Die verkaufte Republik - Peter Meisenberg - E-Book

Die verkaufte Republik E-Book

Peter Meisenberg

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Beschreibung

Die Stimme des Kölner Autors und Journalisten Peter Meisenberg kennt man seit vielen Jahrzehnten aus dem Hörfunk. Im WDR3 setzt er sich kritisch mit politischen und gesellschaftsrelevanten Themen auseinander. Das Buch bündelt circa 150 dieser kurzen und pointierten Radiobeiträge, die aus der Zeit von 2005 bis 2017 stammen. Sprachlich ausgefeilt, kühn, unzensiert und weitab von Leitartikel-Jargon und Politik-Sprech nimmt Meisenberg die politische Entwicklung unter den letzten drei Kanzlerschaften Merkels unter die Lupe und kommentiert das Geschehen aus unkonventioneller Perspektive.

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Peter Meisenberg, Jahrgang 1948, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik. Seine schriftstellerische Laufbahn begann er 1981 mit dem Schreiben von Essays, Features und Hörspielen, unter anderem für den WDR. Er lebt als freier Autor in Köln.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Ulrich Görtz (www.ulrichgoertz.de)

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-311-0

Originalausgabe

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Für Lothar

INHALT

VORWORT

ARCANUMDie Arroganz der Macht

Geheimdienst und Fiktion

Arcanum – Staatsgeheimnis

Vor der Revolution?

Lüge und Politik

Zypern und die Sprache der Starken

Die verrückten Griechen

Schämen für Deutschland

Schmutziger Deal

Der hässliche Deutsche

Das Mitleid der Macht

Eine Staatsaffäre

Die Bundeswehr als Reservepolizei?

Vertuschung statt Aufklärung (NSU-Prozess)

Der Deutsche Bundestag und der Völkermord an den Armeniern

Schau mich an. Gesichtserkennung und Rechtsstaat

Feldgrau wird wieder schick

Politik im postfaktischen Zeitalter

Und morgen die ganze Welt

Ein Staatsstreich

POSTDEMOKRATIEDas Versiegen politischer Kultur

Feindstrafrecht

Die Unschuld

Postdemokratie

Die Radikalisierung der Mitte

Die korrupten Griechen

Auf dem Weg zum Tugendstaat

Die Intellektuellen und die Politik

Wahlkampfspenden

Fingerabdruck statt Kreuzchen?

Weniger wählen

Liberale Symbolpolitik

Debattenkultur oder Talkshow

Das Verschwinden des Wählers

Streiken in Deutschland

Rauchende Colts

Müssen Politiker Akademiker sein?

Algorithmen statt Demokratie

Autoland Deutschland. Von der Lobby- zur Plutokratie

Was ist eigentlich so falsch am Populismus?

Deutsche Heiligtümer

DAS VERSCHWINDEN DER FLIEGENDEN HÄNDLERMigration und Integration

Das Verschwinden der fliegenden Händler

Christliche Seefahrt

Das Boot ist wieder mal voll

Inseln der Dritten Welt

Ausländerkriminalität

Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge

Kirchenasyl

Selektion statt Solidarität

Wer ist hier verantwortlich?

Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt

Die Schlepper sind schuld

Eine Zumutung

Willkommen im Internierungslager

Die Flüchtlinge und der Terror

Eine Weihnachtsgeschichte

Enthemmt

Der Handschlag

Kampf der Kulturen revisited

Pinscher und Pudel. Die Intellektuellen und Angela Merkels Flüchtlingspolitik

Afrika helfen!

Frauenbäuche als Waffe

Jubeltürken

WER IST HIER EIN KRIEGSTREIBER?Deutsche Waffen- und Interventionspolitik

Deutsche Kriegsunlust

Frieden schaffen mit deutschen Waffen?

Wer ist hier ein Kriegstreiber?

Unappetitliche Geschäfte

Die Grünen und der Krieg

Die Tornados und der Datenschutz

DER MOB MACHT POLITIKRassismus und Rechtspopulismus

NPD-Verbot. Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für V-Leute

Die Gedanken sind frei – und rechtsradikal

Die Islamphobie der »Mitte«

Pegida und der Rechtsstaat

Wer veredelt den Volkswillen?

Alltäglicher Polizeirassismus

Der legalisierte V-Mann

Der Mob macht Politik

Botho Strauß’ »Flutung des Landes mit Fremden«

Wie in der Politik mit Dummheit umgehen?

Hundepfeifenpolitik

Der postfaktische Volksverrat

Kein NPD-Verbot: Ein Sieg der politischen Vernunft

»Reichsbürger« in Uniform?

MADONNA FÜR ARMEReichtum und Armut

Madonna für Arme

Müllprekariat

Unterschichtkultur

Wer nennt das endlich einen Skandal?

Uns geht’s gut!

Vom guten Leben

Bilanzselbstmord

Die Regelung der Armut

Nicht integrierbar

Von der Ungleichheit zur Unfreiheit

BOMBENFUNDEGeschichte und Geschichtsbewusstsein

Können und dürfen Ossis uns führen?

»Dä Jüd«

Bombenfunde

Der Fall Priebke und die Gleichheit vor dem Tod

Der ewige Mitläufer

Fahre nach Auschwitz. Küsse. Dein Heini

Der Mordparagraf soll entnazifiziert werden

Hindenburg und die Bundeswehr

Helmut Kohls Vermächtnis

Der Bundespräsident als Außenpolitiker

Majestätsbeleidigung

Billige Bekenntnisse

Zweierlei Gedenkkultur

Vom Nutzen der Historie für das Leben

Vergleich oder stirb! Historisches Vergleichen als Kunst und als Totschlag

Brauchen wir einen Staatspriester?

GLAUBENSGESCHWÄTZReligion, Aberglaube und Evolution

Der arme Uhrmacher

Renaissance der Religion?

Fundamentaler Atheismus

Glaubensgeschwätz

Schöne postsäkulare Welt

Das Grundgesetz taufen

Deutschland und seine Pfarrhäuser

Wir waren Papst

Hausverbot für die Heilige Familie

Aber nur ohne Kopftuch!

Kein Trost für Fremde

AUF AUGENHÖHE MIT AUTOMATENDas digitale Zeitalter

Auf Augenhöhe mit Automaten

Informations-Overkill

Endlich virtuell lieben

Aus für Brockhaus

Das Recht auf Vergessenwerden

Schöne neue App-Welt

Krieg um die Köpfe

Big Data ersetzt Big Brother

Die beste aller möglichen Welten

WOHIN MIT DEN HÄNDEN?Zeichenlesen im Gesellschaftsdschungel

Kann man Arbeit generieren?

Rauchen ist tödlich

Wie heißt der Plural von Post?

Wohin mit den Händen?

Stiletto

Zielgerichtet

Die Apokalypseblindheit

Zornige alte Männer

Die Flatrate

Der böse Blick

Das Gesetz der Größe

Die »gerne«-Endemie

Antisemitische Dreckschleuder

Occupy Barbie-House

Wie prostituiert man sich am besten?

Kopf ab – ein Tabu in Deutschland?

Macht kaputt, was euch kaputt macht

Die Wiederkehr des Patriarchen

Der blaue Montag

ERBFREUNDEEuropa – Idee und Wirklichkeit

Europäische Innenpolitik

Erbfreunde

Europaskepsis im Europawahljahr

Aus der Not einen Studiengang machen

Und dann Bayern? Separatismus in Europa

Varoufakis – die Rettung Europas durch linken Populismus?

Brüssler Gipfel des Zynismus

Der Brexit und die Selbstzivilisierung Europas

Jeder gegen jeden. Das Ende der europäischen Idee

Europäische Visionen

DANK

VORWORT

Heinrich Mann betrachtete seine Essays als »Kampfartikel«, als geistige Waffen im Sinne der Aufklärung. Einen vergleichbaren Anspruch stellt sich der Sendeplatz der »Zwischenrufe« in den Kulturmagazinen des WDR 3, der sich in der Tradition der streitbaren kritischen Zeitdiagnose dieses Senders sieht. Ein Merkmal der »Zwischenrufe« ist, dass sie sowohl über den Tellerrand des rein Politischen wie der Kultur im engeren Sinne hinausschauen und in die Sicht auf die kommentierten Ereignisse umfassendere historische, soziologische und philosophische Perspektiven einfließen lassen. Gleichwohl sind die Anlässe für die »Zwischenruf«-Kommentare in aller Regel tagespolitischer Natur. Das heißt, sie sind gebunden an die jeweiligen Akteure und die Besonderheit der jeweiligen Umstände. Das impliziert die Möglichkeit von Fehleinschätzungen und Irrtümern. Und wenn die tagespolitischen Anlässe länger zurückliegen, besteht die Gefahr, dass sie heute ein wenig angestaubt erscheinen. Trotzdem glaube ich, dass sich aus den Beobachtungen und Analysen, die den politischen Kommentaren über eine längere Zeitspanne zugrunde liegen, so etwas wie eine historische Bestandsaufnahme der zurückliegenden Jahre ableiten lässt.

Meine »Zwischenrufe«, die ich aus den vergangenen zwölf Jahren ausgewählt habe, beschäftigen sich mit dem Zustand der zweiten deutschen Republik. Zwölf Jahre sind ein Zeitraum, in dem man durchaus allmählich sich verstetigende Entwicklungen beobachten kann. Die vergangenen zwölf Jahre sind durch die Kanzlerschaft Angela Merkels geprägt. Bis auf die Jahre zwischen 2009 und 2013 regierte sie mittels Großer Koalitionen. Der nicht zufällige, sondern aus Machtkalkül bewusst in Kauf genommene Effekt Großer Koalitionen ist eine schwache Opposition und damit ein Verlust der parlamentarischen Kontrolle der Regierung. Die weitere Folge ist eine fortschreitende Schwächung der Demokratie auf allen politischen Ebenen und eine Entpolitisierung in vielen gesellschaftlichen Räumen. Während der zwölf Jahre Merkel-Herrschaft wurde die Macht dramatisch zu Lasten der Legislative auf die Exekutive verlagert, Kontrollmechanismen wurden umgangen und ausgetrickst. Gleichzeitig korrespondiert dem Demokratieverlust im Inneren ein immer selbstbewussteres Auftreten der Repräsentanten des deutschen Staates nach außen. Unverhohlen münzt Deutschland seine ökonomische Dominanz in der Europäischen Union auch politisch um, auf Kosten und zur wachsenden Verbitterung der Schwächeren. Diese Entwicklungen reflektieren mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung die Beiträge in den Abschnitten »Arcanum« und »Postdemokratie«.

Abgesehen von den »Europa«-Kommentaren konzentrieren sich die hier zusammengestellten »Zwischenrufe« auf nationale innenpolitische und gesellschaftliche Entwicklungen. Da galt neben dem oben Beschriebenen mein besonderes Interesse den Reaktionen auf globale Prozesse, in erster Linie natürlich dem unentschiedenen Umgang mit Flüchtlingen und der gleichzeitigen, mittelbar damit zusammenhängenden Militarisierung der deutschen Außenpolitik, wozu auch die rasante Entwicklung der deutschen Waffenexporte gehört. Auch Rechtsradikalismus und Rassismus, die in den letzten zwölf Jahren nicht nur parteipolitisch, sondern auch gesellschaftlich zu manifesten Größen in Deutschland wurden, sehe ich im Zusammenhang ungelöster Probleme der Migration und der Integration von Fremden. Ein weiteres Merkmal der Merkel-Ära, wie man die zurückliegenden zwölf Jahre jetzt schon nennen könnte, ist die von den Herrschenden mit unfassbarer Ignoranz hingenommene Auseinanderentwicklung von Reichtum und Armut. Also die Spaltung der Gesellschaft durch ein immer weiter wachsendes Gerechtigkeitsdefizit. Die Weichen dazu stellten zwar sozialdemokratisch-grüne Vorgängerregierungen, indem sie sich dazu entschieden, Deutschland auf dem Weltmarkt durch die Deregulierung der Arbeit und durch Billiglöhne konkurrenzfähig zu machen. Doch änderten die Merkel-Regierungen nichts daran, sondern beförderten im Gegenteil die weitflächige Prekarisierung auch vieler Arbeitender und deren Ausschließung aus Politik und Gesellschaft.

In den übrigen Abschnitten habe ich Kommentare versammelt, in denen ich einer Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Spur zu kommen suchte, die ich ebenfalls kennzeichnend für die Merkel-Ära halte. Einen besonderen Stellenwert haben darunter zum einen der Bedeutungszuwachs der Religion, auch verursacht durch den mit der Migration importierten Islam. Zum anderen das sich mehr oder minder auf eine ausufernde Erinnerungskultur verengende Geschichtsbewusstsein in Deutschland. Und nicht zuletzt die fortschreitende Durchdringung sämtlicher gesellschaftlichen Bereiche durch die Digitalisierung.

Es versteht sich bei einer solchen Sammlung von Momentaufnahmen von selbst, dass die einzelnen Themenbereiche nicht systematisch behandelt werden. Noch kann eine vollständige Darstellung der Merkel-Ära Gegenstand dieses Buches sein. Es kam mir lediglich darauf an, einige Merkmale herauszustellen, die jenseits des für Angela Merkel charakteristischen Regierungsstils diesem Zeitabschnitt ihren Stempel aufdrückten. Dabei ist mir klar, dass ich andere wichtige Entwicklungen in dieser Periode überhaupt nicht berücksichtigt habe, etwa die in der Umwelt- und Klimapolitik. Was damit zusammenhängt, dass ich versucht habe, nur über solche Themen zu schreiben, über die ich mich einigermaßen informiert fühle. Ich hoffe, das hat ausgereicht, hin und wieder einen auch andere interessierenden Gedanken zu formulieren.

Peter Meisenberg

Köln, im Oktober 2017

ARCANUM

Die Arroganz der Macht

Geheimdienst und Fiktion

Ohne Spione gäbe es keine spannende Literatur, gäbe es nicht Graham Greene und John le Carré, gäbe es nicht solche Filme wie Sydney Pollacks berühmten »Die drei Tage des Condor«. Dort findet man auch den innigsten Konnex zwischen Spionage und Fiktion: Robert Redford als CIA-Agent liest sich durch Hunderte von Spionage-Thrillern, um seinen Oberen Tipps fürs wirkliche »Geschäft« geben zu können. Die Literatur braucht die Geheimdienste ebenso wie die Geheimdienste auf die Literatur angewiesen sind. Im Augenblick scheint allerdings vieles dafür zu sprechen, dass sich dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zulasten des Realen und damit entschieden zugunsten des Fiktionalen entwickelt hat.

Wie anders wäre beispielsweise die Berichterstattung des amerikanischen DIA aus dem Vorkriegs-Irak zu deuten? All diese gruseligen A-, B- und C-Waffen, die Saddam gehortet haben sollte, erwiesen sich wenig später als – Requisiten für den neuen James-Bond-Film. Es scheint, als habe der Geheimdienst eher an dessen Drehbuch gearbeitet, als ein außenpolitisches Szenario zu entwerfen. Und jetzt zeigt sich, dass sich bei der Realisation dieses Plots auch die deutschen Geheimagenten ähnlich glanzvoll für die Filmkunst verdient gemacht haben. Jener von Kinderhand gestrichelte Schneckenplan mit den Verteidigungslinien der irakischen Armee um Bagdad, dieser hinreißende Internetauftritt des lustigen BND-Agenten Reiner M. auf seiner Homepage – mit Foto! –, so etwas kann es doch nicht in Wirklichkeit geben, das kann doch nur gut erfunden sein.

Dass das Geheimdiensttreiben weniger von irgendwelchen realen Begebenheiten als von der Lust am Gebrauch der Phantasie gesteuert wird, zeigt auch das Verhalten des Parlamentarischen Kontrollgremiums PKG. Die Mitglieder dieses auf absolute Geheimhaltung verpflichteten Geheimdienstausschusses hatten in der letzten Woche nichts Dringlicheres zu tun, als ihre geheimsten Geheimnisse fröhlich der Öffentlichkeit zu verkünden. Da diese »Geheimnisse« eher verwegenen Spekulationen glichen, stellt sich die Frage, ob das PKG da nicht einem elementaren Bedürfnis des Wahlvolkes nach gut ausgedachten Agentenpistolen entgegenkam und: ob dieses Wahlvolk nicht ein Recht auf mehr von diesem Stoff hat.

Entschieden mit »Ja« beantwortete John le Carré diese Frage in seinem Roman »Der Schneider von Panama«. Dieser Schneider – Harry Pendel mit Namen – wurde von einem britischen Spion selbst zur Spionage erpresst. Da er aber an tatsächliche Informationen nicht herankam, erfand er welche, steigerte sich dabei in einen wahren Phantasierausch und lieferte am Schluss eine so hanebüchene Verschwörungstheorie, dass dem Geheimdienst Ihrer Majestät erhebliche Zweifel an der Geschichte kamen und er daraufhin die geplante Intervention absagte.

Womit le Carrés Roman den Weg in die Zukunft geheimdienstlichen Wirkens gewiesen hat: Je toller und gewagter die Spione ihre Informationen frei erfinden, desto sicherer der Weltfriede. Außerdem könnte so das ganze Geheimdienstwesen erheblich preisgünstiger gestaltet werden. Denn statt für teures Geld in der Welt herumzufahren, würden die Agenten ihre Arbeit gleich in den Drehbuchwerkstätten der heimischen Filmindustrie erledigen.

(März 2006)

Arcanum – Staatsgeheimnis

Droht der Verrat von Staatsgeheimnissen, befindet sich ein Staat in allergrößter Gefahr. Betrachtet man das Verhalten der Bundesregierung, seit sie von einer Großen Koalition gebildet wird, scheint sich der Staat sehr häufig in allergrößter Gefahr zu befinden. Denn immer öfter erklärt die Regierung ihre Angelegenheiten zum schützenswerten Staatsgeheimnis und verweigert die Auskunft dazu. Was kostet der Ausbau der Autobahn A 8? – Keine Auskunft. Wurden Abgeordnete des Bundestages in der Vergangenheit von den Geheimdiensten des Bundes beobachtet? – Keine Auskunft. Welche Einsätze hat die GSG 9 der Bundespolizei bisher im Ausland geführt? – Keine Auskunft.

Mal begründen die Ministerien ihre Auskunftsverweigerung damit, das »laufende Verfahren« sei »vertraulich« zu behandeln, mal müssen Beamte »geschützt« werden, mal werden ganz allgemeine »Geheimnisgründe« angeführt. Wobei nicht nur tatsächlich sicherheitsrelevante Bereiche als Staatsgeheimnis behandelt werden, sondern auch etwa die Investitionen und Ausgaben bei der Bundesbahn »topsecret« sind.

Die Geheimniskrämerei der Regierung geht so weit, dass sie die Mitteilung, in der sie die Auskunft über die Streubomben-Vorräte der Bundeswehr verweigerte, als ein »nicht zur Veröffentlichung bestimmtes« Dokument kennzeichnete. »Es soll sogar noch geheimhaltungsbedürftig sein, dass die Regierung nicht antwortet«, sagte dazu Volker Beck, der Fraktionsgeschäftsführer der Grünen. Er betrachtet diese Antwortpraxis als eine Missachtung des parlamentarischen Fragerechts und teilweise »verfassungswidrig«. Einer entsprechenden Organklage der Grünen beim Bundesverfassungsgericht hat er in der letzten Woche eine Dokumentation hinterhergeschickt, in der die Fälle von Auskunftsverweigerung der Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode aufgeführt sind. Die Liste hat einen Umfang von 40 Seiten.

Wenn das Geheimhaltungsbedürfnis einer Regierung solch beinahe paranoide Züge annimmt, müsste man meinen, der Staat sei tatsächlich in allergrößter Gefahr, und der Feind stünde kurz vor Berlin. Da davon nicht die Rede sein kann, stellt sich eher der Verdacht ein, die Regierung genüge deshalb nicht ihrer parlamentarischen Auskunftspflicht, weil sie glaubt, es sich leisten zu können. Der Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Jörg van Essen, sprach von der »Arroganz der Macht« der Großkoalitionäre gegenüber den kleinen Oppositionsparteien.

Diesen Eindruck hatte wohl auch Bundestagspräsident Norbert Lammert gewonnen. Vor vier Wochen forderte er deswegen in einem Schreiben Kanzleramtsminister Thomas de Maizière auf, darauf hinzuwirken, dass dem Informationsanspruch der Abgeordneten in »stets angemessener Weise« genügt werde. Die Antwort des Ministers ist inzwischen bei Lammert eingetroffen. Sie wird als intern betrachtet und ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

Anfang der fünfziger Jahre beschäftigte sich die Philosophin Hannah Arendt mit dem Verhältnis von Macht und Geheimnis und kam zu dem Schluss: Wirkliche Macht fängt da an, wo das Geheimnis beginnt. Im Grunde beruht also die Macht auf dem Geheimnis. Und zwar insofern, als es das alleinige Vorrecht der Mächtigen ist, gewisse Fragen gar nicht erst zu debattieren, sich Rechtfertigungen nicht abzwingen zu lassen, sondern bestimmte Dinge im Verborgenen zu erledigen. In dieser Möglichkeit, unbeobachtet und unkontrolliert zu handeln, liegt auch das Wesen des Staatsgeheimnisses. Des Arcanum. Es ist sozusagen die »Ausnahme des Politischen«, weil es Transparenz und Rechtlichkeit ausschließt. Auf dem Gedanken der »politischen Ausnahme« hat der Staatsrechtler Carl Schmitt in den zwanziger Jahren seine Theorie vom Staat aufgebaut. – Dass ein Staat, der tendenziell alles zum Staatsgeheimnis erklärt, kein demokratischer sein kann, versteht sich allerdings auch ohne Carl Schmitt.

(November 2008)

Vor der Revolution?

In Frankreich spitzt sich der Klassenkampf zu. Zuerst nahmen düpierte Arbeiter im Kampf um Sozialpläne und Abfindungen ihre Chefs als Geiseln, jetzt drohen sie, ihre Fabriken zu sprengen. Bei dem von einer solchen Drohung betroffenen Telekom-Konzern Nortel sieht die Zeitung »Libération« einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Wut der Arbeiter und der Gier der Kapitalisten. Kurz nachdem die Manager von Nortel 45 Millionen Dollar Boni unter sich aufgeteilt hatten, kündigten sie die Schließung des Werkes in Châteaufort an. Die führende Klasse, meint »Libération«, habe eine Art Aristokratie geschaffen, die dieselben Reaktionen hervorruft wie der Adel des Ancien Régime. Die gleichgültige Gier schaffe eine explosive Lage.

Will man dem publizistischen Ängsteverwerter Udo Ulfkotte glauben, steht auch Deutschland kurz vor einem neuen Sturm auf die Bastille. »Vorsicht Bürgerkrieg« heißt sein eben erschienenes Buch. Demzufolge kursieren bei deutschen Sicherheitsbehörden hunderte vertraulicher Listen mit sozialen Brandherden quer durch Deutschland. Polizeiführer würden insgeheim auf die Bekämpfung von schweren Unruhen in deutschen Städten vorbereitet. Einige der Polizisten sprächen offen über einen bevorstehenden »Bürgerkrieg«, den sie mit allen Mitteln abwehren müssten.

Mit diesem Szenario bewegt sich Ulfkotte auf der Spur des Bundesinnenministers, der nicht müde wird, durch ähnliche Panikmache das Ziel der Legalisierung von Bundeswehreinsätzen im Inneren zu verfolgen. Im Grunde greift Ulfkottes Argumentation jedoch ein eigentlich traditionell linkes Denk- und Strategiemuster auf. »Was lange gärt, wird endlich Wut« heißt sein Buch im Untertitel. Damit klingt die Melodie wieder auf, die Gewerkschafter unisono mit der Linken und Bundespräsidenten-Kandidatin Gesine Schwan kurz vor dem 1. Mai, also auf dem Höhepunkt der Geldmarktkrise, angestimmt hatten.

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer drohte, wenn es angesichts der Krise zu Massenentlassungen komme, könne er »soziale Unruhen auch in Deutschland nicht mehr ausschließen«, Oskar Lafontaine sprach von der Möglichkeit »politischer Generalstreiks«, und Gesine Schwan prophezeite, die Wut der Menschen könne deutlich wachsen, und wenn sich kein Hoffnungsschimmer auftue, könne die »Stimmung explosiv werden.«

Unter dem durchsichtigen Gewand der Drohung verbirgt sich eine uralte Spekulation der Arbeiterbewegung, die den Namen »Verelendungstheorie« trägt. Danach erwächst aus der Wut der ausgebeuteten Schichten über ihre elende Lage der Wille, die Ursache ihres Elends, den Kapitalismus, zu beseitigen. Schwere Krisen des Kapitalismus befeuern den Glauben daran, dass es den Leuten nur gehörig schlecht gehen müsse, um sie zum Umsturz zu bewegen. – Was aus der Wut der Elenden in der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1928 wurde, lässt sich an den Wahlergebnissen von 1933 ablesen. Und wie irrig die Auffassung ist, dass aus Elend überhaupt so etwas wie politische Willensbildung entstehen könne, ist an den Orten zu besichtigen, an denen die Elenden der derzeitigen Weltwirtschaftskrise ihre Wut ablassen.

Die mit der Agenda 2010 entstandenen sogenannten »Jobcenter« müssen sich inzwischen mittels Wachpersonal, Alarmsystemen und Sicherheitsglaswänden vor ihrer »Kunden« genannten Klientel schützen. Mit Schlagringen, Akkuschraubern, Computermonitoren sowie »Bitte warten«-Schildern gehen die »Kunden« auf ihre Sachbearbeiter los. Es gibt wenig offizielle Angaben über die Anzahl der gewalttätigen Übergriffe in Jobcentern. Nur die Stadt Hamburg führt Buch. 2006 zählte sie 1.268 solcher Übergriffe, 2008 waren es 1.974. Das sind im Schnitt acht pro Tag. Acht Akte schierer Verzweiflung.

Nicht ganz so verzweifelt mögen jene sein, die ihre Chefs gefangen setzen oder ihren Arbeitsplatz in die Luft zu sprengen drohen. Schließlich geht es ihnen um recht hohe Abfindungen. Gleichwohl dokumentieren sie mit ihren Aktionen eher ihre Ohnmacht als einen politischen Willen. Aus Verzweiflung und Elend allein sind noch nie systemverändernde Bewegungen entstanden. Die Massen, die zu Beginn der Französischen Revolution aus lauter Elend auf die Straße gingen, wurden sehr bald zu Instrumenten derjenigen, die aus dem Umsturz Kapital – und nicht nur politisches Kapital – zu schlagen wussten.

Auch die Propagandisten der »sozialen Unruhen«, die pünktlich zum Bundestagswahlkampf wieder auftauchen werden, haben nur vor, aus der Verunsicherung der Wähler angesichts der Wirtschaftskrise Profit für ihre eigene Klientel zu ziehen. Grundlegende Veränderungen haben sie nicht – und hatten sie nie – im Sinn. In dem Augenblick, in dem die SPD aus der Weltwirtschaftskrise von 1928 tatsächlich politischen Gewinn hätte ziehen können, erfand sie sich in der Rolle des »Arztes am Krankenbett« des Kapitalismus. 80 Jahre später geht es den vormaligen Sozialisten immer noch um nichts weiter als die Heilung ihres Patienten. In der gleichen Rede, in der DGB-Chef Michael Sommer im Frühjahr 2009 mit »sozialen Unruhen« drohte, stellte er deren Ausbleiben in Aussicht, wenn die Bundesregierung »Konsumanreize für kleine und mittlere Einkommen« schaffe.

Gott erhalte uns den Kommunismus, hat Karl Kraus einmal gesagt, aber bitte bloß als konstante Drohung über den Häuptern der Kapitalisten.

(Juli 2009)

Lüge und Politik

Die Wahrheit, das wusste schon Mark Twain, ist etwas so Kostbares, dass Politikern nichts anderes übrig bleibt, als sehr sparsam damit umzugehen. Seitdem hat sich zur unumstößlichen Stammtischgewissheit verdichtet, dass alle Politiker lügen, sobald sie bloß den Mund aufmachen. Umso verwunderlicher ist da die jedes Mal hell auflodernde Empörung, wenn wieder einmal ein Politiker beim Lügen erwischt wird. Denn wenn Lüge und Politik tatsächlich so untrennbar miteinander verknüpft wären, gäbe es keinen Grund, sich über den x-ten Beweis dieses Sachverhalts aufzuregen.

Die gängige Erklärung für dieses Phänomen lautet, hinter der moralischen Entrüstung verberge sich die klammheimliche Genugtuung der Wähler, die »da oben« seien auch nicht ehrlicher als sie selbst. Eine Einsicht, die auch normalerweise vernünftige Leute wie den Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard zur pauschalen Unterstellung verleiten kann, wir lebten allesamt in einer »Lügengesellschaft«, in der die Politiker ebensolche Heuchler seien wie ihre Wähler.

Solch wohlfeiler Pessimismus übersieht, dass sich in der Empörung der Bürger über die Lügen der Politiker nach wie vor auch ein hoher Anspruch an deren Wahrhaftigkeit Geltung verschafft. Das überschwängliche Vorschussvertrauen in den jungen Minister Karl-Theodor zu Guttenberg zum Beispiel beruhte ganz wesentlich darauf, dass sein Auftreten eine im Politikgeschäft verschwunden geglaubte Aufrichtigkeit versprach. Dass er dieses Versprechen schon in seinen ersten Amtshandlungen nicht halten konnte, lag weniger an seiner persönlichen Unwahrhaftigkeit, als daran, dass Aufrichtigkeit in der Politik tatsächlich eine problematische Kategorie ist.

Denn in der Politik geht es um die Macht. Und Macht und Lüge bilden seit Machiavellis Zeiten eine Einheit. Ein kluger Machthaber könne und dürfe sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht, rät Machiavelli seinem Fürsten: »Wären die Menschen alle gut, so wäre dieser Vorschlag nicht gut; da sie aber schlecht sind und das gegebene Wort auch nicht halten würden, hast du keinen Anlass, es ihnen gegenüber zu halten.« Mit Vehemenz trat das aufgeklärte Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts diesem Menschenbild und dem daraus abgeleiteten Verständnis von Politik entgegen. Mit der Tugend rückhaltloser Aufrichtigkeit – gegen die Intrige und Falschheit der höfischen Gesellschaft – begründete es seine moralische Überlegenheit und legitimierte seinen eigenen Machtanspruch. »Die Lüge«, wetterte Immanuel Kant, sei »Wegwerfung und gleichsam Vernichtung der Menschenwürde« und mache die Quelle jeden Rechtes unbrauchbar.

Dieser hehre Anspruch hat sich in den 200 Jahren nach der Französischen Revolution in der gesellschaftlichen Praxis selbst gut funktionierender Demokratien nicht halten können. »Struktureller Betrug«, glaubt der Berliner Soziologe Wolfgang Engler mit Blick auf die die Finanzkrise auslösenden falschen Wechsel, sei geradezu eine Tugend geworden. Die »Schamschwellen der versachlichten, prolongierten Unaufrichtigkeit« lägen jedenfalls heute so niedrig wie nie zuvor in der Geschichte der modernen kapitalistischen Gesellschaften.

Und ausgerechnet die Politiker sollen in diesem allgegenwärtigen Morast von Falschheit die letzten weißen Ritter der Wahrheit und Aufrichtigkeit sein? – Ja, wer denn sonst? Wem anders soll der Wähler vertrauen können, als dem, dem er seine Macht für eine gewisse Zeit übertragen hat? Der Vertrag zwischen Wähler und Gewähltem setzt wie bei jedem Vertrag die Gleichheit und die Aufrichtigkeit der Vertragspartner voraus. Die Entrüstung über unehrliche Politiker ist deswegen weder heuchlerisch noch naiv. Akzeptierte man Unaufrichtigkeit als eine hinzunehmende Eigenschaft der Politik, gäbe man exakt jenen Anspruch auf, mit dem einst gegen die Machiavellis die Demokratie errungen wurde.

(Juli 2010)

Zypern und die Sprache der Starken

Ein Aufatmen ging durch die deutschen Medien, nachdem sich die zyprische Regierung Sonntagnacht mit der »Troika« auf ein Rettungspaket »geeinigt« hatte: Unser Steuergeld ist in Sicherheit! Die Verursacher der Zypern-Krise müssen selbst für den von ihnen angerichteten Schaden blechen. Lobend äußerten sich die Kommentatoren dabei vor allem über die Unnachgiebigkeit des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, der für Deutschland die Verhandlungen führte.

Wie unnachgiebig diese Verhandlungsführung gewesen sein muss, geht aus einem Bericht des maltesischen Finanzministers Edward Scicluna hervor, der bei einer der Vorverhandlungen miterlebte, wie Schäuble den zyprischen Finanzminister Michalis Sarris über zehn Stunden so lange unter Druck setzte, bis der in die umstrittene Abgabe auf Bankguthaben einwilligte. Das »einwilligte« setzt Scicluna allerdings in Anführungszeichen: Mit der »Pistole am Kopf« habe sich Sarris »naturgemäß ungewöhnlich kooperativ verhalten«. Diese Verhandlung, schließt der maltesische Ökonom seinen Bericht, habe ihm darüber die »Augen geöffnet«, was ein kleines Land erwarte, wenn es sich um Hilfe an die Europa-Partner wenden müsse. Sie sei ihm eine »Lektion fürs Leben« gewesen.

Deutsche Politiker – allen voran die Kanzlerin und gleich hinter ihr der Kanzlerkandidat – gefallen sich in der letzten Zeit darin, anderen Nationen Lektionen zu erteilen. Diplomatische Rücksichtnahme halten sie dabei nicht für nötig, handelt es sich bei den Belehrten und Gescholtenen doch durchweg um kleine, unbedeutende Länder. In der unverhohlenen Sprache des Starken erklären Schäuble wie Steinbrück den Zyprioten, dass sie ein »Geschäftsmodell« betreiben, »das nicht mehr funktioniert«. Zypern spiele »mit dem Feuer« und treibe es »so weit, wie wir es bisher noch nicht gesehen haben«, droht die Kanzlerin, die sich keine Mühe gibt, ihren Ärger über die unbotmäßigen Insulaner zu unterdrücken.

Eine Sprache, die Machtanspruch und gleichzeitig Überlegenheit über die Adressaten signalisiert, scheint hierzulande gut anzukommen. Jedenfalls baute Angela Merkel schon während der Griechenland-Krise darauf, mit Belehrungen der »rückständigen« südlichen EU-Mitglieder bei ihrer Anhängerschaft zu punkten: Die Spanier, Portugiesen und Griechen sollten gefälligst später in Rente gehen und weniger Urlaub machen, dann könnten sie auch ihre Schulden bezahlen. So etwas gefällt natürlich den Stammtischen. Im Ausland fühlt man sich dagegen spätestens nach der Ankündigung Steinbrücks, mit der »Kavallerie« in die Schweiz einzufallen, an die Hunnen-Rede Kaiser Wilhelms II. erinnert. Der spanische Schriftsteller Javier Cercas sieht in Angela Merkel eine »unbarmherzige Walküre mit dem Auftrag, uns südliche Länder für die Sünden bezahlen zu lassen, die wir all die Jahre begangen haben. Die ökonomischen Bedingungen, die sie uns dabei aufzwingt, sind unerfüllbar und bringen Gefühle des Grolls und der Demütigung hervor«.

Groll und Demütigung wären noch die schwächsten Gefühle, die sich in Deutschland regten, käme der Repräsentant einer anderen Nation auf den Gedanken, uns vorzuhalten, dass unser »Geschäftsmodell« nicht funktioniere. Daran erinnerte am Wochenende angesichts von Wolfgang Schäubles starkem Auftritt der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. Er sagte, es gebe ja auch keinen Menschen, der öffentlich rüge, in Deutschland seien die Waffen- oder die Automobilindustrie zu groß.

Offenbar jedoch ist den deutschen Ratschlaggebern und Bevormundern nicht bewusst, was sie mit ihren starken Sprüchen im Ausland anrichten. Nämlich, wie die portugiesische Schriftstellerin Lídia Jorge kürzlich schrieb, »der Wiederauferstehung des Bildes der deutschen Vergangenheit Vorschub zu leisten«. Deshalb fühlt man sich hierzulande auch ungerecht behandelt, wenn in Athens Straßen Merkel-Porträts mit Hitler-Bärtchen herumgetragen werden.

(März 2013)

Die verrückten Griechen

Zu Beginn der griechischen Schuldenkrise galten die Griechen hierzulande bloß als faul. Inzwischen scheint man sich darüber einig zu sein, dass sie jetzt auch noch verrückt geworden sind. »Stern.de« beschrieb den griechischen Verteidigungsminister wegen seiner Flüchtlings-Drohungen als einen »Irren auf Ecstasy«. Und der Kolumnist von »Spiegel Online« meinte, der Auftritt der Syriza-Leute könne nur noch psychopathologisch verstanden werden. Die griechische Regierung leide eindeutig unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen.

Besonders der jüngste Plan des griechischen Justizministers, deutsches Eigentum in Griechenland beschlagnahmen zu lassen, kann in dieser Sicht nur einem »psychotischen Erleben« entsprungen sein. Tatsächlich aber beruht dieser Plan auf einer Entscheidung des griechischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1997. Das hatte damals festgestellt, dass den Familien der 1944 im mittelgriechischen Ort Distomo von den Nazis ermordeten Opfer eine Entschädigung von 28 Millionen Euro zustehe. Da sich Deutschland von jeher konstant weigerte und immer noch weigert, überhaupt eine Entschädigung für Nazi-Verbrechen in Griechenland zu zahlen, wäre die Beschlagnahmung also keineswegs psychotisch, sondern nach griechischem Recht vollkommen normal.

Deswegen, und weil die Beschlagnahmung im Zusammenhang der griechischen Schuldenkrise steht, dürfte sich die griechische Regierung nicht des Irrsinns, sondern allenfalls des Versuchs eines durchsichtigen Erpressungsmanövers überführt fühlen. Verständlich einerseits, wenn man wie sie mit dem Rücken zur Wand steht. Andererseits sammelt man so natürlich auch keine Beliebtheitspunkte.

Gleichwohl sind die – übrigens auch von konservativen Vorgängern der Syriza-Regierung erhobenen – Reparationsforderungen Griechenlands an Deutschland nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Insbesondere nicht die Forderung nach Rückzahlung eines Zwangskredits des Deutschen Reichs bei der griechischen Notenbank, damals in Höhe von 1,2 Billionen Drachmen, nach vorsichtigen Schätzungen heute umgerechnet bis zu 64 Milliarden Euro. Davon wurde nie ein Cent zurückgezahlt. In Bezug auf die übrigen Reparationszahlungen für Nazi-Kriegsverbrechen verweist Deutschland stur darauf, dass durch ein Globalentschädigungsabkommen Anfang der sechziger Jahre alle Ansprüche Griechenlands abgegolten seien. Gezahlt wurde damals allerdings bloß ein Bruchteil der von Griechenland heute errechneten Summe. Und auch sonst verstanden es die Rechtsnachfolger des Nazi-Regimes, sich trickreich aus der Verantwortung für dessen Untaten zu stehlen. Als die Regierung Kohl im Jahr 1990 zur deutschen Wiedervereinigung einen Vertrag mit den Siegermächten unterschrieb, vermied sie dabei mit Bedacht jede Formulierung, aus der sich weitere Entschädigungen hätten ableiten lassen.

Was Reparationszahlungen angeht, hat Deutschland sich nicht nur gegenüber Griechenland, sondern zum Beispiel auch gegenüber Italien von einem derartig peinlichen und unbeirrbaren Geiz leiten lassen, dass man sich fragen muss, wer denn nun hier verrückt ist. Denn auch Geiz kann psychotische Dimensionen annehmen. Zumal wenn er in Verbindung mit grenzenlosem Hochmut auftritt.

(März 2015)

Schämen für Deutschland

Die Scham ist ein elementares Gefühl. Zuallererst ist sie ein sehr persönliches, intimes Gefühl. Ich schäme mich, wenn ich bemerke, dass ein anderer mich nackt sieht. Diese Nacktheit kann aber auch eine geistig-moralische Blöße sein: Ich erblicke meine Triebe und Begierden mit den Augen eines Über-Ichs, einer moralischen Instanz. Insofern ist die Scham gleichzusetzen mit der Fähigkeit, sich als moralisches Subjekt wahrzunehmen, ja, sie ist sogar die Bedingung von Moral. Und deshalb ist sie auch ein politisches Gefühl.

Dieses Gefühl zeigte Bundespräsident Joachim Gauck vor einem Jahr sehr eindrucksvoll, als er in Griechenland ein Dorf besuchte, in dem die Nazi-Wehrmacht 1943 ein Massaker angerichtet hatte. Er sagte, dass er mit Scham und Schmerz im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung bitte. Joachim Gauck ist 1940 geboren. An den Nazi-Verbrechen mithin völlig unschuldig. Selbst wenn man also mit der »Gnade der späten Geburt« versehen ist, kann man sich für sein Land, Deutschland, schämen.

Das taten auch etliche Generationen, die weit nach 1945 geboren wurden, etwa wenn sie in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren ins Ausland fuhren. Im Blick der anderen sahen sie sich als die Nachkommen und Erben von Menschenschlächtern. Denn in dieser Zeit sprachen in Deutschland nicht nur noch die gleichen Richter Recht, die schon unter der Nazi-Diktatur Todesurteile gegen »Deserteure« fällten. Auch waren hier Politiker an der Macht – darunter allein drei Bundespräsidenten –, die NSDAP-Mitglieder waren. Noch in der Regierung Willy Brandts saßen zwölf ehemalige Nationalsozialisten am Kabinettstisch.

Zumindest deshalb muss man sich heute nicht mehr für Deutschland schämen. Das Alt-Nazi-Problem hat sich inzwischen biologisch erledigt. Doch auch für Neu-Nazis und Pegida-Dumpfbacken braucht man sich nicht zu schämen. Denn die werden von der demokratisch gesinnten Mehrheit verachtet und wirkungsvoll bekämpft. Auf die demokratische Festigkeit dieser Mehrheit kann man im Gegenteil stolz sein. Und auch darauf, wie gründlich wir Deutschen inzwischen unsere Nazi-Vergangenheit bearbeitet haben. Es vergehe kein Tag, schrieb vor Kurzem voller Anerkennung der Deutschland-Korrespondent des »Guardian«, an dem die Deutschen sich nicht dazu zwängen, sich an diese Vergangenheit zu erinnern.

Und doch, und doch denk ich an Deutschland mit Scham, möchte man in Erinnerung an Heinrich Heines vaterländische Pein rufen, wenn man an das Ende der Griechenlandreise von Bundespräsident Joachim Gauck denkt. Daran, wie bürokratisch kalt er da das Ansinnen der Griechen von sich wies, Deutschland solle endlich für die Verheerungen geradestehen, die das Nazi-Okkupationsregime ihrem Land zufügte. Und daran, mit welch ostentativer Verächtlichkeit und Arroganz deutsche Politiker und deutsche Medien in der Schuldenkrise mit Griechenland umspringen.

Leider gibt es außer dem Umgang mit Griechenland noch vieles mehr, das einem für Deutschland und seine Politik die Schamesröte ins Gesicht treibt. Und das liegt ebenfalls nicht so lange zurück, dass Nazis und Ex-Nazis dafür verantwortlich wären. Es ist das Verhalten eines demokratisch stabilen, allerdings eines sich seiner ökonomischen und politischen Stärke als europäische Hegemonialmacht zunehmend bewusster werdenden Deutschlands. Und zwar ein Verhalten, das in krassem Gegensatz zum Reichtum und zur Macht Deutschlands steht. Ein von fast pathologischem Geiz und von beklemmender Kleinlichkeit gekennzeichnetes Verhalten.

Äußerst widerwillig und nur auf Druck von US-Gerichten gewährte Deutschland beispielsweise im Jahr 2000 den NS-Zwangsarbeitern eine Entschädigung. Im Streit mit Italien um die Entschädigung italienischer Militärinternierten und Zwangsarbeiter schreckte die deutsche Regierung 2008 nicht davor zurück, den italienischen Staat vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen. Mit Erfolg beharrten die Deutschen hier wie auch im Fall griechischer Kläger auf dem völkerrechtlichen Grundsatz, dass Staaten an Privatpersonen keine Entschädigung zu zahlen brauchen. Stur pochen sie auf Prinzipien, wo mit ein wenig Großzügigkeit oder auch nur einer versöhnenden Geste Sympathien zu gewinnen wären. Und erst recht beschämend ist es derzeit zu beobachten, wie kleinkariert deutsche Ministerialbürokraten mit den afghanischen Helfern der Bundeswehr umspringen. Trotz eindeutiger Versprechen wird fast der Hälfte von ihnen kein Asyl gewährt, was sie der tödlichen Rache der Taliban ausliefert.

Scham als ein privates Gefühl macht ohnmächtig. Wer sich schämt, guckt zu Boden oder weg. Scham als politisches Gefühl dagegen fordert zum Handeln heraus – und macht wütend. Allerdings ist es wiederum beschämend, wie wenig wütend die Bundesbürger auf die mit schamloser Großmannssucht gepaarte Kleingeisterei derjenigen reagieren, die Deutschland nach außen repräsentieren. So bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens die Wut der von Deutschland im Süden Europas Beschämten sich bald nicht mehr nur im Kritzeln von Merkel-Karikaturen mit Hitler-Bärtchen entlädt. Sondern sich zu einer Stimme im europäischen Konzert formt, die Deutschland zurück zu der Demut bewegt, die einem Land mit seiner Vergangenheit zusteht.

(März 2015)

Schmutziger Deal

Ein signifikanter Maßstab für das Selbstbewusstsein von Nationen ist die Art und Weise, wie sie Außenpolitik betreiben. Je stärker sie zu sein meinen, desto gewissenloser handeln sie nach außen. Fühlen sie sich gar als ein »Imperium«, kennt ihre außenpolitische Skrupellosigkeit keine Schranken mehr.

Ein besonders sprechendes Beispiel für die neu-imperiale Skrupellosigkeit deutscher Außenpolitik ist der Umgang mit der Türkei. Mitte Oktober reiste die Kanzlerin dorthin, um dem quasi-diktatorisch regierenden Präsidenten ihre Aufwartung zu machen. Das war eine offensichtliche Unterstützung seines Wahlkampfes. Und damit auch seines brutalen Krieges gegen die Kurden, den er einzig deshalb vom Zaun gebrochen hatte, um seine Wiederwahl sicherzustellen.

Zweck dieser anbiedernden Wahlkampfhilfe der Kanzlerin und der damit verbundenen Aufwertung eines die Presse- und Meinungsfreiheit missachtenden Regimes war, dass die Türkei Flüchtlinge von Europa fernhalten soll. Doch hielt sich der türkische Präsident im Oktober gegenüber der Kanzlerin mit Versprechen noch zurück. Erst als Anfang dieses Monats die EU-Flüchtlingskonferenz, natürlich von Deutschland angetrieben, vor ihm auf die Knie fiel, ließ er sich gnädig zu ein paar vagen Zusagen herab. Für den Judaslohn von drei Milliarden Euro und das Versprechen auf Beitrittsverhandlungen will die Türkei die Zuwanderung vor allem syrischer Flüchtlinge nach Europa stoppen.

Wie genau dies geschieht, ist den Deutschen und den übrigen Europäern egal. Das ist ja der Sinn schmutziger Deals: dass man nicht so genau hinschaut. Hauptsache, die Türkei ist demnächst ein »sicherer Drittstaat«, aus dem man keine Flüchtlinge mehr aufnehmen muss. Zwar haben die Türken einige vorbildliche Vorzeige-Flüchtlingslager eingerichtet, aber der Mehrzahl der über zwei Millionen in der Türkei ausharrenden syrischen Flüchtlinge geht es sehr schlecht. Sie fallen in der Türkei nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention, haben mithin keine soziale Unterstützung, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und erst recht nicht zum Gesundheitssystem.

Und jetzt demonstriert die Türkei ihren deutschen und europäischen »Partnern« auch noch eindrücklich, was man sich unter einem »sicheren Drittstaat« vorzustellen hat. Und wie sie ihren Part bei dem in Brüssel beschlossenen Deal auszufüllen gedenkt. – Innerhalb der letzten fünf Tage nahmen türkische Behörden über 3.000 Flüchtlinge fest, die per Boot über die Ägäis nach Griechenland weiterreisen wollten. Sie befinden sich derzeit in Internierungslagern und sollen, so die türkische Nachrichtenagentur Dogan, dem Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention zum Hohn, in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. In ebenjene Gebiete, die derzeit mit Hilfe der deutschen Luftwaffe bombardiert werden.

Zyniker würden jetzt sagen, wer sich von einem autoritären Staat den Pelz waschen lässt, sollte nicht erwarten, dabei nicht nass zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die deutsche – und damit auch europäische – Abschottungs- und Außenpolitik inzwischen von ebensolchen Zynikern betrieben wird.

(Juni 2015)

Der hässliche Deutsche

Es gab eine Zeit, da galt in der Welt nur eines an den Deutschen als hässlich: der auf Kampf fixierte Fußball ihrer Nationalmannschaft. Nicht zu Unrecht nahmen viele Sprachen den »Rumpelfußball« in ihren Wortschatz auf. Das hat sich – noch vor Jogi Löws Zauberfußball – im »Sommermärchen« 2006 geändert. Da zeigte Deutschland nicht nur fußballerisch ein freundliches Gesicht und grämte sich nicht über seine Niederlage. Sondern präsentierte sich als eine Nation, der es in einer gewaltigen kollektiven Anstrengung gelungen ist, sich mit seiner katastrophalen Vergangenheit erfolgreich auseinanderzusetzen. Als ein weltoffenes und friedliches Land, das jede chauvinistische Hybris endgültig hinter sich gelassen hat.

Seit Beginn der europäischen Finanzkrise im Jahr 2009 kann man in Südeuropa, vor allem in Griechenland, überall Plakate sehen, auf denen die deutsche Bundeskanzlerin oder ihr Finanzminister mit Hitler-Bärtchen und Hakenkreuz abgebildet werden. Obwohl Karikatur: eine unangemessene Geschmacklosigkeit. Gleichwohl widerspiegelt sie ein europaweites Unbehagen an der Rolle der deutschen Politik in der Eurokrise. Durch den aus ihr resultierenden Zinsvorteil und seinen ungleichen Exportvorsprung baute Deutschland seine Hegemonialstellung in Europa nicht nur ökonomisch aus. Es sicherte sie durch massive Einflussnahme auf alle EU-Entscheidungen auch politisch ab. – Im letzten Jahrhundert habe man in zwei Kriegen verhindern müssen, dass Deutschland Europa beherrsche, schreibt ein Leser des britischen »Daily Telegraph«. Jetzt scheine es, als hätten die Deutschen dieses Ziel ohne einen einzigen Schuss erreicht.

Beim Griechenland-Gipfel am vergangenen Wochenende erklomm die deutsche Hegemonialpolitik einen Gipfel. Ganz im Stile ihrer vormaligen Rumpelfußballer, mit wenig diplomatischem Aufwand, setzten die Deutschen auf der ganzen Linie ihre Vorstellungen durch. Griechenland wurden weit härtere Auflagen auferlegt als das, was die Griechen in einem Referendum gerade abgelehnt hatten. Griechenland wird zu einem Protektorat der Eurozone. Die anderen Nationen beugten sich zwar den deutschen »Vorschlägen«. Doch sie murrten. Während der Verhandlungen entfuhr dem linken italienischen Regierungschef ein »Basta!« zur harten deutschen Haltung. Und die rechte Turiner Zeitung »La Stampa« schrieb: »In Griechenland wurde die Zivilisation geboren, in Deutschland die Barbarei.«

Nun ist es eine Sache, wenn eine Regierung die Interessen ihrer Banken und ihrer Industrie durchsetzt. Eine andere Sache aber ist, wie sie es tut. Als die Bundeskanzlerin nach dem Brüsseler Gipfel gefragt wurde, wo denn im Abschlusspapier die griechische Handschrift zu finden sei, antwortete sie, die gebe es »in Form des hohen Finanzbedarfs«. Mit anderen Worten: Mit den Griechen braucht man nicht zu verhandeln, denen diktiert man die Bedingungen. Ähnlich selbstgerecht und anmaßend äußern sich auch viele andere deutsche Politiker. »Der Grieche hat jetzt lang genug genervt«, sagte etwa CDU-Vize Thomas Strobl im Anschluss an den Gipfel.

Seit dem 1958 erschienenen Roman »The Ugly American« war das Attribut »hässlich« den Amerikanern, genauer: ihrem arroganten und ignoranten Verhalten anderen Nationen gegenüber vorbehalten. Jetzt sieht es ganz danach aus, als ob diese Eigenschaft nun auch den Deutschen zugeschrieben wird. – Wäre es da nicht besser, die deutsche Nationalelf spielte wieder Rumpelfußball und der Rest verhielte sich so, wie es sich für ein Land mit einem Restgefühl für politischen Anstand gehört?

(Juli 2015)

Das Mitleid der Macht

Der landläufigen Auffassung zum Trotz hatte der ansonsten dem Pessimismus verpflichtete Philosoph Arthur Schopenhauer nicht nur ein Herz für Pudel. Vielmehr stehen im Zentrum seiner Moralphilosophie Menschenliebe und Mitleid. Mitleid ist für ihn die Triebfeder jeder moralischen Handlung. Im Mitleid wird der Unterschied zwischen mir und dem anderen wenigstens zu einem gewissen Grad aufgehoben: Ich versetze mich an die Stelle des Leidenden, und das treibt mich zu »tätiger Hilfe« an.

Nun gab es vorgestern eine sehr anschauliche Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob auch für die Mächtigen das Mitleid die Triebfeder ihres moralischen Handelns ist. Anders gefragt: Verfügen die Mächtigen überhaupt über die Fähigkeit des Mitleidens?

In der Veranstaltungsreihe »Gut leben in Deutschland« sucht die Bundesregierung den Dialog mit den Bürgern. Am vergangenen Dienstag begegnete die Bundeskanzlerin dabei in einer Rostocker Schule einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen. Zehn Minuten lang unterhielten sich die Kanzlerin und die elfjährige Reem. Reem erzählte in fließendem Deutsch, dass sie sich in Deutschland wohlfühle und sich wünsche, sie könne hier bleiben und studieren. Allerdings habe sie auch sehr viel Angst, weil der Aufenthaltsstatus ihrer Familie unklar sei und sie kurz davor seien, abgeschoben zu werden. Die Kanzlerin hörte aufmerksam zu, fragte sogar ein paarmal nach. Dann aber erklärte sie mit der Emotionslosigkeit, die man von ihr gewohnt ist, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen könne und dass von den hier lebenden leider auch einige zurückgeschickt werden müssten. »Das ist manchmal auch hart, Politik«, sagte sie. Worauf Reem in Tränen ausbrach. Und dann geschah es: Die Kanzlerin unterbrach ihre Rede, ging zu dem Mädchen, streichelte es und versuchte es mit den Worten »Das hast du doch prima gemacht!« zu trösten.

Die Szene ist auf Youtube eingestellt und wurde bisher über eine Million Mal angeklickt. Im Netz zerreißt man sich vor Häme und vor Zorn über das Verhalten der Kanzlerin. Kaum jemand hält die mitleidige Streichelgeste Angela Merkels für echt. Sondern für eine Aktion, deren Kalkuliertheit die fehlende Empathie der Kanzlerin umso deutlicher offenlege. – Ist die Kanzlerin wirklich so gefühllos? Unfähig zu wirklichem Mitleid?

Schopenhauer setzte seinen Mitleidsbegriff scharf von der Vorstellung ab, dass man sich im Mitleid ganz und gar »an die Stelle« des Leidenden versetze. Wer das tue, vergesse, dass der andere den Schmerz empfinde und nicht er selbst. Das heißt, er bemitleidet sich selbst und nicht den anderen. Diese Gefühlsregung nennt man Sentimentalität.

Wer Politik in dem Stil betreibt und Macht so ausübt, wie Angela Merkel und ihre Große Koalition das tun, der leistet sich öffentlichkeitswirksam durchaus mal die eine oder andere Sentimentalität. Mitleid aber kann dabei auf gar keinen Fall eine Rolle spielen. Mitleid, Mitleid im Schopenhauer’schen Sinne, kann auch nicht zum persönlichen Gefühlsrepertoire der so Agierenden gehören. Man kann nicht eine so egoistische und Griechenland kaltschnäuzig ins Elend treibende Europapolitik durchsetzen und gleichzeitig Mitleid mit den Griechen haben. Man kann nicht Gesetze erlassen, die alle nach Deutschland eingereisten Flüchtlinge kriminalisieren und mit Haft bedrohen, und ihnen, bevor sie wieder abgeschoben werden, gleichzeitig mitfühlend übers Haar strubbeln.

Leiden die Mächtigen also an einer durch die Macht verursachten Schizophrenie, die die Regung des Mitleids ausradiert? Vielleicht. Auf der Hand liegt allerdings auch, dass sie nicht diese, sondern eine ganz andere Politik betreiben könnten. Eine Politik, deren Triebfeder die Moral, also das Mitleiden mit anderen sein könnte.

Übrigens hat Angela Merkel in den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft noch nie ein Flüchtlingsheim in Deutschland besucht.

(Juli 2015)

Eine Staatsaffäre

Statt Sommerloch jetzt also eine veritable Staatsaffäre. Von einer Staatsaffäre spricht man, wenn die staatliche Macht sich durch ihr Fehlverhalten selbst in Frage stellt. Die Affäre um den Rauswurf des Generalbundesanwalts Harald Range ist eine Staatsaffäre. Denn nicht der Rauswurf selbst, noch nicht einmal das Verhalten des geschassten Range ist der Skandal. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass zumindest drei Bundesministerien – Justizministerium, Innenministerium und Bundeskanzleramt – in eine staatliche Abschreckungsoffensive gegen die Pressefreiheit verstrickt sind.

Die Strafanzeige wegen angeblichen Landesverrats gegen zwei Journalisten – Ausgangspunkt dieser Offensive – wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz erstattet. Dessen Präsident Hans-Georg Maaßen ist zwar ein Scharfmacher, der immer wieder eine vorgebliche Sicherheit über die Freiheitsrechte stellt, die er eigentlich schützen müsste. Doch Maaßens Dienstherr ist der Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Der muss – entgegen seinem scheinheiligen Dementi – von Maaßens Strafanzeige gewusst, sie zumindest geduldet haben.

Auch die Ahnungslosigkeit, die Bundesjustizminister Heiko Maas vorgibt, ist unglaubwürdig. Als Dienstherr des Generalbundesanwalts muss er von Anfang an – also schon vor drei Monaten – in die Vorbereitung der Ermittlungen gegen die Journalisten eingebunden gewesen sein. Und dass Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator Peter Altmaier von all dem überhaupt keinen Schimmer gehabt haben will, kann ebenfalls nicht der Wahrheit entsprechen. Wenn ein Geheimdienstkoordinator nicht weiß, was seine Geheimdienste treiben, sollte er sich einen anderen Job suchen.

Der Geheimdienst also. In dem Fall das Bundesamt für Verfassungsschutz. Jene Behörde, die mit Vorliebe Neonazis als sogenannte V-Leute einsetzt und diese so weit deckt, dass daran ein NPD-Verbot scheiterte. Das Amt, das Akten schredderte, um die Verwicklung seiner Spitzel und ihrer beamteten Führer in die NSU-Morde zu vertuschen. Ebendieses Bundesamt für Verfassungsschutz hatte Strafanzeige wegen des Verrats eines »Staatsgeheimnisses« gestellt. Das Geheimnis, das wahrscheinlich ein Mitarbeiter des Amtes an die Presse weitergegeben hatte, war unter anderem ein Operationsplan zum »Ausbau der Internetüberwachung«. Welch ein Geheimnis!

Erklärt ein Verfassungsschutz Pläne, die ohnehin ein offenes Geheimnis sind, zum Staatsgeheimnis, erhebt er sich zum Selbstzweck – und damit über den Staat. Dann schützt er nicht mehr dessen Verfassung, sondern nur noch sich selbst. Und wenn die durch ihre drei wichtigsten Ministerien vertretene Bundesregierung diese Auffassung ihres Verfassungsschutzes nicht nur teilt, sondern offensiv verteidigt, offenbart sie ein äußerst problematisches Staatsverständnis. Nämlich das eines absoluten Staates, wie der Philosoph Thomas Hobbes es im 17. Jahrhundert in seinem »Leviathan« entworfen hat: eine allmächtige Instanz, der sich alle zu unterwerfen haben und deren Macht über jeder Gerechtigkeit steht.

Kern dieses absolutistischen Staatsverständnisses ist das »arcanum imperii«, das Staatsgeheimnis. Damit ist nicht weniger als die prinzipielle Unkontrollierbarkeit staatlicher Macht bezeichnet. Wenn sich in einem aufgeklärten, liberalen Staat des 21. Jahrhunderts ein Geheimdienst wie der Verfassungsschutz zum Hüter eines so verstandenen Staatsgeheimnisses macht, gehört er nicht nur reformiert. Er gehört abgeschafft. Und mit ihm alle Minister in den Ruhestand geschickt, die ihn verteidigen.

(August 2015)

Die Bundeswehr als Reservepolizei?

im Louvre ein Bildungs-, jetzt ist es ein eher beklemmendes Erlebnis: Bevor man sich überhaupt in die notorische Warteschlange vor der Pyramide einreihen darf, muss man einen Kordon schwer bewaffneter Soldaten passieren. Überhaupt gleicht Paris seit den Anschlägen des »Islamischen Staates« einer belagerten Festung. Überall patrouilliert Militär. Die französische Republik hat sich durch den Terror in den permanenten Ausnahmezustand drängen lassen, in dem das Militär Aufgaben der Polizei übernimmt.

In Deutschland dagegen erzeugt der Anblick von Bundeswehrsoldaten in der Öffentlichkeit keine Beklemmung, sondern eher Erleichterung und oft sogar Freude und Rührung. Zum Beispiel, wenn man die jungen Rekruten beim Schleppen von Sandsäcken bei den Elbhochwassern der vergangenen Jahre sieht. Oder beim Schneeschippen bei vorzeitigen Wintereinbrüchen. Dass Bundeswehrsoldaten damit beauftragt werden, bewaffnet auf den Straßen zu patrouillieren, Menschen festzunehmen und zu verhören – das ist bei uns schlicht unvorstellbar. Damit waren sie ja schon, wie man weiß, bei Auslandseinsätzen wie zum Beispiel im Kosovo überfordert. – Doch nun findet sich mit einem Mal die Forderung nach solchem Bundeswehreinsatz im Inneren in der neuesten Fassung des vom Bundesverteidigungsministerium herausgegebenen »Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr.«

Als Begründung hat Verteidigungsministerin von der Leyen dort hineinschreiben lassen, dass »Charakter und Dynamik gegenwärtiger und zukünftiger sicherheitspolitischer Bedrohungen« eine »Weiterentwicklung« der »Gefahrenabwehr durch die Bundeswehr« erforderlich machten. Vager und fadenscheiniger kann man einen Tabubruch nicht begründen. Dass der Polizeieinsatz der Bundeswehr in Deutschland ein im Grundgesetz festgeschriebenes Tabu ist, hat seinen Grund in der unseligen Rolle, die das Militär bei uns im Kaiser- und im »Dritten« Reich spielte.

Hinter der kalten Geschichtsvergessenheit dieses Tabubruchs steht natürlich ein politisches Kalkül: der Wink nach rechts. Angesichts des AfD-Aufschwungs mit autoritär-militaristischen Konzepten auf Wählerfang zu gehen. Doch das ist bloß ein – wohl auch der Profilierungssucht der Verteidigungsministerin zuzuschreibender – plumper und dummer Bauernfängertrick. Der spontane Aufschrei der SPD und der Opposition gegen den Vorschlag der Verteidigungsministerin zeigt, dass es die für eine Verfassungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit in den beiden Parlamentskammern nicht gibt und so bald auch nicht geben wird.

Zu Recht ist die Empörung gegen diesen Vorstoß groß. – Hassobjekt und Angriffsziel des islamistischen Terrors sind die westlichen Grundwerte. Und die sind in den Verfassungen, bei uns im Grundgesetz, verankert. Würde das angesichts der Bedrohung über Bord gekippt, hätten seine Feinde ein weiteres Ziel erreicht.

(April 2016)

Vertuschung statt Aufklärung (NSU-Prozess)

Eine Krähe, sagt man, hackt der anderen kein Auge aus. Amtsträger wie die Bundesanwaltschaft und die deutschen Geheimdienste als Krähen zu bezeichnen, ist sicherlich nicht sehr respektvoll. Aber verdient ihr Verhalten im und um den NSU-Prozess herum tatsächlich Respekt? Schon seit Beginn des Prozesses schlich sich der Verdacht ein, die Bundesanwaltschaft stelle sich schützend vor die Geheimdienste und deren Verwicklung in die Machenschaften der braunen Terroristen des NSU. Jetzt, fast drei Jahre nach seinem Beginn, erhärtet sich dieser Verdacht, und damit wird immer fraglicher, ob der Prozess jemals die Wahrheit über die Hintergründe der NSU-Morde ans Licht bringen wird.