Die Villa unter den Linden - Christian Pfannenschmidt - E-Book
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Die Villa unter den Linden E-Book

Christian Pfannenschmidt

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Beschreibung

Eine Liebe über alle Standesgrenzen hinaus: der historische Roman »Die Villa unter den Linden« von Bestseller-Autor Christian Pfannenschmidt jetzt als eBook bei dotbooks. Berlin 1906. Die junge Anna steht vor den Scherben ihres Lebens. Ohne Aussicht auf Hoffnung irrt sie erschöpft und geschwächt durch die Straßen Berlins. Dabei bemerkt sie die heranpreschende Kutsche zu spät … Die vermögende Friederike von Gravenhorst nimmt Anna kurzerhand in der eindrucksvollen Villa der reichen Schokoladenfabrikanten-Familie auf. Als es Anna besser geht, setzt sich Friederike für sie ein – und so darf Anna als Hausmädchen bleiben. Doch unter den Bediensteten hat sie keinen leichten Stand. Und dann ist da auch noch Julius, der attraktive Sohn des Hauses, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Aber der ist unerreichbar und noch dazu längst einer anderen versprochen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Roman vor der Kulisse Berlins Anfang des 20. Jahrhunderts – »Die Villa unter den Linden« von Bestseller-Autor Christian Pfannenschmidt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 674

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Lesetipps

Über dieses Buch:

Berlin 1906. Die junge Anna steht vor den Scherben ihres Lebens. Ohne Aussicht auf Hoffnung irrt sie erschöpft und geschwächt durch die Straßen Berlins. Dabei bemerkt sie die heranpreschende Kutsche zu spät … Die vermögende Friederike von Gravenhorst nimmt Anna kurzerhand in der eindrucksvollen Villa der reichen Schokoladenfabrikanten-Familie auf. Als es Anna besser geht, setzt sich Friederike für sie ein – und so darf Anna als Hausmädchen bleiben. Doch unter den Bediensteten hat sie keinen leichten Stand. Und dann ist da auch noch Julius, der attraktive Sohn des Hauses, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Aber der ist unerreichbar und noch dazu längst einer anderen versprochen …

Über den Autor:

Christian Pfannenschmidt, geboren 1953, war Journalist und Reporter für die Abendzeitung München, den Stern und das Zeit-Magazin. Heute lebt er als Autor in Köln und Berlin. Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher der ZDF-Erfolgsserie »Girlfriends«. »Die Villa am Seerosenteich« wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Verfilmung als ARD-Zweiteiler, verfolgten über 6 Mio. Menschen die Karriere von Isabelle, dem Mädchen vom Lande, das zur Chefin eines Modeimperiums aufsteigt. 2003 gründete er eine eigene Fernsehproduktion und setzte seine persönliche Erfolgsgeschichte mit TV-Serien wie u.a. »Die Albertis« und »Herzensbrecher – Vater von vier Söhnen« sowie der erfolgreichen Freitagabend-Reihe »Meine Mutter ist unmöglich« fort.

Bei dotbooks erschienen Christian Pfannenschmidts Romane »Die Villa am Seerosenteich«, »Der Klang unserer Seelen« und »Die Albertis«.

Außerdem haben ihn die Charaktere der »Girlfriends«-Serie nicht mehr losgelassen. Und so hat er – basierend auf den Drehbüchern – sieben Romane über die Freundinnen Marie, Ilka und Elfie geschrieben:

Band 1: »Fünf Sterne für Marie«Band 2: »Freundschaft auf den dritten Blick«Band 3: »Zehn Etagen zum Glück«Band 4: »Demnächst auf Wolke sieben«Band 5: »Kurz vor zwölf im Paradies«Band 6: »Das 1x1 zum großen Glück«Band 7: »Frühstück für zwei«.

Die ersten drei Romanen der »Freundinnen für's Leben«-Serie sind auch als Sammelband unter dem Titel »Das Hotel an der Alster« erhältlich.

Die Website des Autors: www.christianpfannenschmidt.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/PfannenschmidtChristian

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eBook-Neuausgabe Januar 2019

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel »Unter den Linden« bei Knaur, ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Originalausgabe 2006 Christian Pfannenschmidt

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shuterstock/canadastock, Irin-k, Kathy SG

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-458-4

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Villa unter den Linden« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

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Besuchen Sie uns im Internet:

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blog.dotbooks.de/

Christian Pfannenschmidt

Die Villa unter den Linden

Roman

dotbooks.

Prolog

Fast flog die Göttin aus der Kurve. In letzter Sekunde riss Philip das Steuer seines Citroën DS herum und lenkte den Wagen vom Schotter weg zurück auf die Straße. Für einen Moment nur hatte er nicht aufgepasst, als sie oberhalb von Paradiso um den Felsvorsprung herumfuhren und vor ihnen, dort unten in die Bucht geschmiegt, Lugano auftauchte. Als Philip den See in der Märzsonne funkeln sah, die sanft ansteigende, liebliche Landschaft, die hoch aufragenden Berge, auf deren Kuppeln Schnee lag, als das süße Gefühl der Kindheitserinnerungen ihn durchflutete und er sich plötzlich und unerwartet in seinem Kummer getröstet fühlte, hatte er vergessen, wie schnell er fuhr. Aus dem Jetzt war er – einen Moment nur – in das Gestern gesprungen. Das passierte ihm öfter. Eva ärgerte sich darüber. Und sie schimpfte mit ihm.

»Meine Güte, Philip, auf dem letzten Kilometer fährst du uns noch in den Tod.«

»Tut mir leid.«

»Ja, mir auch.« Sie drehte das Becker-Radio an.

»Marmor, Stein und Eisen bricht ...«, sang Drafi Deutscher, der im vergangenen Jahr mit diesem Song fünfzehn Wochen lang auf Platz eins der Deutschen Schlagerparade gewesen war. Noch immer spielten sie es, selbst hier im Tessin, obwohl der Erfolg nun schon über ein halbes Jahr zurücklag.

»... aber unsere Liebe nicht ...«, sang Eva mit und blickte Philip dabei herausfordernd von der Seite an. Zum Glück vergaß seine Freundin schnell. Sie war ein Sonnenkind. Deshalb liebte er sie auch. Sie hatten sich in einer Eisdiele in München kennengelernt, im Sommer vor drei Jahren, im Kreis von Freunden. Philip war mit einem anderen Mädchen gekommen, Eva mit einem Mann, der ein paar Jahre älter war als sie und allen sofort auf die Nerven ging, weil er den dicken Max gab. Es war ein lustiger Nachmittag, dem ein lustiger Abend folgte, aus dem eine lange, sehr lustige Nacht wurde. Sofort waren die beiden sich aufgefallen, hatten aber über Stunden kaum ein Wort miteinander gewechselt. Als Philip dann in einer Kneipe in Schwabing mit Eva tanzen wollte, hatte sie ihn abblitzen lassen. Sie kam ihm arrogant vor, und er ließ sie links liegen. Dann aber bemerkte er, dass sie und ihr angeberischer Freund sich stritten. Der Typ machte sich aus dem Staub, und Eva saß wie versteinert in einer Ecke. Philip ging zu ihr, und sie redeten endlich miteinander, bis seine Freundin von ihm nach Hause gebracht werden wollte. Auf einem Bierdeckel hinterließ er Eva seine Telefonnummer. Sie rief nie an. Doch er konnte sie nicht vergessen, ihre wasserblauen Augen, ihre feuerroten Haare, ihre schlanke Gestalt, die Art, wie sie sich bewegte. Ihre Stimme klang in seinem Kopf nach, und ihr Lächeln, als sie sich in jener Kneipe voneinander verabschiedeten, kam ihm immer wieder vor Augen – besonders nachts, wenn er in seiner winzigen Dachwohnung alleine im Bett lag. Über seinen besten Freund bekam er schließlich heraus, wer sie war, dass sie noch bei ihren Eltern wohnte und welche Telefonnummer sie hatte. Philip meldete sich bei Eva, und ein paar Tage darauf und zahllose Telefonate später war sie bereit, sich mit ihm zu treffen. Sie gingen durch den Englischen Garten, in strömendem Regen, und es machte ihnen nichts aus: Sie hatten sich ineinander verliebt. Seit jener Begegnung waren sie unzertrennlich. Sie ähnelten sich in vielem oder ergänzten sich auf wunderbare Weise. Das Unverblümte an ihr, der Humor, das Kluge und das Herzliche paarten sich mit seiner Nachdenklichkeit, seiner Kraft, seiner Beständigkeit. Beide liebten Musik, Sport, gutes Essen und das Kartenspiel. Sie hatten einen großen Freundeskreis, mochten aber auch gerne zu zweit sein. Sie genossen es, stundenlang zu diskutieren, Gespräche über Politik nahmen einen großen Raum in ihrem Studentenleben ein. Sie gingen in Ausstellungen und zu Konzerten, unternahmen Wochenendausflüge. Philip liebte Eva, und er würde sie heiraten. Das war sicher. Aber erst, wenn er sein Jurastudium beendet hatte. Eine eigene Familie gründen, nach allem, was passiert war: Philip war erst einundzwanzig Jahre alt, doch er hatte Pläne. Man musste Pläne haben, das hatte auch Nonna ihm beigebracht.

Er stimmte mit ein, zu dritt sangen sie jetzt: »... alles, alles geht vorbei. Doch wir sind uns treu.«

Philip schaltete das Radio wieder ab.

»Warum das denn?«, fragte Eva.

»Kommt mir pietätlos vor, irgendwie«, erklärte er.

Spontan beugte sie sich zur Seite und gab ihm einen Kuss auf die Wange: »Mein Nachdenklicher!«, sagte sie zärtlich. »Ich bin ja bei dir. Es wird alles gut, wirst schon sehen!«

Sie fuhren durch die Stadt, entlang der Seepromenade, über die er als Kind an der Hand seiner Großmutter und seines Großvaters so oft gestapft war. Noch immer sahen die Häuser mit ihren Geranienbalkonen auf das Wasser, als würden sie warten und Ausschau halten nach einem Schiff mit fünf Segeln, das ja doch nie kam. Noch immer plätscherten die Brunnen. Noch immer standen auf der Piazza die Stühle der Straßencafés in Reih und Glied. Philip sah eine elegante Dame in einem Kleid aus Boucléwolle mit passendem knielangem Chasuble und Krokodillederhandtasche, die durch die Via Nassa flanierte und ihn an seine Mutter erinnerte. Er sah eine dicke Tessinerin, die den Eisenrollladen vor der Tür ihres Gemüseladens hochwuchtete. Er sah Straßenkehrer, die sich rauchend auf ihre Besen stützten. Es war noch früh, Lugano begann eben erst zu leben. Eine Vespa mit zwei jungen Männern, nicht älter als Philip und Eva, knatterte vorbei. Eine silbergraue Pagode kam ihnen entgegen. Im Stadtteil Casserate, kurz hinter dem Grand Hotel Castagnola, dort, wo die Seestraße in Serpentinen wieder anstieg, hinauf Richtung Gandria, bogen sie mit ihrem Wagen nach links ab, in die schmale Via Pico. Vor dem Haus Nummer vierunddreißig hielten sie an. Es lag in einem verwilderten Park voller Palmen, rosafarbener Mandelbüsche, zaghaft aufspringender Magnolien und Esskastanienbäume, nach hinten hinaus begrenzt von einem Fels, aus dem beim Bau der Tessiner Villa Brocken herausgeschlagen worden waren, um Platz zu schaffen, für ein kleines Plateau, das die rückwärtige Terrasse bildete.

Dora, die Haushälterin der Nonna, stand bereits am Gartentor und erwartete sie. Philip eilte aus dem Wagen und rannte auf Dora zu, die auf die Straße herausgelaufen kam, ihre kurzen Arme weit ausbreitete und ihn an ihren Busen drückte. Es war ein ebenso komisches wie rührendes Bild: Die dicke, alte Frau in ihrer gestreiften Kittelschürze und der schlaksige, flachsblonde, zwei Köpfe größere Mann, die sich fest umschlungen hielten.

»Ach, Junge«, sagte Dora unter Tränen, »... Junge, wie schön, wie schön.« Sie ließ ihn los, schaute ihn mit ihren dunklen Augen liebevoll an.

»Wie geht es ihr?«, fragte Philip.

»Sie ist tapfer«, antwortete Dora. »Du kennst die Signora. Sie trägt es mit großer Fassung.«

Philip drehte sich zu seiner Freundin um, die ausgestiegen war:

»Dora, das ist Eva.«

»Eva. Herzlich willkommen in der Villa Adina.«

»Hallo, Dora. Ich darf doch Dora sagen?«

Dora tätschelte der jungen Frau die Wange: »Du darfst alles, was Philip darf. Und Philip darf sowieso alles.« Sie lachte rostig und laut, ein Lachen, das zu dieser italienisch anmutenden, biederen Frau überhaupt nicht passte. Augenblicklich aber wurde sie wieder ernst. Sie beschwerte sich darüber, dass die Beerdigung morgen in ganz kleinem Rahmen stattfinden sollte. Sie beklagte, dass es niemandem – auch ihr nicht – gelungen war, die Signora umzustimmen.

Philip hatte eine beruhigende Nachricht für sie: »Es wird eine große Trauerfeier geben, nächsten Monat in Zürich, bestimmt zweihundert Leute. Ich habe das mit den Anwälten und dem Nachlassverwalter längst geregelt.«

»Ob ihr das gefällt?«, fragte Dora zweifelnd.

»Ich bin der Letzte in der Familie! Ich habe es so entschieden! Schon wegen der alten Freunde und der Geschäftspartner!«, erklärte Philip selbstsicher und fügte dann knapp hinzu: »Er hat es verdient.«

Sie luden das Gepäck aus. Dora schleppte – gegen allen Protest – den schwersten der vier Koffer und ging auf dem schmalen, gewundenen Weg voran. Der Eingang lag der Straße abgewandt auf der Rückseite des dreistöckigen, quadratischen Hauses. Durch die reichgeschnitzte Holztür betraten sie die Halle. Sie war rechteckig wie die ganze Villa Adina. Eine Eichentreppe führte zu den Etagen mit den umlaufenden Galerien hoch, man konnte hinaufsehen bis zum leicht gewölbten Dach, das aus Glas war und eher einem Deckel glich als einer Kuppel. Eva fröstelte ein wenig. Etwas Kühles, Düsteres, Bedrückendes lag in der Luft. Jeder Schritt und jedes Wort hallten.

»Wo ist sie?«, fragte Philip und stellte seine Koffer ab.

»Im Salon«, antwortete Dora. »Sie wartet seit heute Morgen um sechs.«

»Dann werden wir gleich zu ihr gehen!«, erklärte er.

»Und ich bringe inzwischen euer Gepäck hinauf!«, meinte Dora.

»Aber nein ...«, sagte Eva, die den Umgang mit Personal nicht gewöhnt war.

»Aber ja!«, erwiderte Dora. »Ihr kriegt die zwei kleinen Zimmer mit Seeblick, die Betten sind frisch bezogen.«

Philip hakte halb im Scherz nach: »Zwei Zimmer? Schreiben wir nicht das Jahr 1966?«

»Die Zeiten mögen sich geändert haben, aber du kennst doch deine Großmutter!«, sagte Dora und fügte augenzwinkernd hinzu: »Aber es gibt ja eine Zwischentür, wenn du dich erinnern magst.«

Philip nahm Eva an die Hand, und sie betraten, nachdem er höflich angeklopft hatte, den Salon. Der Brokatvorhang vor der Verandatür war noch zugezogen, die Fensterläden geschlossen, nur spärlich fiel das Sonnenlicht durch die Holzlamellen in den riesigen, mit Antiquitäten vollgestopften Raum. Die Nonna saß in einem samtbezogenen Ohrensessel, dessen geschwungene Beine in Löwenklauen mündeten. Das Wort Audienz kam Eva in den Sinn – es war, als hielte die alte Dame in ihrem schwarzen Spitzenkleid Hof. Sie lächelte, als ihr Enkel eintrat, hielt ihm die Hände entgegen, blieb aber sitzen.

Er kam zu ihr, küsste sie, beide hatten Tränen in den Augen. Eva hielt sich im Hintergrund, blieb an der Tür stehen. Dann machte Philip die Frauen miteinander bekannt. Sie begrüßten sich zaghaft, fast kühl, und Eva, die sich durch die Präsenz von Philips Großmutter verunsichert fühlte, sprach kurz und höflich ihr Beileid aus.

Die Signora nickte nur und bat ihren Enkel, die Vorhänge aufzuziehen, die Fensterläden und die Terrassentür zu öffnen. Sie wollte Licht und Luft und Sonne. Eva bemerkte, wie prächtig und geschmackvoll alles eingerichtet war. Barockmöbel, Kristalllüster, chinesische Teppiche auf dem Boden, französische Gobelins an den Wänden und Gemälde, überall Gemälde. Über einer Kredenz hing eine Pastellkreide- und Bleistiftzeichnung von Max Liebermann. Eva betrachtete sie.

Die Signora kam zu ihr: »Strandszene mit Tennisspielerin.«

»Es ist wunderbar!«, sagte Eva

»Kennen Sie sich in der Malerei aus?«, fragte die Signora.

Es lag kein Argwohn in der Frage, sondern erstauntes Interesse. Aber der Klang ihrer Stimme hatte einen Hauch von Arroganz, von Großbürgerlichem, von jener Weltläufigkeit, die Menschen zu eigen ist, die über Jahrzehnte nur unter ihresgleichen verkehren. Eva erschrak ein wenig. Sie kam sich vor wie auf dem Prüfstand.

»Ich interessiere mich dafür«, antwortete sie.

Freundlich, fast neugierig schaute Philips Großmutter sie an, so als erwarte sie weitere Erklärungen. Doch Eva schwieg nur. Sie fühlte sich – ganz gegen ihre Wesensart – eingeschüchtert. Da lächelte die Nonna, und die junge Frau begriff, dass die alte Dame nichts weiter wollte, als mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie suchte ganz offenkundig einen Anknüpfungspunkt, wollte mehr über Eva erfahren, verstehen, wer sie war, begreifen, warum ihr Enkel sie zur Freundin hatte.

»Meine Eltern, nun ja ...«, unterbrach Eva die Stille, bevor es peinlich wurde, »... meine Mutter wollte Malerin werden. Das war immer ihr Traum, aber dann bin ich geboren worden, und sie hat ihr Studium abgebrochen. Mein Vater ist Lehrer.«

»Schuldirektor, genau so einer, wie er im Buche steht!«, meinte Philip heiter.

»Er ist ein feiner und sehr lieber Mensch!«, erklärte Eva fest, denn sie hatte das Gefühl, ihren Vater und seinen Stand, der in Philips lapidarer Beschreibung fast kleinbürgerlich wirkte, verteidigen zu müssen.

»Sie streiten sich von frühmorgens bis spätabends, wenn sie beisammen sind!«, merkte Philip amüsiert an.

»Meine Güte, Philip! Du und deine Harmoniesucht! Das gehört doch dazu!« Sie wandte sich an die Signora. »Mein Vater und ich, wir verstehen uns bestens!«, erklärte Eva. »Meine Eltern sind noch vom alten Schlag. Sie legen viel Wert auf eine gute Bildung, und beide haben mich früh an die Kunst herangeführt.« Sie lachte auf. »Wenn sie das hier sehen würden, meine Güte!«

»Sind Sie Einzelkind?«

Eva nickte.

»Wie unser Philip.« Die Signora blickte zu ihm hinüber. Er war an der Terrassentür stehen geblieben. Sie sahen sich an, voller Vertrauen und Zärtlichkeit, und man hätte in diesem Moment glauben können, er sei ihr Sohn, nicht ihr Enkel.

Sie richtete das Wort wieder an Eva: »Ich hatte einen Sack voller Geschwister. Familie war mir immer das Wichtigste. Nun ja ... am Ende steht man dann eben doch alleine da ....«

»Nonna«, ermahnte Philip seine Großmutter, »du hast schließlich mich!«

»Und das ist ein großer Segen, Philip!«, erwiderte sie. »Ein großer Segen.«

Die Frauen betrachteten eine Weile stumm das Bild von Max Liebermann. »Ein schwieriger Mann, laut, sehr berlinerisch, ich kannte ihn noch persönlich, nun ja«, erklärte sie und fuhr fort: »Das Bild ist 1901 entstanden. Meine Schwiegermutter kaufte es. Sie liebte die Impressionisten, und wir haben es immer behalten, auch aus sentimentalen Gründen.«

»Es ist sicher sehr wertvoll.«

Die Signora ging auf diese Bemerkung nicht ein, und Eva hatte sofort den Eindruck, etwas Falsches gesagt zu haben: »Ich meine ... kostbar, im Sinne von ... von ...«

»Ich weiß genau, was Sie meinen!«, unterbrach die Signora sie.

»Ich möchte nicht, dass Sie denken ...«

Die Signora ließ Eva erneut nicht ausreden, sondern fragte scharf: »Von Geld verstehen Sie sicher auch eine Menge, was?«

Eva riss die Augen auf. Hilfesuchend schaute sie ihren Freund an. Doch der zuckte nur mit den Schultern. Er kannte die direkte Art seiner Großmutter zur Genüge.

Eva wollte die missverständliche Äußerung nicht auf sich beruhen lassen: »Es wäre falsch, wenn Sie glauben würden, ich sei ein materialistischer Mensch. Falsch und für mich unangenehm. Denn das könnte ja bedeuten, dass ich nur mit Philip befreundet sei, weil mich sein Geld interessiert.«

»Aber ihr streitet doch jetzt nicht, oder? Kaum, dass wir fünf Minuten hier sind!«, sagte Philip.

»Ich bin einfach nur überwältigt!«, sagte Eva. »Überwältigt und fasziniert. Von der Kunst. Und ihrem Wert an sich.« Sie lächelte offen. »Und ich bin ein neugieriger Mensch. Das muss ich zugeben.«

»Ja, wenn Sie sich wirklich dafür interessieren, mein Kind ...«, lenkte die Signora ein.

»Das will ich meinen!«, rief Philip herüber und setzte sich.

»Eva studiert Kunst, bei uns in München.«

»Na ja, im ersten Semester.«

»Kommen Sie, dann zeige ich Ihnen etwas ...« Ungeniert nahm sie Eva bei der Hand und führte sie durch das Haus. Philip blieb alleine im Salon zurück. War seine Freundin eben noch perplex gewesen, so taute sie nun nach und nach auf und zeigte jene offene und herzliche Art, die Philip so sehr an ihr mochte. Die Frauen durchwanderten das gesamte Erdgeschoss, kamen von einem Salon in den nächsten, vom Kaminzimmer in die Bibliothek, vom Esszimmer in einen schmalen Raum zwischen zwei Türen, den die Nonna als »Berliner Zimmer« bezeichnete und dessen Wände von oben bis unten mit kostbaren kleinen Zeichnungen und Illustrationen gespickt waren.

Als Petersburger Hängung bezeichnete die Hausherrin diese Art der Wanddekoration und gab kurz und knapp – Evas Hand fest umklammert – Erklärungen ab, die von der jungen Frau gierig aufgesogen und mit ebenso kurzen und knappen, unsentimental präzisen Fragen gefordert wurden. Hätte ein stiller Beobachter die beiden begleitet, wäre er sehr schnell darauf gekommen, wie ähnlich sie sich waren, trotz des großen Altersunterschiedes, und wie diese Ähnlichkeit sie beflügelte. Schon im ersten Stockwerk, wo die Schlafräume, ein Boudoir, das Zimmer der alten Dame und die Gästekammern lagen, entwickelten sie Vertrauen zueinander, gegenseitiges Interesse und Sympathie. Die Nonna zeigte Eva Arbeiten von Macke und Heckel und Schmidt-Rottluff, von Klee, Hofer und Grosz. Schließlich ging sie mit ihr wieder die Treppe hinunter und in das Arbeitszimmer von Philips Großvater, wo alles so geblieben war, wie er es zurückgelassen hatte. Aus der Bücherwand zog sie eine große Mappe heraus, legte sie auf einen der drei Tische, die mit Papieren, Bildbänden und zahllosen Gegenständen, die von lebenslangem Sammeln kündeten, beladen waren.

Die Signora schlug die Mappe schwungvoll auf. Darin lagen Lithographien von Otto Mueller, die das Leben von Zigeunern wiedergaben. Bei einer Arbeit blieb sie hängen, betrachtete sie liebevoll, strich mit den Fingern darüber. Eva, die ihr über die Schulter geschaut hatte, sah eine Frau, die eine Pfeife rauchte und ein kahlköpfiges, schwarzäugiges Kind in den Armen hielt. Im Hintergrund stand ein Planwagen. Ein Rad des Wagens befand sich direkt hinter dem Kopf der Frau, und man konnte es mit seinen Speichen wie einen Lichtkranz, der die Zigeunerin umgab, deuten.

»Zigeunermadonna«, erläuterte die Signora. »Von 1926. Und wie modern es noch heute ist, nicht?«

Eva nickte. Sie war hingerissen. Sie wusste, dass ihr Freund aus der Dynastie einer Schokoladenfabrikantenfamilie stammte, und sie wusste auch, dass Philips Großeltern das Unternehmen vor vielen Jahren an einen Schweizer Großkonzern verkauft und damit sehr viel Geld gemacht hatten. Aber von dem Reichtum an Kunst wusste sie nichts.

»Mein Mann und ich liebten die Expressionisten. Wir waren für das Moderne. Die ganze Mappe ging schlecht, viele wurden eingestampft, das muss man sich einmal vorstellen. Ich glaube, wir hatten sie von Cassirer. Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Nein«, antwortete Eva, »nie gehört.«

»Kunsthändler, damals in Berlin.« Sie klappte die Mappe wieder zu. »Ja, so vergeht der Ruhm der Welt.«

Sie schaute die junge Frau mit festem Blick an: »Lieben Sie Philip?«

Auf so eine direkte und persönliche Frage war Eva nicht vorbereitet. Sie wurde rot.

Die Nonna überging das: »Wenn ich ehrlich bin ...«, begann sie zögernd.

»Ja?«

»... Philip hat viel von Ihnen gesprochen. Ich war sehr gespannt auf Sie. Auch deshalb, weil ich mich fragte, warum Sie überhaupt nach Lugano mitkommen wollten.«

Eva fühlte sich in einer Verteidigungsposition: »Was ist daran so erstaunlich?«, erwiderte sie fast barsch.

»Nun, Sie mögen mich für altmodisch halten, aber morgen ist die Beerdigung meines Mannes. Es ist ein sehr privates Ereignis, ein schwerer Gang, für mich, für Philip.«

»Ebendeshalb wollte ich ihn begleiten.«

»Aber Sie sind weder mit ihm verlobt noch verheiratet.«

»Einfach nur seine Freundin, meinen Sie?«

Die Signora nickte: »Sie hätten ein anderes Mal kommen können, im Sommer vielleicht. Finden Sie es nicht ein wenig, nun, wie soll ich es formulieren? Aufdringlich?«

»Stimmt!«, entgegnete Eva unverblümt. »Ich habe nächtelang wachgelegen und darüber gegrübelt, ob ich es tun soll oder nicht.«

»Sie haben auch nächtelang wachgelegen?«, fragte die alte Dame verblüfft.

»Aber dann fand ich es auf einmal richtig und überhaupt nicht etwas, worüber man lange nachdenken sollte. Es ist eine Frage des Herzens. Philip hat mich sehr darum gebeten. Er hatte Angst vor diesem Tag. Ich habe gedacht: Er hat nur noch mich. Und Sie natürlich. Ich finde, ich gehöre an seine Seite, nicht nur an fröhlichen Tagen.«

Auf einmal schien die Signora zu verstehen. Sie wollte etwas sagen, doch Eva war noch nicht fertig.

»Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich liebe ihn.«

Fast gerührt schaute die Signora Eva in die Augen: »Er ist etwas Besonderes. Er kommt nach seinem Großvater. Er braucht jemanden, der ihn wirklich liebt, um seiner selbst willen ...« Sie ließ ihren Blick durch das Arbeitszimmer schweifen, als wolle sie alles aufsammeln, was sich darin befand. Für einen letzten, großen Augenblick des Erinnerns. »... nicht wegen dieser Dinge hier, die eines Tages alle ihm gehören werden. Dem Letzten der Gravenhorst-Dynastie ...«

Eva schmunzelte: »Wenn die Dinge gut laufen ..., dann wird er sicher nicht der Letzte der Gravenhorst-Dynastie sein.«

Beide lachten kurz auf, als müssten sie das Intime dieser Situation mit Lärm verscheuchen.

Die Nonna strich ihr kurz über die Wange: »Ich mag Sie, Eva.«

»Das ist sehr nett, dass Sie das sagen. Danke.«

Sie kehrten zu Philip zurück, der vorschlug, sie sollten sich nach draußen in den Garten setzen.

Wenig später brachte Dora hausgemachte Zitronenlimonade auf die Terrasse. Die Signora hatte – auf Philips Wunsch hin – ein paar Fotoalben herausgekramt und blätterte sie durch.

»Fritzi ...«, erklärte sie, zeigte auf das Bild einer schönen, jungen Frau im Reitkostüm und schmunzelte.

»Die Schwester meines Großvaters!«, sagte Philip und sah seine Großmutter an. »Sie war ziemlich wild für ihre Zeit, stimmt's?«

»Ja. Ich vermisse sie. Sie war meine beste Freundin. Nicht gleich von Anfang an, aber später dann. Es war eine große Freundschaft. Schade, dass sie keine Kinder hatte. Aber ihr Mann war nichts, ein schlechter Charakter.«

Und dann erzählte sie von lauter Leuten, die Eva nicht kannte, die sie aber dennoch faszinierten, denn sie mochte Geschichten von Menschen. Die Signora sprach von Paul, dem Onkel ihres Mannes, der eines Tages mit einer schrillen Soubrette aufgetaucht war und sie zum Entsetzen der Familie geheiratet hatte. Sie sprach von einem Carl, der Diener im Elternhaus ihres Mannes gewesen war und aus seinem Privatleben stets ein Geheimnis gemacht hatte. Ausgerechnet diesem Carl hatte der Onkel jene Soubrette ausgespannt. Sie sprach davon, dass sie Jüdin gewesen und von dem hochbetagten Paul in seiner Wohnung versteckt gehalten worden war. Und dass ausgerechnet Friederikes Mann – ein überzeugter Nationalsozialist – sie verraten hatte.

»Aber er hat seine Strafe erhalten«, meinte sie zufrieden. »Hat sich erschossen, Feigling, der er war, bei Kriegsende, auf der Flucht.«

»Und wer sind die beiden?«, fragte Eva.

»Das ist mein Mann!« Die Stimme der Signora wurde weich. »Als er jung war.«

»Er sieht aus wie Philip.«

»Ja, die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen.«

»Und die Frau neben ihm ... sind Sie?«, hakte Eva nach. »Nein, das ist Christine Olearius. Sie und mein Mann standen damals kurz vor ihrer Verlobung. Aber sie hat ja dann die Sache beendet und seinen Bruder ...«

»Alexander«, erklärte Philip.

»... geheiratet, es ging holterdiepolter. Die zwei sind später nach Südamerika gegangen. Wir haben uns aus den Augen verloren, ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Was für ein Skandal das damals war! Unglaublich! Ein Skandal und mein Glück. Unser Glück.«

Philip musste an seinen Großvater denken. Er hatte ihn über alles geliebt. Ein Freund war er für ihn gewesen, der große Bruder, den er nie gehabt hatte, Ersatz für den Vater, der kurz nach dem Krieg gestorben war. Alle starben in dieser Familie. Sein Vater, vor zwei Jahren seine Mutter und jetzt sein Großvater. Nun musste er diesen wunderbaren, einzigartigen, geliebten Menschen zu Grabe tragen. Philip merkte, dass seine Großmutter müde wurde. Er gab vor, von der langen Anreise aus Deutschland erschöpft zu sein, um es ihr leichter zu machen, sich zurückzuziehen. Doch sie bestand darauf, dass die drei vorher noch ein kleines Mittagessen im Speisezimmer einnehmen sollten. Sie hatte eben ihre Rituale und strengen Tagesabläufe, die seit Jahrzehnten nicht verändert wurden.

»Nur ein Gabelfrühstück!«, meinte sie leichthin, und Eva, die das Wort nicht kannte, war erstaunt, was Dora alles auftischte: Räucherlachs auf Toast den Eva zum ersten Mal im Leben aß –, überbackenes Kalbshirn in Muschelschalen, Bündnerfleisch, Gemüsebrühe, Pasta, Salat, Käse, Obst. Alles bei Volonté gekauft, wie die Hausherrin erklärte, dem besten Feinkostgeschäft der Stadt.

Anschließend drängte Dora die Signora zum Mittagschlaf, rückte ihr den Stuhl zurück und führte sie hinaus. Höflich stand Philip auf.

In der Tür drehte sich Philips Großmutter noch einmal um: »Seht euch alles in Ruhe an. Das wird einmal alles euch gehören.«

»Aber nicht so bald!«, sagte Philip.

»Wer weiß ...« Sie lächelte Eva an. »Ich freue mich wirklich, dass wir uns endlich kennengelernt haben! Es ist gut, dass Sie mitgekommen sind.«

»Ich freue mich auch, Gnädige Frau!«

Einen Moment lang herrschte Stille, und es schien, als habe Eva wieder etwas Falsches gesagt.

»Sag nicht Gnädige Frau!«, befahl die alte Dame, die einmal sehr hübsch gewesen sein musste und noch immer schön war, schön in ihrer Anmut und Haltung. »Ich hasse es. Ich habe es zu oft gehört in meinem Leben. Zu oft gehört. Und zu oft gesagt. Sag einfach Nonna zu mir. Punktum!«

Und mit diesen Worten verließ sie den Raum.

Kapitel 1

Kein Mensch nahm an diesem dunklen, nassen Septembermorgen des Jahres 1906 Notiz von einer jungen Frau, die, armselig gekleidet und einen Pappkoffer schleppend, sich gegen das Wetter stemmte und unbeirrbar vorwärts ging, um zu sterben. Der Wind jagte durch die Straßen, über die Plätze und um die Häuserecken, wie ein Bote, der schlechte Nachrichten zu überbringen hatte. Berlin, sonst wild und rastlos bei Tag und bei Nacht, unablässig in Bewegung, voller Menschen und Fahrzeuge, voller Licht und Lärm, wirkte fast wie ausgestorben. Die Natur schien die Stadt übernommen und das Großstadtleben hinausgeworfen zu haben. Ein paar Kutschen rumpelten vorbei. Das Klackern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster war kaum zu hören, so laut prasselte der Regen. Vereinzelt knatterte ein Automobil heran und verschwand hinter einem Vorhang grauer Nässe, als wäre die eben beginnende Zukunft bereits gescheitert. Wenige Passanten eilten ihres Weges. Das Mädchen bog ab und betrat die Admiralbrücke. Hätte man sie aus der Nähe gesehen, wäre einem aufgefallen, wie schön sie war. Mit über einem Meter siebzig war sie ausgesprochen groß, doch von ihrer schlanken Gestalt und den anmutigen Bewegungen konnte man unter dem zerschlissenen Wollcape nichts erahnen. Das Auffallendste an ihr waren ihre schulterlangen, dicken, blonden Haare, die sie mit einem Band zusammengebunden hatte, und ihr Gesicht. Die Augen groß und ausdrucksvoll, von einem Grün, das ins Graue ging, eine Farbe, die weniger dem Smaragd als dem Schilf ähnelte: nicht katzenhaft funkelnd, sondern sanft und geheimnisvoll. Die Lider schwer, wie bei allen Frauen, die seelenvoll und warmherzig sind und zu traurigem Gemüt neigen. Die Nase war fein geschnitten, der Mund weich und voll, als sei er nur zum Lächeln und Genießen gemacht, die Haut von zarter Blässe und glatt wie Meißener Porzellan. Sie hieß Anna Merthin. Keine zwanzig Jahre war sie alt, doch es schien, als laste eine Bürde von Jahrzehnten auf ihr. Anna blieb stehen. Sie stellte ihren Koffer auf das Trottoir, ging an das gusseiserne, üppig verschnörkelte Brückengeländer heran, umfasste es und schaute hinunter in den Landwehrkanal. Das Wasser war schwarz, Regentropfen tanzten auf seiner Oberfläche. Der Flusswasser kräuselte sich durch den Wind, und der Fluss sah aus, als sei ihm kalt, als friere er, als würde er zittern. So wie Anna. Eben wollte sie über das Geländer klettern, um sich dann hinabzustürzen, als ein Bursche mit tief in die Stirn gezogener Schiebermütze, die Hände schützend in die Hosentaschen gestopft, auf die Brücke marschierte und Anna entdeckte. Einen Sekundenbruchteil lang blieb er erstaunt stehen, konnte nicht glauben, was da passierte. Dann rannte er los.

»Frollein«, rief er laut und noch einmal: »Frollein!«

Anna drehte sich kurz zu ihm hin, dann schwang sie ihr Bein zurück, ließ das Geländer los und flüchtete.

Was nun passierte, geschah alles ganz schnell. Anna jedoch schien es, als hielte jemand die Zeit an und alles bewege sich wie in einem Traum, sehr langsam und verzögert, und als würde sie sich und alles um sich herum wie durch ein Brennglas betrachten. Als sie da vom Trottoir herunter- und mitten auf die Brücke lief, bemerkte sie die heranpreschende Kutsche und den Hufschlag der Pferde zu spät. Hermann Pikeweit, der Kutscher, hatte die Rappen zum Galopp angetrieben, denn die Herrschaften hatten es eilig, nach Hause zu kommen. Er war so konzentriert, das Gefährt zu lenken, dass er das Mädchen nicht sah. Wie ein großer, schwarzer Vogel flog sie der Kutsche entgegen. Die Rappen erschraken und drohten zu scheuen.

Hermann jedoch war ein zu geübter Kutscher, als dass er nicht das Schlimmste hätte verhindern können. Scharf zog er die Zügel an und stieß einen lauten Ruf aus. Um Schaden von Anna abzuwenden, war es jedoch zu spät. Sie wollte noch zurückweichen, doch ihr Rock verfing sich in den Speichen eines Rades. Mit einem Ruck wurde sie umgerissen und ein paar Meter mitgezogen, bis die Pferde durch die Zügel und ein lautes »Brrr« endlich stehen blieben. Die Herrschaften in der Kutsche – die Geschwister Julius und Friederike Gravenhorst –, bis zu diesem Moment in ein inniges Gespräch vertieft, hielten erstaunt inne.

Der Bursche lief zu Anna. Hermann sprang mit einem Satz vom Bock herunter. Das Fenster der Kutsche wurde heruntergeschoben. Friederike schaute hinaus.

Auf ihr Gesicht legte sich Entsetzen: »Hermann! Um Gottes willen!«

Sie stieg aus, ihr folgte Julius, ein auffallend gutaussehender und eleganter junger Mann von Mitte zwanzig, der einen feinen hellblauen Mantel und einen Hut trug.

»Ich habe sie nicht gesehen«, erklärte Hermann, und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung, »sie ist plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts!«

Alle vier beugten sich über die junge Frau.

Friederike nahm ihre Hand. »Haben Sie Schmerzen?« Ihr Atem roch nach Vanille und Zigaretten.

Anna hob ihren Kopf: »Es ist ... nichts ...«

Sie wollte aufstehen, aber ihr Bein tat weh, und sie kniff den Mund zusammen. »Verzeihen Sie ...«, flüsterte Anna.

»Können Sie sich bewegen?«, fragte Julius Gravenhorst höflich.

Anna antwortete nicht, sondern schloss die Augen. Ihr war schwindelig. Sie fing an, heftig zu zittern.

»Können Sie sich bewegen?«, wiederholte er, nun etwas lauter.

Doch ehe Anna etwas erwidern konnte, zog er seinen Mantel aus, kniete sich neben sie auf die Straße, umfasste ihre Schultern, richtete sie auf und legte ihn ihr über.

»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen!«, erklärte er.

»Es geht schon ...«, meinte Anna leise und ergänzte: »Nicht ins Krankenhaus. Bitte!«

Der Bursche zeigte in Richtung Brückengeländer: »Die Kleene wollte sich runterstürzen! Und wie ich ihr ›Frollein‹ zurief, is sie runter von det Geländer und direktemang uff die Straße. Ja, Straße. Det arme Ding!«

»Ins Wasser gehen. So jung? Warum denn nur?«, fragte Friederike. Mitleid schwang plötzlich in ihrer Stimme mit, und sie wechselte unvermittelt vom »Sie« ins vertrauliche »Du« über: »Wie heißt du denn?«

»Anna. Anna Merthin.«

»Ich bin Friederike Gravenhorst. Und das ...«, sie lächelte liebevoll, »... das ist mein Bruder Julius.«

Anna wusste nicht, was sie sagen sollte, und sah von einem zum anderen. Friederike kam ihr wie ein Engel vor. Das Fräulein trug einen langen, mauvefarbenen Herbstpaletot, der mit weißen Blüten bestickt war, und eine kecke Kappe aus rotem Samt. Sie sah in ihrer stolzen Haltung und mit ihrem schönen, offenen Gesicht, das von langen, hellen Locken umrahmt war, aus, als käme sie direkt vom Zarenhof. So schien es jedenfalls Anna, die über eine reiche Phantasie verfügte und die sich in diesem Moment am liebsten weggeträumt hätte. Doch die Realität war stärker. Anna hatte Schmerzen. Beinahe hätte sie geweint. Verzweifelt suchte sie Halt im Blick von Julius Gravenhorst. Aber im Gegensatz zu seiner Schwester wirkte er in diesem Moment finster, fast abweisend. Es war etwas ganz und gar Preußisches um ihn. Das blonde Haar war scharf gescheitelt und mit Pomade glatt und ordentlich angelegt. Sein Gesicht hatte strenge, fast asketische Züge. Julius' Teint war dunkel gebräunt, und er sah aus wie ein Fremder, nicht wie der Bruder der jungen Dame. Wären da nicht die Augen gewesen. Tiefliegende Augen mit derselben Leuchtkraft und Bläue; Augen wie Seen, in denen man versinken konnte. Sein Mund war schmal und breit, Ehrgeiz und Selbstbewusstsein lagen darin; plötzlich aber lächelte er, und sie bemerkte seine strahlenden, weißen Zähne und Grübchen, die nicht nur Anna, sondern jeden, der sie erblickte, bezauberten, weil sie dem großen, sich kerzengerade haltenden und durch und durch aristokratisch wirkenden Julius etwas Heiteres, Jungenhaftes, geradezu Spitzbübisches verliehen.

Friederike richtete sich auf: »Wir nehmen sie mit nach Hause.«

»Na, da wird Mutter sich freuen!«, meinte Julius ironisch.

»Wir haben sie angefahren, und wir werden uns um sie kümmern!«, entgegnete Friederike barsch.

Ehe Anna sich versah, umfasste Julius sie mit beiden Armen und zog sie mit einem Ruck hoch.

»Herrje, Hermann, hilf meinem Bruder!«

»Das kriege ich schon alleine hin, Fritzi, keine Sorge!« Julius verfrachtete Anna in die Kutsche.

Friederike nickte dem Burschen zu, der verwundert schaute, und stieg gemeinsam mit Julius in die Kutsche. Hermann schloss mit Bedacht die Wagentür und kletterte auf seinen Bock. Er machte ein paar kurze schmatzende Geräusche, zog zweimal an den Zügeln, und die Pferde trabten los. Die Kutsche verschwand hinter einem Regenvorhang, und eine Weile guckte der Bursche ihr hinterher, dann setzte auch er seinen Weg fort.

Und so kam es, dass Anna Merthin nicht starb, sondern in die Villa der Familie Gravenhorst gelangte, ein prächtiges, dreigeschossiges Haus in der schönsten und berühmtesten Straße der Stadt: Unter den Linden.

***

»Guste, jetzt ärgere ich mich aber kolossal!«, raunzte der Kommerzienrat Arthur Gravenhorst. Auguste Killian, einfaches Hausmädchen in der Familie des Schokoladenfabrikanten, stand vor ihm und kaute mit Widerwillen auf einer Praline herum.

»Ich mag die Bitteren ja gar nicht!«, quakte sie.

»Ja, warum nimmst du sie dann?«, brummte der Patriarch.

Guste war und blieb einfältig. Das war die landläufige Meinung aller im Hause, obwohl man sie damit unterschätzte. Ein liebes, fleißiges Mädchen, das nun – wie alle anderen – seit Jahr und Tag brav seinen Dienst tat, aber immer wieder für Verärgerung oder auch Gelächter Anlass bot. Ständig fiel ihr etwas herunter, ständig vergaß sie etwas, ständig plapperte sie vor sich hin, ob es nun jemand hören wollte oder nicht.

»Bei der geht die Gusche wie ein Entenarsch!«, pflegte Emma Putlitz, die kugelrunde, auch nicht gerade maulfaule Köchin, stets zu sagen, aber sie sagte es immer mit Sympathie, denn sie mochte Guste. Guste sah seltsam aus. Ein wenig zu klein geraten und mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon fast altjüngferlich aussehend, wirkte ihr munteres Gesicht wie zerknautscht. Die Augen waren puppengroß und neugierig, schienen die ganze Welt mit einem Blick erfassen zu wollen. Sie hatte eine Stupsnase und einen zerknitterten Mund, als hätte sie fortwährend ein Stück Zitrone im Mund. Ihr Gesicht war von dünnem widerspenstigem Haar umflattert, und vergebens mühte sie sich allmorgendlich, es mit Kämmen und Spangen anständig hochzustecken. Der Hals zu kurz, die Figur gedrungen, die Füße platt. Doch ihre Dienstmädchenuniform – ein himmelblaues, langes Baumwollkleid mit weißen Streifen zu einer weißen Rüschenschürze und einem gestärkten Häubchen, das sie wie eine Krone trug – schmückte sie ungemein. Und mit ihrer ehrlichen, manchmal höchst originellen, oft auch nervtötenden Art, ihrer quietschigen Stimme und ihrem lärmenden Fleiß war sie fester und unverzichtbarer Teil des Ganzen.

Arthur Gravenhorst schüttelte erneut seinen Kopf und ging einen Schritt nach links, wo Carl Bloom, der Kammerdiener, stand.

Das gesamte Personal versammelte sich einmal im Monat in der Halle und erging sich in einem wohlvertrauten Ritual. Gravenhorst nämlich liebte es, seine neuesten Kreationen auf ihre Erfolgschancen hin zu testen. Auf einem Silbertablett servierte er seinen Bediensteten regelmäßig und voller Leidenschaft eine Auswahl von Pralinen und Konfekt. Da lagen Geleefrüchte in allen Farben und Formen, Marzipan nach Königsberger Art geflämmt oder auf Lübecker Art in Kuvertüre getaucht, nach Schweizer Rezept hergestellte Rahmschokolade mit gerösteten türkischen Haselnüssen, dreifach geschichtetes Nougat, mit Kakao bestäubte italienische Mandeln, süßer, krachender Krokant oder feinherbe Cognacbohnen – seine neueste Errungenschaft.

»Wenn Sie erlauben, Herr Kommerzienrat?« Carl machte eine angedeutete Verbeugung und wählte mit spitzen Fingern ein Cremehütchen. Er zog die Papierhülle ab, legte sie zurück auf das Silbertablett und schob sich das Stück Konfekt in den Mund. Carl wusste, dass der Gnädige Herr es liebte, wenn er die Augen schloss. Also schloss er sie. Er wusste auch, dass der Gnädige Herr immer darauf hinwies, dass man die Pralinen nicht kauen solle. »Schmelzen lassen!«, war sein üblicher Hinweis, also ließ Carl das Cremehütchen in seinem Mund zerschmelzen. Trotz des ruhigen Genießens zitterte sein ergrauter Backenbart.

Er machte die Augen wieder auf und sah seinen Dienstherrn freundlich an. »Köstlich.«

»Na bitte, geht doch!«

»Köstlich, Herr Kommerzienrat! Ganz und gar köstlich!«

»Carl, Sie sind und bleiben mein bestes Pferd im Stall.« Arthur Gravenhorst ging nun noch einen Schritt weiter und hielt sein Tablett Pauline Jennings, dem ersten Hausmädchen, vor die Nase. Pauline war nicht gerade Arthurs Lieblingsangestellte. Er mochte schon den frechen Gesichtsausdruck von ihr nicht. »Immer ist die auf Krawall gebürstet«, beschwerte er sich hin und wieder gegenüber Carl, der für das Personal verantwortlich war.

»Ihre Arbeit macht sie gut! Da gibt es kein Vertun!«, antwortete Carl dann mit seinem leicht näselnden Bremer Schleier in der Stimme.

Pauline schnappte sich eine Praline und zerkaute sie.

»Gut!«, erklärte sie, für Arthurs Geschmack ein wenig zu flott.

»Gut?«

»Sehr gut!«

»Na, nu lassen Se mich mal!«, drängelte selbstbewusst und heiter Emma Putlitz, die neben Pauline stand und in der Reihe das Schlusslicht bildete. Emma war eine Seele von Mensch, darin waren sich alle in der Familie Gravenhorst einig. Sie führte unten im Souterrain ein strenges Regiment, ganz im Sinne von Charlotte Gravenhorst, der Hausherrin. Sie kochte vorzüglich und konnte, obwohl sie gern aus dem Vollen schöpfte, aus nichts etwas machen. Emma war eine strenge Wirtschafterin, auf den Pfennig genau, zuverlässig, fleißig und sparsam. Auch wenn sie die große französische Küche, die im Hause bei Gesellschaften und Soupers oder Diners mit Gästen bevorzugt wurde, aus dem Effeff beherrschte, war die Hausmannskost ihre Spezialität. Bollenfleisch, Berliner Leber mit krossgebratenen Zwiebelringen und Apfelscheiben, Buletten mit Teltower Rübchen, gestowte grüne Bohnen zur Rindsroulade, Beelitzer Spargel mit Knochenschinken, Havelzander aus der Pfanne mit Kartoffelsalat, Bouillon oder gar Leipziger Allerlei – das echte, das mit den Flusskrebsen, wie Emma stets betonte. Emma war eine Zauberin. Arthur liebte sie geradezu. Er musste schmunzeln, als er ihr zusah. Sie beugte sich ein wenig hinab zum Tablett, drehte den Zeigefinger wie einen Brummkreisel über die Köstlichkeiten und entschied sich für ein helles Mandelsplitter, das sie zum Mund führte und für alle gut hörbar zwischen ihren Zähnen zerkrachen ließ.

Emma schüttelte zufrieden den Kopf: »Nee, is jut, ausjesprochen jut, Herr Kommerzienrat«, erklärte sie schmatzend und mit vollem Mund, »bisken süß vielleicht, aber die Mandeln schön knackig und vom Rösten hübsch aromatisiert. 'nen Stich weniger Schokolade und 'ne Spur weniger Zucker ...«, sie sah ihn strahlend an, »... denn kann det wat wern!«

Arthur strahlte zurück: »Kommen aus Sizilien ...«

»... wo die Zitronen blühn!«, quatschte Guste hinein, die gern Kitschromane las und unter Beweis stellte, was sie alles wusste. »... haben ein ausgesprochen feines Aroma, da haben Sie wohl recht, meine liebe Emma. Das mit dem Zucker werde ich bedenken, wenn ...«

Den Satz konnte er schon wieder nicht vollenden. Denn von ganz oben in der Halle erklang eine Stimme, laut und schrill und machtvoll, die Stimme seiner Frau Charlotte: »Arthur! Wie ist das möglich? Ausgerechnet heute!«

Alle Blicke richteten sich zu Charlotte hinauf. Sie stand mit ihrer Zofe Ida Schönauer auf der Empore, am Ende der mit einem Blumenläufer bespannten Marmortreppe, vor dem mächtigen Kaulbach-Schlachtengemälde. Charlotte hatte die Hände in die Hüften gestemmt, sie funkelte geradezu vor Empörung, in ihrem schmalen, graubraunen Wollkostüm mit der Stehkragenjacke und dem knöchellangen Rock.

»Der Junge kommt jeden Moment, und du lässt das Personal Pralinen verkosten? Gibt es nichts anderes zu tun im Hause?«

Arthur stand da wie ein ertappter Schuljunge. »Lottchen.«

Gefolgt von Ida, ging sie würdevoll Schritt für Schritt die Stufen hinunter, raffte den Rock und redete ununterbrochen und laut, bis sie unten angekommen war: »Wir haben heute Abend eine Gesellschaft. Ist das denn allen entgangen, außer mir? Ich finde, wichtige Dinge müssen zuerst getan werden, ehe man sich den Spielereien hingibt. Wie kannst du immer so verträumt sein? Das ist mir unbegreiflich, absolut unbegreiflich. Ich kann mich doch nicht um alles alleine kümmern. Oder wie denkst du dir das?«

Sie hatte die Gruppe erreicht. Die Bediensteten machten einen Knicks, als Charlotte sie passierte, Carl deutete einen Diener an.

Ein wenig hatte sie sich beruhigt. »Du musst verrückt sein!«

Arthur versuchte, ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen, aber sie drehte sich leicht weg. »So habe ich dich am liebsten!«, erklärte Arthur, und der Schalk blitzte in seinen Augen. »So echauffiert! Da weiß ich, dass es dir gutgeht!«

»So ein Unsinn! Was redest du da?« Sie stibitzte sich eine Praline, drehte und wendete sie hin und her, ehe sie das Konfekt zwischen ihren schmalen, sorgfältig geschminkten Lippen verschwinden ließ.

»Und wie deine Nasenflügel beben! Deine wundervollen Nasenflügel, mit dieser klitzekleinen Arroganz und dem schönen Schwung, mit dem du das Leben in doppelter Geschwindigkeit einsaugen willst, Lotte!«

Es war ein bisschen peinlich für das Personal, dass er derartig privatim sprach. Aber so waren die Herrschaften nun einmal.

Charlotte ignorierte ihren Mann und klatschte in die Hände: »An die Arbeit. Carl, Sie kommen mit mir in das Speisezimmer. Wir wollen noch einmal die Tischordnung durchgehen, und eines der Mädchen soll mitkommen, falls es noch etwas zu richten gibt.«

»Sehr wohl, Gnädige Frau!«, erwiderte Carl.

Trotz der klaren Ansage blieben alle wie fest verwurzelt an ihrem Platz stehen. Charlotte ging in Richtung Speisezimmer, das vis-à-vis von der Bibliothek lag. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich um. Niemand folgte ihr, außer Ida, die hinter ihr hertippelte und für die Emma den Spitznamen »Der Schatten« erfunden hatte, den alle unten im Souterrain gebrauchten. Fragend sah Charlotte ihren Mann an. In diesem Moment wäre jedem Beobachter klar geworden, dass trotz Charlottes dramatischen Auftritts, trotz der Lautstärke ihrer Stimme, trotz der scharfen Befehle nur einer der Herr im Hause war: der freundliche, gutmütige, charmante, von vielen nur als Träumer belächelte Schokoladenfabrikant Arthur Gravenhorst.

»Nun denn«, er gab Emma das Silbertablett und fuhr sich mit beiden Händen über die Seidenrevers seiner schwarzen gesteppten Samtjacke, »dann war's das, und ich danke auch schön.«

Die Bediensteten stoben auseinander. Alle gingen quer durch die Halle zur Tür in Richtung Souterrain. Nur Carl und Guste, denen er mit einer stummen Kopfbewegung bedeutet hatte, oben zu bleiben, marschierten in das Speisezimmer, in dem Charlotte und Ida verschwunden waren. Arthur blieb zurück. Er schmunzelte, denn er liebte seine Frau. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und schlenderte in die Bibliothek, um sich eine schöne Rosa Ammatica für fünfhundert Pfennig das Stück anzuzünden.

***

Charlotte inspizierte stumm den Tisch. Auf ihren Befehl hin hatte Carl für zwölf Personen eindecken lassen. Der Polizeidirektor Theodor Sengbusch und seine Frau Viktoria wurden erwartet. Ebenso Arthurs Bruder Paul. Die wichtigsten Gäste jedoch, die sich um acht Uhr zum Souper im Haus Gravenhorst einfinden sollten, um Julius' Rückkehr aus der deutschen Kolonie Kamerun zu feiern, waren die Mitglieder der Familie Olearius. Hugo Olearius war Eisenbahnschienenfabrikant. Ein derber, lauter Erfolgsmensch. Er und seine Frau Gudrun gehörten nicht zu Charlottes bevorzugtem Umgang, aber deren Tochter Christine, eine entzückende, schlagfertige und intelligente Person, war Julius' Freundin. Nachdem Julius zwei Jahre auf der Kakaoplantage seines Onkels gearbeitet und seine Rückreise sich mehrfach verschoben hatte, wollte Charlotte mit diesem Essen den Stier bei den Hörnern packen. Julius sollte sich endlich mit Christine verloben. Das war der Plan. Und es gab sehr gute Gründe dafür.

»Ich sitze wie immer tischobers, Carl, und links von mir mein ...«, sie zögerte einen Moment.

»Ihr Herr Gemahl«, warf Carl ein, der eine Elle in der Hand hielt, um den Abstand der Gläser zur Tischkante auszumessen.

»Ach nein, das ist mir doch zu langweilig. Lieber mein Schwager.«

»Der Herr Professor, sehr wohl.« Ohne ein Wort zu sagen, nahm er ein Rotweinglas vom Tisch und reichte es Guste. Sie betrachtete es: Die Wasserflecken am Rand hatte sie übersehen. Wenn die Gläser nicht anständig poliert waren, gab es Ärger. Guste senkte den Kopf und legte die Hand, in der sie das Glas hielt, auf den Rücken, so als könne sie es verstecken und den Fehler damit vergessen machen.

»Also ... und hier rechts: Der Fabrikant Olearius. Neben ihm seine Frau. Wenn die wieder zu viel trinkt, hat er sie am besten im Griff. Dann, neben meinem Schwager, die Fritzi, neben Fritzi ihr Bruder Julius, unser Weitgereister, und neben ihm Christine.«

»Sie wünschten gestern, das Fräulein Olearius vis-à-vis Ihrem Sohn zu setzen. Sollen wir das ändern, Gnädige Frau?«

»Habe ich das gesagt?«

»Ja.«

»Dann machen wir es auch so. Was meinen Sie, Ida?« Sie drehte sich zu ihrer Zofe um.

Ida, die mit ihrem bleichen Gesicht, dem kirschroten Mund und ihren grünen, mandelförmig geschnittenen Augen in unbeobachteten Momenten aussah wie eine bösartige Porzellanpuppe, zuckte beinahe zusammen. Sie hatte geträumt. Ihre hochgesteckten, krausen schwarzen Haare, die vom Kopf wegzuspringen drohten wie Stahlwolle, mit denen die Töpfe blankgescheuert wurden, zitterten.

Ihre Stimme war schön und melodiös. Sie sprach in einem Singsang aus Heiterkeit und Melancholie, denn sie kam aus Wien: »Ja, Gnädige Frau, das ist schon sehr charmant, wenn sich die beiden Verliebten beim Kerzenschein in die Augen schauen können!«

Charlotte ging um den Tisch herum und zupfte einen imaginären Fussel von der Tischdecke. »Und an die Seite von Christine platzieren wir meinen Sohn Alexander. Und neben meinen Mann wiederum die Frau Polizeidirektor. Dann nehmen Sie das zwölfte Gedeck am Tischende weg und stellen da den Tafelaufsatz hin, das ist doch alles sehr hübsch!« Sie faltete die Hände vor der Brust zusammen.

»Ja, kommt der Herr Leutnant denn?«, wollte Ida wissen.

Charlotte lacht kurz auf. »Natürlich kommt Alexander! Er wird doch nicht in seinem Regiment in Potsdam herumsitzen und Karten spielen, an so einem Abend, wo sein Bruder nach zwei Jahren endlich zurückkehrt!«

In diesem Moment läutete die Hausglocke laut und heftig, dreimal hintereinander!

»Das ist Julius!«, rief Charlotte aus und eilte zur Tür. Carl und Ida gingen ihr schnell nach, und Guste machte sich auf den Weg, um unten in der Küche das Glas auf Hochglanz zu bringen.

Carl öffnete die Haustür, gerade in dem Moment, als Arthur, von Zigarrennebel umgeben, aus der Bibliothek kam. Der Straßenlärm wehte herein, man hörte das Rauschen des Regens, das Hupen von Automobilen, das Rollen der Räder auf dem Kopfsteinpflaster, das Traben der Hufe. Das Leben, das laute Leben. Man wohnte eben im Zentrum der Reichshauptstadt.

Draußen stand Friederike, klitschnass: »Carl, schnell, wir brauchen Ihre Hilfe!« Sie trat ein und nickte ihrer Mutter und ihrem Vater zu: »Mama, Papa, es ist etwas passiert!«

»Ja, wo ist denn Julius, Kind, er wird doch nicht ...?«, fragte Charlotte erregt.

Ehe sie den Satz vollendet hatte, erschien Julius, der Anna auf den Armen trug, in der Halle.

»Mein Gott, was für ein Empfang! Die ganze Familie steht Spalier!« Er ließ das Mädchen herunter.

»Können Sie stehen?«

Eingeschüchtert nickte Anna nur und sah zu Boden.

Julius setzte sein strahlendstes Lächeln auf und ging mit ausgebreiteten Armen auf seine Mutter zu: »Mama!«

Sie wich einen Schritt zurück. »Julius! Du bist ja vollkommen durchnässt!« Sie zeigte auf Anna, und ihr Blick verfinsterte sich. »Wer ist das? Und wieso trägt sie deinen Mantel?« Sofort nahm Carl dem Mädchen den Mantel ab, nicht, weil er ihn Anna nicht gönnte, sondern aus einem Impuls heraus, um sie vor der Empörung der Hausherrin zu schützen.

Friederike ergriff das Wort: »Das ist Anna Merthin ... Es gab einen Unglücksfall auf der Admiralbrücke. Sie ist uns in die Kutsche gelaufen und hat sich am Bein verletzt. Sie braucht Hilfe.«

Charlotte zog eine Augenbraue hoch. »Ja und?«

Julius schaute seine Mutter auf ihre Reaktion hin erstaunt an, und Friederike stemmte empört die Hände in die Hüften und wollte etwas sagen, aber ihr Vater kam ihr zuvor.

»Also nun erst einmal eine Begrüßung, Junge, wie es sich bei den Gravenhorsts gehört.« Er ging auf seinen Sohn zu. »Herzlich willkommen daheim.«

»Danke, Vater.«

Arthur streckte seinem Sohn die Hand entgegen, Julius ergriff sie, und beide sahen sich fest in die Augen. Beinahe kamen dem Vater die Tränen. Wie erwachsen der Junge geworden war, wie schmal im Gesicht, wie fest der Händedruck! Er war in den zwei Jahren zu einem Mann geworden, Julius, sein Lieblingssohn.

»Komm her«, sagte er leise und zog ihn zu sich heran. Sie umarmten sich. Alle sahen zu ihnen, bis auf Anna. Sie hatte Schmerzen, wollte es sich aber nicht anmerken lassen und hielt den Kopf tief gesenkt, auch vor Scham und Schüchternheit. »Carl, nun schließen Sie doch endlich die Tür«, schimpfte Charlotte, »das Spektakel muss ja nun nicht die halbe Stadt mitbekommen, und außerdem ist es kalt, und wir wollen ja auch nicht, dass es hereinregnet, oder?«

Carl steckte den Kopf kurz hinaus und hielt nach dem Kutscher Ausschau: »Ich dachte ...«, erklärte er zögernd, »... der Hermann würde das Gepäck ...«

Julius ließ seinen Vater endlich los. »Er bringt es durch den Dienstboteneingang, Carl, danke.«

Carl schloss die Tür, und Julius nickte der Zofe Ida freundlich zu und begrüßte endlich seine Mutter mit zwei Küssen. Sie strich ihm über die Wange, und ein Hauch von Zärtlichkeit umfing ihr Gesicht.

Dann aber drehte sie sich wieder um: »Also nun?«

Friederike antwortete ihr nicht, sondern wandte sich direkt an Carl: »Bringen Sie Anna hinunter, bitte. Guste soll die Mädchenkammer räumen. Sie kann eine Nacht in der Waschküche schlafen, da ist es auch warm, und Anna braucht ein Bett jetzt nötiger als sie. Und danach schicken Sie Guste zu Doktor Ledermann, er möge sofort kommen und nach dem Mädchen sehen!«

»Sehr wohl, Gnädiges Fräulein.« Er nahm Anna den Pappkoffer ab, fasste sie am Ellenbogen und wollte sie eben fortführen, als Charlotte erneut dazwischenging.

»Moment! Das geht doch so nicht!«

So begannen Donnerwetter. Julius schaute zuerst auf die Spitzen seiner Galoschen, dann hoch zur Decke. Er ließ den Blick wandern. Da waren die gewaltigen Kristalllüster, sechs an der Zahl, die hier unten vom Eingangsbereich, über der Treppe langsam ansteigend, zur Empore hochführten und mit dem Glänzen und Leuchten und Glitzern und Funkeln der Hunderte von feingeschliffenen Prismen die Halle in einen Ballsaal verwandelten. Da waren die lindgrün gestrichenen Wände mit ihren von weißlackierten Holzleisten umfassten Kassetten, innen mit smaragdfarbener Seide bespannt. Da waren die hohen Türen, von denen er schon als Kind gewusst hatte, dass sich dahinter Geheimnisse verbargen, die Gemälde – Ahnenporträts, kleine, altmeisterliche Landschaften, Stiche mit Berliner Stadtansichten –, die englische Standuhr aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert mit ihren Rissen im Teakholzfurnier und dem beruhigenden gleichmäßigen Schlag des Pendels. Hinten, am anderen Ende der Halle, befanden sich die verglasten Flügeltüren zum Wintergarten, mit den zwei Biedermeierkommoden linker und rechter Hand, noch aus den Mädchentagen seiner Mutter, auf denen Lilien in Urnenvasen wucherten und ihren Duft verströmten. Ach, die Gerüche! Das Bohnerwachs, das alte Holz, der Zigarrenduft aus der Bibliothek, das Parfüm Charlottes, das aus allen Ritzen des Hauses zu kriechen schien und sich mit der schweren Süße der Lilien vermischte. Zu Hause, endlich zu Hause, nach all der langen Zeit, der Ferne, der Fremde, der Sehnsucht!

»Ja, Kinder, seid ihr denn verrückt geworden? Es gibt Krankenhäuser! Wir sind doch kein Heim für Fremde! Kein Sammelbecken für alles, was einem auf der Straße entgegenkommt! Ja, Friederike, nun guck nicht mit deinen großen Augen, sondern denke! Immer deine Eskapaden! Erinnern wir uns an den kleinen Hund? An die Katze seinerzeit, der ein Auge fehlte, scheußlich. An diesen – unsäglichen – Menschen, diesen Streuner, dem unsere gute Emma unten den kalten Braten servieren musste, weil er so ausgehungert war, angeblich, und der dann die Flasche vom Mosel stahl und verschwand auf Nimmerwiedersehen, ohne ein Wort des Dankes! Nein, nein, dein Soziales, dieses Sozialdemokratische nimmt überhand. Ich bin es leid. Ich will das nicht. Ich dulde das nicht. Sie soll gehen und fertig.«

Friederike stampfte mit dem Fuß auf den Marmorboden.

»Mama! Wie kannst du nur so reden? Wie kann man nur so kalt sein? Sie stört doch niemanden unten. Sie braucht doch einen Arzt und Hilfe.«

»Wir haben heute ein Souper! Wir erwarten die Spitzen der Berliner Gesellschaft! Es ist ausgeschlossen, dass sich unter unserem Dach eine Person aufhält, die wir nicht kennen und von der wir nichts wissen! Ausgeschlossen und basta!«

Julius blickte erstaunt: »Heute? Eine Gesellschaft?«

»Extra für dich, Schäfel!« Charlottes Augen leuchteten. »Wir wollen deine Rückkehr angemessen begehen!«

»Aber ich habe eine Reise von zweiunddreißig Tagen hinter mir, ich bin erschöpft, Mutter.«

»Du bist jung, das bist du! Geh nach oben, in deinem Zimmer ist schon alles hergerichtet. Nimm ein Bad, Pauline wird deine Koffer auspacken, dann ruhst du zwei Stunden, und die Welt sieht wieder ganz anders aus. Christine kommt mit ihren Eltern: Ist das nicht schön?«

»Christine, so. Das nenne ich einen Überfall.«

»Wenn Sie es wünschen, Gnädiger Herr«, mischte sich nun Ida ein, »dann lauf ich g'schwind hinunter und lasse Ihnen von Frau Putlitz etwas G'scheites zubereiten, eine heiße Suppe und etwas Pastete, das haben Sie doch so gerne.«

Charlotte ließ ihre Hand durch die Luft wirbeln: »Und diese Person, Carl, die bringen Sie unten durch den Dienstboteneingang wieder hinaus auf die Straße, da, wo sie hingehört.«

Ehe Julius widersprechen konnte, blies der Hausherr seiner Frau – in eleganten Worten, versteht sich – den Marsch. Er verfügte knapp, dass Anna bleiben könne und alles so geschehe, wie Friederike es verlangt habe. Die Fremde dürfe bleiben, aber nur so lange, bis sie wieder auf den Beinen sei. Mit diesen Worten löste sich die Versammlung auf. Charlotte und Ida rauschten nach oben ab, Arthur legte den Arm um Julius' Schulter und geleitete ihn in den Wintergarten, Friederike ging in die Bibliothek, um zu telefonieren.

Carl führte Anna zur Tür ins Souterrain, die hinten, unterhalb der Freitreppe lag.

Er öffnete sie. »Kannst du alleine gehen?«

Anna nickte.

Gemeinsam gingen sie die Stiege hinunter. Die Stufen knarrten unter ihren Schritten. Von unten tönte ihnen Küchenlärm entgegen. Das Pfeifen eines Wasserkessels. Das Klappern von Geschirr. Eilige Schritte. Stimmen. Es roch nach Liebstöckel und Entenbraten und nach frischgebrühtem Kaffee, nach Rosinennapfkuchen und Lederwichse, und nach feuchtem Keller. Es war warm. Mildes Licht fiel in den Vorraum, in den sie nun gelangten und von dem hinter verglasten Wänden die riesige Küche abging. Anna sah in einer Ecke ein vollgestopftes Kabuff mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und deckenhohen Regalen, sah den gewaltigen Speisenaufzug mit seinen Tauen, das Klingelbord, auf dem emaillierte Schilder mit Ziffern angebracht waren, sah einen schmalen, dunklen Flur, sah Türen, Türen, Türen. Alles zusammengenommen wirkte wie der Bauch eines Ozeandampfers auf voller Fahrt. Alles war in Bewegung, ohne dass es schaukelte. An der Decke liefen schwere Stahlträger quer durch das Souterrain. Der Boden war im Schachbrettmuster mit großen Steinplatten in Schwarz und Weiß gefliest. Von unten nach oben, von links nach rechts und von vorne nach hinten liefen Drähte und Kabel. Carl führte Anna in die Küche und hieß sie, auf einem Stuhl in der Ecke Platz zu nehmen. Emma, Guste und Pauline blickten sie erstaunt an. Noch verblüffter allerdings waren sie, als Carl seine Befehle gab. Pauline wurde sofort wütend, denn sie konnte nicht einsehen, dass Guste für eine Wildfremde die Kammer räumen müsse, die sie gemeinsam teilten. Guste hatte überhaupt keine Lust, hinaus in den Regen zu gehen, über die Straße und um die Ecke zu laufen, um Doktor Ledermann zu holen. Carl brüllte nicht. Im Gegenteil. Sehr leise, so dass beide Mädchen genau hinhören mussten, wiederholte er die Anordnungen des Herrn Kommerzienrats. Es geschah wie gewünscht.

Anna spürte plötzlich neben den Schmerzen, dem Schwindel , und der Übelkeit ein großes Unbehagen in sich aufsteigen. Sie merkte, dass sie auch hier unten nicht willkommen war. Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte artig einen Knicks gemacht und sich sofort verabschiedet. Doch dazu war sie zu schwach. Sie ahnte, dass es noch Schwierigkeiten geben würde. Und sie sollte recht behalten.

***

Oben, im Salon, stand Charlotte und wartete. Für das Souper hatte sie sich umgezogen und trug ein langes, gelbes Seidenkleid, dessen Ärmel und Saum mit weißen Volants besetzt waren. Auf Empfehlung Idas hatte sie sich für schlichte Perlentropfen als Ohrgehänge entschieden und für eine dazu passende Kette aus großen, grauen Tahitiperlen, die ihr züchtiges und schönes Dekolleté schmückte. Charlotte hielt einen Kristallbecher mit irischem Whiskey in der Hand, nippte daran und betrachtete ihre neueste Errungenschaft, die an der Wand hing. Es war ein mit schlichter Goldleiste umrahmtes Gemälde mit dem Titel Seerosen. Ein französischer Maler, der in Berlin gerade in Mode gekommen war, hatte es gemalt.

Sie seufzte und drehte sich zu Ida um, die ein paar Schritte entfernt stand: »Claude Monet, was für ein Meister. Ach, Ida, so schön, so friedlich ist die Kunst. Und nun sehen Sie uns an!«

»Gnädige Frau, verzweifeln Sie nicht. Ich bete jeden Tag für Sie. Es wird alles gut werden.«

»Das sagen Sie so. Mein Mann ist ein genialer Schokoladenmacher, das ist wahr. Aber er ist und bleibt nun einmal ein lausiger Geschäftsmann!«

»So dürfen Sie nicht sprechen.«

»Sein Bruder Eugen ist ein Teufel!« Sie kippte einen Schluck Whiskey herunter. »Sitzt da drüben in Kamerun auf seiner Plantage und schert sich keinen Deut um die Familienbelange.«

»Immerhin hat er den Herrn Julius bei sich aufgenommen und ihn in den wichtigen Dingen des Kakaoanbaus und des Exports ausgebildet, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen!«

»Julius ist ein dummes Schaf. Er war eine willige und billige Arbeitskraft für Eugen. Sie hätten hören sollen, wie freundlich er eben noch, als ich ihn in seinem Zimmer aufsuchte, von seinem Onkel sprach. Und weiß und ahnt nichts von der Katastrophe.«

»Sie sagen doch immer: Niemand darf davon erfahren!«