Die Wäscheleinen-Schaukel - Ahmad Danny Ramadan - E-Book

Die Wäscheleinen-Schaukel E-Book

Ahmad Danny Ramadan

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Beschreibung

Dieser Roman führt durch die Lebenswege zweier homosexueller syrischer Männer, die sich im kriegszerrütteten Syrien kennenlernen und über Beirut und Kairo schließlich gemeinsam nach Vancouver fliehen. Die Erinnerungen an ihre zurückgelassene Heimat werden in den fantasievollen, manchmal schwermütigen, aber jede für sich wunderschönen Geschichten wiedererweckt. als einer der Protagonisten vier Jahrzehnte später versucht, seinen Partner an dessen Sterbebett am Leben zu halten. Die einzelnen Geschichten bilden ein verwobenes Mosaik aus bewegenden, nachklingenden Eindrücken einer Kindheit in Damaskus, von Liebesgeschichten im Verborgenen, den gewaltvollen Erfahrungen des Krieges und der Homophobie sowie der hoffnungsvollen Suche nach einem freieren Leben. Ahmad Danny Ramadan, der selbst 2012 von Syrien nach Kanada geflohen ist, eröffnet den Lesenden in seinem Roman auf poetische Weise die ungewöhnliche Perspektive queerer Menschen in Syrien auf die Erinnerungen an eine untergehende Heimat.

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Ahmad Danny Ramadan

Die Wäscheleinen Schaukel

Roman

Über den Autor

Ahmad Danny Ramadan ist ein syrisch-kanadischer Autor, ein Geschichtenerzähler und ein LGBTQ-Geflüchteten-Aktivist. Sein Roman wurde mehrfach ausgezeichnet. Er lebt mit seinem Ehemann in Vancouver.

Über das Buch

Dieser Roman führt durch die Lebenswege zweier homosexueller syrischer Männer, die sich im kriegszerrütteten Syrien kennenlernen und über Beirut und Kairo schließlich gemeinsam nach Vancouver fliehen. Die Erinnerungen an ihre zurückgelassene Heimat werden in den fantasievollen, manchmal schwermütigen, aber jede für sich wunderschönen Geschichten wiedererweckt, als einer der Protagonisten vier Jahrzehnte später versucht, seinen Partner an dessen Sterbebett am Leben zu halten.

Die einzelnen Geschichten bilden ein verwobenes Mosaik aus bewegenden, nachklingenden Eindrücken einer Kindheit in Damaskus, von Liebesgeschichten im Verborgenen, den gewaltvollen Erfahrungen des Krieges und der Homophobie sowie der hoffnungsvollen Suche nach einem freieren Leben.

Ahmad Danny Ramadan, der selbst 2012 von Syrien nach Kanada geflohen ist, eröffnet den Lesenden in seinem Roman auf poetische Weise die ungewöhnliche Perspektive queerer Menschen in Syrien auf die Erinnerungen an eine untergehende Heimat.

Der britische Independent wählte ihn 2019 unter die 30 besten Debütromane.

„Eine bemerkenswerte Lektüre. Danny Ramadan öffnet seinen Leser*innen eine Welt und führt sie mit Sensibilität und Spannung durch diese Welt.“ Bernhard Schlink in der New York Times

Inhalt

Prolog

Der hakawati erzählt seine eigene Geschichte

Die Geschichte des Geliebten, der sich für einen Abenteurer hielt

Die Geschichte des Mannes, der bis ans Ende seiner Tage nicht mehr schlief

Die Geschichte vom verzauberten Prinzen

Die Reisen des ins Land der Frauen

Die Konkubine mit der Rose aus Glas

Die Geschichte vom Zoo der Königin

Der König und sein Thron

Das Haus mit dem schönen Ausblick

Die Geschichte von Thekla, die drei Mal zu Gott betete

Der Wahrsager und seine Geschichte

Die Geschichten derer, die gegangen sind

Die zwei Könige

Die Großzügigkeit eines Einsamen

Die entflohene Prinzessin erzählt ihre Geschichte

Der Sandsturm und die Hexe

Die Geschichte des Zuhörers

Danksagung

Glossar

Für die Kinder von Damaskus –so bin ich mit meinem Kummer umgegangen …Und ihr?

Er ließ sich in den Schaukelstuhl fallen, ebenden Stuhl, in dem Rebeca in der Frühzeit des Hauses Stickstunden abgehalten, in dem Amaranta mit Oberst Gerineldo Márquez Dame gespielt und in dem Amaranta Úrsula Babykleidung genäht hatte, und in blitzartiger Klarheit erkannte er, dass er dem auf seiner Seele lastenden Druck von so viel Vergangenheit nicht würde standhalten können.

Gabriel García Márquez

Prolog

Die süßesten Küsse sind jene, die wir an verbotenen Orten tauschen. Jener Kuss, den ich dir im dunklen Fond eines Taxis auf dem Weg durch Damaskus stahl, während der Fahrer über die Kontrollpunkte und den Krieg schimpfte; jener Kuss, als ich dich bei H&M in Beirut zurück in die Umkleide zog und meine Lippen auf deine presste; jener, den du mir gabst, als wir uns am Wreck Beach bei Vancouver im hohen Gras versteckten.

Für uns waren die meisten Orte verboten. Wir lernten uns im kriegsgeschüttelten Damaskus kennen und zogen im religiös gespaltenen Beirut zusammen, bevor wir schließlich in Kanada landeten. Für uns bedeutete das Vorspiel nicht sanfte Berührungen und zärtliche Küsse, sondern einen Platz zu finden, wo uns weder Polizisten noch aufgebrachte Eltern noch neugierige Nachbarn aufspüren würden. Es bedeutete, die Vorhänge fest zuzuziehen und den anderen zum Stillsein zu ermahnen, wenn er vor Lust zu laut stöhnte, was uns, wenn auch nur für kurze Zeit, ein trügerisches Gefühl der Sicherheit verschaffte.

Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, der süßeste von unseren Küssen war der allererste. Dieser Kuss ist mir kostbar, denn er war die erste Blüte in einem Garten verbotener Früchte, den wir gemeinsam pflanzten. Er war der Spross, der durch die Erde unseres banalen Lebens brach und all die anderen Blumen gedeihen ließ.

Ich sehe vor mir, wie wir eines Abends im Spätfrühling 2011 auf dem Berg Qasyun standen und schweigend auf Damaskus hinabblickten. Unter uns säumten immer mehr Lichter das Labyrinth der Straßen; die unzähligen Moscheen wurden neongrün beleuchtet. Am Abendhimmel erschienen die Sterne und funkelten auf dem dunklen Baldachin über uns; wir waren umgeben von einer unvergänglichen Kulisse tanzender Lichter.

»Was auch immer mit dieser Stadt passiert, das hier wird bleiben«, hast du gesagt, die Lichter der Stadt in deinen Augen, als berge ihr Dunkel ein ganzes Universum. »Kein Krieg kann der Schönheit von Damaskus etwas anhaben.«

Du hast auf die Umayyaden-Moschee links von uns gezeigt und mich durch die umliegenden Straßen dirigiert, bis ich dein Elternhaus ausmachen konnte, ein winziges Haus, dessen Mauern mit Weinlaub bewachsen waren. Ich wedelte vage in die Richtung, in der mein dunkles Elternhaus stand, es hob sich ab wie ein kranker Zahn, nur wenige Blocks von eurem entfernt.

Ich zitterte; meine Nase fühlte sich an wie ein Eiswürfel, der in meinem Gesicht schmolz, in meinen Augen standen Tränen. Du zogst mich an dich, legtest mir den Arm um die Schulter und begannst schüchtern zu lächeln. »Ich hatte einen schönen Tag«, flüsterte ich. Du brummtest etwas Zustimmendes.

Dort, unweit des Gipfels, tief in seinem Schatten, küssten wir uns. Meine Lippen verschmolzen nur eine Sekunde lang mit deinen; du zogst meine Oberlippe zwischen deine Zähne, und die Wärme deines Gesichts prickelte an meiner eiskalten Nase. Auf einmal warst du kein Fremder mehr. Du warst kein unbekanntes Wesen mehr, das mich gleichermaßen entzückte und ängstigte.

Du wurdest zu jemand Vertrautem, Sicherem, Einladendem und Warmem.

Aus Angst davor, von Soldaten oder Passanten in unserem Versteck überrascht zu werden, küssten wir uns nur kurz. Du strichst mir noch einmal übers Haar und löstest dich von mir. Dann setztest du dein schiefes, scheues Lächeln auf und seufztest. »Das sollten wir wiederholen«, sagte ich. Du lachtest.

Der Tag, an dessen Ende wir auf dem Berg die Sterne betrachteten, begann im Herzen der Altstadt von Damaskus, wo ich im Pages Café nervös auf dich wartete. Das Café, an der Ecke einer schmalen Gasse neben einer historischen Schule gelegen, war schummrig und gemütlich, und es wurde zum Treffpunkt für Liberale, Freidenker und intellektuelle Rebellen in Damaskus, bevor sie verhaftet oder getötet wurden oder flüchten mussten.

An den Wänden hingen abstrakte Poster und Gemälde. Manche versprachen eine Revolution, andere beschworen ein utopisches Damaskus, das die glorreichen Sechzigerjahre wieder aufleben lassen würde. Der Duft von türkischem Kaffee und frisch gebackenen syrischen Leckereien erfüllte das Café mit einem heimeligen Gefühl und überdeckte irgendwie den durchdringenden Schweißgeruch, den die Geheimpolizisten in Zivil absonderten. Sie hatten sich unter die Rebellen gemischt und belauschten unsere Gespräche, hinterließen mit ihren Stiefeln Dreck auf dem schwarz-weißen Fliesenboden und konnten es kaum erwarten zu gehen, um Freidenker anzuzeigen oder Aktivisten verhaften zu lassen.

»Ich habe eine Geschichte für dich«, sagte ich zu dir, als du an dem Ecktisch neben dem alten Klavier Platz nahmst, Sonnenstrahlen fielen, reflektiert von der Fassade der benachbarten Schule, durch die hohen, schmalen Fenster in das Café. Du hast gelächelt und dein schwarzer, akkurat gestutzter Bart glänzte mit deinen Zähnen um die Wette. Es war unsere allererste Begegnung – ich sah dich durch die Glastür kommen und wusste sofort, dass du es warst. Ich kannte deine Fotos von der Dating-Seite. Als du das schummrige Café betratst, hüllte dich die Sonne in ein engelhaftes Licht.

Du wirktest überrascht, um nicht zu sagen baff. Später erfuhr ich, dass du dachtest, was für ein Idiot du wärst, dich mit diesem Fremden zu treffen. Dass ich auf die üblichen Begrüßungsfloskeln verzichtete, machte dich verlegen, fast ängstlich. Du bist schon immer unsicher geworden, wenn du deine Komfortzone verlassen hast.

»Klar, erzähl mir eine Geschichte«, hast du taktvoll erwidert und im Geist die Schritte gezählt, die du bis zur Tür brauchen würdest.

»Meine früheste Erinnerung ist«, begann ich, »wie ich auf dem Schoß meiner Großmutter saß. Sie hat mich gekitzelt und dabei mit dem Mund so grässliche Geräusche gemacht. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, aber ich weiß noch, dass ich aus vollem Herzen lachte.«

Eine Sekunde lang lag dieser Das kann doch nicht dein Ernst sein-Blick auf deinem Gesicht. Du wusstest nicht, wie du darauf reagieren solltest. Du wusstest nicht, was als Nächstes kommen würde. In der Hoffnung, dass dich ein Anruf vor einem Nachmittag mit diesem Freak retten würde, warfst du einen Blick auf dein Handy-Display.

»Weißt du, ich erzähle dir das, weil ich ein Geschichtenerzähler bin«, sagte ich. »Ich bin ein Fabulierer, ein Dichter, ein hakawati.«

Es dauerte einen Moment. Du schautest mir in die Augen, begannst zu lächeln und sagtest: »Dann erzähl mir eine Geschichte.«

Dieses Lächeln, dieses wunderschöne, intensive, unerträglich süße Lächeln, das sich durch die vielen Schutzschichten deiner Seele einen Weg bahnte, brachte mich dazu, dich zu bitten, mich auf den Berg Qasyun zu begleiten, brachte mich dazu, dich zu küssen, mich in dich zu verlieben, während wir durch eine Stadt fuhren, die im Krieg versank.

Für den Rest unserer gemeinsamen Zeit in Damaskus hast du zweimal pro Woche bei mir übernachtet und deiner Mutter irgendeine Lügengeschichte darüber aufgetischt, wo du bist. Du zogst meine Pyjamahose an, und sie passte wie angegossen. Wir spielten Karten mit meinem Mitbewohner und blieben viel zu lang auf. Wenn dein Bedürfnis nach sozialer Interaktion gestillt war, bekamst du immer diesen speziellen Gesichtsausdruck, den ich sofort registrierte. Ich zog dich am Arm und nahm dich mit in mein Schlafzimmer. Mein Mitbewohner stellte kichernd Vermutungen über unseren Wunsch nach Privatsphäre an. Dabei kuschelten wir den Großteil der Nacht nur, weil wir mitten in der Unterhaltung einschliefen.

Der Genuss des Morgenkaffees auf meinem Balkon wurde oft durch das Schreien und Brüllen von Armeeoffizieren und Polizisten gestört, die jemanden verfolgten, um ihn zu verhaften. Sie zerrten den Flüchtigen am Hemd zu Boden, während die Frauen aus seiner Familie, die vom Fenster aus zusahen, lauthals jammerten und sich ihre weißen Kopftücher fester ums Gesicht zogen. Der Gefangene wurde unter den Blicken der Schaulustigen, darunter auch du und ich, in den Kofferraum gestoßen, dann wurde der Deckel zugeklappt und das Auto fuhr davon. Als wir das erste Mal Zeugen einer solchen Szene wurden, schlug uns das Herz bis zum Hals, und wir versteckten uns zwei Stunden lang in meinem Schlafzimmer. Nach ein paar Verhaftungen gewöhnten wir uns an das Brüllen und Wehklagen, frühstückten einfach weiter und stellten das Radio an.

Ich weiß nicht mehr, wie oft wir um drei Uhr morgens aufwachten, weil es irgendwo am anderen Ende der Stadt knallte. Der Kriegslärm hallte durch die stillen Straßen, und wir schreckten in Panik aus dem Schlaf hoch und fühlten uns sehr verlassen. Eines Nachts hast du gewimmert, noch halb im Schlaf, aus dem Land der Träume gerissen, voller Sorge, die Explosionen könnten zu nah bei uns sein. Ich strich dir übers Haar und beruhigte dich. »Das ist ein Feuerwerk, das ist nur ein Feuerwerk«, flüsterte ich, und du schliefst wieder ein.

Einmal kam die Explosion dann tatsächlich aus nächster Nähe; sie erschütterte die Wohnung und weckte uns beide auf. Wir hatten das Gefühl, es sei direkt vor unserem Haus passiert. Danach knatterten Maschinengewehre auf den Straßen.

Auf allen vieren flüchteten wir aus dem ungeschützten Schlafzimmer ins fensterlose Badezimmer. Ich legte mich in die Badewanne und du legtest dich auf mich drauf. Deine Augen waren weit aufgerissen, sahen aus wie kleine weiße Untertassen. Zitternd kautest du auf deiner Lippe herum. »Mein Rücken tut weh«, sagtest du und zeigtest auf die Narbe an den oberen Rippen, die wie eine Verbrennung aussah. »Ich bin ja da«, flüsterte ich und zog dich enger an mich, bis das Knattern der Maschinengewehre zu einem undefinierbaren Geräusch verklungen war.

In jener Nacht in der Badewanne liebte ich dich, als würde ich Gedichte über die Schönheit von Damaskus rezitieren. Als Eröffnung weckte ich dein Begehren mit sinnlichen Berührungen, schlich mich in deine Welt wie die ersten Tropfen Sonnenlicht auf den Bergen von Damaskus. Ich überzog dein Gesicht mit den Farben des Sonnenaufgangs, als ich mit den Zähnen an deinen Ohrläppchen zog. Ich erkundete jeden Winkel deines Körpers wie ein verirrter Reisender, der durch die alten, verschlafenen Straßen der Stadt wandert, klopfte mit den Fingerspitzen an das Tor zu deiner Seele wie ein schüchterner Botenjunge an die Holztüren der alten Häuser in Sarouja, wenn er warmes Brot und Baladi-Käse bringt. Ich drehte dich herum und kitzelte deine Füße, und du lachtest wie ein Kind, das im al-Jalaa-Park mit dem dowikha fährt. Ich hauchte ein lustvolles Stöhnen in dein Ohr, gleich dem Seufzer einer alten Holzbrücke, die unter dem Gewicht der Seelen, die sie trägt, ächzt. Unsere Körper verschmolzen, und wir bewegten uns, als würden wir die sich schlängelnden Straßen an den Hängen von al-Muhadschirin hinauf- und hinuntergleiten. Ich drückte atemlose Küsse auf deine Stirn, während ich deinen Körper von meinem löste, übersät von Bissspuren und herrlich nass vor Schweiß.

In jener Nacht liebtest du mich, als wärst du eine Invasionsarmee in einem plötzlich aufgeflammten Krieg. Mit ruhiger Hand zogst du mich aus und schmiegtest deinen Kopf an meine Rippen. Du hieltest mir mit der Hand den Mund zu aus Angst vor lauschenden Nachbarn hinter den dünnen Wänden. Ich gab mich deinen Händen hin wie ein verängstigter Teenager, der in einen Abgrund des Schmerzes entführt wird. Wir rangen, kämpften, deine Zähne gruben sich in meine Haut, bis du mir endlich glorreich und blutig deine Seele offenbaren konntest. Du hast gestöhnt und das Stöhnen sofort unterdrückt, wie ein standhafter Häftling, der seinen Wärtern und Folterern den Sieg nicht gönnt. Als du in mich eindrangst, wurde ich stumm, als hätte mein gesamter Körper kapituliert. Ich klammerte mich an dich wie ein Ertrinkender. Schließlich wandtest du dich von mir ab, mit reumütigem Blick und Schuldgefühlen, die du nur mit dir selbst ausmachst. Außer Atem kehrte ich von einer Reise zu deinen innersten Gedanken zurück.

Als wir die Badezimmertür öffneten und zurück ins Bett gingen, war das Knattern der Maschinengewehre längst verklungen.

Nur in diesen Augenblicken konnten wir ganz wir selbst sein, nackt in den Armen des anderen, beinahe blind für die Welt um uns herum. Außerhalb meines Schlafzimmers mussten wir auf jeden Schritt und jede Geste achten, hatten Angst vor dem Krieg, Angst vor unseren Familien, Angst vor allem außer uns beiden.

»Hakawati, geh nicht«, sagtest du, als ich ein paar Tage später aufstand, um mich anzuziehen. Du hast mit nacktem Oberkörper auf meinem Bett gesessen, und wir konnten die Stimmen unserer Freunde hören, die gerade munter wurden. Was war noch mal der Grund gewesen? Hatten wir am Abend zuvor eine Geburtstagsparty gefeiert, und alle waren so lange geblieben, dass der Heimweg quer durch Damaskus zu gefährlich gewesen wäre? Ich erinnere mich nicht mehr. Jedenfalls spielten wir die ganze Nacht Karten und tranken billigen Wodka. »Wir sind acht Leute im Haus, und ich habe nichts zum Frühstücken da«, sagte ich und suchte nach einem sauberen T-Shirt. »Ich bin in zehn Minuten zurück, ich laufe nur eben zum Laden gegenüber.«

»Ich komme mit«, sagtest du, und ich lächelte. Du strecktest mir deine Hand entgegen und ich dir meine. Unsere Finger berührten sich eine Sekunde. Aus der Ferne hörten wir eine kleine Explosion, aber das kümmerte uns nicht. Wir waren schließlich in Damaskus. Du packtest meine Hand und zogst mich zurück zum Bett, ich lachte, rief abwehrend deinen Namen, dann gab ich nach, du öffnetest den Reißverschluss meiner Hose, ich streifte deine herunter. Wir umschlangen einander mit den Armen. Deine Lippen verschmolzen mit meinen, und wir sackten aufs Bett.

»Hier drin wird’s ganz schön heiß«, sagte ich zu dir, und du hobst die Hand zum Fenster. Erst dachte ich, du hättest es zu schnell aufgezogen und dabei die Scheibe zerbrochen. Aus dem Augenwinkel sah ich Flammen, sie breiteten sich über die Straße aus wie eine jäh erblühende Feuerrose. Ein donnernder Lärm dröhnte in meinen Ohren, und Glas- und Holzstücke regneten auf mich herab. Ich packte dich, und wir rollten uns auf den Boden, Glasscherben bohrten sich uns in den Rücken. Ich schrie gellend, aber ich hörte nicht, wie ich schrie.

Dann war die Explosion auf einmal vorbei, und es herrschte wieder Stille, sozusagen die Ruhe nach dem Sturm.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich dich, deine Augen waren weit aufgerissen. »Ja. Und mit dir?« Ich musterte kurz dein Gesicht, dann stand ich auf. Geblendet ging ich zu dem kaputten Fenster. Ich warf einen Blick hinaus, drehte mich zu dir um und sagte: »Das war eine Autobombe, direkt gegenüber. Direkt vor dem Laden.«

Doch all das ist jetzt nur noch eine ferne Erinnerung. Diese Erinnerungen sind mein einziger Trost, während ich hier in diesem Bett liege, im ersten Stock unseres denkmalgeschützten Hauses in einer beschaulichen, stillen Ecke von Vancouvers West End, ein alter Mann von fast achtzig Jahren, der versucht, die Tage des Terrors in Syrien zu vergessen, ohne die Erinnerungen an unsere Liebe zu verlieren, die wir uns gemeinsam geschaffen haben.

Ich habe unzählige schlaflose Nächte damit verbracht, deine Atemzüge zu zählen, während du dich an die letzten Reste von Leben in dir klammerst. Deine wunderschöne Brust, inzwischen mit weißen Haaren bedeckt, bewegt sich rhythmisch auf und ab wie die Wellen am Strand von Beirut, wo du mir einmal das Leben gerettet hast. Damals war dein Brusthaar schwarz, ein Inbegriff der Männlichkeit auf deinen Muskeln. Du hast mich aus der Ferne angeblickt und gelächelt. Ich gestattete meinem Blick, über deinen Körper zu wandern, und rief mir deine Konturen und das Gefühl deiner Haut in Erinnerung, bevor ich zurücklächelte.

Siebenunddreißig Jahre lang war ich der Schwache; ich bin derjenige, der ständig krank wird, sich ins Bett verkriecht und keine Berührungen erträgt. Ich bin derjenige, der jammert, wenn er sich den Zeh an dem verdammten Tischbein anstößt. Ich bin der mit den Knochenbrüchen und der ausgekugelten Schulter. Und jetzt kommst du mir beim Sterben zuvor? Ich fühle mich betrogen, ja, sogar verraten. Dabei habe ich mich doch so angestrengt! Damals am Strand habe ich dir versprochen, das Rauchen aufzugeben und beim Whisky kürzerzutreten. Und schau mich jetzt an, ich bin ein alter, mürrischer Mann, der mit einem Glas in der Hand und einer Zigarette im Mund herumläuft, während du auf dem Totenbett liegst.

Du musstest ja unbedingt eine Million Mal diesen verdammten syrischen Spruch sagen: »Tou’borni inschallah«, mögest du mein Grab schaufeln. Es ist scherzhaft gemeint, und ich antworte darauf mit: »Baid al-shar«, möge das Böse fernbleiben. Was soll daran liebevoll sein, wie kamen unsere Großväter und davor ihre Großväter nur darauf? Man fordert den Tod nicht ungestraft heraus, und offenbar hat der Tod einen makabren Sinn für Humor.

Auch dein Gesicht verrät Überraschung. Du stellst dir dieselben Fragen wie ich. Warum ich, scheinst du zu denken, warum hat sich der Tod ausgerechnet mich herausgepickt? Der Tod ist Willkür schlechthin. Einmal starb vor unserem Haus hier im West End eine Frau mit ihren Kindern. Sie wurden von einem Auto überfahren. Du hast gesagt, du hättest gesehen, wie ihr Geist ihren Körper verließ, während sich die Menschen um sie scharten. Ich konnte ihre Seele nicht sehen, die deinen Worten nach leuchtete wie tausend Sonnen. Ich machte deine Medikamente für deine Wahrnehmung der Realität verantwortlich; sie stürzten dich immer mehr in Verwirrung.

Es ist jetzt fast vierzig Jahre her, dass wir Syrien 2012 verlassen haben. Wir wurden älter in einer Stadt, in der wir nicht geboren wurden. Die Luft, die wir atmeten, war nicht für uns bestimmt. Wir bugsierten uns gegenseitig durch ein Leben, das wir nicht erwartet hatten. Tief im Innern bewahrten wir die Erinnerungen an Syrien, während wir einander dabei zusahen, wie uns die Haare ausfielen, wir Falten bekamen und wie aus jungen, ruhelosen Männern Getriebene wurden. Wir führten hier in Kanada ein einfaches Leben; geradezu ereignislos, als würden sich all unsere Erlebnisse auf die ersten vierzig Jahre unserer Existenz konzentrieren. In den mehr als dreißig Jahren danach standen wir weiterhin im Bann unseres alten Lebens und vergaßen, das neue voll und ganz auszuschöpfen. Jetzt sind wir zwei alte Männer am Rand des Vergessens, bereit, in den Abgrund des Vergangenen zu springen.

Während ich auf deinen letzten Atemzug warte, schwebe ich selbst an der Schwelle des Todes: Ich habe das Gefühl, in einem ruhigen Meer auf dem Rücken zu treiben, die Sonne scheint mir in die Augen, und ich möchte mich den Wellen ergeben – Welle um Welle trägt mich ins Unbekannte. Ich kann den Sandstrand am Horizont nicht sehen, aber ich akzeptiere die kühlen Fluten; sie laden mich ein in die dunklen Tiefen der See. »Du gehörst zu den Wesen der Kälte«, sagen die Stimmen. Meine Nervenenden sind freigelegt wie bei einem Verbrennungsopfer, und die Fluten sind meine Rettung. »Aber ich kann noch nicht gehen«, flüstere ich matt und kraftlos zurück. »Er braucht mich noch.« Die Stimmen lassen nicht locker, und es fühlt sich wie das Richtige an, mich einfach der Kälte zu überlassen. Mein müdes Ich dem letzten Abgrund anheimzugeben. Doch ich widersetze mich, und die Wellen werden wütend, werfen mich ans Ufer und lassen mich zitternd und nach Luft ringend im Sand zurück.

Deine Medikamente machen dich in letzter Zeit nervös; du sprichst kaum mit mir und schläfst fast nicht und verlangst ständige Aufmerksamkeit. Nur in meinen Geschichten findest du Erleichterung. Dabei hast du sie all die Jahre mit mir ignoriert; sie waren dir zu detailreich, oft wolltest du sie nicht hören oder du unterbrachst mich dauernd. Jetzt wachst du in den frühen Morgenstunden auf, hievst dich mühsam hoch, schaltest das Licht ein und weckst mich auf. »Ich kann nicht schlafen. Erzähl mir eine Geschichte«, sagst du. »Ich habe deine Geschichten immer geliebt.«

Du wirst zu meinem Schahriyar, und ich zu deiner Schahrasad. Der Tod ist der Henker vor der Tür; er wird mich köpfen, wenn meine erschöpften Gehirnzellen deinem Wunsch nach Unterhaltung nicht nachkommen. Wir sind die Reinkarnation von drei Charakteren, die wir nur allzu gut kennen. Schahrasad rettete ihr Leben, indem sie den König neugierig auf die Fortsetzung der Geschichte machte, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass du deine Seele davon abhältst, deinen Körper zu verlassen, weil du wissen willst, wie die Geschichte endet. Du bist sozusagen ein Serienjunkie, der dem Serienfinale entgegenfiebert.

Als ich ein Junge war, schrieb ich Geschichten, um mein Leben zu retten; jetzt erzähle ich dir genau diese Geschichten in der Hoffnung, dich zu retten. Du öffnest die Augen, du bist wach. Du hievst dich hoch, schaltest das Licht ein und blickst mich an. »Erzähl mir eine Geschichte«, sagst du.

Der hakawati erzählt seine eigene Geschichte

Wir sind umgeben von Schwingungen wie von einem ungeschriebenen Musikstück. Diese verborgene Melodie erzeugt für uns eine Routine. Jede unserer Handlungen ist wie ein sanftes Streichen über die Saiten einer Violine. Wir komponieren eine Symphonie aus Traditionen und täglichen Gewohnheiten, die das Leben imitieren; aber das ist nicht das Leben, sondern eine Bewegung auf der Tonleiter. Der Klang deiner Schritte, wenn du am späten Vormittag das Bett verlässt und ins Badezimmer gehst; das Pfeifen des Wasserkochers, wenn ich deinen Kaffee zubereite; das schmerzvolle Ächzen, wenn ich die Treppe zu deinem Zimmer hinaufgehe – all das vermischt sich mit den unablässigen Geräuschen, die unser altes Haus macht. Zusammen erzeugen diese Geräusche ein Leben, das wir auch dann in uns spüren, wenn wir nicht auf sie achten.

Ich habe mich an diese Musik gewöhnt, und jetzt kann ich mir das Leben ohne sie nicht vorstellen. Eine meiner heimlichen Freuden ist, meine Gedanken schweifen zu lassen, im Kopf ein Bild deiner dicken weißen Augenbrauen zu zeichnen, wenn du in den Spiegel schaust und nach einer früheren, schönen Version von dir suchst, die es nicht mehr gibt. Selbst wenn ich mit den Hunden im Garten sitze, sehe ich vor mir, wie du mühsam versuchst, eine weitere Stufe zu bewältigen, die fünfte Stufe knarrt immer ein bisschen; das muss ich irgendwann reparieren.

Unser Garten ist riesig und von wuchernden Bäumen und Büschen eingerahmt, die ihn umschmiegen wie ein Armband ein Handgelenk. An den nicht sehr vielen sonnigen Tagen in Vancouver wird er grün, und die Blumen beäugen einander und machen sich bereit für eine neue Bestäubungsperiode. An den verregneten Wintertagen, die sich viel zu lange hinziehen und uns ans Haus fesseln, wird er matschig, in den Ecken bilden sich kleine Wasserlachen. Der heftige Regen trägt mit seinem beharrlichen Trommelrhythmus zur Symphonie bei, wenn er auf die Pfützen in unserem Garten prasselt.

Unser Haus war weiß, als wir es vor über zwanzig Jahren kauften. Wir strichen es erst rot, weil wir das peppig und hübsch fanden, und dann grün, weil dich die Farbe an dein Elternhaus in Damaskus erinnerte. Als wir älter wurden, verabschiedeten wir uns von den fröhlichen Farben und gaben uns mit einem dunklen Grau zufrieden, der Farbe deiner Augen, wenn du frühmorgens aufwachst und deine Medizin und dein Frühstück verlangst.

Der Wind traf immer die Südseite des Hauses, riss Fenster auf und ließ Türen zuknallen. Er machte die Hunde verrückt und weckte uns mitten in der Nacht auf. Er pfiff wie ein fremder Mann auf der Straße, der sich über uns lustig macht. Er brachte die Gerüche der English Bay und des Sunset Beach mit. Er trug den Duft der Donuts vom nahe gelegenen Tim Hortons zu uns und machte uns fast jeden Morgen Appetit darauf.

Jetzt rüttelt der Wind nicht mehr an unserem Haus, in unserer Symphonie fehlt eines der wichtigsten Instrumente. Hohe Wolkenkratzer haben sich rings um unser kleines zweigeschossiges Haus angesiedelt und es im Laufe der Jahre langsam, aber penetrant eingekreist.

Du hast unser Haus angefüllt mit Gemälden, Mosaikarbeiten und traditionellen Sitzecken wie in deinem Elternhaus damals in Damaskus. Wochenlang hast du Möbel gerückt, dann hast du dich in eine Zimmerecke gestellt und dir im Geist alle möglichen geselligen Zusammenkünfte ausgemalt, die nie stattfanden. Du hast überlegt, ob das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto deines Großvaters zentral an der Wand oder in einem versteckten Winkel deines Arbeitszimmers hängen sollte. Erst wolltest du einen blauen Teppich für das Wohnzimmer, dann hast du einen dunkelgelben gekauft und es nur Tage danach schon wieder bereut. Du hast gern im Garten gearbeitet und die Pflanzen gegossen.

Mit solchen Abwägungen ist es nun vorbei. Du gärtnerst nicht mehr. Du hast seit fünf Jahren kein einziges Möbelstück verrückt. Im Wohnzimmer liegt kein Teppich, und auf dem Foto deines Großvaters, das du achtlos in unserer Abstellkammer deponiert hast, sammelt sich der Staub.

Nachts verstummen die Geräusche unseres Lebens, öffnen den Raum für die Geräusche des Unbekannten, die durch die Fenster in unser Haus dringen. Nachts schläfst du, und ich bleibe wach, lausche den Stimmen und versuche ihre Botschaften zu deuten. Werden sie mir eine Geschichte für dich erzählen? Manchmal ja, manchmal nein. Dein rhythmisches Ein- und Ausatmen hält mich wach, und ich frage mich, ob du wohl gerade von deinem eigenen Paradies träumst.

Als du noch ein Junge warst, dachtest du, dir stünde die ganze Welt offen. Du hast dein Herz dem Lachen geöffnet und Witze gerissen. Einmal hast du mir ein altes Video von dir gezeigt, aufgenommen mit einer Kamera, die ihr euch von einem Bekannten deines Vaters, einem Hochzeitsplaner, ausgeliehen hattet. Man sah, wie du im weißen Jackett und mit roter Fliege dastandest und stumm dem Beat eines Reggae-Songs lauschtest, der in den Neunzigerjahren in Syrien ziemlich angesagt war. Auf einmal fingst du zu tanzen an, ohne die Menschen um dich herum oder das Lachen deines Vaters wahrzunehmen. Du hast die Schritte der Tänzer in dem Musikvideo imitiert, dich nach links und rechts gedreht, laut beim Refrain mitgesungen. Du hast die Füße bewegt, so schnell du konntest, und im Takt mit dem Kopf genickt.

Das, hast du mir erzählt, sei dein Himmel. Das war die Zeit, als du noch du selbst warst, bevor du vor der Realität des Lebens geflüchtet bist und deine Gedanken in deinem Kopf eingesperrt hast. Als du älter wurdest, hast du aufgehört zu lachen und zu tanzen und dir stattdessen einen sarkastischen Humor zugelegt, an dem niemand teilhaben darf, und ein Bedürfnis nach persönlichem Freiraum entwickelt, um ungestört deinen Gedanken nachhängen zu können.

Dein Atem wird mühsamer, und kurz krampft sich mein Herz vor Angst zusammen. Schließlich öffnest du die Augen. Du lächelst mich an. »Darf ich dir jetzt das Ende erzählen?«, frage ich und ziehe dich an mich; du lässt deinen müden Kopf, bis zum Rand mit Medikamenten zugedröhnt, auf meiner Brust ruhen. Ich höre das leichte Knacken meiner gebrochenen Rippe, die unter dem Gewicht ächzt. Ich ignoriere es wie in den vergangenen sechzig Jahren. Auch du hörst das Knacken.

»Ich will dir nicht zur Last fallen«, sagst du und verschiebst den Kopf. »Deine gebrochene Rippe ist nie richtig verheilt.«

Ich ziehe dich enger an mich. »Keine Sorge, das spüre ich kaum noch.« Ich kratze mich genau an der Stelle, wo die gebrochene Rippe liegt.

Mit Anfang zwanzig habe ich eine Weile in Kairo gelebt. Ich habe dir diese Geschichte schon einmal erzählt, vor vielen Jahren, aber seitdem nicht mehr. Ich erzähle nicht gerne alte Geschichten von gebrochenen Rippen und schmerzhaften Erfahrungen. Sie haben nichts mehr mit mir zu tun, sondern mit anderen Männern, die sie an meiner Stelle erlebt haben. Jede Phase meines Lebens kommt mir vor wie die Geschichte eines anderen Mannes, keinen dieser Männer kenne ich gut. Keinen von ihnen verstehe ich jetzt noch. Diese Geschichte handelt von einem Mann, der mit Anfang zwanzig in Ägypten lebte. Er brach aus, verließ seine Familie in Syrien und zog in ein Land, das er nur aus Mumienfilmen und Jugendbüchern kannte. Warum hat dieser Mann diese Entscheidung getroffen? Was hat ihn dazu gebracht, alle Anzeichen zu ignorieren und die leere, dunkle Straße in den Außenbezirken Kairos entlangzugehen, allein und arglos?

Der fremde Mann wurde in seiner Clique ägyptischer Freunde als homosexuell geoutet. Den Rest der Geschichte kannst du dir denken: Eines Nachmittags bekam er einen Anruf von einem seiner Freunde. Er wurde aufgefordert, in ein Einkaufszentrum zu kommen, und er tat es. Dort setzte sich dieser Fremde zu seinen Freunden im Gastro-Bereich, wo es penetrant nach McDonald’s-Essen roch.

»Wir haben Geschichten über dich gehört«, sagte einer aus der Gruppe, ein großer, dunkelhäutiger Bursche mit dickem Schnurrbart und Weihnachtsmannbauch. »Du sollst wissen, dass wir dich unterstützen, wir lassen dich nicht fallen, wir stehen hinter dir.«

»Was bist du? Ein Top oder ein Bottom?«, erkundigte sich Fady, in den der Fremde verknallt war. »Ich meine, wenn du ein Top bist, kannst du einfach ein Mädchen heiraten und mit ihr machen, was du willst.« Der Fremde wollte auf ihre Fragen nicht antworten; er fühlte sich getäuscht und in die Ecke gedrängt. Er wollte vom Tisch aufstehen und ohne einen Blick zurück verschwinden. Er wollte sich in seine eigenen Fantasien flüchten. Im Geiste hielt er mit Fady Händchen, und Fady verstand und begrüßte sogar seine Avancen. Die beiden tauschten einen Kuss, eine Berührung und ein Flüstern.

Die Gruppe, alle acht Männer, diskutierte immer noch das Sexualleben dieses Mannes; sie überlegten sich einen Plan, um das, was von seiner Seele übrig war, zu retten. »Vielleicht könnten wir ein bisschen Geld für ihn zusammenkratzen«, schlug Fady vor und meinte jenen Mann, der ich früher einmal war. »Und ihn auf die Hochzeit vorbereiten.«

Endlich fühlte sich der Fremde zu einer Reaktion imstande.

»Ich habe euch nie um eure Akzeptanz oder euer Verständnis gebeten«, sagte er. Er hielt ihnen vor, wie oft jeder von ihnen in seinem Haus übernachtet hatte, wie oft sie alle im selben Bett wie er gelegen und bis zum Morgengrauen von Liebe und Verlust gesprochen hatten. Er merkte, dass all diese Augenblicke, die ihm so teuer waren, bedeutungslos wurden. »Du hast neben mir geschlafen.« Er deutete auf den Weihnachtsmann, dessen Gesicht rot angelaufen war. »Habe ich dich angefasst? Habe ich dich belästigt? Habe ich dir auch nur im Entferntesten ein unangenehmes Gefühl gegeben?« Keiner wusste etwas darauf zu erwidern.

Der Fremde verließ fluchtartig den Tisch; er sprang die Rolltreppe hinunter und stand auf einmal vor dem Kino. Als er auf die Plakate starrte, beschloss er, sich V wie Vendetta anzusehen. Auf dem Weg in den Kinosaal fing er eine Unterhaltung mit einem Angestellten an, einem hübschen, dunkelhaarigen Typen etwa in seinem Alter. Sie wechselten kurze Sätze, während er in der Schlange darauf wartete, dass die Türen des Kinosaals geöffnet wurden. Der Fremde fragte sich, ob sie gerade flirteten, und kam, je länger ihr Gespräch dauerte, zu dem Schluss, dass es so war. »Ich habe den Film schon ein paarmal gesehen«, meinte der Angestellte, mit der kleinen Taschenlampe in seiner Hand spielend. »Er ist super.«

Der Angestellte erläuterte, warum ihn der Film so berührt hatte. »V ist ein einsamer Wolf«, sagte er und ließ seine großen dunklen Augen auf dem Gesicht des Fremden ruhen. »Er wird von der Gesellschaft ausgestoßen und von seinen Mitmenschen abgelehnt, nur weil er ist, wie er ist.« Inzwischen wollte der Fremde nur noch den Arm um die Taille des Angestellten schlingen und ihn leidenschaftlich küssen.

»Aber er bringt die Gesellschaft dazu, ihn zu akzeptieren, wie er ist«, fügte der Angestellte leise hinzu. Seine Lippen waren verführerisch, seine Haut schimmerte warm. »Es war ein revolutionärer Akt.«

»Keine Ahnung, wie sie das übersehen konnten«, flüsterte der Angestellte dem Fremden zu, »aber in dem Film küssen sich zwei Frauen, und die ägyptischen Zensurgötter haben die Szene nicht herausgeschnitten.«

Als der Fremde durch den Saal zu seinem Platz ging, folgte ihm der Angestellte mit den Augen; im dunklen Kino, der Film lief schon, schlüpfte der Angestellte auf den leeren Platz neben dem Fremden. Er raunte ihm ein kurzes Hallo zu und sah auf die Leinwand.

Augenblicke später fand die Hand des Angestellten den Weg zu den Fingerspitzen des Fremden. Der Fremde zog die Hand zu sich und nahm sie in seine. Als sich die beiden Frauen auf der Leinwand zärtlich küssten, umklammerten sich die Hände ganz fest. Die Finger neckten einander, während V und Evey zu Beginn des dritten Teils im Takt ihres eigenen Herzschlags tanzten. Schweigend hörten die beiden Männer, wie V sagte: »Eine Revolution ohne Tanzen ist eine Revolution, die sich nicht lohnt.«

Als das Licht anging und sich der Saal allmählich leerte, lösten sie ihre Hände voneinander. Sie sahen sich an und lächelten. »Kann ich deine Telefonnummer haben?«, fragte der Angestellte schüchtern, und der Fremde grinste. Während sie ihre Kontaktdaten tauschten, spürten sie, wie ihnen das Blut ins Gesicht schoss. Sie trennten sich mit dem Versprechen auf ein Wiedersehen.

Der kalte Wüstenwind fuhr in die Kleider des Fremden; fröstelnd lief er zu Fuß durch die leeren Straßen nach Hause, weil er kein Taxi fand. Er fühlte sich sicher und war in Hochstimmung wegen der Aussicht auf ein Date mit einem süßen Angestellten mit weichen Händen. Hinter sich hörte er Schritte. Die nächtlichen Geräusche animierten ihn zu einem langsamen Tänzchen. Er schlenderte dahin, trunken von der kühlen Brise.

Das war die Nacht, in der ich aus dem Körper des Fremden geboren wurde; ich brach gleichsam aus ihm hervor. Dieser unschuldige Junge lebte, als er das Kino verließ, und war tot, als ich am nächsten Tag mit ausgekugelter Schulter und gebrochener Rippe im Krankenhaus aufwachte.

Als der Fremde und ich – noch in einem Körper vereint – uns umdrehten, sahen wir sie kommen. Sie kamen schnell. Es waren sieben. Fady war nicht dabei. Ihre vertrauten Gesichter hatten unvertraute Mienen. Der erste Tritt landete direkt zwischen den Beinen. »Chawal«, sagte einer von ihnen. »Tunte!«

Der Fremde und ich wehrten uns nicht; wir standen einfach nur da und versuchten unser Gesicht zu schützen. Es folgte ein Stoß gegen die Brust, der einen stechenden Schmerz in der Lunge hervorrief. Ein Schlag gegen das Knie, der uns zu Boden fallen ließ. Dann ein Trommelfeuer aus Tritten. »Ich tue es für dich«, sagte der Weihnachtsmann. »Du sollst wissen, wer du wirklich bist.«

Die Hände des Fremden erlahmten, er konnte sein Gesicht nicht mehr schützen. Langsam glitten sie nach unten. Auf seinem Brustkorb landete ein Tritt mit der Schuhsohle. Er hörte das Knacken, als die angeknackste Rippe komplett durchbrach, es dröhnte in seinem Kopf. Auch ich hörte es. Sein Verstand raste, er konnte nicht mehr denken. Die Tritte, die seinen Körper trafen, zerfetzten seine Eingeweide. Er versuchte tief einzuatmen. Er versuchte zu sprechen. Die Worte erstarben auf seiner Zunge. Er versuchte um Vergebung für eine Sünde zu bitten, die für ihn keine Sünde war. Er hörte seine eigenen Atemzüge. Er rang nach Atem, doch die Luft gelangte nicht in seinen Körper. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Er wünschte sich, sie würden aufhören. Er wünschte, sie würden das Knacken seiner Knochen hören. Er wünschte sich Gnade.

Im Geiste sah er ihre lächelnden Gesichter, wenn sie sich am Wochenende in seiner kleinen Wohnung versammelten; irgendjemand brachte eine Shisha mit, ein anderer kaufte genügend kuschari oder Sonnenblumenkerne für alle. Sie spielten zusammen »Alarmstufe Rot«, manchmal online, manchmal mit zwei Computern, die sie in seiner Wohnung miteinander verbanden. Er kochte ihnen Tee. Sie liehen sich Bücher von ihm und lasen seine Kurzgeschichten.

Allmählich ließ der Schmerz in seinem Körper nach. Er spürte ihn nicht mehr. Ich wurde das Schließfach für seinen Schmerz; ich wurde das Gefäß für sein Leid. Er verlor den Bezug zur Realität. Während ich zurückblieb und die Schläge abfing, glitt er in seine Fantasien ab. Er stellte sich vor, wie er den Angestellten anrief und sich mit ihm zum Kaffeetrinken verabredete, irgendwo am Nilufer. Er würde dem Angestellten bei einem Blumenmädchen mit einem schmutzigen Kopftuch eine Rose kaufen. Der Angestellte würde sie zwischen den Seiten einer Graphic Novel pressen, die er ein paar Wochen zuvor gekauft hatte. Das Buch würde für immer nach Blumen duften, und die Rose würde unsterblich werden wie eine Rose aus Glas.

Jedes Wochenende würden sie zusammen ins Kino gehen und sich eine Komödie oder ein Drama ansehen. Sie würden sich über Superhelden-Filme streiten und im dunklen Kino Händchen halten. Wenn sie nach Hause gingen, würden sie sich einen Gutenachtkuss geben. Sie würden zusammen alt werden, und eines Tages würde er, während er in einem mit Filmplakaten tapezierten Schlafzimmer in den Armen seines Geliebten lag, friedlich entschlafen.

Beim letzten Schlag, der in seinem Gesicht landete, kehrte er in die dunkle Gasse zurück. Er hustete Blut und spuckte es aus. »Bas«, bettelte er, »es reicht, bitte.« Seine gebrochene Rippe hatte wohl seine Lunge durchbohrt; ich spürte, wie sie sich dort einnistete. Sie wuchs in seiner Lunge wie ein Baum mit verdorrten, blattlosen Ästen, schrammte an seinem Herzen vorbei und kratzte an der Innenseite seines Brustkorbs. Der Fremde spürte, dass er sterben würde. »Bas«, flüsterte er, doch es kam als Zischen heraus, begleitet von Blut.

In jener Nacht hatte ich meine erste Begegnung mit dem Tod.

Er erschien rasch, mit einem Lächeln auf seinem Skelettgesicht. Er winkte mit den Fingern, und die Welt blieb stehen; ein Tropfen Blut in meinem Augenwinkel gefror auf meinem Gesicht wie eine rote Träne, die ich nicht weinte. Die Gesichter wurden zu wütenden Masken; die Füße verharrten Millimeter vor meinem Körper. »Du kannst jetzt loslassen«, sagte der Tod. »Du musst dich nur für tot erklären, dann bist du es.«

Der Tod trug eine schwarze Kapuze wie der Sensenmann im Cartoon; seine Finger waren kalt wie Eiszapfen, als sie sanft über mein Gesicht strichen. In jener Nacht zeigte er mir alles: Er zeigte mir die Zukunft, die ich haben, die Geschichten, die ich erzählen, und die Männer, die ich kennenlernen würde. Er zeigte mir dich, mein Liebster, und ich sah dich. »Das ist dein Leben«, sagte er. »Du wirst am Bett deines Geliebten sitzen, wenn er im Sterben liegt, und ihm eine Geschichte nach der anderen erzählen, um ihn vor meinen kalten Fingern zu retten.«

Während mich die Dunkelheit umfing, fragte er mich, ob ich bereit sei, all dies loszulassen und mit ihm ins Unbekannte zu entschwinden. War ich nicht. »Du erzählst ihm die Geschichten nicht, um ihn am Leben zu halten«, behauptete er. »Sondern weil du dir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kannst. Es wird ein egoistischer, trauriger Akt der Selbsterhaltung sein.« Schahrasad wollte den Sultan nicht von seinem Wahn befreien, weil sie ihn liebte. Sie wollte einzig und allein ihren Kopf vor dem Schwert des Henkers bewahren.

Die Welt um mich herum war dunkel, sodass ich nur das Licht in den Augen des Todes sah. Ich streckte die Arme aus und nahm das Gesicht des Todes in meine Hände. Ich drückte einen blutigen Kuss auf seine weißen Zähne und flehte ihn an, mich hierbleiben zu lassen.

In diesem Augenblick streifte der Tod den unschuldigen jungen Mann von mir ab. Es war ein schmerzhafter Vorgang; es fühlte sich an, als würde ein Teil meiner Seele aus mir herausgerissen werden. Der Tod lächelte mich an und entnahm meinem Innern eine geisterhafte Gestalt, einen Jungen, der ich früher einmal war und der nun ein Fremder für mich ist.

Dieser fremde junge Mann besucht mich manchmal, wenn ich hier mit dir im Bett liege. Er ruft mir längst Vergangenes ins Gedächtnis. Er flüstert mir Gedichte ins Ohr, während ich darauf warte, dass du aufwachst, damit ich weiß, dass du noch lebst.

»Erzähl mir eine Geschichte«, bittest du mich jetzt. Der Tod steckt den Kopf durch den Türspalt; in seinem Umhang erkenne ich den Fremden. Er wirkt glücklich. Er hat seinen Schmerz in mich hineingegossen und diese Welt gegen einen unschuldigen Himmel eingetauscht. Sein Schmerz in mir lässt sich nicht unterdrücken. Er meldet sich von Zeit zu Zeit, pocht laut in meinen Knochen. Er fühlt sich an wie das Schreien eines Kindes, das von seiner Mutter verlassen wurde. Manchmal schrillt er in meinen Kopf. Er knallt gegen meine gebrochene Rippe und prallt an meine ausgekugelte Schulter. Er reißt mich weg von dir und entführt mich an dunkle Orte, die ich nicht mag, doch das behalte ich für mich.

Ich lächle dir zu, mein Liebster, und komme deiner Bitte nach. »Es war einmal ein Mann, der erzählte seinem Liebsten eine Geschichte. Sie trug den Titel ›Der schönste Selbstmord‹ und handelte von einer Frau namens Evelyn McHale.«

Evelyn McHale war bereits tot, als sie auf dem Auto aufschlug. Während sie geräuschlos vom sechsundachtzigsten Stock des Empire State Building fiel, verließ ihre Seele ihren Körper und stieg rasch nach oben, folgte ihrem weißen Halstuch – dem Halstuch, das sie, bevor sie sprang, über die Kante des Gebäudes geworfen hatte.

Ein Geist kommt anscheinend selten allein. Während ich dir von Evelyn erzähle, befreit sich ein weiterer Geist aus den Fängen des Todes. Die Frau steht in der Ecke unseres Schlafzimmers und lauscht meiner Geschichte über eine Frau, die sich wie sie von der Welt verabschiedet hat.

Ich kenne den Geruch ihrer Kleider; ich kenne ihre tief liegenden Augen. Der Geist meiner Mutter sagt keinen Ton. Ich höre ihre Stimme, sie kommt von unter dem Bett, wo sie sich wie ein Monster versteckt. »Ich habe dich neun Monate lang im Leib getragen«, wiederholt die Stimme, doch der Geist schweigt immer noch. »Du bist ein Teil von mir.«

Ich wurde in Damaskus geboren und war ein einsames Kind. Schon vor meiner Geburt sagte man mir den bösen Blick nach. An einem ihrer guten Tage erzählte mir meine Mutter, als sie zum ersten Mal spürte, wie ich gegen ihre Bauchdecke trat, habe eine alte unverheiratete Tante von mir ihren Bauch gestreichelt. »Er wird ein großer und starker Junge werden«, sagte sie mit neidisch funkelnden Augen. »Du solltest gut auf ihn aufpassen.« Von da an hatte meine Mutter Schwangerschaftsbeschwerden. Nach meiner Geburt war ihre Milch trocken und salzig. Ich war ein schwächliches Kind, wurde leicht schikaniert, war einsam.

Sie sieht mich vorwurfsvoll an, und ich fröstle. Ich kann mich viel zu gut an dich erinnern, Mutter. Du raubst mich meinem lauschenden Liebsten, reißt mich aus dem Bett und wirfst mich in das eisige Loch der Erinnerung. Dort sehe ich dich in der Ecke unseres verstaubten Wohnzimmers sitzen und auf meine Heimkehr aus der Schule warten, in der Hand das Strickzeug. Du machst gerade einen blau-gelben Winterpullover, der potthässlich ist. Trotzdem werde ich ihn tragen müssen. Das Wohnzimmer ist spärlich beleuchtet und versinkt unter einer Staubschicht, im Fernsehen läuft eine bescheuerte syrische Seifenoper. Ich hasse den Staub, ich hasse die Seifenoper, ich hasse den Pullover, und am meisten hasse ich dich.

Die Luft ist zum Schneiden; die Fenster wurden seit Wochen nicht geöffnet, und sobald ich mit meiner schweren Schultasche durch die Tür trete, habe ich das Gefühl zu ersticken. Du starrst mir entgegen, siehst die Finsternis in meinen Augen und weißt, wie sehr ich mich vor dir fürchte. Du beginnst zu lächeln; aus dem Lächeln wird ein Lachen, als würdest du dich an der Angst weiden, die du mir einflößt. Dein Lachen dringt durch das ganze Haus, bis hin zu den Schulbüchern in meinem Zimmer, meinen alten Kassetten und den Fotos, die ich vor dir verstecke.

»Hallo Mutter«, sage ich.

»Fick dich«, antwortest du.

Sie hörte den Aufprall nicht, als ihr Körper auf die vor dem Gebäude geparkte Cadillac-Limousine schlug; sie sah nicht, wie sich die Menschen um ihren toten Körper scharten. Sie sah sich nicht selbst, in gewohnt eleganter Haltung, die Füße an den Knöcheln gekreuzt, die Perlenkette um den Hals drapiert, die weißen Handschuhe blitzsauber. Sie spürte nicht das Metall des Wagens, das sich um sie schmiegte wie eine Wolke in der Fantasievorstellung eines Kindes; sie ärgerte sich nicht darüber, dass sie unterwegs ihre High Heels verloren hatte.

Wie eine grüne Muräne schleichst du dich mitten in der Nacht in mein Zimmer. Deine Kleider sind schlampig. Deiner Liebe fehlt jede Eleganz. Mit einer Hand drehst du langsam den Türknauf, in der anderen hältst du ein Küchenmesser. Meine gut trainierten Sinne wecken mich auf, meine Augen gewöhnen sich in Sekundenschnelle an die Dunkelheit, und ich sehe dich. Du stehst vor mir, groß und mächtig, wie eine Statue, die Gift und Galle spuckt.

»Deine Augen glühen in der Dunkelheit wie die eines Dämons«, sagst du zu mir, und ich springe aus dem Bett und schubse dich weg. Im Fallen reißt du zwei Regalbretter mit meinen Büchern herunter, meinen einzigen Freunden auf der Welt, und ich ergreife die Flucht. Barfuß und in Unterwäsche stürze ich zur Tür.

»Komm zurück, du kleiner Scheißer!« Ich springe die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Mein vierzehnjähriges Herz pumpt Blut durch meinen jungen Körper. Meine Muskeln krampfen sich vor Angst zusammen, und Tränenströme laufen mir übers Gesicht. Ich bin voller Angst, verstört. Für dein Kind bist du eine Göttin, und eine Göttin ist zu allem fähig. Du bist ein Diktator, der in meinem Blut badet, und ich bin schwach, kraftlos und wüsste nicht, wie ich mich gegen ein Messer verteidigen sollte.

Ich höre dich immer noch rumoren, als du wie ein Tiger im Käfig durch das Haus streifst und deine Einsamkeit hinausbrüllst. Eilig laufe ich vorbei an den geschlossenen Geschäften zu meinem Lieblingsversteck hinter den Mülltonnen an der Kreuzung, wo mich eine öffentliche Treppe vor den Blicken der Passanten und dem kalten Nachtwind schützt. Ich vertreibe mir die Zeit damit, Autos und Sterne zu zählen, warte darauf, dass dein jüngster Ausbruch vorübergeht.

In meinem Unterschlupf breche ich laut in Tränen aus. Ich habe das Gefühl, mich in freiem Fall zu befinden, von der Kante in einen gierigen Schlund gestoßen. Du bist eine Göttin, und ich wurde von meinem Glauben getäuscht. Dein Herz sollte eigentlich Liebe zu deinen Kindern hervorbringen, so wie deine Brüste Milch für sie hervorbringen sollten.