Die Wahrheit, vielleicht - Karl Rühmann - E-Book

Die Wahrheit, vielleicht E-Book

Karl Rühmann

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Beschreibung

Felipe ten Holt ist Verhörspezialist bei einem Geheimdienst. Mühelos bewegt er sich zwischen Sprachgrenzen und erkennt Zusammenhänge, die anderen Menschen verborgen bleiben. In den Antworten der Befragten sucht er nach Übereinstimmungen und Auffälligkeiten und entwickelt die Gabe, im Dickicht zwischen Worten und Gesten, Täuschung und Enthüllung die Wahrheit auszumachen. Er, der aus ihm vorenthaltenen Gründen früh seinen Vater verliert und dessen Mutter zu schwach ist, um sich gegen den Stiefvater durchzusetzen, entwickelt eine geradezu obsessive Suche nach der Wahrheit. Dies prägt sein ganzes Leben: Er lernt den Unterschied zwischen Erkenntnis und Geständnis, zwischen Schuld und Unschuld kennen. Und Felipe gehört zu den Besten, sein Ausbildner wählt ihn bald einmal für die besonders heiklen Fälle aus. Doch in einem schier aussichtslosen Verhör unterläuft Felipe ein fataler Fehler, was den sensiblen jungen Mann dazu zwingt, sich eine neue Aufgabe zu suchen. Nach diesem Rückschlag nimmt sich Felipe vor, die Kommunikation zwischen fremden Menschen nur herzustellen, aber nicht zu lenken. Als Dolmetscher für Menschen, die aus verschiedensten Gründen auf Hilfe angewiesen sind, zieht er sich auf die Rolle des Vermittlers zurück und hofft, so die Kontrolle und Orientierung zu behalten, die er einst verloren hatte. Doch bald beginnt er zu ahnen, dass diese Erwartung eine Illusion ist. Einzig die »Junge Frau«, deren Porträt im Kunsthaus Zürich Felipe immer wieder aufsucht, scheint zu verstehen, was in ihm vorgeht. Und so ist es nur logisch, dass ihn sein Weg in der größten Not zu ihr führt.

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Der Autor und der Verlag bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei

Elisabeth Jenny-Stiftung

Der Autor dankt der UBS Kulturstiftung für ihre Unterstützung.

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

rüffer & rub literatur

Erste Auflage Frühjahr 2022Alle Rechte vorbehalten© 2022 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zü[email protected] | www.ruefferundrub.ch

Bildnachweis Cover, innen: © Julia August | istockphoto.comBildnachweis Autorenporträt: © Franz Noser

E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH

ISBN 978-3-907351-00-0eISBN 978-3-907351-07-9

Feymann hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf. Er legte die Fälle aus, als wären sie Porzellantassen, umriss mit wenigen Worten den Sachverhalt, nahm die Brille ab und lehnte sich zurück. Nun war es an uns, in scheinbar perfekten Ordnungen, die er vor uns ausgebreitet hatte, nach Widersprüchen zu suchen, in harmonischen Tonfolgen nach Dissonanzen. Wir schauten oft in die falsche Richtung, übersahen die aufschlussreiche Peripherie zugunsten des wertlosen Kerns, verfingen uns in vermeintlichen Kausalketten, griffen dankbar nach jeder noch so oberflächlichen Plausibilität. Feymann hörte stumm zu, manchmal wirkte er gelangweilt, sah zur Decke oder drehte gedankenverloren seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern. Wenn er schließlich einschritt, dann energisch, direkt, mit einer Deutlichkeit, die wehtat. Nicht alle kamen damit klar. Manche verloren die Geduld und brachen die Ausbildung ab. Andere machten weiter, allerdings so verunsichert, dass sie unfähig waren, aus ihren Fehlern zu lernen. Einige ließen sich auf offene Konfrontation mit Feymann ein und suchten die Schuld am Misserfolg nicht bei sich, sondern bei ihm. Auch in solchen Fällen blieb Feymann ruhig, hörte sich die Einwände an, nickte gelegentlich und schien ernsthaft über die Kritik nachzudenken. Dann stellte er seine drei Fragen, kurz, präzis, gnadenlos. Es war ein Schwertkampf, Feymann zögerte den entscheidenden Hieb so lange hinaus, bis wir uns wieder in Sicherheit wiegten. Zu spät ging uns auf, dass auch das ein Teil des Auswahlprozesses war.

Wenn Feymann zufrieden war, nickte er. Selten murmelte er »gute Arbeit«; wem das zuteilwurde, der gab am Abend eine Runde aus. Weniger wichtige Verhöre ließ er uns selbständig führen, er mischte sich auch dann nicht ein, wenn wir Fehler machten, der Verdächtige verstockt und der Zeuge misstrauisch wurde. Schwierigere Fälle übernahm Feymann selbst. Wir durften zuschauen und ihm hinterher Fragen stellen, allerdings nur eine pro Person. Darum sprachen wir uns im Voraus ab, mutmaßten, welche Fragen sinnvoll und welche überflüssig wären, dann verteilten wir sie auf alle Mitglieder der Gruppe. Erst viel später verstanden wir, dass auch diese Absprachen, auf die wir uns einiges einbildeten, zu Feymanns Plan und somit zu unserer Ausbildung gehörten.

Alles, was Feymann tat, sagte oder verschwieg, gehörte zum Assessment, war ein Punkt auf der Auslegeordnung. Wer sich dagegenstemmte, wurde gnadenlos aussortiert. Ich stemmte mich nicht dagegen, sondern nahm mir vor, zunächst den Kampf gegen mich selbst zu gewinnen und mich erst dann Feymann zu stellen. Vielleicht war er der Einzige, der merkte, dass auch ich einen Plan hatte.

Nach der Handelsschule wollte meine Mutter das Abitur nachholen und Literatur studieren. Sie malte sich aus, wie sie mit belesenen Menschen über Bücher diskutieren und selbst welche schreiben würde. Auch wollte sie reisen und Sprachen lernen. Es waren die frühen 1970er, die Welt war eine Baustelle, das Werkzeug schien überall herumzuliegen. Doch dann setzte sie sich eines Abends im Kino in die falsche Reihe. Sie zeigten »Cagliostro«, meine Mutter liebte Curd Jürgens. Der Mann, dessen Platz sie irrtümlich besetzt hatte, flüsterte, sie solle doch sitzen bleiben, er werde sich anderswo hinsetzen. Nach der Vorstellung trafen sie sich beim Ausgang, sie bedankte sich, er lud sie auf ein Glas Wein ein, bot ihr das Du an und sagte, er heiße Erik. Ihr gefiel seine Förmlichkeit, die Erinnerung an den charmanten Filmgrafen war noch frisch. Sie sagte, auch ihr Name fange mit einem E an und habe vier Buchstaben, Erik solle raten. Er gab rasch auf, sie spottete über seine geringe Ausdauer und errötete ob der unabsichtlichen Zweideutigkeit. Sie sei Elsa, fügte sie eilig hinzu. Elsa, nicht Elisa, wie schlechte Zuhörer immer wieder meinten.

Erik war 13 Jahre älter und sah gut aus, hatte Manieren und redete nicht den ganzen Abend von sich, sondern stellte viele gute Fragen. Das gefiel Elsa so sehr, dass sie über seine beiden Makel hinwegsah: seinen, wie sie fand, wenig attraktiven Beruf, Erik war Sportlehrer an einem Zürcher Gymnasium, und den Umstand, dass er, obwohl seine Eltern aus den Niederlanden stammten, nicht perfekt Niederländisch sprach. Elsa Landero de Alba konnte nicht verstehen, warum er sich so fahrlässig die Chance hatte entgehen lassen, eine zweite Muttersprache zu erwerben. Ihr Vater hatte mit ihr nur Spanisch gesprochen, ihre Mutter nur Deutsch, sie war in zwei Welten groß geworden, und das mache süchtig nach mehr.

Sie hatte eine Liste mit Sprachen erstellt, die sie in einer festgeschriebenen Reihenfolge erlernen wollte: Ganz oben stand Schwedisch, die Nummer 2 war Russisch. Danach wollte sie sich gleichzeitig Hebräisch und Arabisch vorknöpfen, das wäre ihr Beitrag zur Lösung der Nahostkrise gewesen, erzählte sie später, und ich war mir nicht sicher, ob dies wirklich nur als Scherz gedacht war. Danach wären Ungarisch und Japanisch dazugekommen, möglicherweise auch Serbokroatisch, wie die Sprache damals noch hieß. Mit mir sprach sie immer Spanisch, selbst dann, wenn Deutsch praktischer gewesen wäre, etwa bei Elterngesprächen, in Anwesenheit der Klassenlehrerin und der Schulleiterin. Spanisch war unser Geheimnis, es war, als hätten meine Mutter und ich die Köpfe zusammengesteckt, ohne dass es jemand merkte.

Sie sprach es nie aus, aber ich vermute, dass sie die Schuld am Scheitern ihrer großen Pläne nicht nur meinem Vater, sondern auch mir gab. Vielleicht warf sie mir im Stillen sogar die immer noch offene Nahostfrage vor. »Unsinn«, protestierte sie, wenn ich sie viele Jahre später in ihren klareren Momenten darauf ansprach. »Du konntest nichts dafür. Außerdem wollte ich dich ja.«

»Sicher?«, hakte ich nur halb im Scherz nach.

»Sicher. Aber nicht schon mit einundzwanzig.«

Ich bin stets pünktlich. Ich gehe rechtzeitig los, gleiche geringfügige Verzögerungen oder Zeiteinsparungen mit meinem Gehtempo aus, plane auch das Warten an den Ampeln oder vor dem Aufzug mit ein, trete exakt drei Minuten vor Einsatzbeginn an den Empfang. »Felipe ten Holt, der Dolmetscher«, sage ich, halte meinen Ausweis hoch und nenne den Namen der Person, die den Auftrag ausgelöst hat. Während ich auf die Überprüfung meiner Angaben warte, sehe ich mich ohne Interesse um. Das Angebot, kurz im Zimmer nebenan Platz zu nehmen, die zuständige Person werde gleich da sein, quittiere ich mit einem Nicken.

Der Klient ist in der Regel schon da: angespannt, neugierig, aber nicht mutig genug, mich anzusprechen und zu fragen, ob ich seinetwegen da sei. Ich setze mich in die entgegengesetzte Ecke des Warteraums und zeige, dass ich an einem Gespräch nicht interessiert bin. Falls vorhanden, greife ich mir eine Zeitung vom Tisch und schlage die zweite Seite auf, so als möchte ich wirklich lesen. Sekunden später taucht die zuständige Person auf, lässt ihren Blick von dem Klienten zu mir und zurück wandern, geht forsch auf den Klienten zu, grüßt, dreht sich zu mir um, lächelt verbindlich. Ich falte langsam die Zeitung zusammen, stehe auf, drücke kurz die entgegengestreckte Hand, folge ins Besprechungszimmer. Wenn möglich, setze ich mich an die schmale Tischseite, erkläre dem Klienten in seiner Sprache, dass ich für ihn dolmetschen werde, und versichere ihm, dass auch ich dem Amtsgeheimnis unterliege. Dann lehne ich mich zurück und gebe der zuständigen Person ein Zeichen. Es kann losgehen.

Ich bin pünktlich. Und ja, ich tue meine Arbeit verlässlich, präzis, schnell. Dabei ist es von keinerlei Belang, ob wir alle am selben Tisch sitzen oder ob sie mir eine Kabine und ein Paar Kopfhörer zur Verfügung stellen. Ich gebe wieder, was gesagt worden ist, das muss reichen.

Wenn ich einen Auftrag angenommen habe, schickt mir die Vermittlungsstelle den Namen der Kontaktperson und ein paar Stichworte: Anzahl der Beteiligten, Gesprächsthema, eventuell eine kurze Hintergrundinformation. Eine Vorbereitung ist weder möglich noch nötig noch erwünscht. Das Letztgenannte ist nur eine Vermutung, allerdings durch viele kleine Hinweise erhärtet. Das kommt mir entgegen, ich will nicht wissen, mit wem ich es zu tun habe, das führt im besten Fall zu Voreingenommenheit, im schlimmsten zu einem Anflug von emotionalem Engagement. Ich will mich nicht engagieren, nicht im Voraus und nicht im Nachhinein. Ich will kein Verständnis, mir reicht die Verständigung.

Es kommt durchaus vor, dass mich ein Gespräch oder eine Vernehmung, früher sagte man Verhör, hinterher beschäftigt. Das ist lästig wie Fieberbläschen oder Ohrensausen. Wer den Vergleich kaltherzig findet, versteht meine Arbeit nicht. Die meisten Menschen tun das nicht, damit muss ich leben. Die Leute denken, dass wir kulturelle Brücken bauen oder mentalitätsbedingte Hürden überwinden helfen. Alles Unsinn und hohle Theorie, erdacht von Ahnungslosen, genährt von jenen, die unsere Arbeit über ihrem Wert verkaufen müssen.

Ich nannte meinen Vater Pappie, und auch heute, nach so vielen Jahren, ist dieses Wort das einzige, das zu meinen spärlichen Erinnerungen an ihn passt. Das Wenige, was mir im Gedächtnis geblieben ist, vermischt sich mit späteren Gerüchten oder Einbildungen. Was ich weiß: Pappie war groß, hatte hellbraune Haare und dunkelbraune Augen. Er redete nicht viel, und selbst wenn meine Mutter und er sich stritten, beschränkte er sich auf ein leises »Nein, nein, das stimmt so nicht«, oder ein »Sag das bitte nicht«. Mit mir sprach er in einer Mischung aus Niederländisch und Deutsch. Ich gab mir Mühe, auf Niederländisch zu antworten, wohl in der Hoffnung, dass sich das Gespräch dann hinziehen würde. Leider reichten meine Kenntnisse nicht weit, ich musste nach ein paar gestammelten Sätzen ins Deutsche wechseln.

Mein Vater erzählte mir selten Geschichten, und wenn doch, dann waren sie sehr kurz und seltsam. Eine handelte von seinem Großvater, der in einem Baumhaus lebte und die Sprache der Vögel verstand. Eine andere von seiner Tante Lieke und ihrem Kater Rembrandt, der ihr im Haus des berühmten Malers zugelaufen war und den sie für dessen Reinkarnation hielt. Wenn ich längere und gewöhnlichere Geschichten hören wollte, musste ich mich an meine Mutter wenden. Sie liebte Märchen, schwärmte von Hans Christian Andersen und erzählte mir oft vom hässlichen Entlein.

Pappie nahm mich oft auf seine Fahrradausflüge mit. Mein Sitz war vorne auf dem Oberrohr, das war damals, Anfang der 1980er-Jahre, durchaus üblich. Ich umfasste mit meinen kleinen Händen die Lenkstange und stellte mir vor, dass auch ich ein wenig steuern würde. Bevor wir losfuhren, küsste er mich auf den Hinterkopf und sagte jedes Mal: »Zo jochie, stappen we op!« Wir fuhren schnell, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals Angst verspürt zu haben. Es war leicht, sich bei meinem Vater sicher zu fühlen, seine Ruhe war ansteckend. Wenn wir spazieren gingen, durfte ich auf seinen Schultern sitzen. Das war der Gipfel der Welt, ich war mir sogar sicher, dass ich dort ein anderes, besseres Wetter hatte als unten am Boden. Ich möchte heute noch glauben, dass es tatsächlich so war.

FEYMANN

•Der Einstieg war nicht optimal, ten Holt.

•Warum? Ich habe den Beschuldigten aufgefordert, alles zu erzählen.

•Ja. Aber von Anfang an.

•Warum ist das falsch?

•Weil die Aufforderung zu einem chronologischen Bericht das Gedächtnis hemmt.

•Ich verstehe nicht.

•Der Beschuldigte soll in der ersten Phase frei erzählen.

•Schränkt die Chronologie die Freiheit ein?

•Wir sind nicht nur am Inhalt interessiert, sondern auch an Assoziationen. Die Reihenfolge gibt Aufschluss über die Rangordnung.

•Und die Rangordnung …

•… gibt Aufschluss über die Einstellung zur Tat.

Einmal reisten wir alle zusammen für ein paar Tage nach Amsterdam. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Der Flug war unruhig, das Flugzeug holperte wie ein Bus über eine Straße voller Schlaglöcher. Ich schaute aus dem Fenster und getraute mich nicht, den Blick vom Flügel zu nehmen, denn ich hatte mir eingeredet, dass er sonst abbrechen würde. Ich drehte mich nicht einmal um, als die Flugbegleiterin fragte, was ich trinken möchte. »Eine Cola«, sagte ich, die Nase immer noch fest ans Fenster gedrückt. Meine Mutter wurde ärgerlich und befahl mir, mich anständig hinzusetzen und höflich zu sein. Sie hätte nicht verstanden, dass ich für unsere Sicherheit sorgte, und so musste ich ihren Zorn über mich ergehen lassen. Sie schimpfte laut, ich sei doch langsam groß genug und müsste mich benehmen können. Da neigte sich Pappie zu mir, schaute mit mir aus dem Fenster und flüsterte mir zu, dass die Flügel schon nicht abbrechen würden. Und wenn doch, würden sofort neue nachwachsen, wie der Schwanz einer Eidechse.

»Woher weißt du das?«, flüsterte ich. Er zwinkerte mir zu und sagte: »Dat is een geheimpje!« Ich hoffte auf weitere Geheimnisse, aber als ich mich nach Pappie umsah, hatte er sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen, als hätte ihn der Geheimnisaustausch angestrengt.

In Amsterdam sahen wir einen schwimmenden Blumenmarkt, unzählige Radfahrer und ein Haus, das so schmal war, dass ich es beinahe umfassen konnte. Ich erinnere mich auch an einen schlimmen Streit zwischen meiner Mutter und Pappie. Meine Mutter schimpfte und fuchtelte mit den Armen. Pappie schwieg und blieb auch dann still, als meine Mutter mich anschrie, ich solle nicht so blöd glotzen. Ich redete mir ein, dass er mir sicher mit noch einem Geheimpje beistehen wollte, dass aber sein Spanisch nicht gut genug war und er nicht verstand, warum meine Mutter mit mir schimpfte.

Manchmal mache ich hinterher einen Spaziergang. Nach einfachen Einsätzen dauert er kurz, nach schwierigen länger. Wenn ich zu viel Nähe zugelassen habe, kaufe ich mir in der Buchhandlung am Bahnhof einen Krimi. Die erste Seite lese ich gleich in der Straßenbahn. Wenn mir der Anfang nicht gefällt, lasse ich das Buch liegen. Natürlich könnte ich es vor dem Kauf anlesen, aber ich will einen kleinen Beitrag zur Spannung leisten. Mittlerweile besitze ich eine ansehnliche Krimisammlung.

Im Sport war ich eine Niete. Wenn wir Fußball spielten, bekam ich selten den Ball, und wenn doch, verlor ich ihn gleich wieder an einen Gegenspieler, manchmal sogar an einen Spieler aus dem eigenen Team. Beim Basketball war es ähnlich, ich kam kaum je dazu, den Ball in Richtung Korb zu werfen. Überhaupt rannte ich zu langsam, sprang zu wenig hoch und warf zu wenig weit. Frau Barthol, unsere Lehrerin, schüttelte immer wieder den Kopf und seufzte. Ich fand das nicht weiter schlimm, es lag mir wenig an Frau Barthols Zustimmung, geschweige denn Zuneigung, und zum Glück ließen mich die anderen Kinder aus meiner Klasse in Ruhe. Vielleicht hänselten sie mich nur darum nicht, weil auch sie Frau Barthol nicht mochten und die gemeinsame Abneigung gegen die Lehrerin stärker war als die Versuchung, mich für meine Schwäche zu verhöhnen.

Wenn Pappie über meine Einstellung zum Sport und den Mangel an jeglicher Begabung frustriert war, so zeigte er es nicht. Er selbst war sehr sportlich, hatte in seiner Jugend Handball und Volleyball gespielt, später auch Fußball, er hatte den schwarzen Gurt in Judo und nahm jedes Jahr am Marathon in Berlin und Apeldoorn teil. Auch unternahm er mehrmals im Jahr ausgedehnte Radtouren. Meiner Mutter schien mein Desinteresse am Sport weitaus mehr auszumachen als Pappie, und seltsamerweise warf sie es eher ihm als mir vor. Ihrer Ansichtnach hätte er als Sportlehrer etwas unternehmen müssen, wenn nötig gegen meinen Willen. Er ging solchen Streitereien nach Möglichkeit aus dem Weg, und wenn ihre Vorwürfe doch zu laut wurden, zwinkerte er mir heimlich zu oder schnitt Grimassen, bis auch ich schmunzeln musste. Meine Mutter konnte in solchen Momenten sehr wütend werden, sie schrie, es sei am einfachsten, sich über sie lustig zu machen, er überlasse ja alles ihr, alles, sie trage alleine die ganze Verantwortung. Hin und wieder überlegte ich, ob es weniger Streit gäbe, wenn ich Pappie bitten würde, mit mir irgendeine Sportart zu trainieren oder mich zu einem Kurs in Schwimmen, Judo oder Tennis anzumelden. Aber dann behielt ich es doch für mich. Vielleicht befürchtete ich insgeheim, dass ich ihn hinterher nur enttäuschen und alles noch schlimmer machen würde.

Das Wartezimmer ist trist, das wenige Wasser im Wasserspender voller Luftbläschen, die Zeitschriften auf dem zu niedrigen Tisch sind von vielen Händen achtlos und ungeduldig durchgeblättert worden. Die Psychiaterin verspätet sich, die Frau vom Empfang, klein, fahrig, hat sich bereits zweimal übellaunig entschuldigt. Sie bittet mich, noch eine Viertelstunde zu warten, der Patient sei auch noch nicht da. Vielleicht habe der sich verlaufen, mutmaßt sie, schließlich sei er erst seit einer Woche im Durchgangsheim, und dieses befinde sich nun einmal am anderen Ende der Stadt. Ich nicke, lehne mich zurück und schlage die Beine übereinander, zeige weder Ärger noch Verständnis.

Die Frau hastet zurück, jemand hatte an der Eingangstür geläutet, der Türöffner summt. Kurz darauf Stimmen, dann Schritte. Die Frau vom Empfang ist wieder da, sie steht im Türrahmen, hüpft zur Seite, um einen groß gewachsenen Mann ins Wartezimmer vorbeizulassen. Er geht leicht gebeugt, seine Arme hängen wie angenäht herab, die schwarze Jacke ist ihm mindestens zwei Nummern zu klein. Die Empfangsfrau zeigt auf einen Stuhl, der Mann setzt sich, blickt sich nervös um, murmelt einen Gruß. Die Frau geht, ich erkläre kurz, ich sei sein Dolmetscher und nein, er brauche sich nicht zu entschuldigen. Er zählt trotzdem auf, was alles schiefgelaufen und warum er in die falsche Straßenbahn eingestiegen war. Ich wiederhole, dass alles o.k. sei; dann schweigen wir. Er nimmt eine Zeitschrift vom Tisch, blättert sie rasch durch, aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sein Blick an einem Sportwagen mit offenem Verdeck hängen bleibt, hinter dem Steuerrad winkt eine Frau im Bikini.

Um mir die Zeit zu vertreiben, versuche ich herauszufinden, was ihn mehr interessiert: das Auto oder die Frau. Er bemüht sich, den Text unter dem Foto zu entziffern, hält es so weit von sich wie möglich, blättert eine Seite vor und eine zurück, dann nickt er kurz. Es ist das Auto, rate ich und warte auf seine Bestätigung.

»Corvette«, sagt er plötzlich und hält mir das Bild hin. »Model Z06.«

Er missdeutet mein Lächeln als Einladung, mehr über das Auto zu erzählen.

»Baujahr 2006. 500 PS. Was für ein Schlitten!«

»Haben Sie so einen gefahren?«

»Nein, das nicht.« Er lächelt versonnen. »Aber andere schöne Autos. Am längsten einen Mercedes, S-Klasse.«

»Nicht schlecht«, sage ich.

»Leider gehörte der nicht mir, ich war nur der Fahrer. Also eigentlich der Leibwächter.«

»Wen haben Sie beschützt?«

»Oh, den kennst du nicht«, sagt er und grinst freudlos. »Aber ich sage dir, der war mächtig, der Chef.«

Er schaut zur Decke, schüttelt den Kopf, als möchte er, dass die Erinnerungen an den richtigen Ort rollen.

»War er reich und dann mächtig? Oder mächtig und dann reich?«, frage ich. Er sieht mich verwirrt an. Dann entspannt er sich und lacht.

»Die schlimmere Variante«, sagt er, schüttelt wieder den Kopf, legt die Zeitschrift zurück, streckt sich. Plötzlich wird er ernst, setzt sich gerade, blickt sich nervös um, wippt vor und zurück.

»Ist dieser Raum verwanzt?«, flüstert er. »Mikrofone? Kamera?« Ich schüttle den Kopf. Der Mann verschränkt die Arme vor der Brust und löst sie gleich wieder, springt auf, macht ein paar Schritte durch den Raum, atmet hörbar, steckt den Kopf durch die Tür, späht links und rechts, kommt zurück, setzt sich neben mich.

»Sie haben mich vor zwei Wochen entlassen, weißt du. Aus dem Knast«, flüstert er.

»Wie lange hast du gesessen?«

»Acht Jahre, und ich hätte noch zehn weitere sitzen sollen.«

Ich schweige, er braucht nun keine Fragen mehr.

»Sie wollten damals, dass ich etwas tue, eine schlimme Sache, aber ich habe abgelehnt, ich sagte, das mach ich nicht, für kein Geld dieser Welt. Da haben sie mich eingesperrt. Und als ich im Knast war, kamen sie immer wieder und fragten, ob ich nun bereit sei. Ich sagte, nein, ich will nicht. Aber dann … verstehst du, dann dachte ich, Mann, noch zehn Jahre, das ist lang, das halte ich nicht durch.«

»Und dann hast du es getan?«

»Dann habe ich es getan. Nach acht Jahren hatten sie mich so weit.«

Schritte im Gang, eine Frau in Jeans und Pullover steht im Türrahmen, sie ist jung und hat wuschelige Haare, sagt, sie sei die Ärztin und sie entschuldige sich wegen der Verspätung. Den Namen des Patienten spricht sie gerade noch verständlich aus. Er steht auf, grüßt, will auf sie zugehen, bleibt mit hängenden Armen unsicher stehen, blickt sich zu mir um, wartet.

Ich stehe auch auf und nicke der Ärztin zu. »Felipe ten Holt, der Dolmetscher«, sage ich und zeige meinen Ausweis. Die Ärztin lächelt erleichtert und bittet uns, ihr ins Behandlungszimmer zu folgen. Ich lasse dem Mann den Vortritt und sehe, dass er zittert. Er selbst hat es noch nicht bemerkt und zu verbergen versucht. Als wir im Zimmer Platz nehmen, tue ich ihm den Gefallen und schaue weg. Die Ärztin wartet, bis ich mit meinem Spruch vom Amtsgeheimnis fertig bin, dann fragt sie den Mann, ob er mich verstehe. Er nickt eifrig, wirkt verunsichert. Sie bemerkt es und erklärt, es könnte ja sein, dass wir unterschiedliche Dialekte sprechen würden, man könne nie wissen. Der Mann lacht und bekräftigt, er verstehe mich sehr gut.

»Wie geht es Ihnen?«, fragt die Ärztin.

»Alles gut. Nur …« Er schaut auf seine Hände, die er flach auf den Tisch gelegt hat.

»Können Sie schlafen? Schlafen Sie schnell ein?«

Er wirkt verwirrt, offenbar hat er andere Fragen erwartet. Statt zu antworten, schaut er zu mir herüber und hofft auf ein Zeichen, ob ihn die Ärztin in eine Falle locken will.

»Schläfst du schnell ein?«, wiederhole ich die Frage und versuche, beiläufig zu klingen.

»Im Traum kommen mir Bilder. Schlimme Bilder. Darum will ich nicht einschlafen«, sagt er leise und senkt den Kopf. Die Ärztin geht nicht weiter auf die Träume ein, sondern fragt nach den Medikamenten und ob er eine Liste dabeihabe. Hat er nicht, dafür schüttet er eine kleine Einkaufstüte auf dem Tisch aus. Die Ärztin kontrolliert die Packungen, notiert sich die Namen, zeichnet um einen von ihnen einen Kreis. Der Mann zeigt auf ein Medikament und möchte etwas erklären, aber die Ärztin wartet meine Übersetzung nicht ab. Sie fragt nach dem Tagesablauf des Patienten. Ich übersetze nahezu simultan, so muss ich mir nichts merken, seine Aufzählung ist monoton. Offenbar erwartet er aus dieser Frage weder Vor- noch Nachteile und strengt sich nicht an. Erst als er sieht, dass die Ärztin sich sehr viele Notizen macht, blickt er irritiert zu mir herüber.

Ich versuche, das Zusammenfügen der Puzzleteilchen aufzugeben, das ich im Warteraum gegen meinen Willen aufgenommen hatte. Das ist bei diesem Mann nicht einfach, er ist ein interessanter Fall. Er sagt die Wahrheit, wenn auch nicht jene Art von Wahrheit, die sich die Ärztin wünscht. Sie spricht langsam und überdeutlich, als hoffte sie, dass er sie doch noch ohne mich verstehen kann. Wie würde die Ärztin reagieren, wenn sie wüsste, warum er das Gefängnis schließlich verlassen durfte? Würde sie seine Geschichte glauben? Was würde sie ihm schwerer anlasten: die Wahrheit oder die Lüge?

Meine Mutter interessierte sich nicht für Sport und schüttelte verständnislos den Kopf, wenn Pappie und ich uns mit Popcorn und Chips vor den Fernseher setzten, um Fußball zu schauen. Es lief die Europameisterschaft in Frankreich. Weder die Schweiz noch die Niederlande waren dabei, und so beschlossen wir, die Spanier zu unterstützen. Die spielten dann auch gut, gewannen ein Spiel nach dem anderen und standen wenig überraschend im Endspiel. Irgendwie schafften es Pappie und ich, meine Mutter zu überreden, mit uns das entscheidende Spiel gegen den Gastgeber Frankreich zu schauen. Zunächst mussten wir ihr erklären, wozu die Gelbe Karte gut war und warum die Spieler so oft hinfielen, dann wunderte sie sich darüber, dass man einen Spieler auswechseln konnte, wenn bei ihm »die Luft draußen war«, wie sich der Kommentator ausdrückte. »Wie das Ersatzrad am Auto«, sagte sie und fand die Regel doof. Pappie und ich tauschten Blicke aus und schmunzelten, worauf sie auch uns doof fand. Leider verlor Spanien 0:2, meine Mutter schimpfte über den spanischen Torwart und den tschechischen Schiedsrichter und die französischen Fans und dann natürlich auch über Pappie und mich, weil wir für ihren Geschmack zu leise schimpften. Wir versprachen ihr, bei der Weltmeisterschaft in zwei Jahren über die spanische Niederlage umso lauter zu schimpfen. Das fand sie auch nicht gut und nannte uns »imbéciles«.

Es war der letzte lustige Abend mit Pappie, an den ich mich erinnern kann.

Damals, bei Feymann, zog ich mich in schwierigen Stunden zurück und hörte Musik. Mendelssohn, Dvořák, bei besonders schlimmen Zweifeln Beethovens »Pastorale«. Das tue ich heute seltener. Nach aufwändigen Einsätzen gehe ich stattdessen ins Kunsthaus und setze mich vor das »Bildnis einer jungen Frau« von Johannes Cornelisz Verspronck. Ich betrachte das Bild, bis sich jene Vertrautheit einstellt, die mich, als ich an einem verregneten Abend das Gemälde zum ersten Mal sah, zunächst aufwühlte, aber nach einer Weile auf eine seltsame Art beruhigte. Das ist lange her; doch das Gefühl von Nähe zu dieser jungen Frau aus dem 17. Jahrhundert ist geblieben. Ist es ihr Blick, ein wenig spöttisch, beinahe heiter, mal offen, mal geheimnisvoll, je nach Perspektive und Stimmung? Sie schielt leicht, ihr linkes Auge ist zur Seite gerutscht, nicht zu auffällig, doch deutlich genug für einen Anflug von Mitgefühl. Oder sind es ihre hellrot geschminkten Lippen, die mit mäßigem Erfolg ein Lächeln versuchen? Das Rosa ihrer Wangen lehnt sich lustlos gegen die Blässe auf, die Haut unter ihrem Kinn wird bald den Kampf gegen die Schwerkraft verlieren. Die dünnen Haare sind nach hinten gekämmt und werden von einem perlenbesetzten Reif festgehalten, sie geben eine hohe, blasse Stirn frei. Auch um den Hals trägt sie Perlen, aber das Halsband ist eng und vermutlich unbequem. Ihr graues Kleid ist schlicht, nur der helle Spitzenumhang auf ihren Schultern und die wenigen goldfarbenen Bänder an den Ärmeln heben sich gegen die Melancholie ab.

Sie ist Mona Lisas reizlose Schwester. Ich möchte meine schattigen Stunden mit niemandem lieber verbringen.

Ich erinnere mich gut an den Tag, der alles verändern sollte. Es muss warm gewesen sein, die Fenster im Schulzimmer standen offen. Frau Barthol begann noch vor dem Unterrichtsende eins nach dem anderen zuzuknallen. Sie hatte schlechte Laune und schimpfte lauter als sonst. Dann sagte sie, wir können nun nach Hause gehen, sie habe gleich eine Sitzung. Als ich aufstand, um meine Bücher und Hefte in die Tasche zu schieben, blickte sie zu mir herüber. Das verunsicherte mich. Ich überlegte, ob ich vielleicht zu früh aufgestanden war. Aber dann sah ich, dass auch alle anderen Kinder ihre Bücher in die Taschen stopften, und ich dachte mir nichts weiter dabei.

Wahrscheinlich nahm ich den Umweg durch den Park, das tat ich oft, wenn ich es nicht eilig hatte. Ich erwartete nicht, dass meine Eltern um diese Zeit da sein würden. Doch als ich nach Hause kam, war meine Mutter da. Ihre Augen waren gerötet, auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa lagen zerknüllte Papiertaschentücher. Sie nahm mich kurz in den Arm, klaubte ein Taschentuch aus der Packung und drückte es sich unter die Nase. Dann setzte sie sich an den Tisch und schloss die Augen. Ich fragte, was los sei und wo denn Pappie bleibe.

»Felipe, dein Vater kommt heute nicht nach Hause. Es ist etwas passiert.«

Ich erschrak und fragte, ob er einen Unfall hatte.

»Nein, keinen Unfall«, sagte sie. »Er hat sich gegenüber einer Schülerin schlecht benommen. Nun muss er sich dafür verantworten.«