einzelheiten über das, was er mit ihren kleinen unfertigen Leibern anstellte.

»Der ist nicht wie die anderen … Der ist pervers …«

So gingen wir natürlich bei jeder Gelegenheit zu Danse, um den Laden zu besichtigen, und stellten uns vor, was am Abend bei geschlossenen Jalousien zum Beispiel in dem alten Sessel geschehen mochte.

Ich höre noch die heisere Stimme eines dieser Mädchen, es war die Tochter einer Marktfrau:

»Wie konntest du nur so blöd sein, dir das gefallen zu lassen?«

»Aber sonst hätte er mich doch bei den Deutschen angezeigt …«

Inzwischen war ich fünfzehn oder fünfzehneinhalb, trug Männerhosen und rauchte eine Pfeife mit dünnem Stiel. Plötzlich erschienen neue Uniformen in der Stadt, müde Gesichter, rastlose Gestalten: russische Kriegsgefangene, die die Deutschen freizulassen begannen, als sie das Debakel kommen sahen.

»Wer hat noch nicht seinen Russen?«

Jedes Haus wollte einen haben. Jedes junge Mädchen zog mit einem durch die Stadt. Sie hatten so gelitten! Und da, eines Nachmittags, wir waren gerade in einem großen Varieté-Theater und ein Komiker sang das Lied Karoline, peng peng peng … Sie erkrankte, peng peng peng …, da ging besagter Komiker, der offenbar völlig durchgedreht war, hinter die Kulissen und kehrte in einer französischen Uniform, einer echten, auf die Bühne zurück …

Wir trauten unseren Ohren nicht, denn nun sang er die Marseillaise, die Brabançonne, die Madeion, lauter ausländische Lieder, die wir noch nicht kannten …

Und zwischen den Strophen brüllte er:

»Der Krieg ist aus! … Der Waffenstillstand ist unterzeichnet! …«

Gewiss, die Deutschen irrten noch in der Stadt herum. Eine nicht enden wollende Kolonne von Lastwagen, Geschützen, fahrbaren Feldküchen und müden Leuten bewegte sich der östlichen Ausfahrt zu, und die Offiziere rissen sich die Rangabzeichen ab.

Ich weiß nicht, was Danse tat, während wir mit Wildfremden durch die Straßen tanzten, während andere Banden den Frauen, die mit den Besatzungstruppen Verkehr gehabt hatten, die Kleider vom Leibe rissen und ihnen die Schädel kahl schoren.

»Die Alliierten sind fünfzig Kilometer von hier …«

Und da wir schon mal dabei waren, plünderten wir die Geschäfte der vermeintlichen Kollaborateure. Eisschränke flogen aus den Fenstern, Schinken häuften sich in den Straßenrinnen, und die Polizei sah machtlos zu und ermahnte uns nur:

»Schlagt kaputt, was ihr wollt, aber stehlt nicht!«

Damals kannte ich den kleinen K. noch nicht. K. war ein nervöser und entsetzlich unterernährter Jüngling, der Malkurse auf der Akademie nahm, während ich auf dem Gymnasium war. Doch ich weiß, dass auch er gehungert, dass er Kohlrüben statt Kartoffeln gegessen hat und dass er wahrscheinlich wie ich am Abend in der Dunkelheit des Carrés den Mädchen nachgelaufen ist. Er war der Sohn eines Arbeiters aus der Vorstadt. Seine Mutter war gestorben. Und er wollte ein großer Künstler werden.

Am Tage des Waffenstillstands nahm auch er an der Farandole teil, die durch die Straßen wogte, in alle Cafés einkehrte und sich gratis bis zur Bewusstlosigkeit betrank.

Ein Detail: Zufällig begleitete mich ein ziemlich ordinäres Mädchen, das zwei Ringe am Finger trug … Plötzlich sieht uns meine Mutter, kommt auf uns zu, schaut mich argwöhnisch an, nimmt dem Mädchen mit einem gemurmelten »Man kann nie wissen! …« die Ringe ab und entfernt sich wieder.

Von Danse weiß ich inzwischen, was er an diesem Abend hinter seinen verschlossenen Läden trieb. Danse schrieb! Er verfasste eine Ode an den Frieden, in demselben Raum, in dem die kleinen Mädchen …

»Die Alliierten sind zwanzig Kilometer von hier.«

Wir radelten ihnen entgegen, bildeten eine ganze Kolonne, während eine andere sich kläglich der deutschen Grenze näherte, wo die besiegten Offiziere von ihren Soldaten öffentlich mit Fußtritten traktiert wurden.

Danse arbeitete fieberhaft, zu dieser Zeit geschah alles wie im Fieber; die ganze Welt fieberte beim Gedanken, dass sich etwas Neues anbahnte.

»Die Alliierten sind in den Vorstädten.«

Danse war bereit. Er hatte seine Ode geschrieben und außerdem noch einige patriotische Lieder, die er, ohne eine Minute zu verlieren, als Vorkriegstroupier verkleidet, mit fettem und rosigem Gesicht und dem troupierüblich dick aufgemalten Lächeln, vorzutragen gedachte.

Unterdessen saß ein gewisser Deblauwe, Sohn eines ehrbaren Eisenwarenhändlers aus Lüttich, in Paris, in der Rue Montmartre, und schrieb für eine kleine Zeitung die Lokalnachrichten.

Und ebenfalls am Montmartre machte der Fakir, ein aus Gott weiß welcher Gegend der Levante stammender Kerl mit fettigem Haar, jeden Abend seine Runde in den Cafés, setzte sich zu den Gästen und las ihnen aus den Handlinien die Zukunft.

Was mich betraf, so betrank ich mich zum ersten Mal in meinem Leben und immer noch am Arm jenes Mädchens, dem meine Mutter die Ringe abgenommen hatte.

Wie hätte ich ahnen können, dass ich ein Jahr später Journalist sein und den aus Paris zurückgekehrten Deblauwe zum Kollegen haben würde?

Und dass Danse, der eines Tages eine Zeitung brauchte …

Und dass der Fakir sein Glück in Lüttich suchen und uns mit seinen Experimenten verblüffen sollte, während der kleine K. …

Auf dem Nachhauseweg kam ich jeden Abend an der Kirche von Saint-Pholien vorbei – wie auch vor dem Eisenwarengeschäft der Eltern Deblauwes.

Ich war fünfzehneinhalb und wusste nicht, dass in meiner unmittelbaren Umgebung drei Verbrechen ihren Anfang nahmen.

Inzwischen lernte ich den Text der Madeion auswendig und sammelte patriotisch die Uniformknöpfe aller alliierten Armeen.

2

Ich sehe die stille Straße noch vor mir, in die plötzlich eine schreiende und rennende Menge einfällt; eine Frau mit aufgelöstem Haar, die umsonst ihren Verfolgern zu entkommen sucht, die sich buchstäblich auf sie stürzen; nach mehreren Minuten eines undeutlichen Hin und Her, eines Wirrwarrs, eines Handgemenges, das man von weitem nicht versteht, tritt ein quasi respektvolles Schweigen ein, wie bei einer Hinrichtung, nur von dem Jammern jener unterbrochen, die nicht mehr die Kraft hat, sich zu wehren.

Und da erscheint unter all den angekleideten Menschen ein völlig nackter Körper, dessen Nacktheit im kalten Licht der Straße, auf dem harten Grau der Pflastersteine noch anstößiger wirkt als irgendwo sonst, und das Gelächter erstirbt, und alle Augen blicken gebannt auf das dunkle Dreieck unter dem blassen Bauch …

Halbwüchsige wie ich drängen sich vor, krank vor Erregung; ein mit einer Schere bewaffnetes Weib schneidet der Frau das Haar ratzekahl ab, man zwingt die Arme aufzustehen und an den Häusern entlangzugehen, während hundert Leute sie begleiten …

In einem solchen Moment fragt man sich weder, ob es tragisch oder grotesk war, noch, wie der in wenigen Tagen heimkehrende Soldat reagieren würde, wenn er seine Frau kahlgeschoren wiederfand und auf diese Weise erfuhr, dass sie mit Deutschen geschlafen hatte.