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Ein brutaler Mord, ein verschwundenes Meisterwerk und ein Geheimnis, das nur Gabriel Allon lösen kann
Der Kunstrestaurator und legendäre Spion Gabriel Allon ist heimlich nach London gereist, um an einem Empfang in der Courtauld Gallery teilzunehmen, bei dem die Rückgabe eines gestohlenen Selbstporträts von Vincent van Gogh gefeiert wird. Doch als ein alter Freund der Polizei von Devon und Cornwall ihn um Hilfe bei einer rätselhaften Mordermittlung bittet, sieht er sich mit einem mächtigen und gefährlichen neuen Gegner konfrontiert.
Bei dem Opfer handelt es sich um Charlotte Blake, eine gefeierte Professorin für Kunstgeschichte aus Oxford. Ihr Mord scheint das Werk eines teuflischen Serienmörders zu sein, der sein Unwesen treibt.
Gabriel findet bald heraus, dass Professor Blake nach einem geraubten Picasso im Wert von mehr als 100 Millionen Dollar gesucht hat, und nimmt die Jagd nach dem Gemälde auf, wie nur er es kann – mit einer Reise quer durch Europa.
Eine schillernde Geschichte über Mord, Macht und unersättliche Gier, die den Leser bis zur letzten Seite in ihren Bann zieht
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Zum Buch
Der Kunstrestaurator und legendäre Spion Gabriel Allon ist heimlich nach London gereist, um an einem Empfang in der Courtauld Gallery teilzunehmen, bei dem die Rückgabe eines gestohlenen Selbstporträts von Vincent van Gogh gefeiert wird. Doch als ein alter Freund der Polizei von Devon und Cornwall ihn um Hilfe bei einer rätselhaften Mordermittlung bittet, sieht er sich mit einem mächtigen und gefährlichen neuen Gegner konfrontiert.
Bei dem Opfer handelt es sich um Charlotte Blake, eine gefeierte Professorin für Kunstgeschichte aus Oxford. Ihr Mord scheint das Werk eines teuflischen Serienmörders zu sein, der sein Unwesen treibt.
Gabriel findet bald heraus, dass Professor Blake nach einem geraubten Picasso im Wert von mehr als 100 Millionen Dollar gesucht hat, und nimmt die Jagd nach dem Gemälde auf, wie nur er es kann – mit einer Reise quer durch Europa.
Zum Autor
Daniel Silva ist der preisgekrönte SPIEGEL-Bestsellerautor von 24 Romanen, darunter Der englische Spion, Der russische Spion, Die Fälschung, Die Attentäterin, Das Vermächtnis, Die Verschwörung, Der Kunstsammler, Der Drahtzieher: Ein Gabriel Allon-Thriller, Der Raub, Der Geheimbund und Die Cellistin. Seine Bücher sind weltweit von Kritikern gelobte Bestseller und erscheinen in über 30 Sprachen.
Daniel Silva
Die Verschwörung
Ein Gabriel-Allon-Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch vonWulf Bergner
HarperCollins
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel Death in Cornwall bei Harper, New York.
© 2025 by Daniel Silva
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von bürosüd, München
Coverabbildung von ecstk22, Taiga / Shutterstock
E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749908592
www.harpercollins.de
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Wie immer für meine Frau Jamie und meine Kinder Lily und Nicholas
Lassen Sie mich Ihnen von den sehr Reichen erzählen. Die sind anders als Sie und ich.
F. Scott Fitzgerald
Dies ist der fünfte Roman der Gabriel-Allon-Reihe, der zum Teil in der englischen Grafschaft Cornwall spielt. Nachdem eine Autobombe in Wien seine erste Familie ausgelöscht hatte, hatte Gabriel in dem Dorf Port Navas am Helford River Zuflucht gefunden. Aus dieser Zeit datiert seine Freundschaft mit dem damals elf Jahre alten Timothy Peel. Einige Jahre später kehrte Gabriel mit Chiara, seiner zweiten Frau, nach Cornwall zurück und mietete in der Gemeinde Gunwalloe ein Cottage auf einer Klippe. Timothy Peel, inzwischen ein junger Mann Anfang zwanzig, war dort ein häufiger Besucher.
TEIL EINS
DER PICASSO
Das erste Anzeichen dafür, dass irgendwas nicht stimmte, war das Licht hinter dem Küchenfenster von Wexford Cottage. Vera Hobbs, die Besitzerin der Cornish Bakery in Gunwalloe, entdeckte es am dritten Dienstag im Januar um 5.25 Uhr. Dieser Wochentag war auffällig, denn Professorin Charlotte Blake, die Eigentümerin des Cottage, lebte teils in Cornwall, teils in Oxford. In der Regel traf sie am Donnerstagabend in Gunwalloe ein und fuhr am Montagnachmittag wieder ab, weil lange Wochenenden zu den vielen Privilegien ihres akademischen Lebens gehörten. Weil ihr dunkelblauer Vauxhall nicht mehr da war, schien sie zur gewohnten Zeit abgereist zu sein. Das brennende Licht war jedoch eine auffällige Unregelmäßigkeit, denn als überzeugte Umweltschützerin hätte Professorin Blake sich lieber einem Schnellzug in den Weg gestellt, als auch nur ein einziges Watt an elektrischer Energie zu verschwenden.
Das Cottage hatte sie mit dem Ertrag ihres Bestsellers über Picassos Leben und Arbeit in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs gekauft. Ihr beißend kritischer neuer Blick auf Paul Gauguin, der drei Jahre später erschien, hatte sich noch besser verkauft. Vera hatte versucht, im Lamb and Flag eine Buchparty zu organisieren, aber Professorin Blake, die irgendwie Wind von dem Projekt bekommen hatte, machte klar, dass sie nicht gefeiert werden wollte. »Falls es eine Hölle gibt«, erläuterte sie, »sind ihre Insassen dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit das Erscheinen der neuesten Papier vergeudenden Werke anderer zu feiern.«
Diese Bemerkung machte sie in ihrem perfekten BBC-Englisch mit dem ironischen Unterton von Menschen, die durch Geburt privilegiert sind. Dabei stammte sie gar nicht aus der Oberschicht, wie Vera eines Nachmittags im Internet entdeckte. Ihr Vater war ein aufwiegelnder Gewerkschaftler aus Yorkshire gewesen, der den erbitterten Bergarbeiterstreik in den achtziger Jahren angeführt hatte. Als begabte Schülerin war sie zum Studium in Oxford zugelassen worden, wo sie Kunstgeschichte studiert hatte. Nach einem kurzen Gastspiel in der Londoner Tate Modern und einem noch kürzeren bei Christie’s war sie nach Oxford zurückgekehrt, um dort zu lehren. Ihrer offiziellen Biografie nach galt sie als eine der weltbesten Expertinnen auf dem Gebiet der Provenienzforschung.
»Was um Himmels willen bedeutet das?«, fragte Dottie Cox, die Besitzerin des kleinen Supermarkts.
»Offenbar geht’s darum, die Geschichte von Gemälden durch Eigentümer und Ausstellungen zu belegen.«
»Ist das wichtig?«
»Erklär mir was, Dottie. Liebste. Wie könnte jemand eine Expertin für etwas sein, das nicht verdammt wichtig ist?«
Interessanterweise war Professorin Blake nicht die erste Person aus der Kunstwelt, die sich in Gunwalloe niederließ. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, dem menschenscheuen Restaurator, der einige Zeit in dem Cottage über dem Strand gewohnt hatte, war sie jedoch unfehlbar höflich. Wohlgemerkt nicht gesprächig, aber immer mit einem freundlichen Gruß und ihrem bezaubernden Lächeln. Die männlichen Einwohner von Gunwalloe waren sich darüber einig, ihr Foto auf dem Buchumschlag sei sehr unvorteilhaft gewesen. Ihr beinahe schulterlanges Haar war fast schwarz mit einer einzelnen provokant grauen Strähne. Ihre Augen leuchteten geheimnisvoll kobaltblau, die dunklen Ringe unter ihnen trugen nur dazu bei, ihren Reiz zu verstärken.
»Glosend«, erklärte Duncan Reynolds, ein pensionierter Schaffner der Great Western Railway. »Erinnert mich an diese mysteriösen Frauen, die man in Pariser Cafés sieht.« Soweit bekannt, war der alte Duncan jedoch nie näher an Paris herangekommen als bis zum Bahnhof Paddington Station.
Es hatte einmal einen Mr. Blake gegeben, einen nicht sehr bedeutenden Maler, aber die beiden hatten sich scheiden lassen, als sie noch in der Tate war. Jetzt, im Alter von zweiundfünfzig Jahren, auf dem Höhepunkt ihres Berufslebens, war Charlotte Blake weiterhin ledig und allem Anschein nach auch nicht liiert. Sie hatte niemals Übernachtungsgäste und gab keine Einladungen. Tatsächlich war Dottie Cox die einzige Einwohnerin, die sie jemals mit einem anderen Menschen gesehen hatte. Das war im vergangenen November drunten in Lizard Point gewesen. Die beiden hatten auf der windigen Terrasse des Cafés Polpeor eng zusammengesessen: die Professorin und ihr Geliebter.
»Attraktiver Deubel, das war er. Ein richtiger Charmeur. Jemand, mit dem es nur Ärger gibt.«
An diesem Januarmorgen, an dem es bei eisigem Wind von der Mount’s Bay her in Strömen goss, dachte Vera Hobbs jedoch am wenigsten an Charlotte Blakes Liebesleben. Nicht solange der Chopper auf freiem Fuß war. Erst vor knapp zwei Wochen hatte er wieder gemordet: eine siebenundzwanzigjährige Frau aus Holywell an der Nordküste von Cornwall. Wie die drei vorigen Frauen hatte er sie mit einem Hackmesser zerstückelt. Einen kleinen Trost fand Vera in der Tatsache, dass keiner der Morde sich bei Regenwetter ereignet hatte. Der Chopper schien ein Schönwetterfreak zu sein.
Trotzdem sah Vera Hobbs sich mehrmals besorgt um, als sie über die einzige Straße von Gunwalloe hastete – eine namenlose Straße ohne Hausnummern. Die Cornish Bakery stand zwischen dem Lamb and Flag und Dottie Cox’ Corner Market eingeklemmt, der an gar keiner Ecke stand. Eine halbe Meile weiter führte die Straße am Golfclub Mullion und der alten Pfarrkirche vorbei. Abgesehen von dem einige Jahre zurückliegenden Vorfall im Cottage des Restaurators passierte in Gunwalloe nicht viel, was den etwa zweihundert Seelen, die dort lebten, gerade recht war.
Um sieben Uhr hatte Vera die erste Partie Würstchen im Schlafrock und traditionelles Cottage-Brot gebacken. Sie atmete im Stillen erleichtert auf, als Jenny Gibbons und Molly Reece, ihre beiden Angestellten, kurz vor acht eilig hereinkamen. Jenny übernahm die Verkaufstheke, während Molly Vera bei den in Cornwall beliebten Steakpasteten half. Im Hintergrund liefen die Nachrichten von Radio Cornwall. In der vergangenen Nacht hatte es keinen Mord gegeben – aber auch keine Festnahme. Ein vierundzwanzigjähriger Motorradfahrer war bei einem Zusammenstoß vor dem Morrisons in Long Rock schwer verletzt worden. Laut Wetterbericht würde das nasskalte, windige Wetter tagsüber anhalten, bis der Regen am frühen Abend aufhörte.
»Gerade rechtzeitig, damit der Chopper sein nächstes Opfer finden kann«, warf Molly ein, als sie die Fleisch-Gemüse-Füllung auf ein rundes Stück Teig löffelte. Sie war eine schwarzäugige Waliser Schönheit, groß und temperamentvoll. »Er ist überfällig, wisst ihr. Bisher hat er nie länger als zehn Tage gewartet, bis er wieder einem armen Mädchen den Schädel eingeschlagen hat.«
»Vielleicht hat er genug.«
»Hat sich ausgetobt? Ist das deine Theorie, Vera Hobbs?«
»Und wie lautet deine?«
»Ich denke, dass er gerade erst angefangen hat.«
»Du bist jetzt eine Expertin, was?«
»Ich sehe mir alle Krimis an.« Molly klappte den Teig über die Füllung und drückte die Ränder zusammen. Sie arbeitete rasch und geschickt. »Vielleicht hört er eine Weile auf, aber irgendwann macht er weiter. So sind diese Serienmörder. Sie können nicht anders.«
Vera schob das erste Blech Pasteten in den Backofen, rollte den nächsten Teigklumpen aus und schnitt den Teig in untertellergroße Stücke. Seit zweiundvierzig Jahren jeden Tag das Gleiche, dachte sie. Ausrollen, schneiden, füllen, falten, zusammendrücken. Nur sonntags nicht. An ihrem sogenannten Ruhetag kochte sie ein richtiges Mittagessen, während Reggie sich mit Stout betrank und in der Glotze Fußball guckte.
Sie nahm eine Schüssel Hühnchenfüllung aus dem Kühlschrank. »Hast du zufällig gesehen, dass in Professorin Blakes Cottage Licht brennt?«
»Wann?«
»Heute Morgen, Molly, Liebste.«
»Nö.«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Wen?«
Vera seufzte. Sie hatte geschickte Hände, das musste man ihr lassen, aber sie war nicht die Hellste. »Professorin Blake, meine Liebe. Wann hast du sie zum letzten Mal zu Gesicht bekommen?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Gib dir Mühe.«
»Vielleicht gestern.«
»Nachmittags, oder?«
»Schon möglich.«
»Wo war sie da?«
»In ihrem Auto.«
»Wohin unterwegs?«
Molly nickte nach Norden. »Landeinwärts.«
Weil die Halbinsel The Lizard der südlichste und westlichste Punkt der Britischen Inseln war, lag jeder andere Ort Großbritanniens landeinwärts. Aber das suggerierte, Professorin Blake sei nach Oxford unterwegs gewesen. Trotzdem fand Vera, es könne nicht schaden, einen Blick durchs Küchenfenster des Wexford Cottage zu werfen, was sie nachmittags um halb vier während einer Regenpause tat. Was sie gesehen hatte, berichtete sie Dottie Cox eine Stunde später im Lamb and Flag. Sie saßen wie immer in ihrer gemütlichen Fensternische und hatten zwei Gläser Sauvignon Blanc aus Neuseeland zwischen sich stehen. Die Wolkendecke war endlich aufgerissen, und die Sonne begann hinter der Mount’s Bay unterzugehen. Unter dem schwarzen Wasser lag irgendwo dort draußen die versunkene Stadt Lyonesse. Zumindest der Sage nach.
»Und du weißt bestimmt, dass im Ausguss Geschirr gestanden hat?«, fragte Dottie.
»Und auch auf der Arbeitsplatte.«
»Schmutzig?«
Vera nickte ernst.
»Du hast geklingelt, stimmt’s?«
»Zweimal.«
»Und die Haustür?«
»Abgesperrt.«
Dottie gefiel nicht, was sie gehört hatte. Das brennende Licht war eine Sache, das schmutzige Geschirr eine ganz andere. »Ich denke, wir sollten sie vielleicht anrufen, nur um sicherzugehen.«
Vera musste ziemlich lange suchen, aber dann hatte sie die Telefonnummer des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Universität Oxford. Die junge Frau, die sich meldete, klang wie eine Studentin. Als Vera bat, mit Professorin Blakes Büro verbunden zu werden, herrschte zunächst Schweigen.
»Wer sind Sie bitte?«, fragte die junge Frau dann.
Vera nannte ihren Namen.
»Und woher kennen Sie Professorin Blake?«
»Wir wohnen in Gunwalloe in derselben Straße.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Augenblick bitte«, sagte die junge Frau und verband Vera mit Professorin Blakes Anrufbeantworter. Sie ignorierte die Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen, und rief stattdessen die Devon and Cornwall Police an. Nicht die Hauptnummer, sondern eine speziell eingerichtete Hotline. Der Mann, der sich meldete, machte sich nicht die Mühe, seinen Namen oder Dienstgrad zu nennen.
»Ich habe das schreckliche Gefühl, dass er wieder zugeschlagen hat«, sagte Vera.
»Wer?«
»Der Chopper. Wer sonst?«
»Bitte weiter.«
»Vielleicht sollte ich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Ich bin Detective Sergeant.«
»Sehr beeindruckend. Und Sie heißen, mein Lieber?«
»Peel«, antwortete er. »Detective Sergeant Timothy Peel.«
»Na so was«, sagte Vera. »Wer hätte das gedacht?«
Es war kurz nach sieben, als Sarah Bancroft, noch in den Klauen eines turbulenten Traums, eine Hand nach der anderen Bettseite ausstreckte und nur kühle ägyptische Baumwolle berührte. Und dann fiel ihr die Textnachricht ein, die Christopher ihr gestern am Spätnachmittag geschickt hatte: die Ankündigung einer plötzlichen Reise mit ungenanntem Ziel. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sarah im Wiltons an ihrem gewohnten Tisch gesessen und nach der Arbeit einen Martini Belvedere – drei Oliven, staubtrocken – genossen. Weil die Vorstellung, einen weiteren Abend allein verbringen zu müssen, sie deprimierte, hatte sie unklugerweise einen zweiten Martini bestellt. An die folgenden Ereignisse konnte sie sich nur undeutlich erinnern. Nach einer regnerischen Taxifahrt hatte sie zu Hause in Kensington in dem Sub-Zero etwas Gesundes gesucht. Als sie nicht fündig wurde, hatte sie sich für einen Becher Häagen-Dazs Vanilla Caramel Brownie entschieden. Danach war sie zur rechten Zeit für die News at Ten ins Bett gefallen. Der Aufmacher handelte von der Auffindung einer Toten bei Land’s End in Cornwall, allem Anschein nach das fünfte Opfer eines Serienmörders, den die Boulevardpresse The Chopper nannte.
Es wäre nur logisch gewesen, wenn Sarah ihre wirren Träume auf den zweiten Martini oder den kornischen Axtmörder zurückgeführt hätte, aber in Wirklichkeit barg ihr Unterbewusstsein mehr als genug Schrecken, um ihr Albträume zu bescheren. Außerdem schlief sie nie gut, wenn Christopher fort war. Als Offizier des Secret Intelligence Service MI6 musste er oft verreisen, in letzter Zeit häufig in die Ukraine. Sarah hatte Verständnis für seine Arbeit, weil sie in einem früheren Leben selbst eine CIA-Agentin gewesen war. Jetzt war sie Geschäftsführerin einer phasenweise solventen Altmeistergalerie in St. James’s. Ihre Konkurrenten wussten nichts von ihrer komplizierten Vergangenheit und noch weniger über ihren attraktiven Ehemann mit den markanten Gesichtszügen, den sie für einen erfolgreichen Unternehmensberater namens Peter Marlowe hielten. Daher die Maßanzüge, der Bentley Continental und die Maisonette in Queen’s Gate Terrace, eine der luxuriösesten Adressen Londons.
Über die auf den Park hinausführenden Fenster ihres Schlafzimmers liefen Regentropfen. Weil Sarah noch nicht bereit war, es mit dem Tag aufzunehmen, schloss sie nochmals die Augen und döste, bis sie sich kurz vor acht zum Aufstehen aufraffte. Unten in der Küche hörte sie Radio 4, während sie darauf wartete, dass der Kaffeeautomat von Krups seine Arbeit tat. Die Tote in Cornwall hatte über Nacht eine Identität bekommen: Charlotte Blake, Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Oxford. Diesen Namen kannte Sarah natürlich, denn Blake war eine weltbekannte Expertin auf dem Gebiet der Provenienzforschung gewesen. Außerdem lag ein Exemplar ihres kürzlich erschienenen Bestsellers über Paul Gauguins turbulentes Leben im Augenblick auf Sarahs Nachttisch.
Die übrigen Morgennachrichten waren kaum besser. Insgesamt zeichneten sie ein Bild von einem Staat in stetigem Niedergang. Eine Studie war zu dem Ergebnis gelangt, der Durchschnittsbrite werde bald ärmer sein als seine Pendants in Polen und Slowenien. Und ein britischer Untertan, der einen Schlaganfall hatte, würde wahrscheinlich eineinhalb Stunden warten müssen, bis ein Krankenwagen ihn in die nächste Notaufnahme fuhr, in denen wegen Überfüllung jede Woche etwa fünfhundert Menschen starben. Selbst der Royal Mail, einer der angesehensten britischen Institutionen, drohte der Kollaps.
Es waren die Konservativen, seit über einem Jahrzehnt an der Macht, die diesem Niedergang tatenlos zugesehen hatten. Und weil der Premierminister strauchelte, standen sie vor einem erbitterten Wettstreit um die Führungsposition. Sarah fragte sich, weshalb irgendein Tory-Politiker sich diesen Job antun wollte. Labour lag in allen Umfragen weit vorn und würde die nächsten Wahlen voraussichtlich locker gewinnen. Sarah würde jedoch nicht über die nächste britische Regierung abstimmen dürfen. Obwohl sie sich in besten Kreisen bewegte und mit einem SIS-Offizier verheiratet war, blieb sie doch ein Gast in diesem Land.
Eine gute Nachricht gab es an diesem Morgen trotzdem – ausgerechnet aus der Kunstwelt. Vincent van Goghs Selbstporträt mit verbundenem Ohr und Pfeife, vor über einem Jahrzehnt gewaltsam aus der Courtauld Gallery geraubt, war in Italien unter mysteriösen Umständen sichergestellt worden. Das Gemälde würde an diesem Abend auf einem Empfang für geladene Gäste im kürzlich renovierten großen Saal der Galerie präsentiert werden. Die Crème de la Crème der Londoner Kunstszene würde kommen, also auch Sarah. Sie hatte ihren Master in Kunstgeschichte am Courtauld Institute gemacht, bevor sie in Harvard promoviert hatte, und saß jetzt im Verwaltungsrat der Galerie. Außerdem war sie zufällig eine enge Freundin und Kollegin des in Venedig lebenden Restaurators, der den van Gogh vor seiner Rückkehr nach Großbritannien wieder in Form gebracht hatte. Auch er wollte an der Präsentation teilnehmen – natürlich inkognito. Sonst hätte seine Anwesenheit die Rückkehr des ikonischen Werks überschatten können.
Weil die Präsentation relativ früh angesetzt war – um achtzehn Uhr, mit anschließendem Cocktailempfang –, entschied Sarah sich für einen Rock und einen eleganten zweireihigen Blazer von Stella McCartney. Eine Dreiviertelstunde später klapperten die Absätze ihrer Pumps von Prada rhythmisch übers Pflaster des Mason’s Yard, einem stillen kleinen Platz mit Geschäften hinter der Duke Street. Isherwood Fine Arts, seit 1968 Lieferant von Altmeistern in Museumsqualität, residierte in der Nordostecke des Innenhofs in drei Stockwerken eines viktorianischen Lagerhauses, das einmal Fortnum & Mason gehört hatte. Wie meistens traf Sarah als Erste ein. Nachdem sie die Alarmanlage ausgeschaltet hatte, öffnete sie die beiden Türen – eine aus massivem Edelstahl, die andere aus Panzerglas – und trat ein.
Das Büro der Galerie lag im ersten Stock. Früher hatte hier der Schreibtisch einer Rezeptionistin gestanden – die betörende, aber wertlose Ella hatte zuletzt hier gesessen –, aber Sarah hatte diesen Posten als Einsparungsmaßnahme abgeschafft. Für Telefon, E-Mail-Verkehr und Terminkalender war jetzt sie zuständig. Außerdem führte sie das Alltagsgeschäft der Galerie und hatte bei Ankäufen ein Vetorecht. Rücksichtslos hatte sie viele Gemälde aus dem Lagerbestand der Galerie – in Soundsos Manier, Werkstatt von Soundso – zu Schnäppchenpreisen abgestoßen. Trotzdem war Sarah noch Kuratorin einer der größten Altmeistersammlungen Englands, mit der sie ein kleines Museum hätte füllen können, wenn ihr der Sinn danach gestanden hätte.
Weil sie an diesem Vormittag keine Termine hatte, nahm sie sich eine ausstehende Rechnung vor: die eines belgischen Sammlers, der schockiert darüber zu sein schien, dass er ein von Isherwood Fine Arts gekauftes französisches Gemälde tatsächlich bezahlen sollte. Das gehörte zu den ältesten Tricks von Kunstsammlern, die sich so für ein paar Monate ein Gemälde ausliehen und es dann zurückschickten. Julian Isherwood, Gründer und Namensgeber der Galerie, schien sich auf solche Arrangements spezialisiert zu haben. Nach Sarahs Schätzung hatte Isherwood Fine Arts Außenstände von über einer Million Pfund für schon versandte Gemälde. Sie war entschlossen, jeden Penny davon einzufordern, und wollte gleich mit den hunderttausend Pfund anfangen, die ein gewisser Alexis de Groote aus Antwerpen ihnen schuldete.
»Diese Sache möchte ich lieber mit Julian besprechen«, wehrte der Belgier ab.
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Er möchte mich anrufen, sobald er eintrifft.«
»Ja, natürlich«, sagte Sarah und legte auf, als Julian hereingewankt kam. Heute schon um kurz nach elf, viel früher als sonst. In letzter Zeit schaute er gegen Mittag in der Galerie vorbei und saß um dreizehn Uhr in einem der besseren Londoner Restaurants, meist in weiblicher Begleitung.
»Du hast bestimmt von der armen Charlotte Blake gehört«, sagte er zur Begrüßung.
»Schlimm«, antwortete Sarah.
»Ein schreckliches Ende für die Ärmste. Ihr Tod wird einen Schatten auf den heutigen Abend werfen.«
»Zumindest, bis der van Gogh enthüllt wird.«
»Will unser Freund wirklich daran teilnehmen?«
»Chiara und er sind gestern Abend angekommen. Die Courtauld hat sie im Dorchester untergebracht.«
»Großzügig, muss ich sagen.« Julian zog seinen Regenmantel aus und hängte ihn an den Kleiderständer. Er trug einen Nadelstreifenanzug mit lavendelblauer Krawatte. Seine üppigen grauen Locken brauchten einen Schnitt. »Um Himmels willen, was ist das für ein grässliches Geräusch?«
»Könnte das Telefon sein.«
»Soll ich drangehen?«
»Wenn du’s noch kannst.«
Er griff stirnrunzelnd nach dem Hörer und hob ihn resolut ans Ohr. »Isherwood Fine Arts. Julian Isherwood am Apparat … Ja, sie ist hier. Augenblick, bitte.« Er schaffte es, das Telefon stummzustellen, ohne die Verbindung zu unterbrechen. »Amelia March von ARTnews möchte dich sprechen.«
»In welcher Sache?«
»Hat sie nicht gesagt.«
Sarah nahm den Hörer entgegen. »Amelia, Schätzchen. Was kann ich für dich tun?«
»Ich hätte gern einen Kommentar zu einer spannenden Story, an der ich arbeite.«
»Du meinst den Mord an Charlotte Blake?«
»Tatsächlich betrifft sie die Identität des geheimnisvollen Restaurators, der den van Gogh für die Courtauld gereinigt hat. Du errätst nie, wer er ist.«
»Von wem sie die Story wohl hat?«
»Bestimmt nicht von mir«, sagte Gabriel. »Ich rede nicht mit Journalisten.«
»Außer es dient deinen Zwecken, versteht sich.« Chiara drückte sanft seine Hand. »Das ist in Ordnung, Darling. Nach all diesen Jahren anonymer Arbeit hast du ein bisschen Anerkennung verdient.«
Zu Gabriels riesigem Werk als Restaurator gehörten Gemälde von Bellini, Tizian, Tintoretto, Veronese, Caravaggio, Canaletto, Rembrandt, Rubens und Anthonis van Dyck – alles während seiner Tätigkeit als Agent des viel gerühmten israelischen Geheimdiensts. Isherwood Fine Arts war seit Jahrzehnten an seinen Täuschungsmanövern beteiligt gewesen. Nach seiner Pensionierung als Direktor des Diensts leitete er jetzt die Abteilung Gemälderestaurierung der Tiepolo Restauration Company, der bekanntesten Firma dieser Art in Venedig. Chiara war dort Geschäftsführerin. Praktisch bedeutete das, dass Gabriel für seine Frau arbeitete.
Sie waren auf dem Berkeley Square unterwegs. Gabriel trug einen halblangen Mantel über seinem Kaschmirpullover mit Reißverschluss und einer Flanellhose. Seine Beretta 92FS, die er mit Billigung seiner Freunde bei den Geheimdiensten eingeführt hatte, drückte beruhigend gegen sein Kreuz. Chiara, die über ihrer Lycrahose einen Daunenmantel trug, war unbewaffnet.
Sie zog ihr Smartphone aus ihrer Umhängetasche. Wie Gabriel hatte sie ein israelisches Solaris, angeblich das abhörsicherste Handy der Welt.
»Irgendwas?«, fragte er.
»Noch nicht.«
»Worauf wartet sie deiner Meinung nach?«
»Ich stelle mir vor, dass sie vor ihrem Computer hockt und versucht, die Story in Worte zu fassen.« Chiara musterte ihn von der Seite aus. »Keine beneidenswerte Aufgabe.«
»Wie schwierig kann das sein?«
»Du würdest dich wundern.«
»Darf ich eine plausiblere Erklärung für die Verzögerung anbieten?«
»Unbedingt.«
»Amelia March, eine ehrgeizige und tatkräftige Journalistin, ist gegenwärtig dabei, ihren Exklusivbericht auszuschmücken, indem sie Hintergrundinformationen über ihre Zielperson sammelt.«
»Für eine berufliche Retrospektive?«
Gabriel nickte.
»Was gibt’s daran auszusetzen?«
»Das hängt davon ab, denke ich, welche Seite meiner Karriere sie auszuleuchten versucht.«
Die groben Umrisse von Gabriels privater beruflicher Biografie waren bereits Allgemeinwissen: dass er in einem Kibbuz im Jesreeltal geboren war, dass seine Mutter eine der prominentesten Malerinnen Israels gewesen war, dass er kurz an der Jerusalemer Bezalel-Akademie für Kunst und Design studiert hatte, bevor er zum Geheimdienst gegangen war. Weniger bekannt war, dass er seine Tätigkeit abrupt beendet hatte, nachdem eine Autobombe in Wien seinen kleinen Sohn getötet und seine erste Frau mit katastrophalen Brandwunden und einer akuten Posttraumatischen Belastungsstörung zurückgelassen hatte. Gabriel hatte sie in einer psychiatrischen Privatklinik in Surrey untergebracht und sich in einem Cottage im hintersten Cornwall verbarrikadiert. Und dort wäre er geblieben, gebrochen und trauernd, hätte er nicht einen Auftrag in Venedig angenommen, wo er sich in die schöne, eigenwillige Tochter des Oberrabbiners der Stadt verliebte, ohne zu ahnen, dass sie eine Agentin des Dienstes war, den er quittiert hatte. Eine komplizierte Geschichte, gewiss, aber für eine Rechercheurin wie Amelia March nicht außer Reichweite. Sie kam Gabriel immer wie eine Journalistin vor, die in ihrer untersten Schreibtischschublade einen fertigen Roman liegen hat – ein funkelndes, geistreiches Buch voller Intrigen aus der Kunstwelt.
Chiara runzelte die Stirn, als sie wieder auf den Bildschirm sah.
»Ist’s so schlimm?«, fragte Gabriel.
»Das war nur meine Mutter.«
»Wo liegt das Problem?«
»Sie macht sich Sorgen, ob Irene eine ungesunde Obsession wegen der Erderwärmung entwickelt.«
»Das fällt deiner Mutter erst jetzt auf?«
Im zarten Alter von acht Jahren war ihre Tochter schon eine radikale Klimaaktivistin. Im Frühwinter hatte sie an ihrer ersten Demonstration auf dem Markusplatz teilgenommen. Gabriel fürchtete, die Kleine sei dabei, ins Militante abzugleiten, und werde sich bald an unersetzliche Kunstwerke kleben oder sie mit grüner Farbe bespritzen. Ihr Zwillingsbruder Raphael interessierte sich nur für Mathematik, für die er ungewöhnlich begabt war. Irene wollte, dass er seine Talente dafür einsetzte, den Planeten zu retten. Gabriel hoffte jedoch noch immer, der hochbegabte Junge werde sich stattdessen für die Malerei entscheiden.
»Vermute ich richtig, dass deine Mutter mich für die Obsession unserer Tochter verantwortlich macht?«
»Offenbar ist alles meine Schuld.«
»Eine kluge Frau, deine Mutter.«
»Im Allgemeinen«, stellte Chiara fest.
»Kann sie Irene aus dem Gefängnis raushalten, während wir weg sind, oder sollen wir auf die Enthüllung verzichten und gleich heimfliegen?«
»Nein, sie schlägt sogar vor, dass wir uns noch ein, zwei Tage in London amüsieren.«
»Klasse Idee.«
»Nur leider unmöglich«, sagte Chiara. »Du hast ein Altarbild zu restaurieren.«
Es handelte sich um Il Pordenones ziemlich gewöhnliche Version von Mariä Verkündigung, die er für die Kirche Santa Maria degli Angeli auf Murano gemalt hatte. Mehrere weitere Gemälde in dieser Kirche – alle weniger bedeutend – mussten ebenfalls gereinigt werden. Dies war ihr erstes Projekt, seit sie die Tiepolo Restoration Company übernommen hatten, und sie waren schon einige Wochen in Verzug. Die Restaurierung musste termingerecht und ohne Kostenüberschreitungen abgeschlossen werden. Trotzdem wären zwei weitere Tage in London vorteilhaft gewesen, weil sie Gabriel Gelegenheit verschafft hätten, ein paar private Aufträge zu akquirieren, um ihr behagliches Leben in Venedig zu bestreiten. Ihre riesige Wohnung in einer Beletage mit Blick auf den Canal Grande hatte das kleine Vermögen verschlungen, das er in seinem Leben als Restaurator angesammelt hatte. Und dazu kam natürlich noch sein Segelboot, ein Bavaria C42. Die Finanzen der Familie Allon mussten dringend aufgefrischt werden.
Diesen Punkt sprach er seiner Frau gegenüber vorsichtig an, als sie auf die Mount Street abbogen.
»Ich denke, dass du reichlich Aufträge bekommst, sobald Amelias Artikel erschienen ist«, antwortete sie.
»Außer er ist das Gegenteil von schmeichelhaft. Dann muss ich Touristen auf der Riva degli Schiavoni Canaletto-Kopien verkaufen, damit wir über die Runden kommen.«
»Wieso sollte Amelia March ausgerechnet über dich einen Verriss schreiben?«
»Vielleicht mag sie mich nicht.«
»Ausgeschlossen! Alle lieben dich, Gabriel.«
»Nicht alle«, widersprach er.
»Sag mir einen einzigen Menschen, der dich nicht bewundert.«
»Der Barista im Cupido.«
Das war ein Café mit Pizzeria auf den Fondamente Nove in Cannaregio. Gabriel kehrte dort fast jeden Morgen ein, bevor er mit dem Vaporetto 4.1 nach Murano übersetzte. Und der Barista stellte ihm seinen Cappuccino jedes Mal mit einem Ausdruck höflicher Verachtung hin.
»Meinst du Gennaro?«, fragte Chiara.
»Heißt er so?«
»Er ist wirklich süß. Verziert meinen Schaum immer mit Herzchen.«
»Ich frage mich, weshalb.«
Chiara akzeptierte das Kompliment mit bescheidenem Lächeln. Obwohl ihre erste Begegnung zwanzig Jahre zurücklag, stand Gabriel weiter im Bann der außergewöhnlichen Schönheit seiner Frau – mit klassisch schönen Zügen, der dunklen Lockenmähne mit rotbraunen und rötlichen Strähnen, den karamellbraunen Augen, die er nie ganz richtig auf die Leinwand brachte. Ihr Körper war sein liebstes Sujet, und seine Skizzenbücher waren voller Akte, von denen viele ohne Einwilligung des schlafenden Modells entstanden waren. Er hatte gehofft, seinen Fundus vergrößern zu können, bevor sie abends in die Courtauld gingen. Chiara war nicht abgeneigt, bestand aber darauf, erst einen längeren Spaziergang zu machen und richtig zu lunchen.
Jetzt blieb sie vor einer Boutique von Oscar de la Renta stehen. »Ich glaube, ich lasse dich mir diesen wundervollen kleinen Hosenanzug kaufen.«
»Was ist mit dem, den du eingepackt hast, nicht in Ordnung?«
»Mit dem Armani?« Sie zuckte mit den Schultern. »Mir ist nach etwas Neuem. Ich habe das Gefühl, dass mein Mann heute Abend im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen wird, und möchte einen guten Eindruck machen.«
»Du könntest einen Rupfensack tragen und wärst trotzdem die schönste Frau im Saal.«
Gabriel folgte ihr in die Boutique, die sie eine Viertelstunde später mit Einkaufstaschen verließen. Chiara hakte sich bei ihm ein, als sie der sanften Kurve des Carlos Place folgten.
»Erinnerst du dich an unseren letzten Spaziergang in London?«, fragte sie. »Bei dem du den Selbstmordattentäter entdeckt hast, der zum Covent Garden wollte.«
»Hoffentlich findet Amelia nicht irgendwie heraus, welche Rolle ich dabei gespielt habe.«
»Oder den Vorfall in der Downing Street«, sagte Chiara.
»Und was ist mit dieser Sache außerhalb der Westminster Abbey?«
»Mit der Tochter des Botschafters. Dein Name hat in allen Zeitungen gestanden. Sogar mit Bild.«
Gabriel seufzte. »Vielleicht solltest du noch mal die Webseite von ARTnews checken.«
»Das musst du machen. Mir graut davor.«
Gabriel zog sein Smartphone heraus.
»Nun?«, fragte Chiara nach kurzer Pause.
»Meine Befürchtungen, Amelia March sei eine ehrgeizige und tatkräftige Journalistin, scheinen begründet gewesen zu sein.«
»Was hat sie rausgekriegt?«
»Dass ich zu den drei besten Restauratoren der Welt gehöre.«
»Wen erwähnt sie noch?«
»Dianna Modestini und David Bull.«
»Illustre Gesellschaft.«
»Ja«, bestätigte Gabriel und steckte sein Handy wieder ein. »Anscheinend mag sie mich doch.«
»Natürlich tut sie das, Darling.« Chiara lächelte. »Wer täte das nicht?«
Sie lunchten im Socca, einem teuren Bistro in der South Audley Street, und kehrten unter plötzlich hell scheinender Wintersonne ins Hotel zurück. Oben in ihrer Suite liebten sie sich ohne Eile, fast quälend langsam. Gabriel sank erschöpft in traumlosen Schlaf. Als er aufwachte, sah er Chiara in ihrem neuen Hosenanzug mit einer Perlenkette um den Hals am Fußende des Betts stehen.
»Beeil dich lieber«, sagte sie. »Der Wagen kommt in einer Viertelstunde.«
Er stellte die Füße auf den Boden und ging ins Bad, um zu duschen. Vor dem Spiegel hielt er sich nicht lange auf. Keine Wundercremes oder Lotionen, nur ein Kamm fürs Haar, das er länger als seit vielen Jahren trug. Danach zog er einen Einreiher von Brioni an, zu dem er eine Regimentskrawatte trug. Seine Accessoires beschränkten sich auf seinen Ehering, eine Armbanduhr von Patek Philippe und eine Pistole von der Fabricca d’Armi Pietro Beretta.
Chiara trat neben ihn vor den Wandspiegel. Mit ihren High Heels war sie größer als Gabriel.
»Was denkst du?«, fragte sie.
»Ich denke, dass bei deiner Jacke der oberste Knopf fehlen muss.«
»So soll sie sitzen, Darling.«
»Dann wär’s vielleicht besser, darunter einen Rollkragenpullover zu tragen. Später wird’s sicher recht frisch.«
Die unten wartende Limousine war ein Jaguar, den ihnen die Courtauld Gallery geschickt hatte. Sie befand sich auf The Strand neben dem King’s College im Somerset-House-Komplex. Am Eingang stand Amelia March, die sehr zufrieden mit sich selbst wirkte, mit mehreren Kollegen, die ebenfalls aus der Kunstwelt berichteten. Gabriel ignorierte ihre Fragen, auch weil sein plötzlich vibrierendes Smartphone ihn ablenkte. Er zog es aus der Tasche, sobald er im Foyer war. Den Namen des Anrufers erkannte er natürlich, aber seine Stimme schien eine halbe Oktave tiefer geworden zu sein, seit er sie zum letzten Mal gehört hatte.
»Nein«, sagte Gabriel. »Überhaupt kein Problem … Am Kai in Port Navas? Ich bin morgen Nachmittag da. Spätestens um drei.«
Mitten im strahlend hell erleuchteten großen Saal der Courtauld stand Selbstporträt mit verbundenem Ohr und Pfeife, 60 mal 49 Zentimeter, mit einem weißen Tuch verhüllt und von vier Wachleuten umgeben auf einem mit Filztuch bezogenen Piedestal. Zumindest im Augenblick war das Gemälde nur Nebensache.
»Ich hab’s gleich gewusst, als ich Sie gesehen habe«, behauptete Jeremy Crabbe, der Tweed liebte und bei Bonham’s für Alte Meister zuständig war.
»Das bezweifle ich sehr«, sagte Gabriel.
»Erinnern Sie sich an den beschädigten Schinken, den Julian und Sie mir bei einer Morgenversteigerung vor gefühlt hundert Jahren abgeluchst haben?«
»Los dreiundvierzig. Daniel in der Löwengrube.«
»Genau! Sechsundachtzig mal hundertvierundzwanzig Zoll, wenn ich mich recht erinnere.«
»Das tun Sie nicht«, sagte Gabriel. »Die Leinwand war hundertachtundzwanzig Zoll breit.«
Jeremy Crabbe hatte das Gemälde dem flämischen Maler Erasmus Quellinus zugeschrieben, aber jeder Dummkopf hätte die Pinselführung von Peter Paul Rubens erkennen müssen. Gabriel hatte es gereinigt, und Julian hatte ein Vermögen damit verdient.
»Ich nehme an, dass auch er in Ihr kleines Geheimnis eingeweiht war«, sagte Jeremy.
»Julian? Der hatte keinen blassen Schimmer.«
Jeremy wollte etwas antworten, aber Gabriel wandte sich abrupt ab und ergriff die ausgestreckte Hand von Niles Dunham, einem Kurator der National Gallery, der für sein meist unfehlbares Auge bekannt war.
»Gut gespielt, alter Junge«, murmelte er. »Wirklich sehr gut gespielt.«
»Danke, Niles.«
»Woran arbeiten Sie gerade?«
Gabriel sagte es ihm.
»Il Pordenone?« Niles verzog angewidert das Gesicht. »Der ist unter Ihrer Würde.«
»Das habe ich auch schon gehört.«
»Ich hätte vielleicht etwas Interessanteres, wenn Sie Zeit dafür finden könnten.«
»Sie können sich mich nicht leisten, Niles.«
»Und wenn ich Ihr übliches Honorar verdoppeln würde? Wie kann ich Sie erreichen?«
Gabriel deutete auf Sarah Bancroft.
»Ist sie auch eine Spionin?«, fragte Niles.
»Sarah? Lächerliche Frage.«
Niles sah zweifelnd zu dem rundlichen Oliver Dimbleby hinüber, einem zu Recht verrufenen Altmeisterhändler aus der Bury Street. »Oliver sagt, dass ihr Mann ein ehemaliger Auftragskiller ist.«
»Oliver sagt alles Mögliche.«
»Wer ist das bildschöne Wesen neben ihm?«
»Meine Frau.«
»Gut gespielt«, sagte Niles Dunham neidisch. »Wirklich sehr gut.«
Die nächste Hand, die Gabriel schüttelte, gehörte Nicholas Lovegrove, dem Kunstberater der Superreichen. »Eben ist der Penny gefallen«, sagte er halblaut.
»Echt jetzt?«
»Diese spezielle Winterversteigerung vor ein paar Jahren bei Christie’s. An diesem Abend ist im Saal etwas Komisches vor sich gegangen.«
»Das ist meistens der Fall, Nicky.«
Lovegrove widersprach nicht, sondern wechselte das Thema. »Einer meiner Klienten denkt daran, seinen Gentileschi zu verkaufen«, sagte er. »Aber der braucht ein paar Retuschen und neuen Firnis. Besteht die Möglichkeit, dass Sie den Auftrag annehmen?«
»Das hängt davon ab, ob Ihr Klient Geld hat.«
»Im Augenblick nicht. Teure Scheidung. Aber ich denke, ich könnte ihm eine Beteiligung am Versteigerungserlös schmackhaft machen.«
»Woran haben Sie gedacht?«
»Zwei Prozent.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Also gut, fünf. Aber das ist mein letztes Angebot.«
»Sagen wir zehn, dann haben Sie einen Deal.«
»Straßenraub.«
»Das wissen Sie am besten, Nicky.«
Lovegrove lächelte nur und winkte eine hochgewachsene Frau mit den ebenmäßigen Zügen eines Models heran. »Dies ist meine liebe Freundin Olivia Watson«, erklärte er Gabriel. »Olivia gehört eine ungeheuer erfolgreiche Galerie für zeitgenössische Kunst in der King Street.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Kennt ihr euch?«
»Ich hatte noch nie das Vergnügen.« Das war gelogen. Olivia hatte Gabriel geholfen, das internationale Terrornetzwerk des Islamischen Staats zu zerschlagen.
»Wir haben gerade ein außergewöhnliches junges spanisches Talent unter Vertrag genommen«, teilte sie ihm mit.
»Tatsächlich? Wie heißt er?«
»Sie«, sagte Olivia mit wissendem Lächeln. »Die Vernissage ist in sechs Wochen. Wir würden uns geehrt fühlen, wenn Sie kämen.«
»Unwahrscheinlich«, antwortete Gabriel. Dann zeigte er auf einen Mann, der von Personenschützern begleitet den Saal betrat. »Aber vielleicht kommt er an meiner Stelle.«
Der Mann war Hugh Graves, der britische Innenminister – und nächster Hausherr der Nummer 10 Downing Street, wenn die Londoner Klatschbasen recht behielten. Begleitet wurde er von seiner Frau Lucinda, CEO des Vermögensverwalters Lambeth Wealth Management. Nach letzter Schätzung war das Paar hundert Millionen Pfund schwer, die ausschließlich Lucinda gehörten. Ihr Mann hatte keinen Tag in der Privatwirtschaft gearbeitet, sondern war von Cambridge aus direkt in die Politik gegangen. Von seinem Ministergehalt hätte er kaum die Fensterputzer für ihre Villen in Holland Park und Surrey bezahlen können.
Der Auftritt des Innenministers lenkte die Gäste zumindest vorübergehend von Gabriel ab, eine willkommene Entwicklung. »Wieso kommt der zukünftige Innenminister zu unserer kleinen Soirée?«, fragte er.
»Lucinda sitzt im Verwaltungsrat der Courtauld«, sagte Lovegrove. »Sie gehört auch zu den größten Förderern des Museums. Ich glaube sogar, dass ihre Firma den heutigen Abend gesponsert hat.«
»Wie viel kann es kosten, ein Tuch von einem Gemälde zu ziehen?«
»Du hast vergessen, den Champagner und die Kanapees zu erwähnen.«
Hugh Graves wechselte plötzlich seine Richtung. »Oh nein«, sagte Olivia starr lächelnd. »Ich habe das schreckliche Gefühl, dass er zu uns will.«
»Bestimmt zu Ihnen«, sagte Gabriel.
»Ich wette auf Sie.«
»Ich auch«, stimmte Lovegrove zu.
Unterwegs wurde der Innenminister mehrmals von reichen Gästen aufgehalten, die ihn ihrer Unterstützung versicherten. Als er schließlich vor Gabriel stand, stieß er mit seiner Hand wie mit einem Bajonett zu.
»Ein Vergnügen, Sie endlich kennenzulernen, Mr. Allon. Wie Sie sich denken können, habe ich viel über Ihre Erfolge gehört. Wie lange wollen Sie in London bleiben?«
»Nicht sehr lange, fürchte ich.«
»Ob Sie wohl Zeit haben, ein paar Minuten im Innenministerium vorbeizuschauen? Ich würde liebend gern Ihre Meinung zu den jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten hören.«
»Seit wann ist das Innenministerium für den Nahen Osten zuständig?«
»Es kann nie schaden, seinen Horizont zu erweitern, nicht wahr?«
»Vor allem nicht, wenn man wahrscheinlich der nächste Premierminister wird.«
Graves setzte ein eingeübtes Lächeln auf. Er war achtundvierzig und fotogen wie ein Fernsehmoderator. »Wir haben einen Premier, Mr. Allon.«
Aber vermutlich nicht mehr lange. Zumindest wurde darüber in Whitehall spekuliert. Die Londoner Medien waren sich darüber einig, Hillary Edwards, die historisch unpopuläre britische Premierministerin, könne von Glück sagen, wenn sie den Winter überlebe. Und wenn sie dann gehen musste, würde der ehrgeizige Hugh Graves ihr nach allgemeiner Überzeugung die Tür weisen.
»Wie wär’s mit morgen Mittag?«, schlug er vor. »Wenn keine Krise dazwischenkommt, lade ich Sie zum Lunch ein.«
»Ich bin jetzt pensioniert, Secretary Graves. Ich schlage vor, dass Sie statt meiner mit dem israelischen Botschafter sprechen.«
»Er ist ein ziemlich unangenehmer Bursche, wenn Sie mich fragen.«
»Das steht in seiner Stellenbeschreibung, fürchte ich.«
Der Direktor der Courtauld hatte das Rednerpult neben dem Piedestal erreicht. Hugh Graves kehrte zu seiner Frau zurück. Gabriel ließ sich von Olivia Watson auf die Wange küssen, bevor er sich unauffällig auf den Weg zu Julian Isherwood hinüber machte. Der Galerist starrte mürrisch seine Schuhspitzen an.
»Anscheinend ist die Katze endlich aus dem Sack.« Er sah auf und fixierte Gabriel gespielt vorwurfsvoll. »Wenn ich daran denke, dass du mich all die Jahre getäuscht hast …«
»Kannst du mir das jemals verzeihen?«
»Ich würde den Leuten lieber erzählen, dass ich von Anfang an in den Scherz eingeweiht war.«
»Das könnte deinem Ruf schaden, Julian.«
»Du bist das Beste, was mir jemals zugestoßen ist, mein Junge. Und natürlich Sarah. Ich weiß nicht, was ich ohne sie täte.«
Der Direktor tippte kurz aufs Mikrofon, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Wo war er?«, fragte Julian.
»Der van Gogh? In einer Villa bei Amalfi.«
»Wem gehört die Villa?«
»Lange Geschichte.«
»Zustand?«
»Bemerkenswert gut. Ich habe das Original kopiert, als ich’s in meinem Atelier hatte. Der geschätzte Direktor der Courtauld Gallery, selbst ein Van-Gogh-Experte, konnte die Kopie nicht vom Original unterscheiden.«
»Böser Junge«, sagte Julian. »Böser, böser Junge.«
Der Direktor fasste sich gnädigerweise kurz. Einige wenige Bemerkungen über die katastrophalen Folgen der um sich greifenden Kunstdiebstähle, dann eine noch knappere Vorstellung Gabriels. Der lehnte es dankend ab, auch ein paar Worte zu sprechen, fand sich aber bereit, gemeinsam mit Lucinda Graves das weiße Tuch wegzuziehen.
Zwei Kuratoren hängten das Gemälde wieder an seinen angestammten Platz, und dann kamen die Ober mit Hors d’oeuvres und dem Bollinger. Gabriel und Chiara tranken beide nur ein Glas Champagner: Sie hatten für einundzwanzig Uhr eine Reservierung bei Alain Ducasse im Dorchester. Kurz nach halb acht fuhren sie in dem Jaguar mit Chauffeur über den Piccadilly.
»Bilde ich mir das nur ein«, fragte Chiara, »oder hat dir das Spaß gemacht?«
»Fast so sehr wie neulich mein Ausflug nach Russland.«
Chiara sah aus ihrem Fenster, betrachtete die glänzenden Ladenfronten. »Und der Anruf, den du bekommen hast, als wir zum Eingang unterwegs waren?«
»Ein Detective der Devon and Cornwall Police.«
»Was hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte sie seufzend.
»Nichts. Er möchte, dass ich ihm bei Mordermittlungen helfe.«
»Geht’s etwa um die bei Land’s End tot aufgefundene Oxford-Professorin?«
»Ja.«
»Wie kommt er ausgerechnet auf dich?«
»Er ist ein alter Freund von mir.« Gabriel lächelte. »Auch von dir.«
Am folgenden Morgen stand Gabriel vor Tagesanbruch auf und holte bei Hertz am Marble Arch einen Volkswagen ab. Auf der Fahrt nach Heathrow las Chiara die Nachrichten auf ihrem Handy.
»Anscheinend redet ganz London von dir, Darling. Es gibt sogar ein schönes Foto, auf dem du mit Lucinda Graves den van Gogh enthüllst. Du machst eine sehr gute Figur, muss ich sagen.«
»Wie sind die Besprechungen?«
»Durchweg positiv.«
»Auch im Guardian?«
»Verzaubert.«
»Von mir oder dem van Gogh?«
»Von beiden.« Chiara klappte ihre Sonnenblende herunter und begutachtete sich in dem Make-up-Spiegel. »Ich sehe schrecklich aus.«
»Das sehe ich anders. Ich überlege schon, ob es nicht zu riskant ist, dich unbegleitet fliegen zu lassen.«
»Ich würde liebend gern nach Cornwall mitkommen, aber ich muss eine Kirche restaurieren und eine Mutter retten.« Chiara klappte die Sonnenblende wieder hoch. »Glaubst du, dass sie sich an mich erinnern?«
»Wer?«
»Vera und Dottie und die übrigen Stammgäste im Lamb and Flag.«
»Wie könnten sie uns jemals vergessen?«
Chiara musterte ihn leicht vorwurfsvoll. »Du warst sehr unfreundlich zu ihnen, Gabriel.«
»Das war nicht ich«, wehrte er ab. »Ich habe damals nur eine Rolle gespielt.«
»Giovanni Rossi. Der launische, aber hochbegabte italienische Restaurator.«
»Seine Frau war sehr attraktiv, wie ich mich erinnere.«
»Und bei den Einheimischen sehr beliebt.« Chiara steckte das Handy in ihre Umhängetasche. »Schade, dass wir nicht länger in Gunwalloe geblieben sind. Sonst hätten wir Charlotte Blake kennengelernt.«
Gabriel dachte darüber nach, als die Ausfahrt Heathrow angekündigt wurde. »Da hast du recht.«
»Ich habe immer recht.«
»Nicht immer«, sagte Gabriel.
»Wann habe ich mich jemals geirrt?«
»Lass mir ein, zwei Wochen Zeit. Dann fällt mir bestimmt was ein.«
»Du solltest dich fragen, weshalb Timothy Peel möchte, dass du nach Cornwall kommst, um bei den Ermittlungen wegen des Mordes an Professorin Blake zu helfen.«
»Er wusste, dass ich in England bin.«
»Er verfolgt die Nachrichten aus der Kunstwelt?«
»Nein«, sagte Gabriel. »Nur Nachrichten über mich.«
»Bestimmt hat er dir wenigstens irgendeinen Hinweis darauf gegeben, worum es sich handelt.«
»Er wollte nicht am Telefon darüber sprechen.«
»Worum könnte es gehen?«
»Um etwas, das mit Kunst zusammenhängt, denke ich.«
»Etwas, woran Blake gearbeitet hat, als sie ermordet wurde?«
»Eine interessante Theorie«, sagte Gabriel.
»Könnte es einen Zusammenhang geben?«
»Zwischen Charlotte Blakes hypothetischem Forschungsprojekt und ihrer Ermordung durch einen verrückten Axtmörder?«
»Der Chopper benutzt ein Hackmesser, Dummkopf.«
»Eine ganz untaugliche Mordwaffe, wenn du mich fragst. Effektiv, ja. Aber recht schmutzig.«
»Hast du jemals eines benutzt?«
»Ein Hackmesser? Ich weiß bestimmt, dass ich noch nie ein Hackmesser für irgendwas gebraucht habe – schon gar nicht, um jemanden zu ermorden. Dafür gibt es Schusswaffen.«
»Ich denke, ich würde lieber erschossen als in Stücke gehackt zu werden.«
»Glaub mir«, sagte Gabriel, »auch eine Kugel ist kein Spaß.«
In einem schäbigen kleinen Café in Slough trank er einen Kaffee, bis Chiaras Maschine sicher in der Luft war, glitt dann hinters Lenkrad seines Mietwagens und fuhr auf dem M4 nach Westen. Kurz vor Mittag erreichte er Exeter. Er umfuhr Dartmoor auf der A30 und geriet auf der langen Fahrt nach Truro hinunter in sintflutartige Regenschauer. Das Unwetter tobte sich aus, bis er Falmouth erreichte, und als er gegen halb drei das kleine kornische Dorf Port Navas erreichte, schien eine orangerote Sonne durch eine Wolkenlücke.
Die kurvenreiche Straße zum Helford River hinunter war kaum breit genug für ein Auto und von Hecken gesäumt. Gabriel war sie unzählige Male gefahren, meist in überhöhtem Tempo, das die Nachbarn ärgerte. Er hatte sie gut gekannt – ihre Namen, ihre Berufe, ihre Laster und ihre Tugenden –, und sie ihn gar nicht. Er war der ausländische Gentleman, der das Cottage des ehemaligen Vorarbeiters in der Nähe der Austernfarm gemietet hatte. Er hatte es seinen Bedürfnissen angepasst: Wohnung im Erdgeschoss, Atelier im ersten Stock. Außer einem elfjährigen Jungen hatte niemand in Port Navas die geringste Ahnung, was dort draußen vorging.
Der Junge war jetzt ein Mann von fünfunddreißig Jahren, ein Detective Sergeant der Devon and Cornwall Police. Er stand am Heck einer am Kai liegenden hölzernen Ketsch, hatte einen Arm zu einem stummen Gruß erhoben. Die sorgfältig restaurierte Ketsch hatte einmal Gabriel gehört. Er hatte sie Timothy Peel am Tag seines endgültigen Abschieds aus Port Navas vermacht.
Er stieg aus und ging zum Kai hinunter. »Bitte an Bord kommen zu dürfen«, sagte er.
Peel betrachtete Gabriels Wildlederslipper missbilligend. »Aber nicht mit diesen Schuhen.«
»Dieses Deck habe ich abgeschliffen und neu lackiert, wenn ich mich recht erinnere.«
»Und ich hab’s während Ihrer Abwesenheit gut gepflegt.«
Gabriel streifte seine Slipper ab und ging an Bord. Peel gab ihm einen dunkelroten Pappbecher von Costa. »Tee mit Milch, genau wie Sie ihn mögen, Mr. Allon.«
»So sollen Sie mich nicht nennen, Timothy.«
»Ich dachte, Sie hätten sich geoutet.«
»Das stimmt. Aber ich bestehe darauf, dass Sie mich bei meinem Vornamen nennen.«
»Sorry, aber für mich bleiben Sie Mr. Allon.«
»Dann nenne ich Sie Detective Sergeant Peel.«
Er grinste. »Wer hätte das gedacht?«
»Mich wundert das nicht. Sie waren von Natur aus ein Schnüffler.«
»Nur in Bezug auf Sie. Und natürlich auf Mr. Isherwood.«
»Er spricht lobend von Ihnen.«
»Er hat mich eine kleine Kröte genannt, wenn ich mich recht erinnere.«
»Sie sollten hören, was er über mich sagt.«
Sie setzten sich in die Plicht. In den verlorenen Jahren, den Jahren nach Wien und vor Chiara, war das Boot Gabriels Rettung gewesen. Hatte er kein Gemälde zu restaurieren, segelte er den Helford River hinunter und nach Westen auf den Atlantik hinaus oder nach Süden bis zur Normandie. Immer wenn er nach Port Navas zurückkam, begrüßte Timothy Peel ihn, indem er am Fenster seines Zimmers stehend mit seiner Taschenlampe blinkte. Mit einer Hand am Ruder, den Kopf voller Bilder von Feuer und Blut, antwortete Gabriel darauf mit zweimaligem Blinken seiner Positionslichter.
Er sah zum Cottage des Vorarbeiters hinüber. »Mein altes Haus scheint renoviert worden zu sein.«
»Von einem jungen Paar, das in der City arbeitet«, bestätigte Peel. »Während der Pandemie haben viele reiche Londoner plötzlich die Freuden des Lebens in Cornwall entdeckt.«
»Eigentlich schade.«
»Ach, sie sind nicht so schlimm.«
Gabriel betrachtete das baufällige Cottage, in dem Peel mit seiner Mutter und ihrem Liebhaber Derek, einem jähzornigen Bühnenautor und Whiskysäufer, gewohnt hatte.
»Er ist tot, falls Sie sich das fragen«, sagte Peel.
»Und Ihre Mutter?«
»Sie wohnt oben in Bath. Ihr Mann und sie haben das Cottage ohne mein Wissen verkauft, aber ich habe selbst ein Haus in Exeter.«
»Verheiratet?«
»Bisher nicht.«
»Worauf warten Sie noch?«
»Auf eine Frau wie Ms. Zolli, denke ich.«
»Sie lässt Sie herzlich grüßen.«
»Ich hoffe, dass sie nicht zornig auf mich ist.«
»Chiara? Nur auf mich«, versicherte Gabriel ihm. »Aber das ziemlich häufig.«
Danach herrschte kurzes Schweigen. Gabriel hörte kleine Wellen sanft gegen die Backbordseite seines alten Bootes lappen. Erinnerungen an jene Nacht in Wien regten sich. Er drängte sie zurück.
»Also gut, Detective Sergeant Peel, nachdem wir unsere Bekanntschaft erneuert haben, sind Sie vielleicht so freundlich, mir zu erklären, weshalb ich unbedingt nach Cornwall kommen sollte.«
»Charlotte Blake«, sagte Peel. »Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Oxford.«
»Und das fünfte Opfer des als The Chopper bekannten Serienmörders.«
»Vielleicht, Mr. Allon. Vielleicht auch nicht.«
Detective Sergeant Timothy Peel, seit acht Jahren bei der Devon and Cornwall Police, war nach dem zweiten Mord auf den Chopper angesetzt worden, hatte ein Team aus vier höheren Beamten ergänzt. Seine erste Aufgabe war es gewesen, jeden und jede im Südwesten aufzuspüren, der oder die vor Kurzem ein Hackmesser gekauft hatte, und diese Leute zu befragen. Am späten Dienstagnachmittag war er dabei, einige Namen von seiner Liste zu streichen, als ein Anruf über die speziell eingerichtete Nummer einging. Er kam von einer Frau aus Gunwalloe.
»Von welcher?«
»Vera Hobbs. Von wem sonst?«
»Was war das Problem?«
Licht, das hinter einem Fenster von Professorin Blakes Cottage brannte. Wie Peel selbst zugab, hielt er diese Mitteilung für nicht sehr wichtig und rief noch einige Hackmesserkäufer an, bevor er mit den Kollegen von der Thames Valley Police telefonierte. Wie sich zeigte, waren sie schon mit dem Fall befasst.
»Die TVP war in Blakes Haus in Oxford gewesen und hatte alle Krankenhäuser in ihrem Zuständigkeitsbereich abtelefoniert. Nirgends eine Spur von ihr.«
»Was war mit ihrem Auto?«
»Das habe ich entdeckt.«
»Wo?«
»Auf dem Parkplatz von Land’s End.«
»Wenn ich mich recht erinnere, gibt es dort Parkscheine aus dem Automaten.«
»Ihr Parkschein hat im Auto gelegen. Um 16.17 Uhr am Montagnachmittag gelöst.«
Gabriel sah nach Westen. »Weniger als eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang?«
»Genau gesagt achtundzwanzig Minuten davor.«
»Eine Rezeptionistin des Hotels Land’s End hat auf dem Weg zur Arbeit eine Frau auf dem Küstenpfad gesehen. Wir gehen davon aus, dass das Charlotte Blake war.«
»So spät am Nachmittag?«
»Der Pfad ist zu jeder Tageszeit schön. Aber unter den Umständen …«
Völlig unerklärlich, fand Gabriel. »Die Zeitungen haben den Ort, an dem die Leiche aufgefunden wurde, nur ziemlich vage beschrieben.«
»Eine verwilderte Hecke oberhalb von Porthchapel Beach. Anscheinend hat der Mörder versucht, die Leiche zu verstecken. Was interessant ist«, fügte Peel hinzu. »Seinen vorigen Opfern hat er mit einem Schlag von hinten den Schädel gespalten und sie am Tatort zurückgelassen. Sie waren vermutlich tot, bevor sie den Boden berührt haben.«
»Und Professorin Blake?«
»Er hat sie regelrecht zerstückelt. Und er scheint ihr Smartphone eingesteckt zu haben.«
»Hat er die Handys der anderen Opfer auch mitgenommen?«
Peel schüttelte den Kopf.
»Theorie der Ermittler?«, fragte Gabriel.
»Meine Kollegen denken, Blake könnte gehört haben, wie der Mörder sich von hinten angeschlichen hat. Und dass sie sich nach ihm umgedreht hat, hat bei ihm einen Wutanfall provoziert.«
»Das würde den Overkill erklären.«
»Aber nicht das verschwundene Handy.«
»Vielleicht hat sie’s unterwegs verloren.«
»Wir haben den Küstenpfad und die Umgebung der Hecke, in der die Leiche versteckt war, weiträumig abgesucht. Wir haben zwei alte Mobiltelefone gefunden, von denen keines Charlotte Blake gehört hat.«
»Und es sendet kein Signal, das sich orten lässt?«
»Was denken Sie?«
»Ich denke, Sie sollten sich vergewissern, dass sie’s nicht im Auto zurückgelassen hat.«
»Ich weiß, wie man ein Auto durchsucht, Mr. Allon. Das Handy ist weg.«
Gabriel musste unwillkürlich lächeln. »Und was ist mit Ihnen, Detective Sergeant Peel? Wie lautet Ihre Theorie?«
Peel fuhr mit einer Hand übers Schanzkleid der Ketsch, bevor er antwortete. »In Bezug auf bestimmte Details von Morden sind wir immer sehr zurückhaltend. Die Anzahl der Schläge, der genaue Tatort, solche Sachen. In Fällen wie diesem ist das unser Standardverfahren. Es hilft uns, die Spinner und Exzentriker auszusortieren.«
»Was ist mit Nachahmungstätern?«
»Die natürlich auch. Wie könnte jemand den Chopper imitieren, wenn er seine genaue Methode nicht kennt?«
»Sie glauben, dass Professorin Blake von einem Nachahmer ermordet wurde?«
»Ich bin bereit, in diese Richtung zu ermitteln.«
»Vermute ich richtig, dass Sie darüber noch nicht mit Ihren Kollegen gesprochen haben?«
»Ich glaube nicht, dass es klug wäre, Unruhe in so wichtige Ermittlungen zu bringen. Nicht in diesem Stadium meiner Karriere.«
»Sodass Ihnen keine andere Wahl bleibt, als selbstständig zu ermitteln.« Gabriel machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Mit Unterstützung eines alten Freundes.«
Peel äußerte sich nicht dazu.
»Weiß der Chief Constable, dass Sie Kontakt zu mir aufgenommen haben?«
»Möglicherweise habe ich versäumt, das zu erwähnen.«
»Guter Junge.«
Peel grinste. »Ich habe beim Besten gelernt.«
Die Gemeinde Gunwalloe lag zehn Meilen westlich an der anderen Küste der Halbinsel The Lizard. Sie fuhren in der Abenddämmerung mit Gabriels Leihwagen hin.
»Sie kennen den Weg noch?«, fragte Peel.
»Versuchen Sie absichtlich, mich zu ärgern, oder liegt das in Ihrer Natur?«
»Ein bisschen von beidem.«
Sie rasten den Zaun der Naval Air Station Culdrose entlang und folgten dann der namenlosen Straße, die aus der Mitte der Halbinsel nach Gunwalloe führte. Hinter den Hecken lag auf beiden Seiten ein Fleckenteppich aus Farmland im Winterschlaf. Dann bog die Straße plötzlich links ab, die Hecken hörten auf, und vor ihnen erstreckte sich das Meer, das im letzten Licht der untergehenden Sonne in Flammen zu stehen schien.
Gabriel fuhr langsamer, als sie die Dorfmitte erreichten. Peel zeigte auf das Lamb and Flag. »Gehen wir auf ein Bier mit Ihren alten Freunden hinein?«
»Ein andermal.«
»Some other time?«, fragte Peel. »Diesen Song habe ich immer geliebt. Vor allem in der Version von Bill Evans.«
»Sie haben einen guten Musikgeschmack.«
»Den verdanke ich Ihnen.«
Sie fuhren am Corner Market vorbei, in dem Dottie Cox den letzten Kunden des Tages abkassierte. Am Fuße eines mit purpurroten Grasnelken und rotem Schwingelgras bewachsenen Steilhangs lag die Anglerbucht. Auf der Klippe darüber stand, bei schwindendem Tageslicht kaum mehr sichtbar, das Cottage, in dem Gabriel und Chiara gewohnt hatten.
»Fehlt es Ihnen manchmal?«, fragte Peel.
»Ja, natürlich. Aber Venedig hat auch seine Reize.«
»Besseres Essen.«
»Ich selbst hatte immer eine Schwäche für kornische Cuisine.«
»Vielleicht können Sie mit Chiara und den Kindern mal einen Sommer hier verbringen.«
»Nur wenn Sie mir Ihr schönes Segelboot leihen.«
»Abgemacht.«