Die Wächter - Elisabeth Eder - E-Book

Die Wächter E-Book

Elisabeth Eder

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Beschreibung

Vor vielen Jahren ließ der grausame König der Menschen, Zoltan, das friedliche Volk von Phyan verfolgen und töten. Die sogenannten Wächter zogen sich zurück und verteilten sich im Land der Menschen und Elfen, um fortan versteckt zu leben. Der Straßendieb Kai erachtet es als einen unwichtigen, wenig gefährlichen Auftrag, ein Buch aus der Bibliothek der Hauptstadt Jamka zu stehlen. Doch plötzlich geraten die Ereignisse außer Kontrolle und er muss in die dunklen Wälder fliehen, verletzt und allein gelassen, mit der seltsamen Bitte einer Verbündeten, zum König der Elfen zu reiten. Währenddessen wird das Dorf der Magd Lya von Räubern überfallen und sie entdeckt in ihrer Wut eine seltsame Gabe. Alleine streift sie durch die Wälder, wo sie von Wächtern gefunden wird, die ihr ihr Schicksal offenbaren. Gemeinsam macht sie sich mit ihnen auf die Suche. Es beginnt eine lange, gefährliche Reise, die sie quer durch das ganze Land führt. Das ist der erste Teil einer Trilogie - wer Spannung, Kämpfe, Magie, Freundschaft und Liebe mag, der sollte das hier unbedingt lesen!

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Elisabeth Eder

Die Wächter

Hoffnung der Gejagten

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Wächter – Hoffnung der Gejagten

Prolog

1 Das Leben eines Diebes

2 Unerwartete Wendungen

3 Nächtliches Vorhaben

4 Ein Hort des Wissens

5 Flucht

6 Burg Fuchsenstein

7 Die Räuber

8 Ein Schneeleopard im Wald

9 Erwachen

10 Lyas Entscheidung

11 Bei den Nomaden

12 Der Beginn einer langen Reise

13 Trollblut

14 Soldaten

15 Der Dämon

16 König und Königin

17 Das zarte Band der Freundschaft

18 Enttäuschung

19 Ein verliebter Betrüger

20 Der König

21 Durch die Hügelländer

22 Kais Geschichte

23 Über die Berge

24 Die Tiger

25 Das Fest

26 Magie

27 Die Todeswüste

28 Gefährten

29 Fischerdorf

30 Rebellen

31 Die Löwen

32 Die Hüterin der Sterne

33 Soldaten

34 Wälder vor H‘ll

35 Festungsstadt

36 Kälte und Nebel

37 Die Feuerkrieger

38 Unterschlupf

39 Unruhe

40 Jamka

41 Wiedersehen

42 Zorn

43 Ein neuer Plan

44 Verräter

45 Den Wellen hinterher

46 Seemannsgarn

47 Zum Horizont

48 Eine Frage der Konzentration

49 Der Sturm

50 Die Insel unter den Winden

51 Verbündete?

52 Heldenepen

53 Edelsteine

54 Aufbruch

55 Die Vespen, die Razzors, der Dämon und die Soldaten

56 Eine schlechte Nachricht

57 Die Tunnel unter den Bergen

58 Im Elfenreich

59 Schatten der Vergangenheit

60 Durch Schnee und Eis

61 Eine Entdeckung

62 Entscheidungen

63 Retter in Not

64 Nach dem Sturm

65 Prinz Narao

65 Die Schlacht

66 Dariel

67 Elfenhauptstadt

68 Vorbereitungen

Epilog

Impressum

Die Wächter – Hoffnung der Gejagten

Prolog

Dunstige Nebelschwaden waberten über den See und verschluckten die steinernen Ufer. Nur hier und da ragte ein schwarzer, zackiger Felsen hervor; sofort wusste man, dass man vorsichtig sein sollte.

Quie stand regungslos auf einem abgeflachten Stein.

Die groß gewachsene, weißhaarige Gestalt atmete ruhig und hielt die Augen konzentriert geschlossen. Der Nebel umhüllte sie beinahe vollständig, silbriges Mondlicht kämpfte sich schwach durch den Dunst und beleuchtete das tiefschwarze Seewasser.

Im sanften Rauschen der Wellen und bei leichtem Wind, der ihren weiten Umhang aufwirbelte und ihr Geheimnisse zuzuflüstern schien, stand die Elfe da wie eine Statue.

Schließlich öffnete sie ihre wiesengrünen Augen.

„Und?“, fragte die schwache Stimme eines Mannes. Nicht weit von ihr erhoben sich zwei Gestalten, die wie aus dem Nichts im Nebel aufgetaucht waren. Es waren Männer in edlen, prächtigen Rüstungen, mit samtenen Wamsen und langen Stahlschwertern.

„Es ist wahr“, verkündete Quie. „Zwei Kinder wurden am selben Tag geboren, eines um ein Jahr früher als das andere. In ihnen fließt das Blut der Elfen, Menschen und Wächter.“

„Mischblute“, wiederholte der Ältere leise, aber ohne Spott.

„Bist du dir sicher, dass es Schmutzblute sind? Sie könnten überall sein … meist werden sie als Bastarde verstoßen und sind schwachsinnig – sie sollen unsere Rettung sein?“, fragte der andere Krieger skeptisch.

„Der Wind lügt nie“ Quie blickte ihn tadelnd an. „Außerdem solltest du die Geschöpfe nie anhand ihres Blutes beurteilen, Natu. Wir unterscheiden uns nur wenig von den Menschen und noch weniger von den Halbbluten.“

„Die Rede ist von Mischbluten! Schmutzbluten!“ Der Jüngere stieß genervt die Luft aus, aber der andere Soldat warf ihm einen warnenden Blick zu. Natu senkte reuevoll den Kopf: „Entschuldige.“

„Nun müssen wir sie finden“ Der alte Krieger seufzte. „Das kann Jahre dauern. Bis dahin könnte Zoltan uns längst überrannt haben.“

„Unmöglich“ Natu blickte selbstsicher zum milchig-weißen Mond, der wolkenlos am Sternhimmel thronte. „Wir waren gerade in Cinta. Dort herrscht die pure Hölle. Die Dämonen hausen da und außerdem haben sich viele Krankheiten eingenistet. Zoltan wird lange brauchen, bis er wieder Ordnung ins Land bringt.“

Quie sah Natu forschend an: „Wart ihr in Cinta, um die Lage des Dorfes zu erkundigen?“

„Nun … ja“, stammelte der Krieger.

Die Alte seufzte, Wehmut und Trauer spiegelten sich in ihren gütigen Augen.

„Unsere Befehle sind strikt, Magierin“, beharrte der ältere Elf. „Außerdem ist es dort sicher.“

Dann wandte er sich an Natu.

„Komm“, sagte er ungeduldig. „Wir haben einen Auftrag.“

Die Ritter drehten sich um und verschwanden im weißgrauen Nebel. Sie ließen nur das untrügliche, bittere Gefühl des Verlustes für die Magierin zurück.

Eine Weile später hörte Quie Hufgetrampel. Drei schneeweiße Pferde galoppierten den schmalen Weg am unteren Rand des Hügels entlang.

Die edlen Krieger flankierten eine Frau, die ein kleines Bündel in den Händen hielt und etwas zu plump auf dem Schimmel saß, um eine Elfe zu sein. Quie blickte ihnen nach, bis sie in dem großen, dunklen Wald verschwunden waren, der sie wie ein hungriges Tier verschluckte. Drückende und zugleich friedliche Stille breitete sich aus.

„Die Allerhellsten seid ihr Elfen ja nicht.“

Ein Kater mit dichtem, langem Fell erschien neben Quie und blickte sie aus großen, gelben Augen durchdringend an.

„Und Katzen sind es?“ Quie musste Schmunzeln. „Du denkst doch nicht etwa, ich würde hierbei einfach zusehen? Ich werde sie mit guten Geistern beschützen.“

Der Kater schnaubte. „Natürlich. Erwarte nie von einem Elfen eine klare Antwort. Ich werde mich selbst darum kümmern müssen.“

Mit einem Satz verschwand auch er im Nebel und Quie wandte sich nachdenklich den funkelnden Sternen zu, in denen das Schicksal von zwei Mischbluten geschrieben stand.

1 Das Leben eines Diebes

Kai kniete am Ufer des schmutzigen Flusses. Seine geflickten, dreckigen Stiefel hatten sich tief in den Sand gegraben, so lange lauerte er bereits an dieser schattigen Stelle. Schimmernde Farbspuren zogen sich durch das trübgraue Wasser, an den Ufern klebten grüne Algen, Dung und verschiedener Mist von den Menschen, die achtlos daran vorbeigingen und ihn wegwarfen. Kaum jemand vermochte den unscheinbaren Jungen zu bemerken, der da unter der kalten Steinbrücke hockte und mit scharfen Augen ins stetig vorbeifließende Wasser starrte. Über ihm türmten sich die mächtigen Steinbauten Jamkas auf, die eckige Schatten über die Händler und Kaufleute warfen, die mit schweren Karren oben vorbeizogen. Das Geschrei der Tiere war zu hören, das Geräusch herumgeworfener Ware und das Gefluche verschiedener Fußgänger. Plötzlich schnellte Kais Hand in das eisige Nass und zog ein Kästchen hervor. Zufrieden erhob er sich auf die Füße, rieb das fein gearbeitete Holz am Saum seines dreckigen Hemdes trocken und steckte es in die Hosentasche. Er krempelte sich die Ärmel wieder hinunter und huschte an einer schmalen, nassen Steintreppe auf die Brücke, wo er sich prompt mitten im Gedränge widerfand. „Aus dem Weg!“ Ein griesgrämiger Händler stieß ihn achtlos zur Seite. Er trug einen großen, geflochtenen Korb voller exotisch aussehender Früchte. Als er vorbei war, fehlte eine der leuchtenden Nektarinen. Kai hob eine Augenbraue, biss in die süße Frucht und dann ließ er sich vom Strom der Menschen forttragen. Gesprächsfetzen drangen ihm an die Ohren, manchmal rempelte ihn jemand unsanft an, lachende Kinder liefen zwischen den geschäftigen Menschen umher. Kai musste sich regelrecht zu einer schmalen Seitengasse kämpfen, in der die fröhlichen Gespräche nicht mehr zu hören waren. Zwei Häuser aus Lehm und Stein ragten links und rechts von ihm auf, pechschwarze Lacken hatten sich am Boden gebildet, hölzerne Kisten stapelten sich in den Ecken und der Gestank von fauligem Fleisch lag in der Luft. Ohne sich noch einmal umzudrehen lief Kai weiter und kam an eine Weggabelung. Zielsicher nahm er die linke Straße. Als hätte er sein Leben nichts anderes getan, huschte Kai durch das enge Gassenlabyrinth, nahm immer ohne zu Zögern einen Weg und tauchte in schützende Schatten, sobald jemand vorbeiging. Meist waren es nur Bettler oder harmlose Betrunkene, die herumtorkelten, aber einmal kam er an einer Patrouille von Soldaten vorbei. Als er die knirschenden Schritte hörte und das leise Gemurmel aus tiefen Stimmen, warf sich Kai hinter einige Holzkisten und spähte vorsichtig durch einen groben Riss im morschen Holz. Er wagte nicht zu atmen, als die großen Gestalten mit Kettenhemden und Panzerungen an Schulter und Stiefeln vorbeigingen. Sein Blick blieb an den ledernen, pechschwarzen Wamsen hängen, das sie vor Attacken schützen sollte, an den langen, schmalen Schwertern, die mitsamt eines Dolches und eines Schlagstockes an ihren Gürteln ruhten. Kai versuchte, durch die Silber glänzenden Helme in die Augen der Soldaten zu sehen, um abzuschätzen, ob sie bereit wären, etwas zu kaufen oder nicht. Einige der Soldaten kauften nämlich gelegentlich Straßenkindern wie ihm Wertgegenstände ab. Allerdings verriet ein Teil ihres Gesprächs, dem er lauschte, dass Kai sich nie blicken lassen dürfte, selbst wenn sein Leben davon abhängen würde. „… hat gesagt, dass wir in den Straßen ausschwärmen sollen und diese elenden Kinder mitnehmen müssen.“ „Schon wieder? Wieso?“ Der, der vorher gesprochen hatte, stöhnte genervt. „Ja, schon wieder. Sie werden zu Sklaven, Bediensteten oder sie gehen in den Soldatendienst.“ „Oder sie gehen in die Mienen, nicht wahr?“ „Oder werden verfüttert. Es gibt immer weniger Nahrung für die Dämonen. Wir müssen rasch etwas weiterbringen, sonst sind die gewöhnlichen Bewohner noch dran!“ Kai zog seine Brauen zusammen, als sich die Schritte entfernten und die Stimmen leiser wurden. „Ja. Am Schlimmsten sind diese … wie sie heißen … keine Lust.“ „ … nicht Sorgen … genügend Sklaven.“ Als die schweren Schritte verklungen waren, entspannte Kai seine Muskeln und sprang lautlos auf die Füße. Die Soldaten schwärmten alle paar Wochen aus und nahmen jeden, der auf der Straße lebte oder auch nur so aussah, gefangen. Er selbst hatte es immer wieder überlebt, aber trotzdem war jedes Mal Vorsicht geboten. Kai musste beinahe Grinsen, als er sich daran erinnerte, wie er sich vor einem halben Jahr einige Stunden in einer stinkenden Kloake versteckt hatte, um von den Hunden nicht gefunden zu werden. Immer tiefer führte ihn sein Weg durch die Gassen. Rußgeschwärzte Häuser säumten seinen Weg, Abfallhaufen lagen neben Türen, in offenen Fässern schwammen gesalzene Fische mit penetrantem Geruch, schmutzige, halb zerstörte Kisten, Karren und zerrissene Stofffetzen lagen am Boden. Ein kleiner, blasser Junge hob mehrere davon auf, schreckte zusammen, als er Kai sah und floh mit großen, ängstlichen Augen rasch in eine der Seitenstraßen. Kai wusste genau, dass er manchmal furchteinflößend wirkte. Er hatte braunes, ungezähmtes Haar und dunkelgrüne Augen, vor denen die Menschen oftmals Angst hatten. Seine Gesichtszüge waren zu fein geschliffen, als dass er ein reinblütiger Mensch hätte sein können, seine Ohren eine Spur zu spitz. Er hatte einen großen, schlanken Körper und trug meist dunkle Kleidung. Vielleicht machten ihn all diese Dinge für die Menschen unheimlich, aber womit er sich selbst manchmal erschrecken konnte, war sein Blick. Kai konnte mit Blicken buchstäblich töten, wenn er es wollte. Seine Augen waren – wenn er in den Spiegel blickte und vermutlich auch sonst – finster und leer. Gründe dafür gab es viele, aber Kai verdrängte sie gerne. Nur manchmal brodelten die Gefühle und Erinnerungen in ihm und dann hatte er das Gefühl, zu bersten, wenn er seine Wut nicht an etwas oder jemandem ausließ. Er blieb vor einer Steinmauer, an der Blutspuren klebten – woher kamen sie? – stehen und lugte misstrauisch auf das alte Gemäuer. Er tastete mit den Fingerspitzen nach seinem Dolch, steckte den eisernen Griff zwischen die Zähne und trat zurück, um Anlauf zu nehmen. Mit einem katzenhaften Sprung fasste er an den obersten Rand und zog sich schwungvoll hinauf. Er hockte einige Augenblicke auf der Mauer, nahm den von braunem Gras und blassgrünem Unkraut übersäten Innenhof in Augenschein. Ein Brunnen thronte in der Mitte, zwischen dessen losen Geröllbrocken Pflanzen wucherten. Wachsam suchten Kais Augen die Gräser ab, er besah sich das zertrampelte Gras genauestens, um ungewöhnliche Spuren zu entdecken. Auch als sein Blick zu dem halb verfallenem Holzhaus wanderte, das mehrere Meter in die Höhe schoss, wobei einzelne Stockwerke eine Wand zu wenig besaßen oder das Holz verkohlt und morsch war, fand er nichts verdächtiges. Der Wind zischte wie immer über die verrosteten Dachziegel, die das Dach zu einem spitzen Turm formten. Die turmähnlichen Häuser dahinter wurden von der untergehenden Sonne in rotgoldenes Licht getaucht. Eine kühle Brise kitzelte Kais Wangen und sein Blick wanderte nach links und nach rechts, aber dort waren nur die hölzernen Siedlungen der Armen zu sehen. Ein wenig weiter weg hörte er das Geräusch eines weinenden Jungen, eine Frau schimpfte, der Wind heulte. Schwarze Gewitterwolken ballten sich am Horizont zusammen. Einige Dächer weiter stieg eine Rabenschar flügelflatternd und kreischend in den Himmel. Kai erkannte, dass sie sich um etwas stritten, das gerade seine letzte Zuckung hinter sich brachte. Er landete leichtfüßig im hohen Gras und nahm den Dolch in seine Hände. Zielstrebig ging er auf das Haus zu, öffnete die quietschende Holztür und lugte hinein. Mehrere Stoffmatten lagen verstreut am Boden, das letzte bisschen Sonnenlicht fiel in zarten Strahlen durch feine Holzritzen in den Raum. Eine Katze mit feuerrotem Fell hockte in einer Ecke und blickte ihn mit großen, wachsamen Augen an. Kai lauschte einige Augenblicke, aber nichts im Haus verriet, dass sonst jemand da wäre. Also steckte er sein Messer zurück in den Gürtel und marschierte die knarrende Treppe hinauf. Ein Stockwerk weiter war die Wand zum Innenhof fast vollständig zerstört und offenbarte einen weiten Blick darüber. Verschiedene Holzbänke und Schemel waren hier aufgestellt. Oben, im letzten Stockwerk, das noch begehbar war, lag Kais Zimmer. Die Wände waren vollständig erhalten, allerdings war ein großes Loch im Boden. Eine Decke, die frei von jeglichen Löchern war und eine schäbige Kommode waren in einer Ecke des Raumes, gleich unter einem Fenster, von dem aus er über die Armenviertel blicken konnte. Kai trat zu seinem „Ausblick“ und ließ seine Augen über diese Viertel schweifen. Häuser waren niedergerissen worden und in den Schutthaufen gruben Jungen und Mädchen nach Wertschätzen. Stöcke waren in den Boden geschlagen und darüber spannten sich Decken. Verfallene, verkohlte und zerstörte Häuser säumten die Umgebung. Pflanzen schlangen sich an manchen Behausungen entlang und schienen sie verschlingen zu wollen. Sträucher und Kräuter wucherten bei einigen abgerissenen Zelten, vor denen sich verrostete Töpfe stapelten. Wilde Hunde und Katzen streunten durch die Straßen und wühlten in Abfallbergen und überquellenden Müllfässern. Geduckte Gestalten huschten durch die Gassen, zerlumpte Kinder rannten mit bleichen Gesichtern und ängstlich an sich gepressten Gegenständen an Kais Haus vorbei. Eine Gruppe von Männern und Frauen mit zerrissenen Gewändern und blutenden Wunden am ganzen Körper humpelte ein paar Straßen weiter um die Ecke, ein alter Mann zog einen Karren voller schmuddeliger Säcke hinter sich her. Kai lächelte, als er seinen Blick zum Horizont lenkte. Er konnte beinahe bis zu den saftigen, grünen Hügeln am Rande der Stadt sehen, die von der Ferne wie sanftes Gewässer wirkten. Dies war sein Reich. Das Reich eines Diebes, der in mancherlei Verbrechen die Fäden im Hintergrund zog. Viele bezeichneten Kais Verhalten als undurchsichtig und waren ihm gegenüber mehr als vorsichtig, andere sagten, er würde einmal der Herr der Unterwelt Jamkas sein. Allerdings hatte Kai bereits Feinde aus größeren Kreisen als aus denen der armseligen Vierteln. Er würde bald Siebzehn werden, was hieß, dass er das Mannesalter erreicht hatte und als Mann war man gefährlicher und einflussreicher, weshalb einige Verbrecher und einflussreiche Händler, denen er mehrmals unangenehme Situationen beschert hatte, versuchten, ihn zu ermorden. Wobei sie nicht mit den schnellen Reaktionen und der unglaublichen Kraft des Diebes rechneten. Kai sehnte den Tag heran, an dem er sich von den erbeuteten Schätzen seiner Diebe eigenständig ein Haus in den besseren Vierteln kaufen konnte und nicht mehr fürchten müsste, dass ein Brand oder ein Sturm alles zunichte machen würde, das er mühevoll aufgebaut hatte. Er würde seine Leute wieder beherbergen und viel größere Dinge durchsetzen als das Stehlen von Wertsachen. Vielleicht würde er auch Hehler werden. Kai wollte sich in ein paar Jahren zurücklehnen können, nachdem er die Banden vertrieben hatte, die die Stadt – und ihn – terrorisierten, sich vielleicht eine ehrliche Arbeit suchen und einfach nur seinen Frieden finden. „Hey, Träumer“, sagte eine Stimme hinter ihm. Kai fuhr herum, blitzschnell hatte er den Dolch gepackt und zielte auf sein Gegenüber. Ein Mädchen, vielleicht etwas älter als er, mit roten Locken stand hinter ihm und musterte ihn mit hochgezogenen Brauen. „Ania!“, fluchte Kai und steckte den Dolch zurück. Er wusste nicht, wie sie es manchmal fertig brachte, sich so unauffällig und lautlos zu bewegen. Denn wenn sie durch die Straßen schlichen, war Ania keineswegs so still wie jetzt gewesen. „Kannst du nicht wenigstens eine Vorwarnung geben, wenn du hinter mir stehst?“ „Wo bliebe dann der Spaß?“, fragte sie und lächelte, aber in ihren Augen stand Besorgnis. Kai wusste, woher die kam. „Dir sind die Blutspuren also auch aufgefallen.“ Ania schloss kurz die Augen, dann nickte sie und murmelte: „Ehrlich gesagt … sind die von mir.“ „Von dir?!“ Kais Augen funkelten bedrohlich. Ania nickte und drehte ihren Unterarm. Blutende, rote Kratzer waren auf ihrer zarten Haut zu sehen. Einige waren bereits verkrustet. Finster sah er sie an, als sie mit zittriger Stimme fortfuhr: „Es war Brimir.“ Kai wandte sich der untergehenden Sonne zu. Dunkle Schatten krochen nun über die Häuser, fraßen das letzte bisschen Licht auf. Der schmale, helle Streifen am Horizont verblasste langsam zu einem violetten Ton und dann zu einem dunklen, satten Blau, das in das Tiefschwarz der Nacht überging. Es herrschte Stille zwischen den beiden. Ania trat neben Kai, der die funkelnden Sterne betrachtete und die schäbigen Hütten nicht ansehen wollte, die unter dem Firmament lauerten wie ein finsterer Abgrund. Schließlich sagte Kai: „Gut, ich werde mich darum kümmern.“ „Wer ist er?“ Kai hob den Kopf und blickte sie schweigend an. Anias Kinn bebte, ehe sie trotzig das Kinn reckte und ihn anfunkelte: „Er kommt uns in letzter Zeit ständig in die Quere, Kai! Er verrät uns! Er hat eigene Männer! Brimir hat Jael schon getötet und unzählige verletzt! Wieso sagst du uns nicht, wer er ist?“ Der Dieb senkte den Blick. Bitterkeit und Trauer wallten in ihm auf. „Jael ist gestorben, weil er ihn herausgefordert hat, anstatt mit uns zu fliehen. Das weißt du.“ Ania schnaubte. „Und ob ich das weiß! Aber Jael wollte nur Klarheit, Klarheit über diesen verfluchten Brim-!“ Bevor sie zu Ende reden konnte, knurrte Kai: „Das ist eine Sache zwischen mir und ihm. Misch dich nicht in Dinge ein, die du nicht verstehst, Ania!“ Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und funkelte ihn unter ihrer Haarmähne heraus wütend an. „Wieso? Wenn er hierherkommt, um mich zu attackieren, dann habe ich doch das Recht, zu erfahren, was er überhaupt will!“ „Nein“, sagte er finster. „Das ist meine Angelegenheit.“ Ania schwieg. Kai drehte sich um. Er presste die Kiefer fest aufeinander und knirschte mit den Zähnen. Draußen bellte irgendwo ein Hund. Und trotzdem war es merkwürdig still. Eine Stille, die Kai bewusst machte, dass draußen Gefahren lauerten, die sich in den tiefsten, unscheinbarsten Winkeln versteckten. Er seufzte. „Hast du die anderen weggeschickt?“ „Musste ich ja wohl. Sonst hätte er es noch mitbekommen“ Kai hörte, wie sich Ania bewegte. Offenbar ging sie im Raum auf und ab. „Diesmal war er knapp dran, das Haus zu finden. Ich bin ihm entkommen, weil er alleine war. Ich hatte Glück. Wir hatten immerGlück! Wenn er beschließt, noch einmal hierherzukommen und sich beginnt zu fragen, warum ich bei dieser Mauer herumgelungert bin, dann ist er drinnen. Dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder sein Tod oder unserer, wenn er entwischt und nachher seine Freunde mitbringt!“ „Das ist mir schon klar!“, knurrte Kai. Er wollte niemanden töten oder seine Diebe in Gefahr bringen. Aber was konnte er gegen Brimir ausrichten? Nichts. Er hatte zu viel Macht über Kais Leben, als dass er ihm je wieder unter die Augen treten könnte. Solange Brimir ihn nicht fand, war alles in Ordnung. Ania seufzte resigniert. Sie gab es endgültig auf und beschloss, das Thema zu wechseln: „Hast du es?“ „Hm? – Oh … ja“ Kai erinnerte sich in dem Moment wieder an seine eigentliche Mission. Er fischte das Kästchen aus der Tasche und öffnete es geschickt. Zwischen roten, samtenen Pölsterchen ruhte eine blank polierte Goldmünze mit einem Adlerkopf. Er deutete grinsend eine höfische Verneigung an: „Aus der Zeit von König Adlerfaust!“ Er reichte es Ania mit einer dramatischen Geste. Sie rollte mit den Augen, nahm das Kästchen und musterte es fasziniert. „Das ist bestimmt ein Vermögen wert. Wie seid ihr da ran gekommen?“ Kai grinste listig. „Use hat den Händler abgelenkt indem sie ihm Fragen über diese Münze gestellt hat. Dann hat sie sie ‚unabsichtlich‘ in den Kanal fallen lassen. Ich habe einige Straßen weiter gewartet, bei der Kanalbrücke, und es herausgefischt. Und ich denke, Use ist rechtzeitig entkommen, bevor er sie einsperren lassen konnte.“ „Das war dumm“ Ania schloss das Kästchen mit einem leisen Klonk. „Jeder andere hätte es aus dem Fluss fischen können.“ „Nein“ Kai schob sich die Hände in die Hosentaschen. „Weil dort gerade ein paar Männer dabei waren, Fische auszunehmen und du weißt, die vertreiben jeden. Die einzige freie Stelle war bei der Kanalbrücke.“ „Die Fischmänner haben es nicht bemerkt?“ Ania runzelte die Stirn. Er zuckte mit den Schultern. Ihm war selbst klar, wie waghalsig sein Unternehmen gewesen war. Sie seufzte und warf das Kästchen achtlos auf Kais Schlafmatte. „Die ist bestimmt fünfhundert Goldmünzen wert. Verkauft es nicht unter dem Preis, wir brauchen das Geld!“ „Verkauf du es doch!“ Kai ärgerte sich, dass Ania manchmal mit ihm redete, als wäre sie die Herrin dieses Hauses. Dabei war sie genauso dankbar wie alle anderen, dass er sie aufgenommen hatte und das wusste er. Trotzdem reizte es ihn immer öfter, weil sich die Lage mit Brimir zuspitzte. „So was kann ich nicht“, lächelte sie jetzt, wie, um ihn zu besänftigen. Kai wusste, dass Ania ein kluges Köpfchen war und wagte es keine Sekunde, sie zu unterschätzen. „Da bist du besser. Wie auch immer, ich leg mich schlafen. Gute Nacht.“ „Nacht“ Sie verließ das Zimmer.

Kai starrte noch lange hinaus auf die Sterne. Die einzelnen Lichtpunkte funkelten ihm zu, blitzten und strahlten. Der Vollmond thronte über ihnen und schien über die Nacht zu wachen. Aber er konnte nicht in die verborgensten Winkel der Stadt leuchten, die finsterer waren als jede Schlucht und er konnte auch nicht Licht und Hoffnung in die Seelen bringen, die verzweifelt, bitter und kalt waren. „Trotzdem ist das Licht da und jeder kann frei entscheiden, ob er hineintreten will oder nicht“, murmelte eine Stimme in Kais Hinterkopf. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen legte er sich auf seine Decke und schlief ein, beruhigt von dem stetigen Rauschen des Windes.

Kai rannte. Riesige Gebirge türmten sich vor ihm auf, wie gewaltige Hindernisse. Er schlängelte sich hindurch, musste sich öfter ducken und vor den Schatten verstecken, die überall lauerten. Gefahr. Er spürte sie von überall. Sie kroch auf ihn zu, flüsterte ihm Drohungen und süße Versprechen ins Ohr. Auf einmal war er vor einem riesigen Schloss. Dunkel thronte es in einer zerklüfteten, grauen Ebene. Einzelne Bäume standen da, kahl und schwarz, die klauenähnlichen Äste gen Himmel gestreckt, der sich blutrot verfärbt hatte. Er raste auf das Schloss zu, konnte sich nicht mehr stoppen. Das Blut rauschte mit der Entschlossenheit in seinen Adern. Ermusstedie Gefahr besiegen, die in dem Schloss lauerte! Angst verwandelte sich in Stärke, Mutlosigkeit in Entschlossenheit. Sein Herz trommelte immer lauter, es hörte nicht auf, drohte zu zerspringen –

Er schreckte aus dem Schlaf. Über ihm donnerte der Regen gegen die Holzbretter. Eisiger Wind fuhr heulend durch die Straßen und zischte zwischen den Dachziegeln. Unruhig stand er auf, sein Herzschlag beruhigte sich langsam. Die Kälte und Feuchtigkeit kroch zwischen die Dielen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch das Loch im Boden. Die Holzbänke und Schemel unter ihm waren vom prasselnden Regen ganz dunkel geworden, der Staub fortgewaschen, Rinnsale bildeten sich und flossen zu Lacken zusammen. Der Innenhof war in einem trostlosen Grau versunken, nur schemenhaft konnte Kai den Brunnen erkennen. Aber sein Blick blieb nicht an den grellen Blitzen hängen, die draußen zuckten und für kurze Zeit die ärmlichen Stadtviertel erhellten. Sein Blick ruhte auf den Dielen. Schwaches Licht drang von unten hinauf, durch einen Spalt konnte Kai einen Mann erkennen, der unter ihm vorbeiging, dann war er verschwunden. Eiseskälte legte sich über seinen Magen und schien ihn zu einem Klumpen zusammenzufrieren. Wer war das? Unsicher stieg Kai die Stufen hinab, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Das Rauschen des Regens wurde lauter. Kalte Tropfen trafen ihn wie Steine im Gesicht und durchnässten seine Kleider. Er presste sich gegen die Wand und schlich zur nächsten Treppe. Der Wind heulte und änderte kurz die Richtung, sodass ein stetiges Pfeifen zwischen den Dielen herrschte, das Kai fast alle Nerven raubte. Dann hörte es auf. Der Sturm heulte leiser. „Wir waren in Phyan, Ania. Dort herrscht Krieg. Es ist die Tote Ebene geworden, das weißt du! Keiner von uns ist mehr da“, drang eine Männerstimme zu ihm hinauf. Kai kniff die Augen zusammen. Was redete er da? Ania war mit ihnen verbündet? Was war mit Phyan? Das war doch die Kriegsinsel, wo Menschen und Elfen ständig miteinander kämpften. Ganze Armeen wurden jeden Tag zunichtegemacht, es war das „Zwischenland“, wie man es nannte. Die Länder waren in einem umgedrehten C geformt, soweit er wusste. Ein großer Gebirgszug an einem dünnen Landteil trennte das Elfenreich im Norden von Cinta, dem Menschenreich im Süden. Dazwischen lag noch, im weiten Ozean, Phyan. Früher hatten da wichtige Treffen stattgefunden, zwischen den verschiedenen Ländern, es war eine Insel des Verbundes gewesen, doch jetzt starben dort täglich Lebewesen in wilden Schlachten, seit König Zoltan den Elfen und Zwergen den Krieg erklärt hatte. Was hatten diese Leute dort zu schaffen gehabt? Wer von ihnen hätte dort sein sollen? Und was hatte Ania damit zu tun? Wieso hatte sie ihm nichts von denGästenerzählt?! „Das weiß ich nur zu gut“, sagte Ania geduldig. „Aber es hilft nichts, wenn wir deswegen kämpfend durch die Stadt ziehen.“ „Wir ziehen nicht durch die Stadt!“, widersprach der Mann, während Kais Neugierde wuchs. Was ging hier vor? Eine Verschwörung gegen den König? „Wir brauchen nur Zugang zu der großen Bibliothek!“ „Du denkst also immer noch ernsthaft, dass das Buch in der Bibliothek ist?“ Anias Stimme triefte vor Sarkasmus. „Natürlich wird Zoltan ein geheimes Buch über Phyan und dessen tiefste Geheimnisse, in dem die Vernichtung von einem der mächtigsten, alten Krieger aufgeschrieben steht, in der öffentlichen Bibliothek aufbewahren und nicht in seiner Burg, streng bewacht von Soldaten!“ „Wir haben verlässliche Quellen“, sagte der Mann. Wieder zuckte ein Blitz vom Himmel. Kai fuhr zusammen und schlang die Arme enger um den Körper, da ihm zunehmend kälter wurde. Im Donnergrollen, das darauf folgte, war nicht viel zu hören. Als die Leute unten wieder sprachen, waren sie beim nächsten Thema. „Du meinst, diese Diebe können uns dabei helfen?“, fragte der Mann skeptisch. Ania kicherte: „Natürlich! Sie sind geschickt, halten immer zusammen und der Anführer ist sehr klug. Noch nie wurde ein Leben wegen seinen Befehlen verschwendet oder ein unnötiges Risiko eingegangen.“ „Du scheinst ihn gut zu kennen.“ „Das tue ich. Er hat mich aufgenommen.“ „Wird er uns freundlich empfangen?“ Kai ballte grimmig die Fäuste.Tja, werde ich das? Ania zögerte kurz: „Lasst mich mit ihm reden. Ich werde es ihm schonend beibringen.“ „Zu spät“, hörte sich Kai sagen. Er stand auf und ging langsam die Treppe hinab. Sein Haar war nass und klebte ihm an Stirn und Wangen. Seine Hand ruhte auf den Dolch und er musterte die acht kräftigen Männer, die sich um Ania geschart hatten. Ohne seinen plötzlich schwindenden Mut zu zeigen, stellte er sich selbstbewusst in die Mitte des Raumes und musterte sie. Ihre Kleidung war nass, aber vollständig, sie schienen keine Adeligen und keine Bauern zu sein, sondern normales Fußvolk. Allerdings trugen sie furchterregende Messer. Ihr Anführer, ein breiter Kerl mit tiefschwarzen Augen und ebenso dunklen Haaren, trat vor. In seinem Blick spiegelte sich Misstrauen wider, aber auch Unglaube. Kai verspannte sich unwillkürlich und hob den Dolch: „Keinen Schritt weiter!“ Die anderen Männer zogen ebenfalls ihre Waffen. Der Dieb machte sich bereit, zuzuschlagen. Mit finsterem Blick musterte er die Bewaffneten. „Lasst“ Der Anführer trat zurück und warf seinen Männern einen warnenden Blick zu. „Ich will dich nicht verärgern“, sagte er zu Kai gewandt. „Das würde ich dir auch nicht raten“ Kai funkelte Ania wütend an und beachtete die Männer rings um ihn nicht mehr. Sie hatte sein Vertrauen gebrochen und leichtsinnig das Versteck preisgegeben! „Du brauchst einen guten Grund, warum du mir Männer ins Haus geschleppt hast, die mich töten werden!“ Er brüllte fast. „Es ist nicht so, wie du denkst“ Anias Stimme triefte vor Schuldgefühlen. „Sie sind Freunde von mir. Und sie werden dich nicht töten!“ „Schön“ Kai hielt den Dolch fest umklammert, seine Stimme klang wie klirrendes Eis. „Wenn ich mich recht erinnere, ist das mein Haus. Wieso lässt du sie hinein?!“ Ania seufzte. „Lass mich mal erklären.“ Der Dieb lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und musterte die Männer nach der Reihe, die zurückgetreten waren und ihn wachsam beobachteten. Er ließ sie nicht aus den Augen, die er nach wie vor zusammengekniffen hatte und murmelte: „Dann fang an.“

2 Unerwartete Wendungen

„Das ist Exoton mit seinen Männern“, erklärte Ania. „Sie sind weit gereist, von Phyan bis hierher, um ein Buch zu stehlen, das sich in dem Besitz des Königs befindet. Die tiefsten Geheimnisse dieses Landes sind dort aufgeschrieben und können den König womöglich stürzen und die verstreuten Stämme des Landes vereinen.“ „Verstreute Stämme?“ Kai hob eine Augenbraue. Das schien alles ein schlechter Witz zu sein. „Früher lebten auf Phyan kleine Stämme, die die Wächter genannt wurden“, erklärte Exoton auf einmal. „Sie wachten über den Frieden zwischen Menschen, Zwergen und Elfen. Allerdings wurden sie seit diesem Krieg gejagt und das schon über Jahre hinweg. Es besteht kaum noch Kontakt zwischen den Einzelnen, die verstreut auf der ganzen bekannten Welt leben. Viele sind bereits tot. Wir wollen unser Volk wieder vereinen.“ Wohl doch kein Witz. Diese Leute meinten es todernst. „Ihr hasst Zoltan“, stellte Kai ruhig fest und steckte das Messer zurück, als Exoton vage nickte. Er überlegte. Diese Männer waren kräftig und entschlossen. Er musterte sie der Reihe nach. Vielleicht ließ sich mit ihnen etwas anfangen. Ein Leuchten trat für kurze Zeit in seine Augen: „Wir Diebe werden euch helfen. Aber nur unter einer Bedingung.“ „Wie lautet sie?“, fragte Exoton und verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust. Kai lächelte. „Ich muss jemanden loswerden. Aus der Stadt schaffen. Sein Name ist Brimir.“ Einer der Männer lachte bellend: „Das dürfte zu machen sein, was, Exo?“ Der Anführer nickte. Das Flackern der Kerze tauchte die Hälfe seines Gesichts in einen dunklen Schatten, der seine Züge wölfisch aussehen ließ. Ania fixierte den Dieb mit ihren Augen und kniff leicht die Brauen zusammen. Noch immer war sie neugierig, wer Brimir war und was er mit Kai zu schaffen gehabt hatte. „Ihr könnt hier schlafen. Macht es euch bequem“ Mit einer ausladenden Geste deutete Kai auf die Matten im Raum ringsum. Erneut krachte der Donner draußen und das Heulen des Windes wurde stärker. Es dröhnte in den Ohren der Versammelten und ließ Kais feine Nackenhaare zu Berge stehen. Sein Blick glitt fragend zu Ania: „Du kommst auch von Phyan?“ Sie nickte vorsichtig. „Meine Eltern stammten von dort. Sie kannten Exoton und seine Männer.“ Kai starrte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an, die wie der Flügelschlag eines Vogels wirkte. Als ihm klar wurde, dass er keine Antwort von ihr bekommen würde, wanderte sein Blick zu der schmalen Treppe, die in den Keller führte. Der sanfte Geruch von Wein stieg hinauf: „Bedient euch,Freunde. Ania kann euch das Essen zeigen. Nehmt so viel ihr wollt, ihr müsst hungrig sein. Morgen erklärt ihr mir und meinen Dieben, wie der Plan aussieht.“ Aufrecht ging der König der Diebe über die Stiegen hinaus in das heulende Unwetter. Regen peitschte ihm ins Gesicht, ein Blitz zuckte vom Himmel, der tobende Wind rüttelte an seiner Kleidung. Kai fuhr zusammen und blinzelte, doch die Sekunden des Erleuchtens der Umgebung waren vorbei, endgültig weggewischt und es blieb nur prasselnde, nasse Dunkelheit zurück. Trotzdem war er sich sicher, dass er gerade in rauchiger Gestalt das Gesicht einer Raubkatze vor sich gesehen hatte. In dem Moment ging unten ein Ruck durch die Herzen der Versammelten. Ania hielt mitten in der Bewegung inne. Das Fackellicht beleuchtete Berge von Gemüse, Früchten, Broten und Wurststücken, Bier- und Weinfässer standen in einer staubigen Ecke. Flammen knisterten und fraßen sich die Fackeln entlang, das köstliche Essen duftete und ließ die Mägen der Männer knurrten, aber darauf achteten sie im Moment nicht. „Es ist so weit“, sagte Exoton und seine Stimme zitterte vor Ehrfurcht. „Die Neuen wurden auserwählt.“ Ania schluckte und ihr Blick wanderte kaum merklich nach oben. Kai musste es auch gespürt haben. Nicht umsonst bewachte sie ihn ihr ganzes Leben lang, sie wusste, dass er einer von ihnen war. „Nehmt euch“, wies sie die Männer leise an. „Es gibt genug für alle.“

Die Sonne war noch nicht am Horizont erschienen, da kamen Kais Diebe aus den gräulichen, trüben Schatten der Häuser. Sie wirkten müde und nervös, aber sie waren am Leben. Er ließ sie hinein. Stumm setzten sie sich, warfen seinen neuen Gästen misstrauische Blicke zu, beließen es aber dabei. Ania kam noch einmal zu ihm: „Danke, dass du hilfst.“ „Kein Thema“, antwortete er mit dem Rücken zu ihr. Er schloss die Tür hinter dem letzten Ankömmling und drehte sich dann um. Die Männer saßen auf den Tischen und versuchten ihr Missfallen über die neuen Verbündeten zu verbergen. Kais Diebe – mit zerrissener Kleidung, einigen Wunden und schmutzigen Gesichtern – hockten am Boden und spielten unruhig mit ihren Messern. „Wer von euch ist Brimir begegnet?“, fragte Kai und musterte jeden Einzelnen. Einige senkten die Köpfe und mieden seinen Blick. Durch die Dunkelheit konnte Kai gestochen scharf erkennen, wie sich einer seiner Diebe unruhig wand und dann aufstand: „Ich.“ Kai musterte ihn forschend. Mehrere Blutergüsse waren im Gesicht des Jungen zu sehen und er wirkte unnatürlich blass. „Er … er …“ Der Kleinere schluckte und fummelte an seinem Hemd herum, dass nur noch aus Fetzen bestand. „Er hat eine Botschaft für dich … Du sollst dich heute Abend bei der KneipeZum goldenen Dolcheinfinden, sonst tötet er dich. Er – er … weiß, dass das Quartier hier ist.“ Kai verspannte sich. Er spürte, wie ihm seine Gesichtszüge kurz entglitten. Seine Hand klammerte sich um das lange Messer in seinem Gürtel und er kämpfte darum, wieder die Fassung zu gewinnen. Schließlich räusperte er sich. „Dann müssen wir umsiedeln. Einige von euch werden heute den Tag damit verbringen, neue Häuser auszukundschaften. Darro, Iralia – Exoton und seine Männer wollen in die Bibliothek einbrechen. Im Gegenzug helfen sie uns, Brimir loszuwerden. Ihr spioniert die Wachzeiten dort aus und seht nach, wann sie geöffnet ist, klar? Nächsten Abend brechen wir ein.“ Die Diebe nickten und warfen den Männern im Raum neugierige Blicke zu. Exoton starrte Kai an. „Brimir also wieder. Wegen einem Mann verlasst ihr euer Quartier und verschiebt unseren Auftrag?“ Er versuchte nicht einmal, sein Missfallen zu verbergen. Die Jugendlichen hoben ihre schmutzigen, ausgemergelten Gesichter und blickten gespannt von einem zum anderen. Kai blieb unerschütterlich wie ein Fels: „Er ist gefährlich und nebenbei bemerkt kann die Bibliothek auch warten. Wir werden bald ein Quartier gefunden haben, höchstens in ein paar Stunden. Es gibt hier viele leerstehende Häuser.“ „Dann hoffen wir, dass du dein Wort hältst“, sagte Exoton mit zusammengezogenen Brauen und lehnte sich gegen die hölzerne Wand. Sein Auftrag war ihm wichtiger als die Angst der Diebe, die in seinen Augen nur Kinder waren, vor einem Mann. Kai unterdrückte den bitteren, aufbrausenden Ärger in seiner Magengegend, lächelte schmallippig und kalt: „VerlasstEuchdrauf!“ Ein jäher Windstoß fuhr durch den Raum. Kai blickte zu dem Fenster und betrachtete die Straße. Goldenes Sonnenlicht kämpfte sich durch die Dunkelheit. Er lächelte breiter und sog den Geruch des Morgens ein, dann warf er einen Blick in die Runde und befahl: „Dann lasst uns nicht warten! Schwärmt aus und sucht ein Quartier. Ania, du und deine Freunde, ihr könnt euch nützlich machen und die Hausvorräte in Kisten packen. Lasst euch nicht von Brimir erwischen.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder ab. „Wo gehst du hin?“, fragte Ania fordernd. Kai packte den Drehknauf der Tür und riss sie auf. Kühler Wind blies ihm ins Gesicht. „Ich suche Brimir.“

Natürlich tat er es nicht. Nie wieder würde er auch nur in die Nähe dieses Mannes kommen. Kai marschierte durch schlammige Straßen und an Häusern vorbei, die an einigen Stellen zerstört und verkohlt waren. Die Blitze hatten reife Arbeit geleistet. Der junge Dieb ging auf den Hauptplatz, wo die Händler ihre Waren bereits anpriesen und sich mehrere Leute drängten. Tiere brüllten und schnaubten, der Duft von Gewürzen, Fleisch und frisch gebackenem Brot hing in der Luft, bunt schillernde Gewänder wurden angeboten und glänzende Waffen lehnten an den Ständen. Funkelnde Edelsteine lagen in Kisten, Töpfe stapelten sich neben einem Geschäft und überall standen Menschen. Eine Gruppe von Künstlern vollführte gewagte Kunststücke auf Bällen oder auf Seilen, die sich zwischen Pfählen spannten, ein Dichter trug eines seiner Werke vor und eine Traube von jungen Mädchen hatte sich um einen Troubadour geschart. Irgendwo pries ein Händler den „kleinsten Mann der Welt“ an. Das Schnattern der Menge und das Schnauben und Brüllen der Tiere dröhnte laut an seinen empfindlichen Ohren, die weitaus besser hörten als die der gewöhnlichen Menschen. Kai schlenderte hinüber, drängte sich durch die Menschenmassen. Er trat zu dem Mann, der neben einem großen Apfelbaum stand. Auf einer kleinen Bühne stand tatsächlich ein kleines Männchen, das Kunststückchen vollführte. Allerdings erkannte Kai an den spitzen Ohren, dass es sich lediglich um einen sehr kleinen Elfen handeln musste. Er strich unauffällig zwischen den Leuten umher, scheinbar um besser sehen zu können. Als das Männchen sich verbeugte und die Menschen Geld auf die Bühne warfen – und damit den Elfen fast erschlugen – entfernte sich der Meister der Diebe unauffällig, mit fünf Geldbeuteln mehr am Gürtel. In der Mitte des Platzes stand ein großer, steinerner Brunnen. Kai setzte sich an dessen Rand und beobachtete das Geschehen rings um ihn, während er sich Gedanken über die neue Situation machte. Sobald sie umgezogen waren, würden sie in die Bibliothek einbrechen. Danach ging es Brimir an den Kragen – Kai spürte grimmige Vorfreude in sich aufsteigen, als er daran dachte. Knirschende Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken. Vor ihm marschierten zwei Soldaten mit langen Schritten auf ihn zu. Kai sprang auf und drehte sich um, um davonzulaufen, aber die Soldaten waren bereits zu nahe. Er wurde grob an der Schulter zurückgerissen und herumgedreht, ehe er in zwei schwarze Augen blickte, die gemein glitzerten. Der Geruch von Bier und Schweiß vermischte sich mit dem des Lederpanzers und Kai wurde beinahe übel. „Woher hast du denn die Geldbeutel, Bursche?“, knurrte der Soldat. Kai versuchte sich, aus seinem Griff herauszuwinden. Die Menschen wichen zurück und beobachteten interessiert das Schauspiel. Eine alte Frau krähte: „Sieh dir das an, Bodia, da werden sie gleich einen hängen!“ Getuschel wurde laut, einige Knappen johlten und klatschten. „Sind meine! Lass mich los!“, rief der Dieb grimmig. Die Menge wurde wieder ruhig und wartete gespannt darauf, wie sich die Lage entwickeln würde. Der zweite Soldat kam hinzu und drehte Kai die Arme auf den Rücken, sodass sie schmerzten. Stöhnend blickte er zu dem Mann vor ihm auf. „Wo sind deine Eltern, Kleiner?“, fragte der Soldat und kniff die Augen zusammen. Die Leute deuteten nun mit den Fingern auf Kais abgerissene Kleidung. Schluckend suchten die Augen des Jungen eine Lücke oder Schwachstelle in der Menge. Aber solange er nicht von dem Soldaten loskam, waren seine Chancen gleich Null. „Auf unserem Bauernhof, zu Hause!“ Kai wusste nicht, woher ihm dieser Geistesblitz gekommen war, aber er war dankbar dafür: „Ich habe ihre letzte Schafherde verkauft und muss ihnen das Geld bringen! Meine Mutter ist schwerkrank und mein Vater -!“ „Halt die Klappe!“, brüllte der Soldat. „Ich seh‘ doch, wenn ein dreckiger, kleiner Waisenlümmel vor mir steht! Du kommst jetzt mit auf die Wache -!“ „Kai!“ Der Ausruf ließ die verstummten Menschen auseinanderstieben. Der Soldat wandte das Gesicht ab und blickte mit hervorquellenden Augen auf den neuen Störfried. Kais Blut gefror ihm in den Adern, als er die Stimme erkannte, eine Stimme, die er oft gehört und zu fürchten gelernt hatte. Beinahe wurde ihm Übel von dem schrecklichen Geruch des Soldaten. Die Sonne blendete auf einmal ungeheuer und von dem kühlen Windhauch war nichts mehr zu spüren. Nachdem ihm eiskalt geworden war, wallte Hitze in ihm auf, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Ein großer, kräftiger Mann mit kahlem Kopf und dem schwarzen Tattoo eines Vogels ging gelassen auf das Spektakel zu. Der Griff des Soldaten lockerte sich ein wenig und der, der das Verhör führte, klammerte seine Hand um den Schlagstock: „Wer bist du jetzt?!“ „Ich bin sein Vater – Oh, Kai, was hast du nur getan? Wieso machst du deinen alten Herren so unglücklich?“ Rabenkopf – so wurde er von allen genannt – kam auf Kai zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Der Magen des Jungen krampfte sich zusammen. Rabenkopf war ein treuer Freund von Brimir. „Das ist Euer Sohn?“ Der Soldat erinnerte sich daran, dass er eine Amtsperson war. „Dann lasst Euch gesagt sein, dass er ein kleiner Dieb ist! Er hat versucht, zu stehlen!“ „Das stimmt nicht“, erklärte Rabenkopf ernst. „Ich habe ein Antiquitätengeschäft und ihn mit dem Geld losgeschickt. Er sollte sich diese zerrissene Kleidung anziehen, damit niemand auf ihn aufmerksam wird. Er hat viel Geld bei sich, wisst Ihr?“ „Er hat uns vorhin angelogen!“, meinte der Mann mit zusammengekniffenen Augen. „Oh, Junge … was hast du nur getan?“, fragte Rabenkopf mit täuschend echtem verzweifeltem Blick. „Lass ihn los“, wies der Soldat seinen Begleiter an. Der tat das. Kai rieb sich die schmerzenden Schultern und ehe er einige Schritte von Rabenkopf wegtreten konnte, legte dieser eine starke Hand um seine Schulter: „Komm, Sohn, gehen wir.“ „Augenblick!“ Der Soldat zog seinen Schlagstock und deutete damit auf Kai: „Ist das dein Vater?“ Was blieb ihm anderes übrig als zu bejahen? Die gaffende Menge hatte erneut zu Tuscheln begonnen. „Ja, Sir.“ „Dann geht“, schnauzte der Soldat. „Mit solchen lächerlichen Dingen verschwenden wir hier unsere Zeit!“ „Danke“ Rabenkopf machte eine übertriebene Verbeugung und sie drehten sich um. Der Mann nahm kein einziges Mal die Hand von Kais Schulter, als sie durch die Menschenmenge schritten. Die Leute musterten die beiden noch neugierig, dann setzten wieder die üblichen Gespräche, Feilschungen und der neueste Tratsch ein, während die Soldaten ihre Runden fortsetzten. Nur die alte Frau von vorhin blickte missmutig drein und verzog ihren faltigen Mund. Offensichtlich war ihr das Ganze zu unblutig abgelaufen. „Da hab ich dir nochmal den Arsch gerettet, hm?“ Rabenkopf lachte leise. Kai wand sich unruhig, aber der Griff des Riesen verstärkte sich dadurch nur noch mehr. Sie steuerten rasch von der Hauptstraße ab und kamen in eine kleine Nebenstraße, die kaum belebt war. Kai bekam von all dem nichts mit. Er roch lediglich den Urin, die Müllhaufen und das nasse Holz. „Wohin bringst du mich?“ „Wirst du schon noch sehen“, knurrte Rabenkopf, dessen falsche Freundlichkeit endgültig abgefallen war. Kai biss sich auf die Lippe. „Wage es ja nicht, zu fliehen. Du weißt, dass es nicht gut ausgeht. Für dich.“ Jahrelange, schmerzhafte Erfahrungen hatten dem Jungen immer wieder deutlich gemacht, wie richtig Rabenkopf mit diesen Drohungen lag. Angst wallte in ihm auf und er senkte kaum merklich den Kopf. Die abgerissenen Häuser, bei denen sie sich befanden, stapelten sich hoch in den Himmel, sodass die Gasse im Dämmerlicht lag. Nicht einmal mehr die Ratten huschten aus den dunklen Ecken davon und der Gestank war so bestialisch, dass Kai befürchtete, demnächst über eine Leiche zu stolpern. Plötzlich blieb Rabenkopf stehen und einen Moment später wurde Kai an der Brust von einer starken Hand an die Mauer gepresst. Die kalten Augen seines Gegenübers musterten ihn misstrauisch: „Ich weiß nicht, wo ihr kleinen Bastarde euch versteckt, aber Brimir hat’s herausgefunden. Er will, dass du am Abend zu ihm kommst.“ Der Junge rollte mit den Augen und erwiderte den Blick des Mannes trotzig. Rabenkopf gab ihm eine gepfefferte Ohrfeige, die Kai beinahe den Boden unter den Füßen wegzog. „Du sollst erscheinen, Kleiner.“ „Hab ich schon gehört“, fauchte Kai, aber seine Stimme zitterte leicht und seine Wange pochte unerträglich. Ein dreckiges Grinsen zierte Rabenkopfs Gesicht. „Du wirst doch nicht etwa Angst haben?“ Er hob die Hand und schlug dem Jungen kräftig ins Gesicht. Kai biss sich auf die Lippen vor Schmerz, aber kein Laut drang aus seinem Mund. „Die Tatsache, dass ich dich gefunden habe, ändert einiges an den Umständen, findest du nicht?“ Rabenkopf schlug Kai mit eisenharter Faust auf die Wange. „Ich hab dich was gefragt!“ „Vermutlich“, keuchte der Dieb. „Vermutlich?!“ Mit wutverzerrtem Gesicht prügelte der Mann auf Kai ein. Als er aufhörte, hing Kais Kopf kraftlos herunter. Haarsträhnen verdeckten seine Augen. Sein Atem ging keuchend, flammender Schmerz fuhr ihm über die Wangenknochen. Seine Lippe blutete vom ständigen Hineinbeißen, aus einer Wunde über der Augenbraue floss eine heiße Flüssigkeit über seine Augen und machte das Sehen schwer. „Lass mich gehen …“ „Das denkst du wohl selber nicht, du kleine Ratte!“, grinste Rabenkopf über ihm. Er packte grob sein Kinn und zwang Kais Kopf nach oben. „Jämmerlich.“ Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit brodelten in ihm. Er unterdrückte Schmerzenstränen und starrte den Mann über sich an, der sein Leben schwer machte, es sogar noch tat, wenn er nicht mehr in seinem Einflussbereich stand. Obwohl es jetzt schlecht aussah, was das anging. „Verschwinde, Rabenkopf!“ Er war sich nicht sicher, ob den Mann schon einmal jemand so genannt hatte.Klatsch. Die Ohrfeige landete sauber auf seiner Wange. Kais Kopf flog herum. Keuchend zwang er sich, in die dunklen Augen zu sehen. „Ich werde dich zu Brimir bringen, Kleiner“, sagte Rabenkopf hämisch und das Tattoo an seiner Stirn schien zu leuchten. „Der wird sich freuen.“ Der Mann packte ihn grob am Oberarm und zerrte ihn weiter. Kai stolperte, fiel auf die Knie und landete mit einem flappenden Geräusch im Matsch. Rabenkopf gab ihm einen Tritt, der ihn von den Knien riss und quer über den Boden legte. „Steh auf, Missgeburt!“, knurrte der Mann und fuhr fort, den Körper des Diebes mit Tritten zu traktieren. „Nimm das Geld“, stöhnte Kai. Die Tritte hörten auf. Mit einiger Anstrengung gelang es Kai, sich auf den Rücken zu drehen und sich aufzusetzen. Rabenkopf kniete sich nieder, sodass er mit ihm auf Augenhöhe war. Kai erwiderte seinen Blick, obwohl sein Herz ihm beinahe aus der Brust sprang und er nichts mehr wollte, als zurückzuweichen. Er sagte ruhig: „Brimir wird es mir abnehmen. Ich werde ihn heute Abend sowieso sehen. Er wird dir nichts geben. Du kannst es jetzt nehmen und damit verschwinden. Niemand wird davon erfahren.“ „Wieso sollte ich es nicht an mich nehmen und dich dann Brimir ausliefern?“, fragte Rabenkopf gehässig. Kais Augen blitzten kurz triumphierend auf. „Weil ich es ihm dann erzählen werde. Und du weißt, wie er auf diese Dinge reagiert.“ Rabenkopfs Blick verfinsterte sich. Kurz huschte Angst über seine Züge, aber er hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. Dann streckte er abwartend die Hand aus: „Los, beeil dich gefälligst, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, kleiner Mann!“ Kai löste die Geldbeutel von seinem Gürtel. Einer nach dem anderen landete in den Pranken des vor ihm Knieenden. Schließlich erhob sich Rabenkopf und gab Kai einen gezielten Tritt auf den Brustkorb. „Wenn du nicht kommst, dann holen wir dich!“ Der Junge kam hart auf der Erde auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, aber er gab keinen Laut von sich, sondern lauschte, wie sich Rabenkopfs stampfende Schritte entfernten. Der Geschundene lag mit schmerzenden Knochen im Schlamm und lächelte. Er war Brimir ein weiteres Mal – anders als sonst – entkommen.

3 Nächtliches Vorhaben

„Du bist Brimir begegnet!“, rief Ania aus, als sie Kai erblickte. „Nein“, knurrte er. „Wem sonst? Rabenkopf?“ „Er ist mir begegnet“ Grimmig bahnte er sich einen Weg durch die Jungen und Männer, die dabei waren, Kisten von einem Quartier ins Nächste zu schleppen. „Habt ihr was gefunden?“ „Ja. Ein paar Straßen weiter, unbewohnt“, sagte einer der Jungen stolz. „Wir sind schon fast mit allem fertig.“ Kai schritt zur Stiege und stieg die knarrenden Treppen hinauf. „Gut. Macht schnell weiter, beeilt euch. Ich komme gleich nach.“ „Sollen wir deine Wunden heilen?“, bot Exoton an, der lange Blicke mit seinen Männern getauscht hatte. Aber Kai schüttelte den Kopf und ging mit raschen Schritten in sein kleines Zimmer. Er rollte seine Schlafmatte zusammen, kramte einen Beutel hervor und füllte ihn mit seinen Messern, kleineren Schätzen, die er noch nicht verkauft hatte und anderen Diebeswerkzeugen. Er marschierte zur Waschschüssel und tauchte seinen ganzen Kopf ein. Angenehme Eiseskälte legte sich über die Wunden in seinem Gesicht. Als er auftauchte, fühlte er sich frisch und wach, beinahe richtig ausgeruht. Sogar sein Hass auf Rabenkopf war fast vollständig verraucht. Dann ging er zu einer kleinen Kommode in der Ecke und zog die erste Schublade auf. Darin befand sich ein Lederarmband, in dem kleine Wellenmuster eingeflochten waren. Vorsichtig nahm er es aus dem morschen Stück Holz und drückte es an seine Brust. Er schloss die Augen und meinte kurz, den Geruch von Salzwasser wahrzunehmen, das Rauschen des Meeres zu hören. Möwenkreischen, das Gelächter von Kindern hallte über das Wasser. Ein sandiges Ufer formte sich vor seinen Augen. Lächelnd ließ er es in seinen Beutel gleiten. Dann schulterte er ihn und kehrte zurück zu den anderen, um das neue Diebesquartier mit ihnen zu beziehen.

Das Haus hatte einen Keller, in dem sich mehrere Kohlen befanden. Sie hatten einiges zu tun, die Kisten hinab zu schleppen, aber nach schweißtreibender, anstrengender Arbeit war es erledigt. Keuchend lief Kai die Stiegen hinauf in den normalen „Wohnraum“, wo die Diebe sich schon ihre Schlafstätten eingerichtet hatten. Im obersten Stock wohnte natürlich er. Kai warf seinen Beutel in die Ecke und setzte sich auf das Einzige, was im Raum stand: Ein hölzernes Bett mit strohgefüllter, löchriger Matratze. Einige Augenblicke genoss er das Gefühl des weichen Materials. Wie lange hatte er nicht mehr in einem Bett geschlafen? Er erhob sich und blickte aus dem Fenster. Direkt unter ihm befand sich das Dach eines Hauses, das gegenüber lag. Neugierig sprang er auf das Fensterbrett, glitt hinab und landete leichtfüßig auf den noch warmen Ziegeln. Vorsichtig tappte er alle vier Seiten des Hauses ab und entdeckte auf der linken Seite mehrere gestapelte Kisten, die in eine dunkle Gasse führten.Guter Fluchtweg, den muss ich mir merken, dachte er sich, während er umdrehte und wieder in sein Haus kletterte. Er verriegelte die Fenster, deren Scheiben mit grauem Staub überzogen waren und das Licht nur blass hereinließen. Unten wurde Stimmgemurmel laut. Kai stieg die Treppe hinab, hob den Kopf und blickte auf seine „Untertanen“. Exoton und seine Männer erklärten den Dieben gerade, welche Waffen, sie benötigen würden und Darro zählte die Sicherheitsvorkehrungen auf, denen sie trotzen mussten. Mit verschränkten Armen stellte sich der Junge daneben und beobachtete das Geschehen. „Was ist vorhin passiert, Kai?“, fragte Ania neben ihm. Sie gab es wohl nie auf. Kai drehte den Kopf weg. „Wir hatten eine Auseinandersetzung.“ „Er hat dich verprügelt“, sagte sie sarkastisch. „Wieso verstehst du es nie – sei vorsichtig!“ „Bin ich.“ Ania nahm all ihre Willenskraft zusammen, um nicht die Augen zu verdrehen. Sie war die kargen Antworten des Diebes gewohnt, aber in diesen Situationen reizten sie sie mehr, als das Mädchen es manchmal ertragen konnte. „Du wirst dich heute aber nicht mit Birmir treffen, oder?“ „Seh‘ ich so aus, als wäre ich lebensmüde?“, fauchte Kai und zog die Brauen zusammen. Ein Blick aus den tiefgrünen Augen war rasiermesserscharf und zerfetzte meist selbst die härtesten Gegner. ‚Bei dir kann man es ja nie wissen!‘ Ania biss sich auf die Lippe, um den sarkastischen Kommentar zurückzuhalten, der ihr auf der Zunge lag.

Die Nacht kam und ging. Kai lag Stunden wach, wälzte sich umher und lauschte seinem trommelnden Herzen. Was würde Brimir tun? Würde er alles absuchen? Würde Rabenkopf verraten, dass er Kai schon fast geschnappt hätte? Oder wäre er zu feige? Vermutlich. Er war vor den anderen wach, rüttelte ein paar kleine, schmale Kinder auf und befahl ihnen leise, Waffen zu holen. Ein paar andere, die auch wach wurden, sollten derweil bei der Bibliothek herumspionieren. Unruhig schlich er im Haus herum, bis alle wach waren. Es wurde gegessen und getrunken, gegen Mittag kehrten die Diebe mit Waffen und den Neuigkeiten heim, Brimir hätte fünf Betrunkene aus Zorn ermordet. Die Soldaten seien hinter ihm her. Mehrere Male besprachen sie ihren Plan, wie sie in die Bibliothek eindringen und dann weiter vorgehen sollten. Der Meister der Diebe verbrachte seinen Nachmittag damit, auf seinem Zimmer zu sitzen und die Messer zu schärfen, die er hatte. Schließlich brach die Dämmerung herein. Die Diebe speisten mit bleichen Gesichtern, dann trugen sie sich gegenseitig Lehmmasken auf, schnappten sich Speere, Schwerter und Dolche. Kai schnallte sich einen edlen Waffengürtel mit einem Langschwert um – er hatte von Brimir gelernt, wie das Kämpfen mit der eleganten Waffe funktionierte – und steckte verschiedene Dolche hinein. Das schwarze Leder schimmerte im Licht der Laterne, die er entzündete und vor sich in die Dunkelheit hielt. „Wir müssen leise sein“ Er blickte zu Exoton und seinen Männern, die allesamt keine Waffen außer einem Dolch trugen. Kurz hob er eine Augenbraue, beließ es aber dabei. Wenn sie ihr Leben in Gefahr bringen wollten, sollten sie. Kai hatte nichts damit zu tun, wenn sie starben. „Bereit?“ Sie nickten, ihre Augen funkelten entschlossen. Der Meister der Diebe warf Ania einen Blick zu, die ihre Haare zusammengebunden hatte. Ein kleiner Dolch steckte in ihrem Gürtel und sie trug eine Hose, ganz untypisch für sie. „Ich hab die Schlüssel zur Hintertür der Bibliothek, übrigens“, sagte einer der Männer wie nebenbei. Sein überhebliches Grinsen verriet ihn jedoch. Kai nickte. Das würde ihre Arbeit erleichtern und das Knacken des Schlosses nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen. Ohne auf das selbstgefällige Grinsen zu achten, stieß er die Türe auf. „Dann los.“ Ein kalter Windzug peitschte ihm entgegen. Gähnende Dunkelheit hatte sämtliche Straßen und Gassen verschlungen. Vereinzelt brannten glühend gelbe Lichter in heruntergekommenen Häusern. Die Nachtluft roch frisch und feucht. Grillen zirpten und irgendwo bellten zwei Hunde. Ohne zu Zögern trat Kai aus dem Haus. Er marschierte die Straße entlang, hinter ihm seine kleine Kämpfergruppe. Die Laterne leuchtete ihnen den Weg, bis sie zu einem kleineren Stadttor kamen, das in die innere Stadt führte. Da stellte Kai das kalte Eisengestell, in dem ein orangefarbenes Licht brannte und flackerte, auf eine Kiste. Er nickte zwei dünnen Jungen zu, die die besten Läufer waren. Einer nahm die Laterne, der andere lehnte sich lässig gegen die Kisten. Zwei Soldaten waren bei diesem Tor zur Innenstadt postiert. Gelangweilt stützten sie sich auf ihre Lanzen und betrachteten die dunklen Gassen. Kai und die anderen versteckten sich hinter einem Haufen Kisten, wo sie regungslos warteten. „Sieh dir die Soldaten an!“, lachte einer der Jungen. „Die stehen nur faul herum!“ „Glaubst du können die Rennen? – Vielleicht, wenn wir ihnen sagen, dass wir fünf Geldbeutel geklaut haben?“ Ausgelassen ließ er die Münzen in seinen Taschen scheppern. Wütend schrien die Männer hinüber: „Verschwindet, ihr ungezogenen Bastarde!“ Die Jungen lachten. Einer bemerkte: „Vielleicht sollten wir sie damit abschießen?“ „Gute Idee.“ Sie kramten in ihren Taschen. Kai beobachtete, wie der erste Beutel flog und dem ersten Soldaten krachend im Gesicht landete. Er lief purpurrot an und brüllte wüste Schimpfwörter und Drohungen. Der zweite Sack fiel gegen den anderen und ließ ihn als fäusteschüttelndes Männchen zurück. Der dritte Beutel traf die steinerne Wand des Tores. Das Leder platzte auf und ein klimpernder Geldregen ergoss sich über die metallenen Helme. „Na wartet!“ Die beiden Soldaten preschten darauf los, ließen ihren Posten unbemannt zurück. Mit großen, scheppernden Schritten rannten sie den beiden Jungen hinterher, die lachend und spöttisch witzelnd davonliefen, immer so weit, dass die Soldaten noch Hoffnung hatten, sie zu erwischen. Die beiden Schergen des Königs bemerkten dabei nicht einmal die vielen anderen Kinder und Erwachsenen, die hinter den Kisten kauerten. Als das Lachen, die Drohungen und die Laufschritte verklungen waren, richtete sich Kai auf und glitt geräuschlos wieder auf die Straße. Er trat unter dem Tor durch und fand sich auf einmal in einer anderen Welt. Große, geordnete Häuser mit sauberen, dunkelroten Ziegeldächern reihten sich aneinander. Die Gassen waren übersichtlich gestaltet, kein Müll lag herum, keine Kisten stapelten sich. Nur hie und da gab es gelegentlich ein paar Fässer, in denen Abfall war. Sie hielten sich eng im Schatten der Häuser, denn der Mond war auf einmal hervorgekommen und ruhte am dunkelblauen Himmel zwischen zwei Wolken, die er milchig-weiß beschien. Die steinernen Straßen waren vom silbernen Licht beschienen, die Häuser warfen lange Schatten. Kai kannte den Weg sehr gut. Sie wanderten einige Zeit leise durch die Innenstadt, unbemerkt und still entschlossen. Den Wachen wichen sie aus – sobald sie das Geräusch der Eisenstiefel auf dem Boden hörten, huschten sie in den Schatten einer Gasse und pressten sich eng an die harten Ziegelmauern. Kälte kroch ihnen den Rücken hinauf, aber sie wagten nicht, sich zu bewegen, bis die Soldaten leise redend davongegangen waren. Vor ihnen erstreckte sich auf einmal ein weitläufiger Platz. In der Mitte thronte ein gewaltiger Brunnen mit steinernen Nixen, die Wasserfontänen in das pokalförmige Becken spuckten. Daneben lagen die berühmtesten Gebäude Jamkas: Das vergoldete Rathaus, die tempelartige Universität, die riesige Magierschule und die prächtige Bibliothek. Im Angesicht der Bibliothek – der ganze Stolz der Hauptstadt – schrumpften die anderen Gebäude. Mehrere Türme, die spitz in die Nacht hinaufragten, schlossen ein Dach mit vergoldeten Ziegeln ein. Viele kleine Bilder waren in den Stein geschlagen worden, von kleinen Drachen, Greifen und Zentauren bis zu den Königen der alten Zeit. Für Zoltan war allerdings die gesamte vordere Seite „reserviert“ worden. Die einstigen Bilder der Elfen und Zwerge waren verschwunden, stattdessen zeigte die Wand Zoltans Geschichte: Als Königssohn geboren, immer voller Wissensdrang in den Hallen der Bibliothek, schließlich in der großen Universität und letztendlich in der Magierschule. Sein feierlicher Einzug ins Rathaus und die Krönung, das größte Bild. Kai schluckte, während er es betrachtete. Die Augen bestanden aus pechschwarzen Opalen, die ihn selbst von seinem Standpunkt aus böse anfunkelten. Natürlich war nicht alles von Zoltans „großartigem“ Werdegang zu sehen. Immer wieder kamen Gerüchte in der Stadt auf, er hätte sich die Dämonen zu Untertan gemacht und seinen Vater und seine Mutter im Schlaf ermordet. Doch es waren nur Gerüchte und sie kamen und gingen wie die Menschen; sie lebten auf und starben, wurden in Strudeln mitgerissen und versanken manchmal endgültig in den tiefsten Gassen. Kai lenkte seinen Blick zurück zu seinen Leuten. „Hier entlang.“ Er führte sie nicht direkt über den Platz – das wäre zu gefährlich – sondern auf eine schmale Straße, die von hohen Häusern gesäumt war. Sie wanderten eine Weile, dann drang ein scharfer Geruch durch die Dunkelheit. Kai stockte. Seine Hand fuhr zu seinem Schwert, als er vor sich eine kauernde Gestalt bemerkte, die bereit war zum Sprung. Hinterlistige, flammenrote Augen stierten ihn an. Das Wesen hatte einen pelzigen Körper und ein wolfsähnliches Gesicht – allerdings ragten zwei spitze Hörner aus seinem Schädel. Es kicherte: „Eindringlinge – oooh, wie sehr wird der König erfreut sein! Wie sehr werden sich die Wachen freuen!“ Der Dieb zog sein Schwert mit einem scharfen Geräusch aus dem Gürtel und sah aus den Augenwinkeln, wie die anderen bewaffnet neben ihn traten. Er zischte: „Lass uns durch!“ Kai hatte keine Ahnung, welches dämonisches Wesen er vor sich hatte. Aber jetzt glaubte er dem alten Bettler, der immer über die Dämonen predigte, die am Abend aus den tiefsten Kellern kamen um Menschen zu fressen und Zoltans Gegner aufzuspüren. Auf einmal überkam ihn die nackte Panik. Wusste jemand von ihrem Vorhaben? Hatte er einen Verräter in seinen Reihen? Die Bestie schnupperte in die Luft und setzte einen klauenbesetzten Fuß in seine Richtung: „Mhmm … ich rieche Angst … fürchterliche Angst …“ Eine dunkelviolette Zunge fuhr sich über die scharfen Zähne. „Hmm … lecker …“ Die Flammenaugen taxierten Kai. „Du hast Angst … viel, viel Angst … schmeckst du auch so gut wie deine Angst?“ Kais Herz hämmerte bis zur Brust. Die Muskeln des Wesens spannten sich an, ein diebisches Grinsen fuhr über das Wolfsmaul. Das Ungeheuer sprang. Die Schwertklinge des Diebes funkelte im Mondlicht, als er sie schwang, doch er erreichte das Wesen nie. Das Dämonenwesen gab ein ersticktes Geräusch von sich und fiel zu Boden. Ein Dolch steckte in seiner Brust. Hasserfüllte, weit aufgerissene Augen starrten seelenlos in den Himmel. Es rührte sich nicht mehr. Schwarzes Blut sprudelte aus der Brust und breitete sich langsam am Boden aus. Ania trat neben Kai: „Bei diesen Dingern muss man immer sofort reagieren.“