Die Vögel und Wenn die Gondeln Trauer tragen - Daphne du Maurier - E-Book

Die Vögel und Wenn die Gondeln Trauer tragen E-Book

Daphne du Maurier

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Beschreibung

Lautlos versammeln sich Möwen, Raben und Krähen an der Küste Cornwalls und werden für die Menschen zu einer tödlichen Bedrohung. – Und in Venedig, wo ein Massenmörder sein Unwesen treibt, erlebt ein englisches Ehepaar einen Albtraum zwischen Wahnsinn und Realität.

Daphne du Mauriers berühmteste Erzählungen Die Vögel und Wenn die Gondeln Trauer tragen in einem Band. Das ist Horror vom Feinsten. Die englische Bestsellerautorin versteht es meisterhaft, hinter der Maske des Unscheinbaren und Alltäglichen den Schauer des Ungewissen und Rätselhaften zu entfalten.

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Daphne du Maurier

Die Vögel

Wenn die Gondeln Trauer tragen

Zwei Erzählungen

Aus dem Englischenvon Christel Dormagen und Brigitte Heinrich

Insel Verlag

Die Vögel

Am dritten Dezember änderte der Wind sich über Nacht, und es war Winter. Bis dahin war der Herbst mild gewesen, angenehm. Die Bäume waren immer noch belaubt, golden-rot, und die Hecken noch grün. Der Boden war fett, dort wo der Pflug ihn umgewendet hatte.

Nat Hocken bezog wegen einer Kriegsverletzung eine Rente und arbeitete nicht ganztägig auf der Farm. Er arbeitete drei Tage die Woche und wurde mit den leichteren Aufgaben betraut: Hecken pflanzen, Strohdächer warten, Wirtschaftsgebäude instand halten.

Obwohl er verheiratet war und Kinder hatte, neigte er eher zum Einzelgänger; am liebsten arbeitete er allein. Er freute sich, wenn er eine Böschung anlegen oder ganz am Ende der Halbinsel, dort wo das Meer die Farm auf beiden Seiten umschloss, ein Tor reparieren sollte. Mittags machte er dann eine Pause, aß die Pastete, die seine Frau ihm gebacken hatte, und beobachtete vom Rand einer Klippe aus die Vögel. Im Herbst ging das am besten, besser als im Frühling. Im Frühling flogen die Vögel landeinwärts, zielstrebig und entschlossen; sie wussten, wo sie hinwollten, Rhythmus und Ritus ihres Lebens duldeten keinen Aufschub. Im Herbst erfasste jene, die nicht weggezogen waren, sondern den Winter im Land verbringen würden, die gleiche drängende Unruhe, doch da ihnen das Überwintern im Süden verwehrt war, folgten sie einem eigenen Muster. Riesige Schwärme kamen auf die Halbinsel und verausgabten sich, rastlos, nervös, in ständiger Bewegung; mal flogen sie weite Bögen und kreisten am Himmel, mal landeten sie auf dem Boden und suchten in der frisch gepflügten fetten Erde nach Futter; aber selbst wenn sie fraßen, schien es, als täten sie es ohne Hunger, ohne Lust. Die Unruhe trieb sie wieder hinauf in den Himmel.

Auf der Suche nach so etwas wie Befreiung verbanden sich Schwarz und Weiß, Dohle und Möwe in seltsamer Partnerschaft, fanden keine Ruhe. Starenschwärme flogen, wie raschelnde Seide, zu frischen Weiden, vom selben Bedürfnis nach Bewegung getrieben, und die kleineren Vögel, die Finken und die Lerchen, stoben wie unter Zwang von Baum zu Hecke.

Nat beobachtete sie, und er beobachtete auch die Seevögel. Unten in der Bucht warteten sie auf die Flut. Sie hatten mehr Geduld. Austernfischer, Rotschenkel, Brachvogel und Sanderling hielten Wache am Wassersaum. Wenn das Meer träge am Ufer saugte, sich wieder zurückzog, dabei einen Streifen Seetang zurückließ und den Kies aufwühlte, rannten die Seevögel los, flitzten den Strand hinauf. Dann wurden auch sie von diesem Drang zum Fliegen erfasst. Kreischend, pfeifend und rufend ließen sie das Ufer hinter sich und strichen über das friedliche Meer. Eilt euch, macht schnell und los wie der Blitz! Doch wohin und aus welchem Grund? Die herbstliche Unruhe, so unbefriedigend und traurig, hatte sie verhext; sie mussten sich versammeln, ihre Kreise ziehen und schreien; sie mussten ihren Bewegungsdrang ausleben, bevor der Winter kam.

Vielleicht, dachte Nat, während er am Klippenrand seine Teigtasche kaute, empfangen die Vögel im Herbst eine Botschaft, eine Art Warnung. Der Winter naht. Viele von ihnen werden verenden. Und ähnlich wie die Menschen sich, aus Angst vor vorzeitigem Tod, zur Arbeit oder zu Unsinn antreiben, machen es auch die Vögel.

In diesem Herbst waren die Vögel rastloser denn je, die Erregtheit offensichtlicher, weil die Tage ruhig waren. Während der Traktor im Westen hügelauf, hügelab seine Bahnen zog, die Gestalt des Farmers als Silhouette auf dem Fahrersitz, verschwanden Maschine und Mann immer wieder für Augenblicke in einer großen Wolke kreisender, schreiender Vögel. Sie waren zahlreicher als sonst, da war Nat sich sicher. Sie folgten dem Pflug in jedem Herbst, aber nicht in solch riesigen Schwärmen und nicht mit solchem Geschrei.

Nat machte eine Bemerkung darüber, als er am Abend die Arbeit an der Hecke unterbrach. »Ja«, meinte der Farmer, »es sind mehr Vögel als sonst; das ist mir auch aufgefallen. Und manche sind richtig verwegen, scheren sich nicht um den Traktor. Ein oder zwei Möwen sind mir heute Nachmittag so nah gekommen, dass ich dachte, sie stoßen mir die Mütze vom Kopf! Dabei konnte ich sowieso kaum sehen, was ich machte, mit den Vögeln über mir und der Sonne, die mir direkt in die Augen schien. Mein Gefühl sagt mir, das Wetter schlägt um. Es wird ein harter Winter. Deswegen sind die Vögel so unruhig.«

Während Nat über die Felder heimwärts trottete und in den Pfad zu seinem Häuschen einbog, sah er, dass die Vögel im letzten Sonnenlicht noch immer über den westlichen Hügeln kreisten. Tidenhochwasser, kein Wind und das graue Meer ruhig. Letzte Lichtnelken blühten noch in den Hecken, und die Luft war mild. Und doch hatte der Farmer recht, denn in jener Nacht schlug das Wetter um. Nats Schlafzimmer ging nach Osten. Kurz nach zwei wachte er auf und hörte den Wind im Kamin. Nicht das Toben und Wüten eines Gewittersturms aus Südwest, der den Regen brachte, sondern Ostwind, kalt und trocken. Er klang hohl im Kamin, und eine lose Schindel klapperte auf dem Dach. Nat horchte und konnte hören, wie das Meer in der Bucht toste. Selbst die Luft in dem kleinen Schlafzimmer hatte sich abgekühlt. Unter der Tür her wehte es bis zum Bett. Nat zog die Decke fester um sich, schmiegte sich enger an den Rücken seiner schlafenden Frau und blieb wachsam, hellhörig, grundlos Böses ahnend.

Dann hörte er das Klopfen am Fenster. Es wuchsen keine Kletterpflanzen an den Hauswänden, die sich hätten lösen und an der Scheibe kratzen können. Er horchte, und das Klopfen ging weiter, bis Nat, irritiert von dem Geräusch, schließlich aufstand und ans Fenster trat. Er öffnete es, und im selben Moment streifte etwas seine Hand, hieb nach seinen Knöcheln, zerkratzte die Haut. Er erkannte das Flattern von Flügeln, und schon war es verschwunden, über dem Dach, hinter dem Haus.

Ein Vogel. Was für ein Vogel, konnte er nicht sagen. Er musste auf dem Fensterbrett Schutz vor dem Wind gesucht haben.

Nat schloss das Fenster und ging wieder zu Bett. Er spürte, dass seine Finger nass waren, und hielt sie an den Mund. Der Vogel hatte sie blutig gekratzt. Erschrocken und verwirrt, so vermutete er, hatte der Schutz suchende Vogel in der Dunkelheit nach ihm gehackt. Erneut richtete er sich zum Schlafen ein.

Und schon ertönte das Klopfen erneut, diesmal kräftiger, hartnäckiger, jetzt weckte das Geräusch auch seine Frau auf, sie drehte sich im Bett zu ihm um und sagte: »Sieh mal nach dem Fenster, Nat, es klappert.«

»Ich habe schon nachgesehen«, erklärte er, »da ist ein Vogel, der reinzukommen versucht. Hörst du nicht den Wind? Er weht von Osten, und die Vögel suchen Schutz vor ihm.«

»Verjag sie«, sagte sie, »bei dem Krach kann ich nicht schlafen.«

Er ging zum zweiten Mal ans Fenster. Doch als er es öffnete, saß da nicht nur ein Vogel auf dem Sims, sondern ein halbes Dutzend; sie flogen ihm direkt ins Gesicht und attackierten ihn.

Er schrie, schlug mit den Armen um sich, um sie zu vertreiben. Wie zuvor flogen sie über das Dach und verschwanden. Rasch schloss er das Fenster und verriegelte es.

»Hast du das gesehen?«, fragte er. »Sie haben mich angegriffen, wollten mir die Augen aushacken.« Er stand am Fenster, spähte in die Dunkelheit und konnte nichts erkennen. Schlaftrunken murmelte die Frau etwas.

»Ich spinne nicht«, erwiderte er, verärgert über ihre Unterstellung. »Ich sage dir, die Vögel haben auf dem Sims gestanden und versucht, ins Zimmer zu kommen.«

Plötzlich drang ein entsetzter Schrei aus dem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, wo die Kinder schliefen.

»Das ist Jill«, sagte seine Frau, die bei dem Geräusch hochgefahren war. »Geh und sieh nach, was los ist.«

Nat zündete die Kerze an, doch als er die Schlafzimmertür öffnete und in den Flur trat, blies der Luftzug die Flamme aus.

Ein zweiter Entsetzensschrei folgte, diesmal von beiden Kindern. Als er in ihr Zimmer stolperte, spürte er Flügelschlagen in der Dunkelheit. Das Fenster stand weit offen. Vögel kamen herein, stießen erst gegen Decke und Wände, drehten dann ab, flogen auf die Kinder in ihren Betten zu.

»Alles in Ordnung, ich bin da«, rief Nat. Die Kinder klammerten sich schreiend an ihn, während die Vögel in der Dunkelheit aufstiegen und niedersanken und sich erneut auf ihn stürzten.

»Was ist los, Nat, was ist passiert?«, rief seine Frau aus dem anderen Zimmer, und eilig schob er die Kinder durch die Tür in den Flur und schloss sie hinter ihnen. Jetzt war er allein mit den Vögeln im Zimmer.

Er zog eine Decke von dem Bett neben sich und schwenkte sie wie eine Waffe nach rechts und links durch die Luft. Er spürte den dumpfen Aufprall von Körpern, hörte das Flattern von Flügeln, aber noch waren sie nicht besiegt; wieder und wieder kehrten sie zu erneuten Attacken zurück, versetzten ihm Hiebe auf Hände und Kopf, die kleinen, spitzen Schnäbel scharf wie Gabelzinken. Aus der Decke wurde ein Schutzinstrument; er wickelte sie sich um den Kopf und schlug in der noch tieferen Dunkelheit mit bloßen Händen auf die Vögel ein. Er wagte nicht, sich zur Tür zu tasten und sie zu öffnen, aus Furcht, die Vögel könnten ihm folgen.

Er wusste nicht, wie lange er in der Dunkelheit gegen sie kämpfte, doch schließlich wurden die Flügelschläge seltener, hörten endlich auf, und durch die feste Decke drang kaum Helligkeit. Er wartete, horchte. Bis auf das quengelnde Weinen eines der Kinder im anderen Schlafzimmer war alles still. Das Flattern, das Flügelschwirren, es war vorbei.

Er zog die Decke vom Kopf und blickte sich um. Grau lag der Raum im kalten Morgenlicht da. Die Morgendämmerung und das offene Fenster hatten die lebenden Vögel gerufen; die toten lagen auf dem Boden. Schockiert und entsetzt betrachtete Nat die kleinen Leichen. Sie waren alle klein, nicht ein Vogel von nennenswerter Größe; es mussten an die fünfzig sein, die da auf dem Boden lagen. Rotkehlchen, Zeisige, Spatzen, Blaumeisen, Lerchen, Bergfinken — Vögel, die sich normalerweise an ihre Artgenossen und ihr eigenes Territorium hielten, hatten sich in ihrem Kampfesdrang zusammengetan und an den Schlafzimmerwänden entweder selbst umgebracht oder waren durch ihn getötet worden. Einige hatten während der Schlacht Federn verloren, andere hatten Blut, sein Blut, an den Schnäbeln.

Mit einem elenden Gefühl trat Nat ans Fenster und starrte auf die Felder hinter seinem Garten.

Es war bitterkalt, und die Erde sah sehr nach hartem, schwarzem Frost aus. Nicht dem weißen Frost, der in der Morgensonne leuchtet, sondern dem schwarzen Frost, den der Ostwind bringt. Das Meer, rauer jetzt beim Wechsel der Tide, schaumgekrönt und steil, rollte stürmisch in die Bucht. Von den Vögeln keine Spur. Nicht ein einziger Spatz zwitscherte in der Hecke hinter dem Gartentor, keine verfrühte Misteldrossel oder Amsel pickte im Gras nach Würmern. Kein anderes Geräusch war zu hören, nur der Ostwind und das Meer.

Nat schloss Fenster und Tür des kleinen Raums und lief über den Flur in sein Schlafzimmer. Seine Frau saß aufrecht im Bett, das größere Kind schlafend neben sich, das kleinere, mit verpflastertem Gesicht, in den Armen. Die Vorhänge vor dem Fenster waren fest zugezogen, die Kerzen angezündet. In dem gelben Licht wirkte ihr Gesicht befremdlich. Sie schüttelte den Kopf, er solle schweigen.

»Er schläft jetzt«, flüsterte sie, »aber erst seit eben. Etwas muss ihn geschnitten haben, er hatte Blut in den Augenwinkeln. Jill sagt, das waren die Vögel. Sie sagt, sie ist aufgewacht, und die Vögel waren im Zimmer.«

Seine Frau blickte ihn an, suchte in seinem Gesicht nach Bestätigung. Sie wirkte verschreckt, verunsichert, und er wollte nicht, dass sie merkte, wie durcheinander, beinah betäubt auch er von den Ereignissen der letzten Stunden war.

»Da drüben liegen Vögel«, sagte er, »tote Vögel, an die fünfzig. Rotkehlchen, Zaunkönige, all die kleinen Vögel von hier. Als hätte sie mit dem Ostwind der Wahnsinn gepackt.« Er setzte sich neben seiner Frau aufs Bett und nahm ihre Hand. »Das ist das Wetter«, sagte er, »es muss das schlimme Wetter sein. Vielleicht sind es keine Vögel von hier. Vielleicht sind sie vom Landesinneren hergeweht worden.«

»Aber, Nat«, flüsterte seine Frau, »das Wetter ist doch erst heute Nacht umgeschlagen. Da war kein Schnee, der sie vor sich her hätte treiben können. Und hungrig können sie auch nicht sein. Es gibt noch Futter für sie, da draußen auf den Feldern.«

»Es ist das Wetter«, wiederholte Nat. »Ich sage dir, es ist das Wetter.«

Erschöpft und müde starrten sie einander eine Weile wortlos an.

»Ich mache uns unten einen Tee«, sagte er.

Der Anblick der Küche beruhigte ihn. Die ordentlich auf der Anrichte gestapelten Tassen und Untertassen, der Tisch und die Stühle, das Strickzeug seiner Frau auf dem Korbsessel, das Spielzeug der Kinder im Eckschrank.

Er kniete sich vor den Herd, räumte die alte Asche aus und zündete das Feuer wieder an. Bald sorgten die glühenden Scheite für Normalität, der dampfende Kessel und die braune Teekanne gaben ihm ein Gefühl von Sicherheit und Behaglichkeit. Er trank seinen Tee und trug eine Tasse hinauf zu seiner Frau. Dann wusch er sich in der Spülküche, zog seine Stiefel an und öffnete die Hintertür.

Der Himmel war schwer und bleiern, und die braunen Hügel, die am Vortag in der Sonne geschimmert hatten, wirkten dunkel und kahl. Wie ein Rasiermesser entlaubte der Ostwind die Bäume, und die trockenen Blätter raschelten und zitterten und stoben bei jedem Windstoß auseinander. Nat stieß mit dem Stiefel gegen die Erde. Sie war hart gefroren. Einen so schnellen und plötzlichen Wetterwechsel hatte er noch nie erlebt. In einer einzigen Nacht war der schwarze Winter hereingebrochen.

Oben waren die Kinder aufgewacht. Jill plapperte, und Klein Johnny weinte wieder. Nat hörte die beruhigende, tröstende Stimme seiner Frau. Dann kamen sie herunter. Er hatte das Frühstück für sie vorbereitet, der gewohnte Alltag begann.

»Hast du die Vögel vertrieben?«, fragte Jill, die sich wieder beruhigt hatte, weil das Feuer in der Küche brannte, weil ein neuer Tag begann, weil das Frühstück bereitstand.

»Ja, jetzt sind alle weg«, erwiderte Nat. »Der Ostwind hat sie hergetrieben. Sie hatten sich verirrt, sie waren verängstigt und suchten Schutz.«

»Sie haben versucht, uns mit ihren Schnäbeln zu picken«, sagte Jill. »Sie wollten Johnny die Augen aushacken.«

»Das haben sie nur aus Angst gemacht«, sagte Nat. »In dem dunklen Zimmer wussten sie gar nicht, wo sie waren.«

»Hoffentlich kommen sie nicht wieder«, sagte Jill. »Wenn wir Brot draußen vors Fenster legen, fressen sie das vielleicht und fliegen weg.«

Als sie mit dem Frühstück fertig war, holte sie Mantel und Mütze, ihre Schulbücher und den Ranzen. Nat sagte nichts, aber seine Frau blickte ihn über den Tisch hinweg an. Es gab eine stumme Übereinkunft zwischen ihnen.

»Ich bringe sie zum Bus«, sagte er, »ich muss heute nicht auf die Farm.«

Und während das Kind sich in der Spülküche die Hände wusch, sagte er zu seiner Frau: »Halt alle Fenster geschlossen und die Türen auch. Nur für alle Fälle. Ich werde zur Farm gehen und mich erkundigen, ob sie nachts irgendetwas gehört haben.« Dann begleitete er seine kleine Tochter den Weg hinauf zur Haltestelle. Sie schien die nächtlichen Erlebnisse vergessen zu haben. Sie tanzte vor ihm her und jagte den Blättern nach, das Gesicht unter der Zipfelmütze rosig von der schneidenden Kälte.

»Schneit es heute, Papa?«, fragte sie. »Kalt genug dafür ist es doch.«

Er schaute zum trüben Himmel hinauf, spürte, wie der Wind an seinen Schultern zerrte.

»Nein«, antwortete er, »es gibt keinen Schnee. Es wird ein schwarzer Winter werden, kein weißer.«

Unterwegs suchte er die Hecken nach Vögeln ab, spähte über die Büsche hinweg zu den Feldern dahinter und ließ den Blick zu dem kleinen Wäldchen oberhalb der Farm schweifen, wo normalerweise Schwärme von Saatkrähen und Dohlen kreisten. Er entdeckte nicht einen.

Die anderen Kinder warteten bereits an der Bushaltestelle, warm eingemummt und mit Mütze wie Jill, die Gesichter bleich und verfroren von der Kälte.

Jill rannte ihnen winkend entgegen. »Mein Papa sagt, es gibt keinen Schnee«, rief sie, »es wird ein schwarzer Winter werden.«

Von den Vögeln sagte sie nichts. Sie fing an, sich mit einem anderen kleinen Mädchen zu schubsen und zu balgen. Der Bus kam den Hügel hoch geschnauft. Nat half ihr hinein, dann machte er kehrt und ging zurück zur Farm. Er musste heute nicht arbeiten, wollte sich aber vergewissern, dass alles in Ordnung war. Jim, der Stallbursche, polterte im Hof herum.

»Chef da?«, fragte Nat.

»Zum Markt gefahren«, antwortete Jim. »Ist doch Dienstag heute.«

Er stapfte davon, verschwand hinter einem Stall. Er hatte keine Zeit für Nat. Nat galt als hochnäsig. Er lese Bücher und alles Mögliche, hieß es. Nat hatte vergessen, dass Dienstag war. Daran merkte er, wie sehr die Ereignisse der vergangenen Nacht ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Er ging zum hinteren Eingang der Farm und hörte Mrs Trigg in der Küche singen, das Radio lieferte die Hintergrundmelodie.

»Sind Sie da, Chefin?«, rief Nat laut.

Sie kam zur Tür, strahlend, stämmig, eine gutmütige Frau.

»Hallo, Mr Hocken«, sagte sie. »Können Sie mir verraten, woher diese Kälte kommt? Etwa aus Russland? So einen Wetterumschlag habe ich noch nie erlebt. Und es soll so bleiben, sagt das Radio. Hat angeblich was mit dem Polarkreis zu tun.«

»Wir haben heute Morgen kein Radio gehört«, sagte Nat. »Wir hatten nämlich Ärger in der Nacht.«

»Sind die Kleinen krank?«

»Nein …« Er wusste nicht recht, wie er es erklären sollte. Jetzt, bei Tageslicht, würde die Schlacht mit den Vögeln absurd klingen.

Er versuchte Mrs Trigg zu berichten, was geschehen war, doch an ihren Augen konnte er ablesen, dass sie seine Geschichte für einen Albtraum hielt.

»Sind Sie sicher, dass es richtige Vögel waren«, meinte sie lächelnd, »mit echten Federn und allem Drum und Dran? Nicht die komische Sorte, die die Männer samstagabends nach Kneipenschluss sehen?«

»Mrs Trigg«, sagte er, »auf dem Boden des Kinderzimmers liegen fünfzig tote Vögel, Rotkehlchen, Zaunkönige und so weiter. Sie haben mich angegriffen; sie wollten Klein Johnny die Augen aushacken.«

Mrs Trigg musterte ihn skeptisch.

»Tja, also«, sagte sie, »vermutlich hat das Wetter sie gebracht. Und im Schlafzimmer wussten sie dann wohl nicht, wo sie waren. Vielleicht keine Vögel von hier, sondern vom Polarkreis.«

»Nein«, erwiderte Nat, »das waren Vögel, wie man sie hier jeden Tag sieht.«

»Komisch«, meinte Mrs Trigg, »da gibt es dann wohl keine Erklärung für. Sie sollten einen Brief an den Guardian schreiben. Die wüssten bestimmt eine Antwort. So und jetzt muss ich weitermachen.«

Sie nickte, lächelte und ging zurück in die Küche.

Unzufrieden machte Nat sich auf den Rückweg. Wenn da nicht diese Kadaver auf dem Schlafzimmerfußboden gewesen wären, die er jetzt zusammensammeln und irgendwo würde beerdigen müssen, hätte er den Bericht wohl ebenfalls für übertrieben gehalten.

Am Hoftor stand Jim.

»Gab's hier irgendwelchen Ärger mit den Vögeln?«, fragte Nat.

»Mit Vögeln? Welchen Vögeln?«

»Wir hatten welche bei uns im Haus vergangene Nacht. Mehrere Dutzend, sind ins Kinderzimmer gekommen. Waren ziemlich wild, die Vögel.«

»Ach?« Es dauerte immer ziemlich lange, bis etwas in Jims Gehirn ankam. »Hab nie was von brutalen Vögeln gehört«, sagte er endlich. »Manchmal werden die doch sogar zahm. Ich hab schon gesehen, wie sie ans Fenster gekommen sind, um sich Brotkrümel zu holen.«

»Die Vögel von gestern Nacht waren nicht zahm.«

»Nein? Haben vielleicht gefroren. Oder waren hungrig. Streu ihnen was zu fressen hin.« Jim interessierte sich genauso wenig wie Mrs Trigg. Es ist wie bei den Luftangriffen im Krieg, dachte Jim. Niemand hier in der Gegend wusste, was die Leute in Plymouth gesehen und erlitten hatten. Nur wenn man selbst etwas durchgemacht hatte, konnte man mitfühlen. Er lief den ganzen Weg zurück, stieg über den Zauntritt und betrat das Haus. Seine Frau war mit Klein Johnny in der Küche.

»War jemand zu Hause?«, fragte sie.

»Mrs Trigg und Jim«, antwortete er. »Aber sie haben mir offenbar nicht geglaubt. Jedenfalls ist bei denen alles in Ordnung.«

»Du solltest die Vögel wegschaffen«, sagte sie. »Vorher traue ich mich nicht in das Zimmer, um die Betten zu machen. Ich hab Angst.«

»Du musst keine Angst mehr haben«, sagte Nat. »Sie sind tot.«