Die Verschwundenen von Jakobsberg - Tove Alsterdal - E-Book
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Die Verschwundenen von Jakobsberg E-Book

Tove Alsterdal

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Beschreibung

Jakobsberg, nahe Stockholm, 2014: Eine junge Frau stürzt von einem Balkon in den Tod. Wurde sie gestoßen? Als ihre Schwester erfährt, dass Camilla zuvor in Südamerika war, wird sie hellhörig und stellt Nachforschungen an. Eine Spur führt in das Argentinien der 70er Jahre, in dem Tausende Menschen von der Militärjunta gefoltert wurden - und spurlos verschwanden. Auch die Mutter der Schwestern war 1977 dorthin gereist, um gegen das Regime zu kämpfen. Steht ihr Verschwinden in Verbindung zu Camillas Tod im heutigen Schweden?

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Seitenzahl: 692

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

BUENOS AIRES 1978

JAKOBSBERG 2014

BUENOS AIRES 1977

BUENOS AIRES 2014

STOCKHOLM 2014

BUENOS AIRES 1977

JAKOBSBERG 2014

BUENOS AIRES 1978

JAKOBSBERG 2014

BUENOS AIRES 2014

BUENOS AIRES 1978

BUENOS AIRES 2014

BUENOS AIRES 1978

BUENOS AIRES 2014

JAKOBSBERG 2014

CARACAS 1978

BOGOTÁ 2014

SOLNA 2014

BERLIN 2014

JAKOBSBERG 2014

BERLIN 2014

STOCKHOLM 2014

DANKSAGUNG

Über die Autorin

Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, lebt in Stockholm. Sie hat viele Jahre als Journalistin sowie für Theater und Film als Autorin gearbeitet. Tödliches Schweigen ist ihr zweiter Kriminalroman, der als »Bester Schwedischer Krimi 2012« nominiert wurde. Ebenso wie ihr Debüt Tödliche Hoffnung wurde auch Tödliches Schweigen mit viel Begeisterung von den Lesern aufgenommen.

Tove Alsterdal

DIEVERSCHWUNDENENVON JAKOBSBERG

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen vonHanna Granz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © Tove Alsterdal 2014 by Agreement with Grand Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe: »Låt mig ta din hand«

Originalverlag: Lind & Co

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Titelillustration: mauritius images/BY

Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2286-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

BUENOS AIRES1978

Im Dunkeln fühlte es sich an, als ob sie ersticken müsste, immer und immer wieder. Man hatte ihr eine schmutzige Kapuze über das Gesicht gezogen, und die Luft wurde knapp. Sie meinte, Schweiß darin zu riechen, menschliche Ausdünstungen von einem Vorgänger, der dies hier nicht überlebt hatte.

Ihr Körper rebellierte. Er brannte von den Stromstößen und schrie aus den offenen Wunden an ihren Fußsohlen, pochte in ihrem Unterleib, wo sie erneut misshandelt worden war.

Sie hatten Musik angemacht. Immer diese Musik.

You can dance, you can jive, having the time of your life … Durch das Dröhnen der Lüftungsanlage hindurch konnte sie von weitem Züge hören und den Verkehr draußen, der dichter wurde, wenn die Nacht in den Tag überging. Die Morgengeräusche waren das Schlimmste. Türen, die in den unteren Stockwerken schlugen, Schritte auf der Treppe zum Dachboden, wo sie lag. Das Warten, bis die Stiefel durch den Spalt unter ihrer Kapuze sichtbar wurden, und dann die Musik, die erneut begann, die blechernen Klänge des Kassettenrekorders, die zwischen den steinernen Wänden anschwollen und in ihr den Wunsch weckten, sterben zu dürfen. Den Tod stellte sie sich als eine Art kühle, bodenlose Stille vor. Ein glattes schwarzes Wasser in einem Wald, den sie niemals wiedersehen würde. Tod bedeutete Schweigen. Nachts, wenn die Einsamkeit unter der Kapuze kompakt wurde und sie die Atemzüge um sich herum nurmehr ahnen konnte, dachte sie oft an genau diesen See. Seltsam. Sie war so lange nicht mehr dort gewesen. Damals war er ihr langweilig erschienen. Die ewigen Värmländischen Wälder hatten sie erstickt, und jetzt glaubte sie, dort, und nur dort, wieder atmen zu können.

Der Schmerz nahm kein Ende. Die Tage hörten nicht auf.

See that girl, watch that scene, diggin’ the dancing queen …

Manchmal hörte sie in der Ferne Schulkinder singen, und das war schlimmer als die Schreie und die Stiefel, die so hart auf den Boden knallten. Es gab ein Leben auf der anderen Seite, das man ihr genommen hatte, und niemand wusste, wo sie sich befand. Sie fing an, Stimmen zu hören, Stimmen, die sie kannte. Der Wahnsinn griff nach ihr. Alles, was sie sah, waren der Boden, Füße und Stiefel, wenn die Männer sich näherten. Wenn sie es wagte, den Kopf ein wenig zu heben, konnte sie hin und wieder den Teil eines Oberkörpers erkennen.

Jetzt riefen sie ihre Nummer. Es tat so weh, aufzustehen. Sie wurde die Treppe hinuntergeführt, taumelte in den Ketten um ihre Fußgelenke, mit der Kapuze über den Augen, sodass sie immer nur eine Treppenstufe auf einmal sehen konnte.

Noch mehr Kettenklirren um sie herum, eine weitere Treppe.

Sie musste versuchen, etwas über die Mädchen zu sagen, dass sie Mutter war, begriffen sie das denn nicht? Ein Hieb mit dem Stock auf den Nacken, und sie versuchte nicht mehr, zu sprechen.

Der Keller. Sie wusste inzwischen einiges über dieses Haus, ebenso, wie sie vieles über das Böse, den Schmerz sowie die Verachtung für den menschlichen Abschaum gelernt hatte, der sie selbst in den Augen der anderen war. Ein Gedanke an Gott tauchte auf. Doch die Frau, die sie gewesen war, hätte sich niemals niedergekniet, um zu beten.

Sie wurde gestoßen, fiel hin. Feuchte Hände hielten sie an Armen und Beinen, Finger öffneten ihre Wunden. Jemand sagte, sie würde jetzt geimpft.

Ein Stich in den Arm. Dann Nebel. Wie der Morgennebel über dem Fryken-See, wollte ihr scheinen. Sie wollte an den See denken und an die Stille, aber sie begann zu zittern. Sie wollte nicht sterben. Ihre Glieder wehrten sich gegen die Ungerechtigkeit, sterben zu sollen, ihr Leben war so kurz gewesen. Doch sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ihr Körper wurde taub. Der Schmerz verschwand, sie spürte das Böse nicht mehr. Uringeruch drang in ihre Nase.

Dann hörte sie jemanden direkt neben sich wimmern. Und das war das Letzte, was sie wahrnahm.

JAKOBSBERG2014

Die beiden jungen Frauen drehten sich vor dem Spiegel, versuchten, den besten Blick auf sich selbst zu erhaschen. Linkes oder rechtes Profil, das war hier die Frage. Weiche Haut und Schmollmünder, die förmlich danach riefen, geküsst zu werden. Eine von ihnen wischte sich Lippenstift von den Zähnen und schaute verstohlen zu ihr herüber. Charlie nahm an, dass sie ihr Alter kommentieren würden, sobald sie hinausging.

Ihr könnt euch aufblasen, wie ihr wollt, dachte sie, was wisst ihr schon von der Liebe? Auf dem Weg zur Bar schwankte sie. Über das Leben wisst ihr gar nichts, über das Schwere und das Hässliche.

Am Tresen hatte sich jemand in Schwarz und Glitzer auf ihren Platz gesetzt.

»Entschuldigung, aber hier saß ich«, rief sie, um die Musik zu übertönen. Das Mädchen drehte sich halb um.

»Wann denn das?«

Charlie drängte sich an sie heran und stieß sie vom Hocker. Sie spürte das Knie des Mannes an ihrem Oberschenkel, seine Lippen an ihrem Ohr.

»Du und ich, wir sind hier, glaube ich, die Ältesten«, sagte er. »Du hast gesagt, du warst schon mal hier?«

Charlie sog an ihrem dritten Cocktail und drehte sich zur Tanzfläche, es wogte und hüpfte, pulsierte durch ihren Körper.

Ja, dachte sie, ich war schon mal hier. Mein ganzes Leben bin ich hier gewesen. Ich habe die Liebe gefunden und wieder verloren. Ich bin immer noch hier. Ich brenne. Ich lebe.

»Sollen wir nicht woanders hingehen?«, rief er.

Im Netz nannte er sich Toller Typ. Was hatte er noch gesagt, was er arbeitete? Systementwicklung? Irgendwas mit Computern jedenfalls.

Glaub nicht, dass es so einfach ist, dachte sie. Glaub nicht, ich wäre dankbar, bloß weil du ein paar Jahre jünger bist als ich. Falls du das überhaupt bist.

Sie sah ihm in die Augen, doch es passierte nichts, es gab keine Magie zwischen ihnen. Er konnte ihr nicht helfen. Der ganze Abend war umsonst gewesen.

Es sei denn … Sie sah sich um. Der Mann, den sie vorhin bemerkt hatte, stand immer noch da. Neben dem Eingang, das Gesicht im Dunkeln, allein, beobachtend. Ihre Blicke trafen sich, als sein Gesicht im Scheinwerferlicht aufleuchtete, und plötzlich spürte sie es. Das Lachen begann in ihrem Unterleib und strömte dann durch ihren ganzen Körper, Hitze und Blut.

Der Rausch stieg ihr zu Kopfe. Sie stellte den Drink ab. Ging langsam zur Tanzfläche, ahnte die Blicke der Männer in ihrem Rücken, forderte jedoch niemanden auf. Tanzen würde sie allein, das hatte sie schon immer so gemacht. Hatte sich niemals gescheut, sich zu zeigen, und dachte gar nicht daran, jetzt damit anzufangen. Sie hob die Arme über den Kopf und begann, sich langsam im Rhythmus der Musik zu wiegen, folgte den Bässen, vergewisserte sich, dass der Mann an der Tür sie weiterhin beobachtete, dass er ein wenig näher rückte und den Blick nicht von ihr wenden konnte, und sie schloss die Augen und tanzte und dachte nicht weiter darüber nach, wie sie von hier wegkommen sollte.

Niemand, der ihn in dieser Nacht die Gehsteige von Jakobsberg entlangwandern sah, wusste, wer er wirklich war. Die Leute von früher waren weggezogen, ihren Träumen hinterher, und manche waren sicher auch abgekratzt, neue Mieter hatten ihre Möbel reingeräumt. Ein Klingelschild wurde abgeschraubt, ein Gesicht verblasste.

Der Ritter bog Richtung Zentrum ab. In dem Neonschild über dem Kino »Falken« leuchteten die Buchstaben F und N nicht mehr. Er ging an den Fenstern des ehemaligen Domus-Cafés vorbei, wo sich jetzt die Coop-Kassen befanden. Wenn er blinzelte, konnte er dort drinnen seine alten Kumpel noch um den runden Tisch sitzen sehen. Dann hatte er wieder eine Ahnung, wie das Leben sich von dort drinnen aus angefühlt hatte.

Er wusste noch genau, an welchem Fenster sie gesessen hatten, als sie das erste Mal zusammen dort gewesen waren. Der Duft ihres Haars, das ihr widerspenstig in die Augen hing, wie sie den Kopf in den Nacken legte, wenn es ihm gelang, sie zum Lachen zu bringen.

Ein eisiger Wind fuhr zwischen den scharfkantigen Innenstadtgebäuden hindurch und wusste nichts vom Frühling, wirbelte Müll und verstreute Erinnerungen auf.

War ja klar, dass niemand ein Café betreiben konnte, in dem die Leute halbe Tage lang bei einer Tasse Java zusammensaßen. Nicht mal in Kooperation konnte man das. Nicht in Zeiten wie diesen. Die Gesellschaft musste sich entwickeln. Entweder ging es voran oder den Bach runter.

Eine Gruppe Jugendlicher lärmte vorüber. Tief sitzende Hosen und Kapuzenjacken, auf dem Weg zur Söderhöjd. Um nicht mit ihnen zusammenzustoßen, wich der Ritter in den Gang zwischen Gemeindehaus und Angelos Kiosk aus. Ein paar Nachtschwärmer von der letzten S-Bahn tauchten aus den Tunneln auf und zerstreuten sich in alle Richtungen. Vor dem Riddar Jakob stand ein Wachmann und rauchte.

Und da plötzlich erblickte er sie. Oder vielleicht auch etwas später. Erst stolperten ein paar junge Frauen um die zwanzig aus der Kneipe und lachten. Discomusik dröhnte über den gepflasterten Platz, dann schloss sich die Tür wieder.

Riddar Jakob. Diese Kneipe oberhalb der S-Bahn-Unterführung hatte es schon immer gegeben. Er spürte ihre Anziehungskraft wie damals. Die Wärme dort drinnen und die dicken Rauchschwaden. Der bloße Gedanke an Bier in überschäumenden Gläsern ließ seine Beine zucken. Das Vibrieren der Saiten unter den Fingerspitzen der linken Hand in einem C-Moll-Akkord! Blues lag in der Luft, und jetzt hört zu, denn ich werde euch ein Lied über das bittere Leben und die wunderbare Liebe spielen … Der Ritter spannte die Finger an und krümmte sie in der Tasche, Zeigefinger auf der B-Saite, erster Bund, Mittelfinger auf der D-Saite, zweiter Bund. A-Saite unter der Ringfingerspitze, den kleinen auf E und Wäng!, er hörte kristallklar, wie er anschlug.

Dann öffnete sich die Tür erneut. War sie das wirklich?

Das dunkle Haar flog um ihren Kopf, wie schön sie war. Ohne nachzudenken, trat er ein paar Schritte aus dem Schatten und hob die Hand.

»Na, hallo«, sagte er. »Grüß dich, Mädchen.«

Ihre Lederjacke stand offen und sie trug ein Paar Turnschuhe aus Stoff, es sah ein bisschen kalt aus.

»Wie geht’s?«, fragte er und strich sich mit zitternder Hand die Haare zurück. Früher hatte er sie oft zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Erkennst du mich nicht?«

Der Typ, der Charlie begleitete, machte zwei Schritte auf ihn zu. Starrte ihm direkt in die Augen. »Was willst du?«

Der Ritter wusste, wann er sich zurückziehen musste. Der Mann war etwas kleiner als er, aber deutlich breiter. Rasierter Schädel.

»Komm, gehen wir«, sagte Charlie.

»Kennst du den?«, fragte der Kerl.

Ihr Haar flatterte leicht, als sie den Kopf schüttelte.

»Mir ist kalt«, sagte sie und zog ihren Begleiter am Arm, »komm jetzt.«

Der Mann warf dem Ritter noch einen letzten Blick zu, bevor sie über den Platz davongingen.

»Sie sollten sich auch lieber mal bewegen«, sagte der Wachmann hinter ihm. »Sie erfrieren noch, wenn Sie hier stehen bleiben.«

Der Ritter schüttelte seine Beine aus, um wieder Leben hineinzubringen. Er folgte dem Paar in geringem Abstand. Der Kerl war unfreundlich gewesen. Was war so schwierig daran, höflich zu sein und sich wie ein gesitteter Mensch zu benehmen? Sie gingen an der Galerie vorbei, die auf dem Dach des Domus errichtet worden war und alle Proportionen verschob, sodass die Häuser aus den 50er-Jahren auf der gegenüberliegenden Straßenseite älter und kleiner aussahen, als er sie in Erinnerung hatte. Charlie schmiegte sich eng an den Kerl da vorne, dann verschwand sie im Dunkeln, wo das Zentrum aufhörte, und war weg.

An einem der Papierkörbe blieb er stehen. Wühlte mit der Hand ein wenig darin herum und fand eine halbe Schachtel Pommes sowie eine Metro. Nichts zu trinken. Der Hohlraum in seiner Brust hallte, er verspürte einen Juckreiz, jetzt musste er wirklich bald etwas finden. Es kribbelte und stach in den Fingern, die am kälteempfindlichsten waren, und in seinen Zehen, die taub geworden waren. Er schaute auf, als er hinter sich jemanden näher kommen hörte.

Ein schicker schwarzer Mantel, so ein dreiviertellanger, wie ihn die Typen in der Stadt trugen. Ihre Blicke trafen sich.

»Ich mach nur Recycling«, sagte der Ritter, winkte mit der Pommesschachtel und schaute auf die Zeitung hinunter. Sie war vom Vortag. In Syrien wütete noch immer der Krieg – arme Teufel. Anders Borg meinte, Schweden ginge es gut, na schönen Dank auch, es waren schließlich bald Wahlen.

Der Mann im Mantel sagte nichts, ging lediglich schnell weiter, in die gleiche Richtung wie die anderen. Bald war er ebenfalls verschwunden.

Das Pflaster. Müll, der herumwirbelte. Wind, der in Unterführungen und Durchgänge hineinblies.

In dieser Nacht musste der Ritter bis zum Kvarnbacken hinaufgehen. Durch den S-Bahn-Tunnel, in dem alle Abfalleimer zusammen nicht mehr als eine halbe Loka-Zitrone und die Reste eines Subway-Sandwiches mit Thunfisch einbrachten. Kurzes Aufwärmen in der neuen Wartehalle der Busstation, bis ihn das grelle Licht dort wahnsinnig machte. Er ging weiter durch den Fågelsång, Wege, die seine Füße fanden, ohne dass er darüber nachdenken musste.

In Jakobsberg, seinem guten alten Jakan, lag alles, was ihn ausmachte. Seine Erinnerungen und ehemaligen Buden, das Holzhaus oben am Aspnäsvägen, wo sie als junge Wilde herumgehangen hatten. Davor hatten sie abends immer am Ängen, gleich neben dem Zentrum, gegrillt und den alten Brunnen mit Bierflaschen gefüllt, bis dieser überlief. Die Leute hatten sich nicht an ihnen vorbeigetraut, und die Lokalzeitung hatte Artikel über die gefährliche Bande geschrieben, obwohl sie nichts anderes taten, als Bier zu trinken, diese rundlichen Dinger, die man damals in Sixpacks kaufte, und Gitarre zu spielen und zu singen, und natürlich rauchten sie auch alles Mögliche und warfen dies und das ein, aber scheiße, sie waren jung! Längst hatte man sie vertrieben und auf dem verlassenen Gelände, das einmal der Ängen gewesen war, waren Häuser gebaut worden. Doch in seinem Kopf gab es die alte Clique noch, klangen noch immer die Lieder, die kein anderer hören konnte.

Als er sich den Hügel hinaufkämpfte, wo die Mühle zweihundert Jahre lang gestanden hatte, bis sie niedergebrannt und wieder neu gebaut und wieder niedergebrannt worden war, fing er an zu zweifeln, ob es wirklich Charlie gewesen war. Manchmal sah er Dinge, die niemand anderes zu sehen schien. Er hatte da so eine Theorie, dass alle Zeiten gleichzeitig existierten, in parallelen Spuren und nicht linear angeordnet. Es gab viele Frauen, die sich ähnlich sahen, aber sie war immer etwas Besonderes gewesen.

Sein Goldmädel.

Im Gebüsch, halb versteckt unter altem Laub, fand er schließlich zwei Bierdosen, die noch nicht ganz leer waren. Ein Mariestad 4,5 und ein Folköl – immerhin etwas. Das Problem war nur, dass das Bier am Boden gefroren war. Der Ritter ging zu dem Brennhaufen, den ein paar Mitbürger errichtet hatten. Morgen war Walpurgisnacht, und dann Mai, und dann musste der Frühling doch endlich wiederkommen. Er erinnerte sich, wie die Mädchen klein gewesen waren und er selbst in der Gummi-Fabrik gearbeitet hatte. Zur Walpurgisnacht hatten sie weiße Sandalen bekommen, damals waren ganz sicher keine Minusgrade gewesen! Chorgesang und Knallerei, und dann war der Winter vorbei.

Der Bierfund hatte seine Laune ein wenig gebessert. Er entdeckte ein Sofa, das hochkant aus dem Haufen aus Reisig und Müll ragte. Ein roter Zweisitzer, den jemand einfach dort abgeladen hatte. Es sah richtig einladend aus. Er stieß es herunter und setzte sich, breitete ein paar Kartons als Decke über sich aus. Zündhölzer hatte er immer dabei. Im Innenfutter seiner Jacke fand er zudem ein Teelicht. In der Zeitung hatte er von einem Typen gelesen, der mitten im Winter nördlich von Pajala eine Nacht in einem Auto überlebt hatte, und zwar nur, weil er ein Teelicht im Handschuhfach hatte. Seitdem steckte er immer welche ein, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Er zündete die Kerze an und hielt das Mariestad darüber. Es dauerte länger, als man annehmen mochte, ein Pils aufzutauen. Er schlotterte, vor Kälte oder aufgrund eines beginnenden Anfalls. Das Stearin spritzte und drohte, die kleine Flamme zu löschen. Da zündete er stattdessen die Metro an, die ganz trocken war, und dachte an den Krieg in Syrien. Jäh loderten die Flammen auf und sprangen auf ein Stück Karton über und dann auf ein paar Stöcke und Bretter, sodass zu seinen Füßen ein kleines Lagerfeuer entstand. Er spürte die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht und das Eis, das langsam schmolz, als die ersten Schlucke Bier aus dem gefrorenen Bodensatz rannen.

Lena Morberg sah die Zahlen auf dem Nachttisch umschlagen. Jetzt war es 04:00 Uhr. Sie horchte auf das Knattern aus dem Zimmer ihres Sohnes. Nachts waren alle Geräusche so groß. Mittlerweile benutzte er Kopfhörer, sodass ihr die Schüsse und Explosionen erspart blieben, dennoch meinte sie, ihn dort drinnen Krieg führen zu hören. Schieß, schieß, um zu töten. Nachts grübelte sie, was das mit ihm machte. Zu wem wurde er da drinnen in seiner Welt, ihr Jüngster?

Die Decke war zu warm, und sie drehte sie um, es juckte sie in den Beinen, sie musste aufstehen. Sollte sie anders damit umgehen? Belohnungen, Gegenleistungen oder Strafen, eine Stunde am Computer gegen eine Stunde Lernen? Irgendwas musste sie doch sagen. Denk dran, dass du morgen früh raus musst, das Zeugnis, dein Leben, deine Zukunft, es ist gefährlich, die Nacht zum Tag zu machen. Du entfernst dich von der Wirklichkeit, das da ist doch nicht das Leben.

Oder doch?

War es nicht gut, dass er sich überhaupt für etwas interessierte? Alles über Computer lernte, sein Reaktionsvermögen trainierte?

Sie legte sich die Decke um und öffnete das Fenster einen Spalt. Es war kalt draußen, sie brauchte Luft. Schlaftabletten wollte sie nicht nehmen. Die machten den Kopf so schwer. Ließen Nacht und Tag ineinanderfließen. Das Thermometer zeigte zwei Grad minus. Die Nacht vor Walpurgis und unter null, das war doch nicht normal.

Sie schaute zu den Fensterreihen in der geschwungenen Fassade gegenüber. Vor ein paar Tagen war es noch sommerlich warm gewesen, und die Bäume schlugen aus. Lag jetzt wirklich wieder Schnee in der Luft?

In mehreren Fenstern brannte Licht. Sie war nicht die Einzige, die nachts in ihrer Wohnung auf und ab ging, das hatte sie schon mehrmals festgestellt. All die Schlaflosen.

Unten im zweiten Stock machte jemand Licht, und Lena sah in mehreren Fenstern den Widerschein von Computern, das Netz, das niemals schlief, Menschen, die sich hinter Benutzernamen verbargen, liebten, hassten und Kriege gewannen. Schräg gegenüber ging im siebten Stock eine junge Frau, nur in Unterhose, in die Küche und schenkte sich Tee ein. Wusste sie nicht, dass man sie sehen konnte? Im Kerzenschein eines vergessenen Adventsgestecks tauchte ein alter Mann auf. Er kam ihr bekannt vor, doch sie kam nicht auf seinen Namen. War das nicht der Typ, der auf der letzten Jahresversammlung vorgeschlagen hatte, den Innenhof mit Zäunen abzuriegeln?

Plötzlich sah sie eine Bewegung, ein Schatten, der direkt vor ihr vorbeiglitt. Sie schrie auf und sprang zurück. Strampelnde Beine, direkt vor ihrem Fenster, nackt, ein menschlicher Körper. Geöffneter Mund und weit aufgerissene Augen, flatternde Haare, und dann war er wieder weg. Alles leer. Sekunden später hörte sie den Aufprall, und dieses Geräusch würde sie niemals vergessen. Ein harter Schlag und ein Krachen und dann Schreie von irgendwoher und dieses Geräusch, das immer größer wurde und zwischen den Häusern widerhallte.

Später sollte sie oft denken: Wie viele wir waren.

So viele, die in dieser Nacht nicht schlafen konnten.

Sieben Personen waren bereits auf dem Innenhof versammelt, als das erste Polizeiauto unten auf dem Viksjöleden zu hören war. Sie hatten Mäntel über die Schlafanzüge gezogen oder waren schnell in Jogginghosen und Jacken geschlüpft. Ein Südländer um die siebzig war über den niedrigen Zaun am Spielplatz geklettert, um seine Hand an den Hals der Toten zu legen – einen blutigen Hals, über den die Haare herabhingen, sodass man das Gesicht der Frau nicht erkennen konnte, und der in einem grotesken Winkel vom Körper abstand. Ihr dünner Morgenmantel fiel so, dass der Stoff große Teile ihres Körpers bedeckte.

Manche starrten hin, andere wandten sich ab.

»Ich kann keinen Puls finden«, sagte der Mann. Er hieß Rodríguez und war vor vierzig Jahren als Flüchtling von Chile nach Jakobsberg gekommen. Es hieß, er sei ein Leibwächter Allendes gewesen.

»Natürlich nicht«, murmelte ein jüngerer Mann, der nicht einmal eine Jacke angezogen hatte. In seinem etwas zu kleinen Kapuzenpullover zeigte er zur Spitze des bananenförmigen Hauses. Unter einem schwarzen, sternklaren Himmel ragte es elf Stockwerke in die Höhe. »Sie ist von da oben gefallen. Ich habe es gesehen. So etwas kann man gar nicht überleben!«

Lena stand nur da und schaute. Hörte, wie die anderen Dinge zueinander sagten, »wie furchtbar« und »wie unheimlich, nicht zu fassen, ich habe gleich die 112 angerufen« und »Sie wohnen doch in der 22?«.

Und dann verstummten alle für eine Weile, denn es gab keine Worte mehr. Lena schaute hinauf und fragte sich, wie viel Zeit wohl verging, nachdem man sich abgestoßen hatte. Konnte man sein Leben vorüberziehen sehen, so wie es war, sich den Schmerz vorstellen, der einen erwartete? Sie schauderte, zog den Mantel enger um ihr Nachthemd und bereute, keine Hose angezogen zu haben, ehe sie hinausgerannt war.

»Wann kommen die denn endlich?«, fragte Gustavsson, der ältere Mann von der Jahresversammlung der Wohnungsgenossenschaft, der ebenfalls herausgekommen war. Lena schaute auf die Uhr. Es war lediglich eine gute halbe Stunde vergangen, seit die Anzeige auf ihrem Digitalwecker auf vier Uhr umgesprungen war. Sie hörte, wie die anderen sich leise darüber unterhielten, dass dies der Spielplatz für die Allerkleinsten sei. Dass das die Sache noch schlimmer machte. Sie hatte das selbst auch gedacht, obwohl sie so vielleicht nicht denken sollte. Die Spielplätze, auf die sie in der Genossenschaft so stolz waren, wie auch auf die Beete, den Grillplatz und den Minigolfplatz zwischen den Häusern. Würde man es schaffen, den Körper und das Blut und all das andere Unförmige, Breiige, das herausgespritzt war, als die Frau unten aufschlug, zu entfernen, kümmerte sich die Polizei um so etwas? Das würde doch wohl weg sein, bis die Kinder herauskamen?

Die Leute räusperten sich und fragten sich noch einmal, wo denn die Polizei nur bliebe, und manche von ihnen stampften mit den Füßen und fühlten sich genötigt, zu erklären, weshalb sie in einer Sonntagnacht um 04:13 Uhr wach gewesen waren, denn das war der exakte Zeitpunkt, zu dem es passiert war.

Lena, die keine Lust hatte, über ihre chronische Einschlafstörung und ihre Ängste zu reden, schaute zu dem Fenster im achten Stock hinauf, hinter dem der Bildschirm ihres Sohnes flackerte.

Er hat gar nicht gemerkt, dass ich nach draußen gerannt bin, dachte sie, er weiß nicht, dass unter seinem Fenster jemand gestorben ist.

Uffe Rainer zog sich zur Haustür zurück, als er die Scheinwerfer der Polizeiwagen über den Hof gleiten sah. Er hatte ein wenig abseits gestanden und gesehen, was alle sahen: eine Frau, die auf einen niedrigen Holzzaun gefallen und mitten unter ihnen gestorben war, auf diesem gepflegten Hof zwischen zwei riesigen, bananenförmigen Häusern auf dem Aspnäsvägen in Jakobsberg.

Es war wie in einem verdammten Film. Er starrte auf ihr Haar, auf den dunkler werdenden Fleck am Boden, auf den nackten Fuß, der nach oben zeigte. Bald würde man sie auf einer Bahre abtransportieren, die Polizei würde Kreideumrisse zeichnen, wo ihr Körper gelegen hatte, und dann würde er sie niemals wiedersehen.

Der Streifenwagen kam näher, drängte sich zwischen das Gebüsch und die Fahrräder, die den ganzen Winter draußen gestanden hatten. Er pflügte mitten durch den schlammigen Rasen und blieb stehen. Zwei Polizisten stiegen aus.

Uffe Rainer drehte sich um und schlüpfte ins Haus. Es war purer Instinkt. Er gab acht, dass die Tür nicht klickte, als er sie vorsichtig hinter sich schloss.

Als er im elften Stock ankam, musste er zu ihrer Tür gehen. Er wollte den Türgriff anfassen, aufschließen, sie dort drinnen schlafen sehen.

N. Holm stand auf dem Briefkasten. Nicht Eriksson, wie Charlie mit Nachnamen hieß. Er wusste, dass sie schwarz und aus zweiter Hand von Verwandten Nanna Holms mietete, die selbst vor ein paar Jahren ins Pflegeheim gekommen war. Uffe hatte Charlie versprechen müssen, es niemandem zu verraten, denn dann würde man sie hinauswerfen. Ihre Lügen waren kleine Schätze, die er vor der Welt verbarg.

Als er in seiner eigenen Wohnung ankam, zog er schnell die Tür zu und verscheuchte den Nymphensittich, der sich auf seiner Schulter niederlassen wollte. Beleidigt flatterte Ebba Grön auf und setzte sich auf die Hutablage.

»Achthundert Grad«, schrie sie, »vertrau mir.«

»Halt die Klappe«, fauchte Uffe Rainer.

»Halt die Fresse, Major Tom«, echote Ziggy Stardust aus dem Wohnzimmer. Der rot geschwänzte Graupapagei saß auf seinem Lieblingsplatz auf dem Kronleuchter, doch Uffe konnte ihn in der Dunkelheit kaum erkennen. Er tastete im Bücherregal nach dem Fernglas, nahm es in die Hand und stellte sich hinter die Gardinen, die alten, geblümten, die dort hingen, seit seine Mutter vor vier Jahren gestorben war und er sie von ihr übernommen hatte.

Jetzt war auch ein Krankenwagen in den Hof gefahren. Ein weiteres Auto folgte. Noch zwei Polizisten. Durch das Fernglas sah er einige der Gesichter nach oben starren. Jemand zeigte mit dem Finger genau auf das Fenster, hinter dem er stand. Oder vielleicht direkt daneben, auf Charlies Balkon? Rauch zog über den Himmel, offenbar brannte es irgendwo weiter weg. Die Sanitäter bedeckten den Körper mit einer Plane. Er sah sie nicht mehr.

Jetzt entfernte sich einer der Nachbarn aus dem Grüppchen dort unten. Uffe erkannte Stänkerheini Reinikainens kahlen Schädel. Er wohnte im gleichen Treppenaufgang, vierter Stock oder so, und jetzt ging er den Polizisten voraus zur Haustür.

Uffe ließ das Fernglas sinken. Gleich würde er das wohlbekannte Rasseln der Aufzugsmaschinerie hören.

Unten fuhr der Krankenwagen rückwärts aus dem Hof. Sie nahmen sie nicht mit. Er wusste, was das bedeutete. Sine spe. Hoffnungslos.

»Erfrieren!«, kreischte Ebba Grön, als er in den Flur zurückkam. Uffe lockte den Vogel von der Hutablage und schloss ihn im Schlafzimmer ein. Es hatte ihn fast zwei Jahre und kiloweise Körner gekostet, dem Nymphensittich den elementarsten Wortschatz aus den Texten der Punk-Band Ebba Grön beizubringen, er war ein richtiger kleiner Punkvogel, mit seinem widerspenstigen graugelben Schopf. »Vertrau mir, vertrau mir.« Man hörte seinen Protest nur noch schwach durch die Tür.

»Ist der tot?« Ariel zerrte an einem Zweig, sie zog und zerrte, als würde der Baum ihr etwas verweigern, das ihr zustand.

»Nein, Liebes, der ist noch sehr lebendig«, sagte Helene und zeigte auf die Knospen, die etwas spät dran waren. Sie nahm die Hände des Mädchens in ihre eigenen und rieb sie warm.

»Sollen wir zu den anderen zurückgehen?«

Auf der Wiese unten am Badestrand wuchs der Brennhaufen dem Frühling zu Ehren. Junge Triebe und alte Bäume, die während des Winters abgestorben waren, Haufen von trockenem Laub aus dem Vorjahr und allerhand Überbleibsel vom Frühjahrsputz in den Sommerhäuschen. Die Bucht glitzerte blau, Malte zufolge hatte das Wasser sieben Grad. Es war stets das Erste, was er tat: auf den Steg laufen und anhand des Thermometers an der Boje die Temperatur messen. Helene sah ihn ein mehrere Meter langes Brett zum Reisighaufen schleppen. Kurz darauf hörte sie das Klingeln ihres Handys.

»Pass auf, nicht, dass da noch Nägel drin sind«, rief sie ihm zu. Sie hätte das Telefon abstellen sollen, damit es dieses Gefühl der Nähe zur Natur nicht störte.

»Ist dort Helene Bergman?«

Eine fremde, sehr formelle Stimme.

»Ja, das bin ich.«

Helene verstand den Namen nicht, nur das, was dann folgte.

»… von der Polizei in Norrort.«

»Entschuldigung, worum geht es?«

Sie drehte sich mit dem Rücken zum schwachen Wind. Norrort, dachte sie, gehört Norrtälje noch dazu? Roslagen und Väddö, Nyby, wo sie sich jetzt gerade befand, war etwas mit dem Sommerhaus, mit Jocke? Er war im Haus geblieben, um den Wasserhahn zu reparieren, der in der Winterkälte kaputtgegangen war. Sie dachte an Feuersbrünste, aber dann hätte man doch Rauch über den Baumwipfeln sehen müssen?

»Wir übermitteln solche Nachrichten ungern per Telefon. Wir haben versucht, Sie zu Hause zu erreichen, aber es war niemand da. Sind Sie allein?«

»Warum fragen Sie?«

Helene ging näher an den Steg, damit niemand sie hörte, weg von dem Festplatz, wo sich etwa zwanzig Dorfbewohner und Sommergäste versammelt hatten, die Kinder nicht mitgezählt. Sie kannte keinen von ihnen besonders gut, sie hatten nicht viel miteinander zu tun, grüßten sich jedoch und nahmen an den Dorfaktivitäten teil, Walpurgisnacht und Mittsommer und die Jahresversammlung der Dorfgemeinschaft. Etwas in der Stimme des Polizisten sagte ihr, dass es jetzt unangenehm würde. Schon allein die Tatsache, dass die Polizei sie anrief, noch dazu an einem Sonntag, brachte alles durcheinander. Sie wandte sich dem Meer zu, das jedes Geräusch einfing und wo niemand ihr Gesicht sehen konnte.

»Es geht um Camilla.«

»Entschuldigung, um wen?«

»Um Ihre Schwester.«

»Ach so.«

Helene hörte, wie er den Namen wiederholte, Camilla Eriksson, und dann, was danach kam. Sie sank auf den Steg, ohne die Kälte des Holzes zu spüren.

Tot. Was für ein seltsames Wort. So kurz. So wenige Buchstaben, als müsse man das schnell erledigen, in einem Augenblick, und dann war alles anders. Sie hörte noch immer die Stimme. Etwas über einen Balkon. Dass einige Umstände noch nicht geklärt seien.

»Frau Bergman, sind Sie noch da?«

Sie schaute auf das Wasser hinunter. Ihre eigene Stimme schien von einem Ort außerhalb ihrer selbst zu kommen.

»Entschuldigen Sie, für mich ist sie Charlie. Deshalb hab ich es nicht gleich verstanden.«

»Wir müssten Ihnen ein paar Fragen stellen. Am besten wäre es, wenn Sie nach Sollentuna aufs Präsidium kommen könnten, aber vielleicht können wir auch jemanden von der Polizei vor Ort bitten, zu ihnen rauszufahren. Wenn ich es richtig sehe, sind Sie gerade in Väddö, Landkreis Norrtälje?«

»Ich kann hier nicht weg.« Sie schaute zum Maifeuer hinüber, den Ästen und Zweigen, die herausragten wie aus einem riesigen Vogelnest. Sie durften nicht einfach herkommen und die Kinderidylle zerstören, die Geborgenheit, die sie um sie herum errichtet hatte. Traditionen, die jedes Jahr wiederkehrten. Sie sah, wie Ariel und ein anderes kleines Mädchen trockenes Laub in die Luft warfen und lachten. Jocke konnte bei den Kindern bleiben. Sie würde mit dem Bus in die Stadt fahren. Gab es eine Verbindung nach Sollentuna, wenn sie in Mörby oder am Danderyd-Krankenhaus ausstieg?

»Ich meine nur … Heute ist doch Walpurgisnacht.«

Einige Sekunden Stille. Sie wünschte, es hätte einen offenen Horizont gegeben, aber die Inseln schlossen die Bucht wie in einen Wald ein. Wie konnte sie jetzt an so etwas denken, Walpurgisnacht? Was sollte der Polizist, dessen Namen sie nicht verstanden hatte und auch nicht wissen wollte, von ihr denken? Und dennoch, es gab etwas, was ihr in diesem Moment wichtiger war, obwohl alles in ihr zusammenbrach: An dem festzuhalten, was abgesprochen war. Sie durfte nicht wegbleiben. Das Feuer musste brennen, die Lieder mussten gesungen werden. Die Dorfgemeinschaft würde eine Tombola veranstalten. Ihre Familie hatte Süßigkeiten-Tüten als Preise beigesteuert, und die Kinder wollten diese so gern zurückgewinnen.

Sie räusperte sich.

»Ist es in Ordnung, wenn ich morgen komme?«

Als es dämmerte, wurde das Maifeuer angezündet, kurz vor neun Uhr abends, als das Frühlingslicht langsam ins Blau überging. Ein paar Männer aus dem Dorf gingen herum und verspritzten Brandbeschleuniger, die Flammen loderten auf. Es wurde so heiß, dass sie ein paar Schritte zurücktreten mussten. Die Bucht verdunkelte sich, es knisterte und knackte im Holz, die Lieder tönten laut und klar. Schneewehen schmelzen und vergehen … Himmel lacht in hellen Frühlingsnächten, Sonne küsset Wald und Seen wach … Ein paar Frauen aus dem Dorf sangen im Kirchenchor, helle Töne tanzten in den Flammen vor dem schwarzen Himmel, die Gesichter glühten. Sie erinnerte sich an eine Walpurgisnacht vor langer Zeit: Funken waren auf ihre Daunenjacke gefallen, und ihre große Schwester hatte mit den Armen gewedelt und auf sie eingeschlagen, Helene schrie und schrie, und Camilla hieb auf die Jacke ein, bis die Glut gelöscht war. Hinterher war ein Brandloch zu sehen. Das war auf dem Kvarnbacken in Jakobsberg gewesen, die riesige Mühle wie ein Schatten vor dem Abendhimmel, die Kälte, als sie vom Feuer wegmusste, die Hand, die sie weggezogen hatte. Bald ist der Sommer hier in Purpurwogen, goldglänzend, schimmernd in Azur …

Ariel schmiegte sich eng an ihr Bein, eingemummelt, als wäre es noch Winter. Helene hielt sie an den Schultern fest, bis ihr die Arme wehtaten und sie merkte, dass sie zu fest zudrückte. Malte flitzte herum und versuchte, die umherfliegenden Funken auszutreten. Vom Tod wussten sie beide nichts.

Ja, ich komme, grüß die frischen Winde, raus aufs Land und zu den Vögeln hoch …

Sie hatte es nicht über sich gebracht, es zu erzählen, weder ihnen noch Jocke. Sie hatten Hamburger gegessen, die Jocke draußen grillte. Dann hatten sie zusammen die Bettwäsche gelüftet und den Mäusedreck entfernt, der sich im Winter angesammelt hatte. Sie hatte gesagt, sie müsse am nächsten Morgen in die Stadt und arbeiten. Wie hätte sie es den Kindern auch erklären, was hätte sie ihnen sagen sollen?

Tut mir leid, meine Süßen, eure Tante ist tot.

Wie jetzt? Wir haben doch gar keine Tante?

»Mein Beileid«, sagte der Polizist, der sich ihr gegenübersetzte. Er hieß Aurek Krawczyk und war über 1,90 m groß, er musste die Beine anwinkeln, um überhaupt Platz zu finden. Der Tisch war aus Eiche, hatte diesen tristen Farbton, wie er nur in öffentlichen Gebäuden existiert. Die vier Stühle passten nicht zusammen.

»Der Leichnam wurde in die Rechtsmedizin in Solna überführt«, sagte er und schaute in seine Papiere.

»Muss ich …?«

Darüber hatte sie die ganze Zeit nachgedacht, im Bus, der über die Autobahn in die Stadt bretterte – ob sie das von ihr verlangen würden, in einen kalten Raum zu treten. Sie konnte sich vorstellen, wie es dort hallte, und die Kälte, und vielleicht hatten sie rund um die Bahre Kerzen angezündet – und dann würde das Tuch weggezogen, und Charlie läge mit zertrümmertem Schädel da und Augen, die sie anstarrten und zum letzten Mal stumm anklagten.

Jetzt kommst du also. Das wurde aber auch Zeit.

Der Mann lächelte und schob einen Becher Kaffee mit Milch herüber. Die Wärme in seinem Blick schien echt.

»Sie brauchen sie nicht zu identifizieren«, sagte er, »das ist heute nicht mehr nötig. Wir wissen, dass sie es ist.«

Er öffnete eine Mappe und zog ein Foto heraus. Charlie hatte sich leicht weggedreht, war halb im Profil zu sehen. Es musste vor ein paar Jahren aufgenommen worden sein. Sie posierte vor dem Fotografen, schien eine klassische Filmfigur nachahmen zu wollen, was ihr tatsächlich ganz gut gelang. Ihre Augenpartie war leicht asymmetrisch, was ihr eine eigene Schönheit verlieh. Ihr Blick schien in die Ferne gerichtet, tiefsinnig und irgendwie entrückt.

»Die Obduktion wird einige Tage in Anspruch nehmen. Den Bericht der Spurensicherung bekomme ich wahrscheinlich heute schon.«

»Okay.«

Okay? War das eine passende Antwort? Helene suchte nach etwas, worauf sie ihren Blick richten konnte. Die Jalousie war kaputt, das Fenster nach dem Winter noch nicht geputzt. Als die Sonne herauskam, sah sie die klebrigen Spuren von Staub und Abgasen auf der Scheibe. Was erwartete er von ihr? Ihre Kiefer taten weh, so sehr biss sie sie zusammen. Ihre Wut durfte sie nicht zeigen, durfte sie auf keinen Fall herauslassen: dass du mich am Ende hierherbringst, mich in ein scheiß Polizeipräsidium zwingst! Am ersten Mai! Und dann blitzte etwas auf, woran sie lange nicht gedacht hatte, auch so ein erster Mai, oder besser: ein Gefühl von erster Mai, als sie in der Stadt gewesen waren und mit Barbro, ihrer Pflegemutter, an der Demo teilgenommen hatten. Sie waren nicht älter als neun oder zehn gewesen, und Feierlaune und Frühling hatten in der Luft gelegen. Anschließend hatte es Mittagessen im Chinarestaurant auf der Drottninggatan gegeben. Frittierte Bananen und Vanilleeis, immer nur an diesem Tag. Ihr fiel ein, dass sie auch vorhin auf dem Weg in die Stadt ein paar junge Alternative mit zusammengerollten Plakaten gesehen hatte, als sie in Sollentuna Zentrum ausgestiegen war. Dass die Leute immer noch demonstrierten. Wogegen? Oder wofür?

»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Ihrer Schwester?«

»Ich weiß nicht … Vor etwa einem Monat, oder vielleicht ist es auch länger her. Sie hat mich angerufen.«

»Wirkte sie niedergeschlagen?«

»Nein … ich glaube nicht. Wenn, dann eher manisch. Vielleicht. Wie sie eben manchmal sein konnte.«

Er nickte und blätterte. Helene trank den Kaffee mit Milch, hatte eigentlich um einen schwarzen gebeten, wollte sich aber auch nicht beschweren. Schließlich war sie hier nicht im Café.

»Sie hat es schon mal versucht«, sagte sie schließlich.

»Was?«

»Sich das Leben zu nehmen.«

Die plötzliche Erkenntnis: Das, was ich jetzt sage, ist alles, was sie je über meine Schwester erfahren werden. Man wird es in die Dokumente im Computersystem der Behörden aufnehmen, und dann ist es für alle Zeiten in Stein gemeißelt.

»Die Wohnung war nicht abgeschlossen«, meinte er. »Hat sie normalerweise die Tür hinter sich verriegelt?«

»Ich weiß nicht … Charlie … Camilla ist nicht gerade vorsichtig. Es kann also gut sein … dass sie nicht abgeschlossen hat. Warum?«

»Die Streife hat kein Handy in der Wohnung gefunden. Hatte sie eins?«

»Natürlich hatte sie eins. Das hat doch jeder.«

»Haben Sie die Nummer?«

»Ja.« Helene bückte sich und kramte in ihrer Handtasche. Spürte, wie er sie beobachtete, als sie das Handy herausholte, wie er sie durchschaute. Lernte man so etwas bei der Polizei? Sie blätterte in ihren Kontakten, bis sie zum Buchstaben C kam, obwohl sie wusste, dass die Nummer dort nicht stand. Sie hatte sie gelöscht. Sie erinnerte sich, wie erleichtert sie danach gewesen war, erinnerte sich an das Gefühl, dass sie genau das schon längst hätte tun sollen.

»Sie muss verlorengegangen sein, als ich mir ein neues Handy angeschafft habe«, sagte sie.

»Dann hatten Sie also nicht viel Kontakt?«

»Nein, eher nicht.«

»Wir finden ihren Anbieter schneller, wenn wir die Nummer haben. Vielleicht hat Ihr Mann oder irgendein anderer Angehöriger …«

Sie hörte nicht, wie der Satz endete. Nur Charlies Stimme, wie sie damals bei ihrem letzten Anruf geklungen hatte.

Sie hörte sie plötzlich so deutlich, aber nicht in ihrem Innern, wie man hätte meinen sollen, sondern von irgendwo außerhalb, als wäre sie in diesem Raum und würde ihn mit ihrer ganzen großen Präsenz füllen. Helene musste sich abwenden. Draußen war die Sonne wieder verschwunden, und der Himmel war schmutzig grau, sie presste eine Hand vor den Mund, sodass das Weinen irgendwo in ihren Bauch hinuntergedrückt wurde.

War es einen Monat her? Nein, länger, sechs Wochen vielleicht, während dieser kalten Tage Mitte März, als der Winter plötzlich wieder zurückgekehrt war. Die Stadt lag im Schnee versunken da, eine flauschige Stille, und dazu die Gewissheit, dass ganz früh am nächsten Morgen der Schneepflug kommen und draußen herumlärmen würde, sodass sie vielleicht noch vor sechs aufwachen würde, und dass sie deshalb umso verärgerter war, denn wenn sie nicht ihre sieben Stunden Schlaf bekam, geriet der ganze Tag aus dem Gleichgewicht. Im Laufe der Jahre hatte sie festgestellt, dass ein funktionierendes Leben zu großen Teilen auf Balance beruhte und darauf, diese aufrechtzuerhalten. Zu wissen, wann das Essen auf dem Tisch stehen musste, wie viele Minuten es dauerte, um die Kinder rechtzeitig in die Schule zu bringen, selbst zu duschen, bevor sie sie weckte, die Kleidung schon am Vorabend bereitzulegen.

Und da mitten hinein schrillte das Telefon. Helene musste aus dem Bett springen, damit das Klingeln nicht auch noch die Kinder aufweckte. Das Herzklopfen, das sie wie immer in solchen Fällen bekam. Charlies Stimme, die eine Spur dunkler war als ihre eigene.

Mein Gott, es ist noch nicht einmal elf, wann gehst du eigentlich ins Bett, willst du dein ganzes Leben verschlafen?

Und dann ihr wirres Geschwätz. Es ging wieder um die alte Geschichte, ihre Mutter und Argentinien und irgendeinen Namen, den sie herausgefunden hatte, dass sie nun wüsste, dass … ja, was auch immer. Es hörte einfach nicht auf, obwohl Helene ihr schon vor Jahren gesagt hatte, dass es sie nicht interessierte, dass es sinnlos war. Eines Tages musste man erwachsen werden und seine Kindheit hinter sich lassen, und dieser Tag war längst gekommen.

Es ist nur, ich müsste mir etwas Geld leihen, ich verspreche, ich werde es dir erklären …

Mitten in diesem Satz hatte Helene aufgelegt. Hier war endgültig Schluss. Sie hatte Charlie gesagt, wenn sie nicht endlich mit diesen kranken Fantasien aufhöre, brauche sie nie wieder anzurufen. Man musste Grenzen setzen, wenn man nicht ausgenutzt werden wollte. Helene hatte aufgehört, ihr Geld zu leihen, von dem sie nie etwas wiedersah.

Hatte sie wirklich aufgelegt?

Helene holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich.

»Entschuldigung«, sagte sie leise.

Er wartete, bis sie fertig war.

»Wir haben Medikamente in ihrer Wohnung gefunden«, sagte er dann. »Wussten Sie davon?«

Aurek Krawczyk schob ihr eine Arzneimittelpackung herüber. Helene las: Flunitrazepam.

»Es gehört zur Gruppe der Benzodiazepine und ist ein Beruhigungsmittel, das man bei Angstzuständen und Schlafstörungen verschreibt. Es wird aber auch verwendet, um Abstinenzerscheinungen zu lindern oder den Alkoholeffekt zu verstärken. Das Präparat war früher unter dem Namen Rohypnol bekannt, von dem Sie sicher schon mal etwas gehört haben.«

Sie schaute auf den langen Namen auf der Schachtel, auf die Ziffern 0,5 mg.

»Ist das nicht diese Vergewaltigungs-Droge?«

»Ja, genau, aber es wird auch von Tätern gern verwendet.« Er drehte die Verpackung um. »Dieses Präparat dämpft Gefühle und nimmt einem die Angst, beziehungsweise die Hemmungen. Gewaltverbrecher werfen es gern ein, kurz bevor sie zur Tat schreiten. Die meisten Menschen haben am Ende doch Skrupel, mit gezogener Waffe in eine Bank zu marschieren oder einen anderen Menschen halbtot zu prügeln. War Ihre Schwester süchtig, war sie in solche Dinge verwickelt?«

»Sie meinen, ob sie eine Straftäterin war?«

»Ich weiß nicht … Was glauben Sie?«

»Nein … Und überhaupt, was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«

Helene blickte unauffällig auf sein Namensschild, aber sie konnte sich die Reihenfolge der Konsonanten in seinem Nachnamen nicht merken. Sie schätzte, dass er etwa zehn Jahre jünger als sie selbst war, also knapp dreißig. Er sah müde aus, aber das war um diese Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Aus irgendeinem Grund musste sie an die Schlüsselblumen im Garten ihres Sommerhäuschens denken, die kurz vor dem letzten Kälteeinbruch die ersten Blüten gebildet hatten.

Ein Gefühl, als beobachte Charlie sie über die Schulter: Wirst du jetzt irgendeinen Scheiß über mich erzählen?

»Charlie … Ich meine Camilla, konnte manchmal wie besessen von etwas sein … es lief manchmal richtig aus dem Ruder … schon immer, so lange ich denken kann. Dazu muss man wissen, dass unsere biologische Mutter ziemlich früh verschwand.«

Hör auf, mich Camilla zu nennen, den Namen hat mir jemand gegeben, der nicht wusste, wie ich werden würde.

»Ing-Marie Sahlin«, las der Polizeiinspektor in seinen Papieren, »sie ist als vermisst gemeldet.«

»Weil man sie nicht für tot erklären konnte. Wahrscheinlich ist sie nach Südamerika gegangen, als meine Schwester fünf war. Ich war drei. Und dann ist sie verschwunden. Unsere Eltern lebten damals schon getrennt.«

»Ach je.« Er schien betroffen, dann schlich sich Neugier in seinen Blick. Diese Reaktion kannte sie, diese Lust, die Vergangenheit zu durchforsten, alles ans Licht zu zerren und in seine Bestandteile zu zerlegen, mit ein wenig mitleidig zur Seite gelegtem Kopf. Es war einer der Gründe, weshalb sie schon vor vielen Jahren aufgehört hatte, darüber zu sprechen. Die Leute mussten nicht alles über einen wissen. Ihre Mutter war verschwunden, aber sie hatten eine Pflegemutter bekommen, die für sie getan hatte, was sie konnte, die ihrem Alltag Struktur gegeben hatte und sich um sie kümmerte. Barbro hatte sie geliebt wie ihre eigenen Kinder. Wenn Charlie jetzt hier gewesen wäre, hätte sie widersprochen, aber das war sie ja nicht.

»Meine Schwester lebt … ich meine, sie lebte in einer bestimmten Vorstellung von sich und der Welt, ich meine, sie hatte kein Gefühl für Grenzen.« Helene spielte mit der Arzneimittelpackung. »Vielleicht hat sie deshalb so etwas genommen.«

»Das Problem ist«, sagte Krawczyk, »dass sie nicht von einem Arzt verschrieben worden sind. Sie haben kein Verschreibungsetikett. Ihre Schwester muss sie sich illegal besorgt haben.«

»Dazu kann ich Ihnen leider gar nichts sagen.«

Helene schaute unauffällig auf das Foto, das noch immer auf dem Tisch lag. Mit diesem Blick, der irgendwo jenseits von Raum und Zeit endet.

»Wir haben die Wohnungsbesitzerin ausfindig gemacht …« Er blätterte wieder. »… oder besser gesagt, ihren Sohn, den Nachlassverwalter, Ingvar Holm. Er behauptet, nicht gewusst zu haben, dass Ihre Schwester dort wohnte. Sie hatte es aus zweiter Hand gemietet, was gegen die Regeln der Wohnungsgenossenschaft verstößt. Er verlangt sofortigen Zugang zur Wohnung, aber wir haben ihn um Geduld gebeten, bis wir in dieser Angelegenheit weitergekommen sind.«

Der Polizist schob ihr einen Schlüssel und ein Formular hinüber.

»Wahrscheinlich entfernen wir die Absperrung morgen, die Spurensicherung ist fertig.«

»Was heißt das?«

»Das heißt erst mal nur, dass wir eventuelle Spuren gesichert haben, falls es sich um ein Verbrechen handelt. Wir können natürlich auch einen anderen Angehörigen verständigen, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Nein, danke, ich kümmere mich darum.«

Helene nahm das Formular und unterschrieb, wog den Schlüssel in ihrer Hand. Auch sie hatte nicht gewusst, dass Charlie dort wohnte, bevor die Polizei ihr am Telefon die Adresse genannt hatte. Ein Bild von ein paar Hochhäusern, die sich auf einer Anhöhe auftürmten, erschien vor ihrem inneren Auge.

»Wir sagen Ihnen Bescheid, wenn das normale Schloss wieder funktioniert, damit Sie reinkönnen, um ihre Sachen abzuholen.«

Es gab Dinge, die sie nicht aufschieben konnte, wie die Achtjährige zur Schule zu begleiten und anschließend noch mal einen Umweg über Zuhause zu machen, weil der Elfjährige seine Sportschuhe vergessen hatte. Und das Werbematerial zur neuen Wohnanlage im Weißdorn-Viertel, das noch vor dem Wochenende fertig werden musste, gehörte ebenfalls dazu.

Die Frühlingssonne strömte durch die hohen Fenster und vervielfachte ihr Licht auf den Wänden und den glänzenden Schreibtischen. Helene nickte dem Kollegen neben sich zu und schaltete ihren Computer ein. Ruben arbeitete bereits konzentriert. Über seine Kopfhörer hörte er Musik und bewegte sich durch eine 3D-Zeichnung. Vielleicht hatte er die ganze Nacht dort gesessen. Es war ihm nicht anzusehen, ob er geschlafen hatte oder nicht, dazu war er wahrscheinlich zu jung. Sie öffnete das Programm und klickte sich zu den Bildern der Reihenhäuser im Beckomberga-Park durch.

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