Die Wahrheit über das Lügen - Benedict Wells - E-Book

Die Wahrheit über das Lügen E-Book

Benedict Wells

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Beschreibung

Es geht um alles oder nichts in diesen Geschichten. Sie handeln vom Unglück, frei zu sein. Von einem Ort, an dem keiner freiwillig ist und der dennoch zur Heimat wird. Von einem erfolglosen Drehbuchautor der Gegenwart, der in das Hollywood des Jahres 1973 katapultiert wird, um die berühmteste Filmidee des 20. Jahrhunderts zu stehlen. Und nicht zuletzt eine Erzählung aus dem Universum des Romans ›Vom Ende der Einsamkeit‹, die Licht auf ein dunkles Familiengeheimnis wirft.

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Benedict Wells

Die Wahrheit über das Lügen

Zehn Geschichten aus zehn Jahren

Diogenes

Für Susan

»Der Mensch ist ein Genie, wenn er träumt.«

Akira Kurosawa

Die Wanderung

(2018)

Es war einer dieser späten Sommertage – der Himmel blau und in zarten, milchigen Dunst gehüllt –, die einen übermütig werden lassen und das Gefühl von Zeitlosigkeit geben, als wäre der nahende Herbst noch weit entfernt.

Henry M. befand sich im Garten des Ferienhäuschens, das er gekauft hatte, um dem Stress der Stadt zu entfliehen. Was natürlich mehr eine Wunschvorstellung war, denn auch jetzt saß er aufrecht auf der Liege und telefonierte mit einem Mitarbeiter. Seine Stimme dröhnte über das Grundstück, das kurzärmlige Hemd war aufgeknöpft, in der Hand hielt er einen Drink.

Als er auf‌legte, nahm er einen Schluck und blickte zufrieden auf den Berg, an dessen Fuß das Ferienhaus lag. Der Zurbriggen-Deal stand kurz vor dem Abschluss, dann hätte seine Firma eine der bemerkenswertesten Fusionen der letzten Jahre eingefädelt.

Henry lehnte sich zurück. Er las in einer Kurzgeschichte von John Cheever weiter, doch er war bald abgelenkt von dem fröhlichen Lärm hinter dem Haus. Schließlich legte er das Buch weg und ging nachsehen: Mia, seine Tochter, sprang artistisch in den Pool, seine Frau musste ihr dafür Noten geben.

»Jetzt kommt ein Salto mit Schraube.« Seine Tochter nahm Anlauf, sprang kraftvoll ab, schaffte nicht mal einen halben Salto und klatschte nach einer Drehung mit dem Rücken ins Wasser. Aufgeregt drehte sie sich zu ihrer Mutter um. »Und?«

»Eine Neun!«, sagte seine Frau.

Mia zog eine Schnute. »Mama, du bist viel zu nett. Das war höchstens eine Fünf. Du musst strenger sein.«

Henry lächelte. Er nahm einen Schluck und betrachtete seine Frau, die, eingetaucht in mildes Vormittagslicht, am Beckenrand stand. Sie arbeitete als Erzieherin und war zuletzt oft gestresst gewesen. Die Höhensonne tat ihr gut, sie wirkte erholt, fast blühend. Sie war ein Jahr älter als er, und er dachte amüsiert daran, wie schüchtern sie bei den ersten Treffen gewesen war.

Er legte den Arm um ihre Hüfte, zusammen sahen sie den nächsten Sprung ihrer Tochter an. Auch er musste nun eine Note verkünden; er gab seiner Tochter eine Sieben, seine Frau wieder eine Neun.

»Wir wollen gleich grillen.« Sie hielt seine Hand. »Bist du dabei?«

Henry gefiel die Vorstellung, den Tag mit seiner Familie zu verbringen, doch im selben Moment blickte er wieder hoch zum Berg. Trotz seiner Wanderleidenschaft war er noch nicht dort oben gewesen, dabei konnte der Aufstieg kaum länger dauern als … was, zwei, drei Stunden? Ein Sonnenstrahl ließ sein Glas auf‌leuchten, der bevorstehende Deal machte ihn tatendurstig. Keine schlechte Vorstellung, zur Belohnung dort oben in einer Wirtschaft ein kühles Bier zu trinken.

»Ich dachte, ich mache noch eine kleine Wanderung.«

»Ist gut.« Seine Frau nickte, als habe sie nichts anderes erwartet.

Diese Ruhelosigkeit, dieser Drang nach einer Freiheit, die er oft nur in der Arbeit oder im Alleinsein fand, war immer seine Schwäche gewesen. Er hatte geglaubt, die Ehe würde ihn sesshafter machen, und später, dass die Kinder ihn verändern würden. Doch auch jetzt gefiel er sich als Flaneur, der leichtfüßig zwischen Familie, Arbeit und Freundschaften hin und her streif‌te, manchmal verweilte, aber nie ganz zu halten war. Sein Glück war seine Frau, die – selbst die Unabhängigkeit schätzend – ihn immer verstanden und oft am Ende des Tages auf ihn gewartet hatte, wenn er aus dem Büro oder von einer Reise zurückkehrte.

Sie gab ihm einen Kuss. »Aber nimm eine Jacke mit, es soll nachher vielleicht regnen. Und vergiss nicht, spätestens um acht wollten wir feiern.«

»Da bin ich längst zurück.« Er strich mit dem Daumen über die immer noch makellose Haut ihrer Hand. Dann löste er sich von ihr und ging ins Haus.

 

Sein Sohn war wie meistens oben im Zimmer. David war kränklich und litt seit zwei Jahren an ungeklärten Migräneanfällen, die ihn tagelang außer Gefecht setzten und aus ihm einen Einzelgänger gemacht hatten. Henry wusste, dass der Junge ihn brauchte, und er hatte das Ferienhaus auch deshalb gekauft, damit sie hier mehr Zeit zusammen verbringen konnten.

Das Zimmer des Sohnes war abgedunkelt, fast eine Höhle. David lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Wenn er Kopfschmerzen hatte, konnte er nicht mal lesen oder fernsehen; ausgerechnet heute war sein achter Geburtstag.

Henry setzte sich auf die Bettkante und versuchte, ein Gespräch anzufangen, aber sein Sohn antwortete nur einsilbig, und er selbst kam sich unbeholfen vor.

»Ich hoffe, du freust dich auf die Feier am Abend?«, fragte er schließlich. »Könnte nämlich sein, dass es eine Überraschung gibt.«

»Was für eine Überraschung?« David richtete sich auf. »Ein Fahrrad?«

»Abwarten.« Henry lächelte. »Es dürf‌te dir jedenfalls gefallen.«

Das Geschenk war teuer gewesen, aber David hatte einen schweren Sommer, und Henry hatte das Gefühl gehabt, sein Sohn verdiene etwas Großes.

Der Gedanke an das Geschenk schien den Jungen tatsächlich aufzumuntern. Seine Augen leuchteten auf, er wollte gerade etwas erzählen, als das Handy läutete. Henry zögerte, dann streichelte er seinem Sohn durchs Haar und ging zum Telefonieren auf den Flur; auf der Geburtstagsfeier am Abend würde er es wiedergutmachen.

 

Er diskutierte mit dem Mitarbeiter noch mal letzte Details des Zurbriggen-Deals. Ein kurzes, konzentriertes Gespräch, danach fühlte er sich übermütig und jung wie lange nicht. Es war erst Mittag, draußen dreißig Grad. Er machte sich noch einen Drink und zog feste Wanderschuhe an.

Im Garten betrachtete er das winzige Apfelbäumchen, das er nach dem Hauskauf gepflanzt hatte, als er hinter sich Schritte hörte. Mia hatte sich umgezogen und wollte mitkommen, doch ohne groß nachzudenken, sagte er: »Ein anderes Mal. Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen.«

Seine Tochter sah ihn enttäuscht an. »Darf ich dann wenigstens noch bis zum Ende der Straße mitkommen?«

Er lachte. »Natürlich!«

Sie gingen die fünfhundert Meter gemeinsam. Das Nachbargrundstück war von Liguster eingefasst, der sommerliche Duft frischer Rosen hing satt und schwer in der Luft. Mia redete munter drauf‌los, erzählte ihm von ihren Freundinnen, löcherte ihn mit Fragen und wollte wissen, was er David zum Geburtstag schenke, aber auch hier sagte er nur: »Eine Überraschung.«

Plötzlich Gebell. Henry zuckte zusammen und sah sich um. Hunde machten ihm seit seiner Kindheit Angst, aber nirgends war einer zu sehen. Mia schien seine Aufregung nicht zu bemerken, sie sprach noch immer von der Geburtstagsfeier und dass sie ihrem Bruder ein Bild gemalt habe.

Als sie das Ende der Straße erreichten, war er fast betrübt, dass sie sich hier schon trennten. Aber er musste noch etwas tun, und die Fröhlichkeit seiner Tochter konnte auf einer längeren Wanderung vielleicht auch anstrengend werden.

Mia hatte ihm ohnehin längst verziehen. Sie rannte den Weg bis zum Haus zurück, nach hundert Metern drehte sie sich noch mal um und winkte ihm.

 

Er war überrascht, wie leicht ihm der Aufstieg fiel. Vor Jahren hatte er sich beim Skifahren den Meniskus gerissen, seitdem trat in seinem Knie hin und wieder ein Stechen auf; meist beim Bergab-Gehen, aber nicht nur. Doch bislang hatte er keine Beschwerden. Viele Wanderer waren mit ihm unterwegs, Henry grüßte freundlich, genoss aber vor allem die Momente, in denen er für sich war. Seine Schritte federten auf dem knisternden Waldboden, und wie früher als Junge versuchte er, das emsige Klacken, Hämmern und Krächzen in den Bäumen den einzelnen Vogelarten zuzuordnen. Er war noch ein wenig beschwipst von den Drinks, aber in der Hitze schwitzte er den Alkohol schnell heraus.

Als nach einer Stunde der Wald aufhörte, folgte ein langer Serpentinenanstieg. Der Weg war steiler als gedacht, aber er trieb viel Sport und war stolz, dass er kaum ins Schnaufen geriet. Unterwegs führte er mehrere Anrufe. Mit dem Deal lief alles glatt, allerdings war sein Akku fast leer. Die Sonne brannte ihm auf den Nacken; gut, dass er die Jacke doch nicht mitgenommen hatte.

Beschwingt kam er gerade an einer Wiese vorbei, als ihm auf einmal ein starker Verwesungsgeruch in die Nase stieg.

Henry sah sich um, konnte die Quelle des Gestanks aber einfach nicht ausmachen, und nach einigen Sekunden war die Luft wieder so rein wie zuvor.

 

Am frühen Nachmittag rastete er in der großen Almwirtschaft unter dem Gipfel; er hatte Glück und bekam den letzten freien Platz auf der Terrasse. Am Nebentisch saß eine teils südländisch wirkende Hochzeitsgesellschaft, immer wieder brach jemand in Gelächter aus. Er fragte sich, wer hier oben heiratete, und trank ein Bier, als der ersehnte Anruf aus dem Büro kam. Der Kollege plärrte ihm die gute Nachricht beinahe ins Ohr: Der Vertrag für die Fusion war unterzeichnet worden.

Henry ballte die Faust. Über ein Jahr hatten sie daran gearbeitet, es war der Höhepunkt seines beruf‌lichen Schaffens. Er überlegte, seine Frau anzurufen, entschied sich aber dafür, es ihr erst am Abend zu sagen. Die meisten seiner Triumphe hatte er zunächst allein ausgekostet.

Die Sonne brach durch die dichter werdenden Wolken und funkelte hinter der Bergkuppe. Henry blinzelte hinauf und dachte an das Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn. An die Sprünge seiner Tochter am Pool. An die liebevolle Art seiner Frau und den Zurbriggen-Deal, der sein Ansehen und Vermögen beträchtlich mehren würde. Ein großes Glücksgefühl überkam ihn. Dies waren die goldenen Jahre, als Vater, als Mann und im Beruf, und er genoss seine Freiheit als Wanderer zwischen diesen Welten, die er für seine größte Leistung hielt.

Er winkte der jungen, hübschen Kellnerin. Sie lächelte ihm zu, Henry lächelte für einen kurzen Moment schwärmerisch zurück. Früher hatte er einige Affären gehabt, meistens, um die Monotonie seiner beruf‌lichen Reisen etwas aufzulockern, aber in den letzten Jahren hatte er sich nur noch wenige solcher Eskapaden geleistet.

Beim Zahlen sah er auf sein Handy: Wenn er jetzt zurückging, würde er es rechtzeitig zur Geburtstagsfeier seines Sohns schaffen. Aber dann wäre er nicht auf dem Gipfel gewesen, und er hasste es, einmal gefasste Entschlüsse zu verwerfen. Er würde sich einfach beeilen, dann schaffte er mit etwas Glück beides.

Henry ging zügig, aber die letzte Etappe war länger als gedacht. Unterwegs traf er niemanden, und als er die Bergspitze erklomm, war er allein. Die Wolken hatten sich inzwischen vor die Sonne geschoben, und der Ausblick war nur unwesentlich besser als von der Wirtschaft. Etwas ernüchtert kehrte er um.

 

Beim Abstieg spürte er das befürchtete Stechen im Knie, doch er durf‌te jetzt nicht langsamer werden; mit einer deutlichen Verspätung erreichte er die Almwirtschaft. Die Terrasse hatte sich vollständig geleert, auch die Kellnerin war nicht mehr zu sehen. War er in seinem kindlichen Glauben, die Zeit würde in schönen Momenten stehenbleiben, so lange weg gewesen? Oder waren bloß alle vor dem nahenden Unwetter geflüchtet? Er wollte gerade selbst den Weg ins Tal einschlagen, als jemand nach ihm rief.

Vor dem Eingang stand etwas verloren ein früherer Kommilitone, dessen Nachname ihm entfallen war. Henry ging widerwillig zu ihm, sie tauschten ein paar höf‌liche Belanglosigkeiten aus. Der Bekannte, dick geworden und in einem verschwitzten Polo-Shirt, beglückwünschte ihn zu seinen beruf‌lichen Erfolgen. Dann machte er ein betroffenes Gesicht. »Tut mir sehr leid, das mit deinem Sohn.«

Henry fühlte sich ertappt. Woher wusste der andere von Davids Migräneanfällen? Vorsichtig erkundigte er sich, wie der Kommilitone darauf käme.

»Hat mir vor einigen Wochen eine alte Freundin erzählt, Stella, sie arbeitet ja bei dir in der Firma. Wirklich tragisch … so früh.«

Henry verschlug es kurz die Sprache. In seiner Firma arbeitete keine Stella, die Bemerkung machte auch sonst keinen Sinn. Irritiert verabschiedete er sich, dann ging er in Richtung Tal. Kaum war er allein, lachte er. Er musste seiner Frau von dieser seltsamen Begegnung erzählen. Mehrmals rief er zu Hause an, aber es war immer besetzt. Enttäuscht steckte er das Handy weg.

 

Ein kühler Luftzug wehte über den Hang, Henry rieb sich die Arme. Jetzt, wo die Sonne verschwunden war, wurde es auf dieser Höhe ein wenig kalt, wie er zugeben musste; die Jacke hätte er vielleicht doch lieber mitnehmen sollen. Das Stechen in seinem Knie ließ nicht nach, und er spürte, wie der Schmerz und das Gespräch mit dem Kommilitonen allmählich seine Stimmung verdarben.

Ein Blick auf die Uhrzeit bestätigte seine Befürchtung: Er würde es nicht pünktlich bis zur Feier um acht schaffen. Henry beschloss, den Serpentinenweg zu verlassen und eine Abkürzung über die Wiese zu nehmen. Er hatte jetzt schon lange keinen anderen Wanderer mehr gesehen, was ihn wunderte, und auf dieser neuen Route schien er definitiv der Einzige zu sein. Dann entdeckte er ihn.

Direkt vor ihm, mitten auf der Wiese, stand ein großer Schäferhund, sein dunkles Fell wirkte schmutzig und verfilzt.

Henry ging einige Schritte zur Seite. Der Hund verharrte an seiner Stelle, beobachtete ihn jedoch aufmerksam. Henry ärgerte sich über seine Angst, lächerlich war das … Aber als Kind war er mal von einem Nachbarshund gebissen worden, und selbst die Welpen seiner Freunde bellten sofort, wenn sie ihn sahen. Er schien etwas an sich zu haben, was diese Tiere aufs äußerste reizte.

Inzwischen ging er fast nur noch seitlich statt geradeaus. Er wähnte sich bereits in Sicherheit, da hörte er ein aggressives Bellen. Henry drehte sich um und sah aus den Augenwinkeln, wie der Schäferhund losrannte. Panisch lief er davon, doch auf der weiten Wiese gab es keinen Baum, auf den er sich retten konnte. Er stolperte über eine Wurzel und schlug hart im Gras auf.

Henry spürte einen bohrenden Schmerz im Knöchel. Er glaubte den Schäferhund in seinem Nacken, sah bereits die hochgezogenen Lefzen vor sich. Hektisch drehte er sich um. Doch der Hund schien in eine andere Richtung davongelaufen zu sein, es war nichts mehr von ihm zu sehen. Alles, was er dort noch entdeckte, war ein großer, dunkler Holzpflock mitten auf der Wiese.

 

Henry musste bei seiner Flucht die Orientierung verloren haben. Anders konnte er es sich nicht erklären, dass der Wald noch immer so weit entfernt war, als die ersten Tropfen vom Himmel fielen und die drückende Hitze sich in einem heftigen Regenschauer entlud. Im ersten Moment lächelte er nur darüber. Was war er für ein Narr, diesen unbekannten Weg entlangzutrotten, klitschnass, Stunden zu spät und mit Schmerzen; und das alles am Tag des großen Zurbriggen-Deals.

Mit dem Regen kam die Kälte. Sie prallte zunächst an ihm ab, aber nach und nach drang sie in seine Knochen und in sein Gemüt, und wegen der stärker werdenden Schmerzen im Knöchel blieb er kurz stehen. Das konnte keine Verstauchung sein, vielleicht war etwas gebrochen. Mühsam ging er weiter, aber der Wald wollte nicht näher kommen, und er wagte es kaum noch, auf die Uhr auf seinem Handy zu sehen. Hätte er sich den Ausflug auf den Gipfel nur gespart!

Wieder versuchte er, seine Familie zu erreichen, diesmal kam die Ansage, die Nummer sei nicht vergeben, dann wurde das Display schwarz – der Akku war leer.

Der Wind pfiff über das Tal, in der Ferne spaltete ein mächtiger Blitz den schieferfarbenen Horizont. Es schien ein anderer Tag gewesen zu sein, als er am Pool gestanden und den Sprüngen seiner Tochter zugesehen hatte. Wieso hatte er sie nicht mitgenommen? Wieso zog es ihn in harmonischen Momenten so oft fort, von seiner Familie, von Abenden bei Freunden?

Mia und er hätten sich unterwegs unterhalten können, er hätte mehr über sie erfahren. Im Grunde wusste er kaum etwas von ihr. Seine Frau hatte ihm kürzlich erzählt, dass sie sich zum ersten Mal in einen Jungen verliebt habe, doch jetzt konnte er sich nicht mal mehr an den Namen erinnern; irgendetwas Spanisches. Luis? Jordi? Das Gedächtnis war nicht seine Stärke.

Bestimmt hätte seine Tochter beim Anblick des Hundes nur gelacht. Henry stellte sich vor, wie sie zu zweit durch den Regen gewandert wären, er vermisste ihr furchtloses, heiteres Wesen. Doch diese einsame Wanderung war seine Entscheidung gewesen, und es hatte ihn auch niemand dazu gezwungen, David in seinem dunklen Zimmer zurückzulassen oder die Jacke nicht mitzunehmen.

 

In der Abenddämmerung erreichte er den Wald. Die dichten Baumwipfel schützten ihn vor dem Regen, doch das kurzärmlige Hemd und seine Shorts fühlten sich längst steif und kalt an, und ohne Handy konnte er kaum noch einschätzen, wie spät es war. Vermutlich wartete seine Familie längst auf ihn, und David packte das Geschenk am Ende ohne ihn aus. Vielleicht stellte er es aber auch nur in die Ecke und ging enttäuscht auf sein Zimmer.

Er überlegte, wie sein Sohn vor den Migräneanfällen gewesen war. Lebhafter, ja, manchmal auch sehr direkt und gewitzt. Und hatte er damals nicht ein großes Interesse gehabt für … Was war es noch? Mineralien und Steine, genau. Aber auch Geschichten hatte er geliebt. Früher hatte er ihn oft ins Bett gebracht, da waren sie sich eigentlich sehr nahe gewesen. Ihm fiel ein, wie er seinem Sohn von einem Streich aus der Studienzeit erzählt hatte: Ein befreundeter Medizinstudent hatte aus der Pathologie einen Finger geklaut, den sie in der Mensa heimlich auf den Kartoffelbrei gesteckt hatten. David hatte vor Lachen kaum Luft bekommen.

Henry betrachtete die Regentropfen, die von den Ästen auf die Pfützen fielen, und auf einmal bereute er, dass er seinen Sohn später nie mehr ins Bett gebracht hatte. Bei Mia hatte er noch die Zeit gehabt oder sie sich einfach genommen, aber bei David war er zu oft abwesend gewesen. Ihm fiel ein, wie häufig seine Frau ihn gebeten hatte, mehr mit dem Jungen zu unternehmen. Die Urlaube, die er verpasst hatte, weil er beruf‌lich wegmusste oder geglaubt hatte, wegzumüssen; die vielen Erlebnisse seiner Kinder, die er bloß vom Hörensagen kannte und kaum wahrnahm. Und hatte er die Zuneigung seiner Frau wirklich zu schätzen gewusst? Er hatte diese Jahre für sich gebraucht, und er hatte seine Firma aufbauen wollen. Das war ja keine simple Arbeit, die er da verrichtete, das war rauschhafter Erfolg; das war Leidenschaft. Aber jetzt, allein in dem matschigen Wald, musste er sich eingestehen, dass er ein schlechter Vater gewesen war, vielleicht auch ein schlechter Mann.

Henry biss sich auf die Lippe, und auf einmal spürte er Trotz. Ja, er hatte vielleicht Fehler gemacht, doch in den letzten Ferienwochen würden sie das alles nachholen. Das große Überraschungsgeschenk für David würde die Wende einleiten, dieses …

Ihm fiel plötzlich nicht mehr ein, was es war.

Ein Fahrrad? Nein, das ja gerade nicht, damit hatte sein Sohn gerechnet. Es war etwas anderes, noch Größeres. Aber so sehr er auch nachdachte, er kam einfach nicht mehr darauf. Die eisige Nässe lähmte seinen Verstand, und sie schien auch seine Sinne zu schwächen; beim Blinzeln hatte er für einen Moment geglaubt, eine Schneeflocke zu sehen.

Ein jäher, nie gekannter Schmerz fuhr in seinen Knöchel. Henry schnauf‌te vor Wut. Er zog Schuh und Socke aus und fuhr mit dem Finger über die Schwellung; die dicke Ader am Knöchel pulsierte. Plötzlich schrie er, überraschend laut. Er horchte in den Wald, doch als Antwort kam nur das endlose Plätschern des Regens. Vor sich wieder das Bild, wie ihm sein Sohn beim Abschied noch etwas hatte sagen wollen und wie er zum Telefonieren auf den Flur gegangen war.

Henry blickte auf den fahlen Weg vor ihm, den er kaum noch sah. Ihm kamen die Tränen. Er schämte sich, war aber zu zermürbt, um sich dagegen zu wehren. Mit der kalten Hand wischte er sich über das Gesicht, dann hinkte er weiter. Bei jedem seiner Schritte stellte er sich einen Brunnen vor, in den er all seine Schmerzen versenkte; ein Trick aus seiner Wehrdienstzeit.

 

Inzwischen musste es Mitternacht sein. Obwohl er sich für sportlich gehalten hatte, hatte er vor Müdigkeit und Hunger kaum noch Kraft in den Beinen. Er hörte sich keuchen; so mussten sich Greise fühlen! Doch der Gedanke an seine Kinder trieb ihn voran. Vielleicht hatte er erst eine Wanderung wie diese gebraucht, um seine Lektion zu lernen, aber er würde seine Fehler korrigieren und alles ändern, wenn er nur endlich wieder zu Hause war.

Als er schließlich die nächtliche Lichtung erreichte, hatte er kaum noch damit gerechnet. In seinem Kopf das verschwommene Bild eines Sommernachmittags, als seine Tochter davongerannt war und sich in der Ferne noch einmal umgedreht und ihm gewinkt hatte.

Henry humpelte langsam die Straße hinunter zum Ferienhaus. Als Junge war er in solchen Momenten beseelt losgelaufen, auch jetzt spürte er, wie sein Herz bei jedem Schritt schneller klopf‌te. Am Nachbargrundstück hielt er kurz inne: Hatte es dieses geschmacklose, gläserne Gartenhaus dort immer schon gegeben? Er schüttelte über den Architekten den Kopf.

Endlich kam er zum Gartenzaun seines eigenen Anwesens. Er vermutete, dass die anderen bereits schliefen und die Fenster dunkel sein würden. Doch zu seiner Überraschung brannte im Wohnzimmer noch Licht, und auf den Stufen vor der Haustür entdeckte er seine Frau.

Wie so oft hatte sie am Ende des Tages auf ihn gewartet.

Henry betrachtete sie eine Weile gerührt, in der Dunkelheit konnte er sie allerdings nicht gut erkennen. In diesem Moment sah sie ihn.

»Wo warst du denn?«

Er hatte gehofft, sie würde zu ihm kommen, aber sie blieb auf den Stufen sitzen.

Den ganzen Rückweg über hatte er sich noch einen letzten Funken Fröhlichkeit bewahrt, ein kleines trotziges Lächeln, das jetzt zum Einsatz kam. »Halb so wild. Hab mich nur ein bisschen verlaufen.«

Sie erhob sich jetzt langsam, beide gingen aufeinander zu. Auf einmal fühlte er, wie schwach und erschöpft er wirklich war und wie sehr er ihre Wärme vermisst hatte, doch sie wand sich aus seiner Umarmung. »Du siehst ja fürchterlich aus.«

Er hatte erst den Drang, ihr von seinem Ausflug zu erzählen, dann deutete er nur mit dem Kinn zu den dunklen Fenstern im ersten Stock. »Wie war die Feier?«

Seine Frau musterte ihn erstaunt. »Was meinst du?«

»Hat David unser Geschenk schon aufgemacht?«

Diese Frage schien sie noch mehr zu beunruhigen als die vorherige. Sie trat einen Schritt zurück. »Machst du einen Witz?«

»Nicht dass ich wüsste.« Er versuchte es noch mal: »Schlafen die beiden oder kann ich noch kurz zu ihnen?«

Seine Frau betrachtete ihn wie einen Fremden, ihr Mund bekam einen harten Zug. »Ich weiß nicht, was mit dir passiert ist oder wieso du das fragst«, sagte sie schließlich, »aber Mia lebt mit ihrem Mann in Spanien, und David ist schon vor langer Zeit … Bist du sicher, dass alles okay mit dir ist?«

Henry war verblüfft über den Streich, der ihm hier gespielt wurde. Er überlegte, was er darauf antworten solle, da fiel ihm der kräftige, hochgewachsene Apfelbaum auf, der im Garten stand. Und als er den Blick senkte und die Hand seiner Frau sah, die er nun krampfhaft und zitternd festhielt, war sie ebenso alt und faltig wie seine eigene.

Er stammelte etwas, einen Laut der Verwunderung, dann fühlte er wieder seine klamme, nasse Kleidung und verstummte. Er hatte nichts mehr zu sagen.

»Schatz, was ist denn nur mit dir passiert?« Seine Frau seufzte. »Komm, ich lass dir erst mal ein Bad ein, dann musst du mir alles erzählen.«

Sie strich ihm über die Wange und ging wieder hinein.

Henry stand noch immer an derselben Stelle, zwischen dem Gartenzaun und dem Eingang, und rührte sich nicht. Es waren von hier nur acht Schritte ins Haus, höchstens neun, aber er spürte, dass er es nicht mehr schaffen würde.

Das Grundschulheim Erinnerungen

(2015)

Keiner von uns war freiwillig hier. Keiner von uns verstand, dass er nicht freiwillig hier war. Wir waren sechs Jahre alt, als wir ins Heim kamen, zu jung, um solche Fragen zu stellen.

Wir hätten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein können. Manche waren hier gelandet, weil es zu Hause finanzielle und gesundheitliche Probleme gab und die alleinerziehenden Mütter oder Väter überfordert waren. Einer kam aus der »ehemaligen DDR«, was immer das bedeutete, ein anderer war dunkelhäutig und mit seiner Familie vor irgendeinem Krieg geflohen. Da wir als Kinder nichts davon begriffen, weder den Krieg noch die »ehemalige DDR