Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Hunger. Sorgen. Zukunftsängste. Das sind die Dinge, die die beiden Schwestern Olivia und Aurelia durch den aufkommenden Bürgerkrieg beschäftigen. Als die Familie schließlich gewaltsam voneinander getrennt wird, wird die Welt der beiden Schwestern auf den Kopf gestellt und nichts ist so, wie es einmal war. Beide kämpfen um ihr Überleben und gehen Wege, die sie alles hinterfragen lassen. Die Schwestern geben die Hoffnung jedoch nicht auf, sich wiederzusehen. Inmitten dieses Kampfes treffen beide auf eine schicksalhafte Liebe, die alles verändern wird. Wird ihre Liebe eine Chance haben oder verlieren sie sich im Kampf ums Überleben?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 664
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Liebe Leser:innen,
dieses Buch könnte Inhalte enthalten, die triggern können. Aus diesem Grund findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung mit den entsprechenden Themen.
Für meine Eltern,
die mir dieses Leben ermöglicht haben.
„Wer immer tut, was man ihm sagt, hat das Denken nie gelernt.“
PROLOG
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
AURELIA
OLIVIA
Schwer atmend starrte sie in den Garten.
Wo konnten sie sein?
Sie wusste keine Antwort, aber was sie wusste war, dass sie jetzt handeln müsste, wenn sie ihrer Familie helfen wollte.
Entschlossen versuchte sie erneut, sich an ihm vorbeizudrücken und rammte ihm den Ellbogen in die Flanke. Mit einem Krächzen gab er nach und sie stürmte in Richtung Treppe.
Als ein ohrenbetäubender Krach die Stille durchbrach, stolperte sie jedoch heftig zurück. Unten hörte sie, wie die Haustür aufgebrochen wurde und mehrere Personen in den Flur stürmten.
Polizisten. Einer von ihnen schaute genau in dem Moment zu ihr nach oben, als auch sie ihn entdeckte.
Noch bevor sie sich rühren konnte, zog er sie so ruckartig wieder nach oben, sodass sie heftig gegen die Wand geschleudert wurde.
Ohne abzuwarten, zog er seine Waffe und feuerte. Sie selbst schrie auf, fiel auf die Knie. Schützend schlug sie die Arme vor den Kopf und versuchte sich gleichzeitig die Ohren zuzuhalten.
Es fiel ein Schuss nach dem anderen.
„Verdammt, was tust du da?“ Als die Schüsse endlich verebbten, traute sie sich zaghaft, die Hände von den Ohren zu nehmen. Ängstlich schaute sie sich um und entdeckte ihn, wie er sich mit gezückter Waffe hinter dem Treppengeländer versteckte und angespannt an die Decke starrte.
„Komm, liefere sie aus und wir vergessen die Sache. Ich sage, ich habe nichts gesehen.“
Er schloss die Augen; atmete ganz ruhig, fast so, als wüsste er, was gleich passieren würde.
„Lass uns einfach durch. Ich will das nicht tun, ich will dich nicht erschießen müssen.“
Stille.
Panisch schaute sich nach allen Seiten um, versuchte fieberhaft nachzudenken.
Denk nach, verdammt noch mal!
Vorsichtig löste sie sich aus ihrer Starre und kroch zu ihm, als er ihr einen kurzen Blick zuwarf.
„Wir sind doch Partner. Du weißt, dass diese Leute hier nichts anderes verdient haben. Die anderen sind in den Garten gerannt, nur ich bin hier. Ich weiß, dass du da noch eine haben musst – eine fehlt. Liefere das Mädchen aus und wir vergessen die Sache.“
Er beugte sich zu ihr herüber und strich ihr sehr viel sanfter als erwartet, das Haar hinters Ohr. „Wenn ich los sage, rennst du um dein Leben. Wir holen deine Familie jetzt. Verstanden?“, flüsterte er, wobei er ihr so lange in die Augen schaute, bis sie zustimmend nickte.
„Otto?“, rief er schließlich nach unten, brachte sich in Position. „Es tut mir leid, aber du lässt mir keine Wahl.“ Blitzschnell sprang er aus seiner Deckung und schoss drei Mal. Erneut krümmte sie sich zusammen, schrie.
„Los!“ Sie spürte, wie sie ein weiteres Mal in die Höhe gezogen wurde und rannte. Ohne zu wissen wohin, ohne du denken, rannte sie.
Sie rannte um ihr Leben.
Mit einem Gähnen räkelte sie sich in ihrem Bett und rieb sich die Augen.
8:30 Uhr. In zwei Stunden würde ihre Schicht anfangen, wodurch sie eigentlich sofort aufstehen müsste. Eigentlich.
Gähnend rollte sie sich auf die andere Seite, um vielleicht doch noch eine halbe Stunde länger zu schlafen.
„Liv!“, tönte es von unten und sie versuchte mit aller Kraft, die Stimme zu überhören.
Ob sie es merken würde, wenn sie einfach so tue, als würde sie noch schlafen?
Als ihr Name ein weiteres Mal gerufen wurde, wusste sie, dass es wohl doch keine weitere halbe Stunde Schlaf für sie geben würde.
„Olivia Miller!“, rief ihre Schwester, als diese ihre Zimmertür aufriss und sie unsanft aus ihren Träumen riss.
Stöhnend zog Olivia sich das Kissen über den Kopf.
Wann hatte sie endlich mal Ruhe vor ihr?
„Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?“, schnauzte Olivia, während sie genervt die Decke zurückschlug und ihre Beine über den Bettrand warf. Sie rieb sich müde die Augen, bevor sie das Gesicht in die Hände stützte und ihre Schwester erwartungsvoll anschaute.
„Nein, kann ich nicht. Wenn du wüsstest, weshalb ich dich geweckt habe, wärst du jetzt wesentlich netter zu mir“, surrte Aurelia und warf sich auf ihre Bettkante. Olivia kannte diesen Ton bei ihrer Schwester nur zu gut und wusste, dass es dabei nur zwei Optionen gab. Entweder versuchte sie, Olivia um den Finger zu wickeln, um etwas zu bekommen oder sie hatte etwas, mit dem Aurelia sie aus der Reserve locken konnte.
Gespannt hob sie eine Augenbraue und signalisierte ihr, dass sie endlich sagen sollte, worum es überhaupt ging.
„Also schön, pass auf. Elias hat mich gerade angerufen und mir einen ganz heißen Tipp gegeben. Die Nachbarn seines Onkels ziehen in drei Monaten aus ihrer Wohnung aus und würden dich weiterempfehlen, wenn du sie denn nehmen würdest!“
Es dauerte keine Sekunde lang, bis die unglaubliche Nachricht zu ihr durchdrang. „Du hast eine Wohnung für mich in Aussicht?“, schrie Liv fassungslos, auf einmal hellwach.
„Richtig und das auch noch in deinem Preisrahmen.“ Aurelia zwinkerte ihrer Schwester vielsagend zu.
Mit einem Quietschen warf Liv sich ihr um den Hals, um sie mit sich aufs Bett zu reißen.
„Ich kann es nicht glauben! Oh, Aurelia! Danke, danke, danke!“
Seit knapp fünf Jahren war sie schon auf Wohnungssuche. Die weltweite Wirtschaftskrise seit 2025 machte es einem normal verdienenden Menschen mittlerweile nahezu unmöglich, eine Wohnung oder gar ein Haus zu unterhalten. Selbst in diesem Haus konnten sie nur wohnen, weil sie, ihre Schwester und ihre beiden Elternteile arbeiteten und zusteuerten. Außerdem hatten sie das Privileg besessen, dass ihre Eltern das Haus bereits vor der Krise ausbezahlt hatten.
Liv war jedoch mittlerweile 22 Jahre alt und hatte es mehr als satt, noch immer im Kinderzimmer bei ihren Eltern zu wohnen.
Nur einmal hatte sie bisher die Aussicht auf eine Wohnung und das war vor zwei Jahren mit der Liebe ihres Lebens gewesen. Ihrer Ex-Liebe.
„Das muss ich sofort Mama erzählen!“, rief sie nun aufgeregt, bevor sie mit schnellen Schritten aus dem Zimmer rannte.
„Es ist noch nichts sicher!“, rief Aurelia ihr hinterher, aber sie wollte es nicht hören. Viel zu groß war die Euphorie, die sie durchströmte bei dem Gedanken, endlich selbstständig werden zu können.
Liv stürmte heftig in die Küche, in der ihre Mutter gerade ein Stück Schwarzbrot mit Butter zu sich nahm. Eins der wenigen Dinge, die sie sich an frischen Nahrungsmitteln noch leisten konnten.
„Mama, Aurelia hat eine Wohnung für mich in Aussicht und das auch noch in meinem Preisrahmen!“, sprudelte es aus ihr heraus, als sie den Esstisch erreichte und sich aufgeregt zu ihrer Mutter beugte.
Langsam senkte diese ihr Brot und versuchte sich sichtlich ein Lächeln abzuringen. „Das ist toll, Schatz.“ Ihre Miene verdunkelte sich jedoch unheilvoll, wobei Olivia glaubte, auch den Grund dafür zu wissen.
Mit einem Seufzen zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr an den Tisch. All die Euphorie wurde von dem schwarzen Mantel des Misstrauens mit sich in den Abgrund gezogen und Olivia versuchte, sich ihre Enttäuschung über die Reaktion ihrer Mutter nicht anmerken zu lassen.
„Was ist los? Ich dachte, du würdest dich für mich freuen. Nach der Sache mit John …“
„Das tue ich doch auch“, beteuerte ihre Mutter mit ihrer allbekannten Sorgenfalte zwischen den dichten Brauen. „Aber du weißt, wie rapide sich die letzten Jahre verändert haben … uns geht es doch gut hier und ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn du ausziehst. Wer weiß, vielleicht wird alles bald noch teurer oder -“
„Oder die Welt geht unter. Wie du schon sagst, Mama: Es hat sich alles so schnell verändert. Wir sollten im Hier und Jetzt leben, nicht mit Sorge in der Zukunft“, unterbrach Liv sie und beschloss, dieses Gespräch doch nicht weiterführen zu wollen. Ihre Familie würde ohnehin nur versuchen, ihr diese Idee wieder aus dem Kopf zu schlagen und sie dazu zu bringen, hierzubleiben.
„Na ja, wie dem auch sei. Ich muss mich jetzt fertig machen und dann zur Arbeit“, würgte Olivia ihre Mutter ab, bevor diese zu einer weiteren Erwiderung ansetzen konnte. Grinsend stahl sie ihr noch ein Stück Brot aus der Hand, bevor sie sich gut gelaunt auf den Weg zurück in ihr Zimmer machte.
Ihr stand eine Wohnung in Aussicht und diese Freude würde sie sich nicht nehmen lassen.
Die restliche Stunde verbrachte sie damit, ihre langen blonden Locken zu glätten und sich zu schminken. Sie hasste ihre Locken und glättete sie beinahe jeden Tag, was dazu führte, dass sie sie eigentlich längst abschneiden müsste.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, wüsste sie, dass sie ihre Locken erst hasste, nachdem John sie vor zwei Jahren mit ihrer besten und einzigen Freundin betrogen hatte. Er fand ihre Locken immer wunderschön und hatte immer wieder davon geschwärmt, wie sehr er die Vorstellung liebte, dass ihre Tochter irgendwann diese Locken erben könnte.
Leider würde es nun niemals eine gemeinsame Zukunft, geschweige denn eine gemeinsame Tochter geben.
Seit dieser Trennung, die ihr das Herz brach und bei der alles, woran sie geglaubt hatte, einfach so mit Füßen getreten worden war, glättete sie ihre Haare jeden verdammten Morgen. Sie hasste den Gedanken, noch irgendetwas an sich zu haben, was John gefallen könnte.
Irgendetwas, was sie an den Mann erinnerte, dem sie sieben Jahre ihrer Jugend geschenkt hatte, um am Ende für eine leichte Affäre ausgetauscht zu werden.
Sie hasste den Gedanken, dass er ihr das Vertrauen in jeden Mann geraubt hatte, der ihr seitdem begegnete. Sie hasste den Gedanken, wie viele Tränen sie vergossen hatte und wie viel er zerstörte, als er diese Affäre einging. Und wie einsam sie war; so furchtbar einsam, seitdem er ihr sich und ihre einzige Freundin genommen hatte.
Sie waren in dieselbe Klasse gegangen, als sie sich mit 14 Jahren in ihn verliebte. Alles begann wie eine Kindergartenbeziehung, mit der sie jedoch beide groß und erwachsen wurden. Irgendwann ging es nicht mehr um Teenagerthemen, sondern um das Zusammenziehen und Zukunftspläne. Sie planten, sich mit 21 ein gemeinsames Leben aufzubauen und zusammenzuziehen. Olivia war so verankert in dieser Beziehung, dass sie nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, dass es jemals enden könnte.
John gehörte zu diesem Zeitpunkt schon so fest zu ihrem Leben, wie Schlafen und Essen. Als sie dann auch noch eine Wohnung fanden, die sie mit ihrem gemeinsamen Studentengehalt bezahlen konnten, schien das gemeinsame Glück perfekt zu sein.
Bis zu dem Tag, an dem sie John und ihre beste Freundin in genau dieser Wohnung erwischte, als sie einige Kleinigkeiten herüberschaffen wollte.
Beide hatten versucht, sie zu besänftigen, doch nichts auf dieser Welt hätte das reparieren können, was in diesem Moment in ihr zerbrochen war.
Ihre heile Welt war in sich zusammengekracht und die einzige Konstante, in einer Zeit wie dieser, zerbrochen. John hatte mit seiner Affäre all ihr Vertrauen in Außenstehende mit sich genommen und ihr nie wieder zurückgegeben.
Olivia wusste, dass ihr nicht jeder schaden wollte und dennoch konnte sie niemanden mehr an sich heranlassen. Die kommenden Monate waren die Hölle, in der sie lernen musste, wieder allein klarzukommen.
Als sie dann erfuhr, dass diese Affäre bereits monatelang ging und keine einmalige Sache war, waren beide für sie gestorben.
Ihr Herz hatte sich hinter einer Mauer verschanzt, die keiner durchdringen konnte. Hinter jedem netten Menschen vermutete sie ab diesem Tag etwas Schlechtes, obwohl sie wusste, wie absurd dieser Gedanke war.
Aber sie konnte nicht anders, denn John hatte ihr jegliche Leichtigkeit für immer genommen.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken, als Aurelia den Kopf hereinsteckte. „Könntest du mich vor der Arbeit noch zum Bahnhof begleiten? Ich muss das Monatsticket für Frau Larx abholen.“
Ihre Schwester arbeitete seit einiger Zeit für Frau Larx, eine pensionierte Beamtin. Diese hatte genügend Geld, um Aurelia mit solch einfachen Aufgaben zu beschäftigen und ihr so das Taschengeld aufzubessern.
„Dann müssen wir aber jetzt los. Sonst schaffe ich es nicht mehr pünktlich zur Arbeit“, antwortete Olivia mit einem Blick auf die Uhr, bevor sie einen letzten Blick in den Spiegel warf, um ihr Kleid noch einmal zurechtzuzupfen.
Sie trug ein gelbes Sommerkleid mit großen Blüten, das ab der Taille leicht um ihre Hüften wehte und perfekt zu dem sonnigen Tag passte, der draußen auf sie wartete.
Ein Tag, den sie nicht mit düsteren Erinnerungen verschwenden sollte.
Ohne einen weiteren Gedanken an John zu vergeuden, griff sie nach ihrer Handtasche und folgte ihrer Schwester nach draußen.
Seit nahezu zwei Jahren traute sich kaum jemand, alleine unterwegs zu sein. Dabei herrschte bei den meisten die Angst, in Angelegenheiten hineingezogen zu werden, in denen man nichts zu suchen hatte. Seit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise 2025, die aus einer Pandemie resultierte, wurden die Menschen von Tag zu Tag wütender. Sie waren wütend darüber, was mit ihnen und ihrer Wirtschaft passierte.
Alles begann sehr schleichend, während die Nahrungsmittel stetig teurer und das Autofahren durch die steigenden Spritpreise zum Luxus wurden. Die Bevölkerung bekam jedoch nicht mehr Lohn als vorher, was die Lage zunehmend anspannte. Auch die Mieten stiegen ins Unermessliche, was viele dazu zwang, ihr Heim aufzugeben und im schlimmsten Falle obdachlos zu werden.
2028 erreichte die Wut der Bevölkerung dann ihren Höhepunkt, als der Staat verlangte, dass sie von ihren ohnehin wenigen Vorräten etwas abgaben. Zu diesem Zeitpunkt sollte jeder einen großen Teil an Nahrung und Verpflegung für Militär, Polizei, Krankenhäuser und weitere wichtige Institutionen spenden. Auf noch nicht ausbezahlte Kredite wurden Hypotheken gelegt und die Vorräte der Menschen neigten sich dem Ende.
Geschäfte mussten schließen, Fabriken stellten ihren Betrieb ein und die Menschen verloren ihre Jobs, mit denen sie die Forderungen der Regierung bisher finanziert hatten.
Die Verzweiflung unter den Bürgern wurde spürbar größer und sie begannen gesammelt auf die Straße zu gehen. Sie wollten Gerechtigkeit und demonstrierten für eine Regierung, die sich um ihr Volk sorgte, anstatt es weiter auszunehmen.
Diese Demonstrationen gewannen an unglaublichen Zuspruch, wodurch immer mehr Menschen auf die Straßen zogen, um sich zu wehren. Auch Olivia und ihr Vater waren unter ihnen, um sich ihre Rechte zurückzuholen.
Menschen hungerten, lebten auf der Straße, verzweifelten an ihren Hypotheken, während die Regierung in ihren warmen Büros über ihren Kopf hinweg entschieden.
Die anfänglich friedlichen Demonstrationen wurden jedoch immer brutaler, wobei Polizeigewalt und Hooligans immer häufiger an der Tagesordnung standen. Immer mehr Bürger wurden festgenommen, immer öfter kamen Schlagstöcker und Wasserwerfer zum Einsatz.
Und das war auch die Zeit, in der die „weißen Füchse“ gegründet worden waren. Eine Widerstandsbewegung, die streng vom Staat verfolgt wurde und grundsätzlich für eine Besserung ihrer aller Lebenssituation, Freiheit und Gerechtigkeit kämpften.
Zunächst hatten sie keinen Namen und waren einfach eine Gruppierung von Menschen, die in die gleiche Richtung dachten und versuchten, eine Lösung zu finden. Dies war jedoch auch der Moment, an dem Olivia und ihr Vater ausstiegen, um ihre Jobs nicht zu gefährden.
Sie konnten sich nicht leisten, bei der wenigen Arbeit die es noch gab, auch noch diese zu verlieren.
Doch die nächste Demonstration sollte die Geburtsstunde der radikalen Organisation „die weißen Füchse“ werden.
Bei dieser Demonstration fanden sich Tausende Familien auf dem großen Platz der Hauptstadt ein, um friedlich für bessere Lebensbedingungen einzustehen.
Warum es dabei zu einer solchen Wendung in einer friedlichen Demonstration kam, wusste keiner. Doch spätestens, als die Polizei mit Wasserwerfern auf die Menschen losging, war der Frieden vorbei.
Augenblicklich brach Panik unter den Frauen und Kindern aus, als die Wasserwerfer von allen Seiten gleichzeitig heranrollten und die Menge einkesselten. Die dadurch entstandene Massenpanik verursachte, dass die Demonstranten in ihrer Angst zu fliehen versuchten, während sie sich verzweifelt aneinanderdrängten, sich schubsten und übereinander her kletterten.
Obwohl die Polizei diese Massenpanik bemerkte, unterbrachen sie ihr Unterfangen nicht und beschworen damit eine einzige Tragödie.
In der entstandenen Massenpanik versuchten die Menschen zu fliehen, wobei viele verletzt wurden und darunter auch ein achtjähriges Mädchen, das zu Tode getrampelt wurde.
Als am nächsten Tag ein Foto dieses Kindes durch die Presse ging, das sie kurz vor der Tragödie abbildete, hielt eine ganze Nation den Atem an. Mit ihren blonden Haaren schaute sie unschuldig in die Kamera, in ihren Armen ein Kuscheltier in Form eines weißen Fuchses, während um sie herum die Menge nach Gerechtigkeit schrie.
Dieses Bild schockierte die Öffentlichkeit derart, dass es eine weitere Welle der Empörung über einen sinnlosen Tod entfachte. Damit wurde dieses Kind zum Symbol für Ungerechtigkeit und markierte die Geburtsstunde der weißen Füchse.
Ab diesem Zeitpunkt radikalisierten sich die weißen Füchse immer mehr, wobei es von beiden Seiten immer gewaltvoller wurde, was dazu führte, dass man weder auf der Seite der Regierung, noch auf der der weißen Füchse stehen wollte.
Die eigene ehrliche Meinung zählte schon lange nicht mehr und es war sicherer, wenn man sie für sich behielt.
Der Bahnhof war jedoch unter anderem einer der Orte, bei dem es von Leuten beider Seiten nur so wimmelte.
Es war eine Art Sammelpunkt, da hier viele Pendler aus verschiedenen Städten aufeinandertrafen und auch jüngere Menschen hier täglich ein und aus gingen, um zur Schule, zur Uni oder zur Arbeit zu kommen.
Hier war das Risiko also besonders groß, von der jeweils anderen Gruppe mit der anderen gesehen zu werden und somit in deren Radar zu gelangen. Abgesehen davon wimmelte es dort von Taschendieben, Gewaltverbrechern und Obdachlosen, die alle um ihre Existenz fürchteten. Und Menschen, die um ihr Leben bangen, sollten am besten nicht allein begegnet werden.
Leider galt dies nicht nur für den Bahnhof, sondern auch für viele weitere Orte in der Stadt.
Grundsätzlich fühlte Olivia sich besser, wenn ihre kleine Schwester nicht ohne Begleitung unterwegs war.
Der eine erledigte also das, was zu erledigen war und der andere sorgte dafür, dass ihnen keiner näherkam, als es unbedingt nötig sein musste.
⨳
„Was stimmt mit diesen Leuten eigentlich nicht?“, brummte sie, während sie Aurelia neben sich durch den Bahnhof zog. Der Geruch von frischen Backwaren und verschiedenen Parfums stieg ihr in die Nase, als sie die Tür zur großen Mall öffneten.
In jeder Ecke hingen Schilder mit den unterschiedlichsten Parolen, die in der nächsten Ecke von der Polizei wieder abgerissen wurden.
„Lasst uns aufstehen, bevor es zu spät ist!“
„Schließt euch den weißen Füchsen an!“
„Das ist nicht die Welt, in der unsere Kinder groß werden sollen!“
Als das Ticketbüro um die Ecke erschien, gab sie ihrer Schwester einen leichten Stups Richtung Tür. „Beeile dich, ich warte draußen.“
„Du übertreibst, so wie immer. Manchmal glaube ich, du denkst, wir werden vom FBI höchstpersönlich verfolgt“, meckerte Aurelia kaum hörbar, bevor sie die Tür zum Ticketbüro aufstieß. Sie hielt Olivia in allen Belangen für misstrauisch und pessimistisch, obwohl sie selbst sich wohl eher als eine Realistin bezeichnen würde. Sie wusste einfach, wie gefährlich es an manchen Orten war und nahm diese Sache ernst, besonders wenn es darum ging, ihre kleine Schwester zu beschützen.
Obwohl diese zwar auch schon 19 Jahre alt war, benahm sie sich ihrer Meinung nach einfach viel zu naiv und leichtgläubig. Wenn man sie mit einem lustigen Abenteuer locken würde, wäre sie sofort mit von der Partie, egal, ob sie diese Person jemals vorher gesehen hatte.
Vielleicht war das aber auch die typische Schwesternverbindung, bei der die ältere Schwester immer die Spaßbremse spielen und die naive jüngere Schwester ohne Unterbrechung davon abhalten musste, sich mit dem nächsten Aladdin aus dem Fenster zu werfen.
Ihr Blick fiel auf einen der Polizisten, der am anderen Ende der Mall stand und sie mit seinen Augen verfolgte. Misstrauisch wandte sie ihm den Rücken zu und hoffte, dass er sie nicht für eine der weißen Füchse hielt, die gerade versuchte, jemanden anzuwerben.
Auf keinen Fall wollte sie von irgendjemandem für eine weiße Füchsin gehalten werden. Ständig gab es neue Berichte in den Nachrichten, in den Zeitungen und weiteren Medien darüber, wie sich die weißen Füchse mittlerweile selbst bereicherten. Vor kurzem hatten sie erst eine Bank ausgeraubt, um sich selbst das Geld einzustecken und damit war niemandem geholfen. Am Ende musste die Lücke dieses Geldes wieder mit den Steuern der ohnehin schon armen Bürger gefüllt werden und somit schadeten die weißen Füchse den Bürgern inzwischen eher, als dass sie ihnen halfen.
Es hatte schon lange nichts mehr mit dem ursprünglichen Gedanken der Freiheit zu tun – das hörte und las man jeden Tag in den Medien.
Und obwohl sie nicht immer alles glaubte, was sie Medien sagten, schienen diese Fakten leider äußerst glaubwürdig.
Denn die Bank hatten sie schließlich wirklich ausgeraubt, genauso wie sie schon viele weitere Fehler wirklich begannen hatten. Darunter auch die Sprengung eines noch leeren Gefängnisses, das am Ende durch die Gelder der Anwohner wieder aufgebaut werden musste.
Dieses hätte einen Monat später seinen Betrieb aufnehmen sollen und da man das Gerücht hörte, dass dies explizit nur für weiße Füchse erbaut worden war, wurde es wenige Tage vorher gesprengt.
Zum Schaden der Bevölkerung.
Als ihr Blick erneut den des Polizisten traf, versuchte Olivia, sich möglichst unauffällig wegzudrehen. Einfach keinen Augenkontakt, dann würde er sicher jemand anderes bemerken, der sich sehr viel auffälliger verhielt, als sie es tat.
Das herbe Männerparfüm, das ihr nur wenige Sekunden später in die Nase kroch, ließ ihr die Nackenhaare aufstellen. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, hörte sie die raue Stimme eines Mannes in ihrem Rücken. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Olivia erstarrte augenblicklich und schluckte schwer, als sie sich langsam zu dem Polizisten umdrehte, der sie wohl doch für auffällig empfunden hatte. Er hatte dunkle, kurze Haare und ein markantes Gesicht, wobei seine Größe und sein unnachgiebiger Blick sie eher erstarren ließen, als sich in seiner Gegenwart sicher zu fühlen.
„Ich warte nur auf meine Schwester. Sie holt ein Ticket, dann sind wir weg“, antwortete sie kurz angebunden in der Hoffnung, dass dieses Gespräch damit genauso schnell wieder beendet sei, wie es angefangen hatte.
Verstohlen schaute sie sich nach allen Seiten um. Genauso wenig wie sie von der Polizei mit weißen Füchsen gesehen werden wollte, wollte sie von weißen Füchsen mit der Polizei gesehen werden.
Denn die waren leider auch kein unbeschriebenes Blatt mehr.
„Da bin ich mal zwei Minuten weg und schon angelst du dir einen süßen Polizisten!“, lachte Aurelia, als diese endlich aus dem Ticketbüro heraustrat und die Tickets wie eine Trophäe in der Luft schwenkte.
„Ist es nicht ziemlich warm in dieser Uniform? Wir haben schließlich Sommer und es sind sicher -“ „Ich hoffe, das wäre dann geklärt.“ Olivia lächelte dem Polizisten gequält zu und schnappte sich das Handgelenk ihrer Schwester, bevor sie noch mehr Blödsinn von sich geben konnte.
Dieser hob argwöhnisch eine Braue, nickte jedoch. „Schönen Tag noch.“
Genervt zerrte sie Aurelia hinter sich her und ignorierte ihr empörtes Schnaufen.
„Liv, was glaubst du eigentlich passiert, wenn wir mal eine Sekunde mit einem gut aussehenden Polizisten sprechen? Dass er uns direkt eine Pistole auf die Brust hält, weil wir hallo gesagt haben?“
„Du nimmst diese Sache einfach nicht ernst, Relia.“ Sie stieß die Tür nach draußen auf, wobei ihr die schwüle Luft von dreißig Grad erbarmungslos entgegenschlug. Es war wirklich heiß.
„Ich glaube, du nimmst diese Sache einfach ein wenig zu ernst. Es bringt uns alle nicht weiter, wenn du dir nur ständig irgendwelche Berichte durchliest und uns allen permanent Angst machst!“
Schnaufend befreite Aurelia ihr Handgelenk und kramte nach ihrer Sonnenbrille.
„Ich mache euch nicht permanent Angst, ich versuche euch nur zu beschützen!“, rechtfertigte Olivia sich. „Diese eine Abmachung, mehr nicht! An Orten, die weder unser Zuhause, noch unsere Freunde sind, unterhalten wir uns nicht länger mit Fremden, Polizisten oder ähnlichem, als es unbedingt nötig ist!“
„Weil sonst was passiert?“, empörte sich Aurelia, die Hände theatralisch die Luft werfend.
Gott sei Dank hatte sie Elias, dachte Olivia genervt. Ohne ihn würde sie wahrscheinlich auch noch an den Weihnachtsmann glauben.
„Weil wir neutral sind! N-E-U-T-R-A-L! Ich will mein Studium nicht riskieren, weil wir mit einem der beiden Gruppen in Verbindungen gebracht werden und du solltest das auch nicht. Außerdem will ich keine Schwierigkeiten bekommen, nur, weil meine naive Schwester selbst vergeben irgendwelche Polizisten anmacht!“ Sie überquerten die viel befahrene Straße und beeilten sich, ihre Fahrräder aufzuschließen, als sie diese erreicht hatten.
Für Autos hatten sie schon lange kein Geld mehr.
„Vielleicht solltest du mal wieder anfangen, ein wenig mehr Gefallen an süßen Polizisten zu empfinden und aufhören, diesem dummen John weiter hinterherzutrauern! Du benimmst dich wie eine alte Jungfer!“
Nachdem Aurelia den Satz ausgesprochen hatte, öffnete sie erschrocken den Mund und schüttelte den Kopf. „Liv …“ Wütend zog diese das Fahrrad aus dem Ständer und stieg auf. „Ich denke, du findest alleine nach Hause. Ich muss jetzt zur Arbeit.“ Damit fuhr sie los und wartete nicht darauf, was Aurelia ihr noch an den Kopf knallen wollte.
Die Sonne ging bereits unter, als Aurelia von ihren Erledigungen bei Frau Larx zu Hause ankam und das Fahrrad abschloss. Während sie die Haustür öffnete, dachte sie unweigerlich an den Streit mit Olivia.
Es hatte ihr bereits beim Aussprechen leidgetan und sie wusste, dass sie sich bei ihrer Schwester entschuldigen musste.
Sie hätte John niemals in das Gespräch einbeziehen dürfen, wo ihr doch klar war, wie sehr es noch heute an Liv nagte. Seit ihrer Trennung vor zwei Jahren ließ sie niemanden mehr an sich heran, der nicht auch schon vorher da gewesen war. Es gab keine neuen Männer, keine Dates und auch keine neue Liebe.
Als sie die Haustür aufschob, bemerkte sie sofort den lieblichen Geruch von frisch gebackenem Brot. Ihre Mutter hatte heute also endlich wieder Zeit gefunden, ihrer Leidenschaft nachzugehen.
Leise schob sie sich in das Haus und schloss die Tür hinter sich.
Während sie sich die Sandalen auszog, holte sie ihr vibrierendes Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf.
Aurelias Herz machte augenblicklich einen freudigen Sprung, als sie sah, von wem die Nachricht war.
Elias: „Hast du morgen Abend Zeit für mich?“
Lächelnd presste sie das Handy an sich und unterdrückte das Quietschen in ihrer Kehle, als sie das Handy zurück in die Tasche gleiten ließ. Sie und Elias waren nun seit zwei Monaten ein Paar und sie war so verliebt in ihn, wie sie es zuvor noch nie gewesen war. Jede seiner Nachrichten, jedes seiner Worte löste die größten Emotionen in ihr aus. Wenngleich es eine banale Frage wie diese war.
„Aurelia, bist du das?“, ließ sie die Stimme ihrer Mutter aus ihren Tagträumen schrecken.
„Ja!“, rief sie zurück und folgte der Stimme in die warme Küche, aus der dieser liebliche Duft drang. Mit einem Lächeln zupfte sie sich ein Stück des frisch gebackenen Brotes ab und schob es sich genüsslich in den Mund. „Mmmh …“ „Relia, hast du was zu Olivia gesagt?“ Ihre Mutter legte das Geschirrtuch, mit dem sie gerade ihre Hände abgetrocknet hatte, zur Seite und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht.
Der Blick sagte alles. Aus irgendeinem Grund wusste ihre Mutter grundsätzlich immer, wenn sie sich stritten oder es einem von beiden nicht so gut ging. Manchmal scherzten sie und Olivia darüber, dass ihre Mutter vielleicht sogar einen sechsten Sinn besaß.
„Ich weiß …“ Schuldig drückte sie sich vor dem tadelnden Blick. „Ich sollte mit ihr reden.“ Es bedurfte keiner weiteren Zustimmung, also drückte sie ihrer Mutter nur einen Kuss auf die Wange, schnappte sich ein weiteres Stück des noch warmen Brotes und machte sich auf den Weg in das Zimmer ihrer Schwester.
Da es bereits Abend war, ahnte Aurelia, dass Liv jetzt gerade wahrscheinlich für ihr Studium lernte, das sie endlich anfangen konnte.
Nach dem Einbruch der Wirtschaft hatte sie erst einmal ihre Karriere auf Eis legen und sich dem finanziellen Überleben der Familie widmen müssen.
Sie selbst war damals noch zu jung gewesen, um beträchtlich zur allgemeinen Kasse dazu steuern zu können. Jetzt wo auch sie hätte arbeiten können, gab es keine mehr. Es war mittlerweile fast ein Wunder, wenn es einen Job gab, der auch ausreichend bezahlt wurde. Olivia hatte jedoch das Glück gehabt, schon zu Beginn der Krise einen Job in einem der wenigen kleinen Geschäfte bekommen zu haben, die immer noch standhielten und noch nicht schließen mussten.
Viele andere hatten nicht dieses Privileg und mussten längst schließen, was zu einer geisterleeren Innenstadt führte.
„Darf ich hereinkommen?“, fragte Aurelia kleinlaut, als sie die Zimmertür ihrer Schwester öffnete und diese konzentriert lernend an ihrem Schreibtisch vorfand.
Liv drehte sich zu ihr um und nickte. Leise schlüpfte sie hinein, bevor sie die Tür hinter sich schloss, während Olivia ihr einen Stuhl frei machte.
„Hör mal, es tut mir wirklich leid, dass …“
„Ich weiß“, unterbrach Olivia sie mit einem gutmütigen Lächeln. „Ich kenne dich doch. Manchmal sprichst du schneller, als du denkst. Aber das mag ich eigentlich auch an dir.“ Sie lachte und ihr Blick hatte nichts mehr von dem Zorn, mit dem sie sich am Fahrradständer verabschiedet hatten. „Für deine Unbeschwertheit.“
„Die kannst du auch haben! John ist nicht der einzige Kerl auf dieser Welt!“, protestierte Aurelia energisch, obwohl sie wusste, dass diese Argumentation eigentlich sinnlos war. Damals war etwas in Olivia zerbrochen, was sich irgendwie nicht mehr reparieren ließ.
„Und seien wir mal ehrlich, du warst ohnehin viel zu hübsch für ihn.
Kannst du dich noch an seine schiefe Augenbraue erinnern?“
Olivia schüttelte lachend den Kopf. „Die habe ich tatsächlich schon vergessen. Oder verdrängt, wie man es nimmt.“
„Komm schon, Elias Kumpel fragt so oft nach dir und du sagst jedes Doppeldate ab. Was hättest du zu verlieren?“
Sie sah ihrer Schwester sofort an, dass sie die Antwort eigentlich schon kannte. Wie jedes Mal, würde sie nein sagen und es damit begründen, dass sie ihren nächsten Freund auf die altmodische Art kennenlernen wolle. In Olivias Vorstellung war es nur die große Liebe, wenn sie ihm ganz zufällig beim Einkaufen, bei der Arbeit oder beim Spazierengehen begegnete. Und dann müsste er natürlich sofort unsterblich in sie verliebt sein, sie heiraten und ohne jeden weiteren Zwischenfall gemeinsam mit ihr sein Leben verbringen.
Alles andere wäre eine höchst unzufriedenstellende Lösung für sie, was den allgemeinen Maßstab natürlich nicht gerade niedrig hielt.
Aurelia seufzte und wollte gerade mit ihrer Überzeugungsarbeit beginnen, als Olivia lächelnd mit den Achseln zuckte.
„Gut, was soll's. Sag Elias, dass er ein Treffen ausmachen kann.“ Aurelia starrte sie entsetzt an und bevor sie etwas sagen konnte, gebot Liv ihr lachend zu schweigen. „Aber nur zu viert und es bleibt bei vier! So wie ich dich kenne, verschwindet ihr sonst nach fünf Minuten und ich muss den Rest des Abends mit irgendeinem Idioten alleine verbringen.“
„Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir! Und er sieht gut aus, ganz ohne schiefe Augenbraue“, lachte Aurelia aufgeregt und zückte sogleich ihr Handy, um Elias zu schreiben, dass er Luca wirklich direkt fragen sollte, wann er Zeit habe. Schließlich wusste niemand, wie lange Livs Angebot Bestand hatte.
„Wenn du Elias sowieso schon schreiben musst, frag ihn noch bitte nach der Wohnung“, warf Liv ein und begann gedankenverloren auf ihrem Schmierzettel Kreise zu malen. Sie war so oft in ihren Gedanken versunken, dass Aurelia sich manchmal fragte, ob sie etwas übersah, was Liv nicht entging. Etwas, das ihr Herz schwer machte und sie belastete und wofür sie selbst blind zu sein schien. Sie hoffte nur, dass Olivia mit jedem ihrer Probleme zu ihr kommen würde, wobei sie ihr letztes Hemd dafür gegeben hätte, Liv endlich wieder unbeschwerter zu sehen.
Das war das, was ihre Beziehung zueinander so besonders und wertvoll machte. Die Bereitschaft beider, der jeweils anderen im Ernstfall jederzeit das größere Stück Kuchen zu überlassen, wenn es ihr dadurch helfen würde. Und dieser Bereitschaft waren sich beide schon immer bewusst gewesen.
Aurelia hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und sah zu Olivia, die im selben Moment auch den Blick hob.
„Es ist Papa. Er ist schon wieder so spät“, stellte sie mit einem Blick auf die Uhr fest, die bereits 21:30 Uhr anzeigte. Normalerweise hatte ihr Vater immer schon um 18 Uhr Feierabend, doch seit geraumer Zeit kam er immer erst gegen zehn Uhr oder später nach Hause, ohne jemandem den Grund für diese regelmäßigen Verspätungen mitzuteilen.
„Ja … Mama wird durchdrehen“, seufzte Liv und Aurelia nickte.
Seitdem ihr Vater zum Grund seines Verschwindens schwieg, hatte sich die Stimmung ihrer Eltern drastisch verändert. Vorher war ihr Verhältnis geprägt von Ehrlichkeit und Vertrauen. Mittlerweile hatte ihr Vater diese Basis der Beziehung durch sein Verhalten mit Misstrauen und Vorsicht ausgetauscht. Schon des Öfteren hatten beide ihre Eltern darüber streiten hören, dass ihre Mutter glaubte, ihr Vater ginge ihr fremd.
Und auch die beiden Schwestern waren sich nicht mehr sicher, ob das nicht tatsächlich der Fall war.
Vor knapp zwei Wochen hatte sie ihren Vater tatsächlich bei etwas erwischt, was diesen Verdacht nur verhärten ließ. Sie war gerade mit Elias zu einem seiner Freunde unterwegs gewesen, als sie durch eine Passage in der Innenstadt gelaufen waren.
Auf der anderen Straßenseite hatte sie dort vor einem Café ihren Vater gesehen. In seinen Armen eine fremde Frau.
Aurelia hatte ihren Augen nicht trauen können, als sie sah, wie vertraut er einen Arm um diese Frau legte und sie an sich zog, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.
Ohne nachzudenken hatte sie Elias mit sich um die nächste Ecke gezogen und war der Szenerie entflohen. Schwer atmend hatte sie in den Armen ihres Freundes gelegen und versucht, das Gesehene zu verarbeiten.
Es war so eindeutig gewesen, dass eigentlich nur noch ein Kuss für ihre Sicherheit gefehlt hätte. Doch ihr Herz wollte es nicht sehen; wollte nicht wahrhaben, dass ihre Mutter mit ihrer Angst recht behalten würde.
Niemals hätte sie ihrem Vater so etwas zutrauen können, wenn sie es nicht selbst gesehen hätte. Nachdem sie ihn dort beobachtet hatte, ohne von ihm entdeckt worden zu sein, führte sie viele intensive Gespräche mit Elias.
Aurelia war sich so schrecklich unsicher gewesen, wie sie damit umgehen sollte und das schlechte Gewissen drohte sie aufzufressen, egal was sie tat.
Doch sie entschied sich dafür, den Familiensegen zu erhalten. Also sprach sie weder ihren Vater darauf an, noch erzählte sie es Olivia oder ihrer Mutter. Sie nahm dieses Geheimnis und schob es so weit in ihr Unterbewusstsein, dass sie nie jemandem davon erzählen würde, solange es das Beste für ihre Familie war.
Die ersten Tage waren hart gewesen, da sie weder ihrer Mutter, noch ihrem Vater in die Augen schauen konnte – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Am liebsten hätte sie wenigstens Olivia davon erzählt, aber sie kannte ihre Schwester gut genug, um ihre Reaktion zu erahnen. Sie würde ohne zu zögern ihren Vater zur Rede stellen und ihrer Mutter alles erzählen – Olivia wäre ein wahr gewordener Racheengel geworden und hätte ihre Familie damit zerstört.
Also behielt Aurelia es für sich, in der Hoffnung, ihr Vater würde das Richtige tun.
⨳
Aurelia zog die Tür hinter sich zu, bevor sie strahlend Elias entgegenlief. Hinter ihm standen sein Freund Louis und ihre beste Freundin Lina, die ihr beide entgegenlächelten.
„Hey, Leute!“ Sie umarmte beide lächelnd und wandte sich dann zu Elias, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen. Er sah so unwiderstehlich süß aus mit seinen dunklen Locken, die unter der Kapuze hervorlugten und sie musste unwillkürlich grinsen.
„Was grinst du so?“, lachte er amüsiert, als er ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht strich, die von dem frischen Sommerwind durcheinandergewirbelt wurden.
„Dafür habt ihr auch später noch Zeit“, unterbrach Lina sie und wies in Richtung Straße. „Wollen wir los? Louis hat angeboten, dass wir heute bei ihm einen Film schauen können.“
„Ooooh, einen Film“, schnurrte Aurelia, als sie sich lachend bei ihrer Freundin unterhakte, um sie mit sich zu ziehen. Diese stöhnte gequält auf, ließ sich jedoch widerstandslos zu Louis mitreißen, der nur wenige Straßen entfernt wohnte.
Seit einiger Zeit suchte Aurelia nun schon einen Freund für ihre Freundin und hielt Louis tatsächlich für einen geeigneten Kandidaten.
Er war klug, heiß und interessiert. Was benötigte Lina mehr?
Elias hatte sie jedoch vor ihrem Verkupplungsversuch gewarnt und sie darum gebeten, sich herauszuhalten, weil es nicht ihr Problem wäre.
Gut, dass er sie noch nicht gut genug kannte und nicht wusste, dass sie sich definitiv nicht heraushalten würde, was wenigstens Lina durchaus bewusst sein müsste.
„Bitte, blamiere mich nicht. Nur weil Louis in deinen Augen ein guter Kerl ist, heißt das noch lange nicht, dass ich das auch so sehe“, flüsterte Lina, als sie einige Meter vor den Jungs herliefen und sie sich sicher sein konnte, dass keiner von beiden etwas hören konnte.
„Ich soll dich blamieren? Was hältst du von mir?“, fragte Aurelia gespielt schockiert, weil sie beiden wussten, dass es nicht das erste Mal gewesen wäre.
„Relia!“, hörte sie Elias rufen und noch bevor sie sich umdrehen konnte, lief er von hinten gegen sie, um ihr seinen Arm um die Schulter zu werfen. Lachend drückte er ihr einen Kuss auf die Wange.
„Komm schon, erzähl Louis mal von deinem Erlebnis letztens in der Bahn!“
Sie stöhnte genervt auf und versuchte sich aus seinem Griff zu winden.
„Hast du auch noch andere Hobbys, als dich über mich lustig zu machen?“
Elias schlang lachend die Arme nur noch fester um sie. „Nein, warum auch? Es macht viel zu viel Spaß.“ Auch Aurelia lachte, als sie ihn gnadenlos in den Bauch stieß.
„Oh mein Gott, das wird der schlimmste Abend meines Lebens“, flüsterte Lina und rollte mit den Augen, während sie einen Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und dem verliebten Paar brachte.
„Du weißt gar nicht, was du verpasst, du Miesepeter!“, quietschte Aurelia, bevor sie Elias küsste.
⨳
2 Monate später
„Geht es dir mittlerweile besser?“
Aurelia las die Nachricht von Elias nur mit halber Aufmerksamkeit, als die Übelkeit sie erneut überrollte. Schnell presste sie sich die Hand vor den Mund und stürmte in Richtung Badezimmer, in dem sie es noch knapp schaffte, die Kloschüssel zu erreichen.
Nachdem sie sich mehrfach übergeben hatte, rollte sie sich stöhnend auf dem Badezimmerboden zusammen. Seit Tagen behielt sie nichts bei sich, was nur etwas dickflüssiger war als Wasser. Die ersten Tage hielt sie es noch für eine harmlose Magen-Darm-Grippe, die vielleicht etwas länger ging, als sie es gewohnt war. Danach folgte die Vermutung einer Lebensmittelvergiftung, obwohl sie keine Ahnung gehabt hätte, woher diese kommen sollte.
Und jetzt, als sie zusammengerollt auf dem Badezimmerteppich lag und in die Leere starrte, kam ihr eine neue Vermutung, die ihr Herz stolpern ließ.
Nervös begann sie an ihren Nägeln zu kauen, während sie weiter in die Leere starrte; nichts um sich herum wahrnahm, als das leise Vogelgezwitscher vor dem Badezimmerfenster.
Langsam erhob sie sich und horchte, ob sich jemand von ihrer Familie im Flur befand, der mitbekommen haben könnte, dass sie sich schon wieder übergeben musste.
In den vergangenen Wochen machte sich besonders ihre Mutter große Sorgen um sie und mahnte immer wieder, dass sie zum Arzt gehen müsse. In Zeiten wie diesen, in denen sie ohnehin schon zu wenig Nährstoffe bekamen, konnte dauerhaftes Erbrechen keine guten Folgen nach sich ziehen.
Aurelia war sich dessen durchaus bewusst, mied Ärzte jedoch wie die Pest. Seit sie denken konnte, hasste sie jede Person mit einem weißen Kittel und sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal freiwillig bei einem Arzt gewesen war. Alles, was sie in ihren Augen taten, war, irgendwelche Dinge herauszufinden, die sie besser nicht hätte wissen wollen und mit denen sie dann irgendwie klarkommen sollte.
Sie selbst konnte es sich nicht erklären, doch selbst bei dem bloßen Gedanken an einen Arztbesuch drehte sich ihr Magen um 180 Grad und somit tat sie alles, um solche zu umgehen.
Aurelia wollte also kein weiteres Aufsehen mehr erregen, als sie sich leise aus dem Badezimmer schlich und ihre Zimmertür zaghaft hinter sich schloss, nachdem sie diese unbemerkt erreicht hatte.
Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, begann sie hektisch in der Schublade ihres Nachttisches zu kramen und seufzte erleichtert auf, als sie den noch neu verpackten Schwangerschaftstest herauszog.
Aurelia hatte sich diesen vor drei Monaten gekauft, als sie gerade einen Monat mit Elias zusammen gewesen war und schon direkt Panik bekommen hatte, schwanger von ihm zu sein. Er war bisher jedoch nie zum Einsatz gekommen, weil ihre Periode jedes Mal vorzeitige Entwarnung gegeben hatte.
Mehrere Sekunden vergingen, in denen sie nur schweigend auf den Test starrte und all ihren Mut zusammennahm, bevor sie sich schließlich resigniert zurück ins Bad schlich. Nachdem sie die Anleitung befolgt hatte, setzte sie sich auf den Boden des Badezimmers, legte den Test vor sich hin und zog die Beine an. Fünf Minuten, wahrscheinlich die längsten Minuten ihres Lebens.
Angespannt wippte sie mit einem Bein; versuchte sich abzulenken, indem sie an die unfertige Zeichnung in ihrem Zimmer dachte und daran, was sie noch verändern wolle.
Sie zeichnete gerade an einer Landschaft, wie sie sich diese in Schottland vorstellte. Unmengen an grünen Bergen, tiefen Tälern und einem strahlend blauen Himmel.
Am liebsten zeichnete sie mit Acryl, was jedoch mittlerweile zu einem wahren Luxusgut geworden war, wodurch sie auf billige Buntstifte umgestiegen war.
Genervt seufzte sie auf und lehnte den Kopf an die Wand.
Egal, wie sehr sie versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken – sie schaffte es keine volle Minute an etwas anderes zu denken.
Wenn dieser Test positiv ausfallen würde, hätte sie mehr Probleme als zu teures Acryl.
Was sollte sie in solch einer Welt tun, mit einem Baby und ohne Arbeit? Sie hatte nicht einmal einen Ausbildungsplatz und auch Elias war noch immer auf der Suche nach einer entsprechenden Stelle.
Selbst ohne Baby fiel es ihrer Familie zunehmend schwerer, über die Runden zu kommen, wobei ein Kind diesen Zustand keineswegs vereinfachen würde.
Und wenn sie ehrlich war, waren sie auch selbst Schuld daran gewesen, dass sie nun nervös vor diesem Test kauerte und sich diese Gedanken über ihre Zukunft machen musste. Verhütungsmethoden waren mittlerweile unglaublich teuer und für sie nicht erschwinglich geworden.
Aus diesem Grund hatte Liv ihr vor einem Jahr ganz genau die Temperaturmess-Methode erklärt, mit der man seine fruchtbaren Phasen ermittelt, um diese somit umgehen zu können.
Nur war sie selbst in den vergangenen Monaten zu faul gewesen, jeden Morgen ihre Temperatur zu messen und hatte es zu sehr schleifen lassen, sodass sie am Ende nicht mehr wusste, wann sie fruchtbar gewesen war. Wodurch sie nun hier saß; auf einen Test starrend, der alles verändern konnte. In der Hoffnung, dass Liv nicht schon wieder recht hatte mit der Annahme, dass sie selbst alles zu sehr auf die leichte Schulter nehmen würde.
Als der Test endlich zu blinken begann, sprang Aurelia hektisch auf.
Aufgeregt hielt sie den Test in die Höhe.
„Bitte nicht schwanger. Bitte nicht schwanger“, flüsterte sie beinahe wie eine Beschwörung.
Das Blinken erstarrte und zeigte das Ergebnis.
Schwanger.
„… bundesweite Razzia gegen die weißen Füchse läuft-“ Peggy schaltete den Fernseher aus und warf die Fernbedienung auf den Tresen. „Das kann sich doch keiner länger als drei Minuten anhören.“
Lachend wischte Olivia den Tresen mit einem trocknen Tuch ab, nachdem Peggy ihn mit einem feuchten gereinigt hatte.
Es war kurz vor Ladenschluss und sie hatten bereits angefangen, alles zu putzen, um rechtzeitig die Türen schließen zu können.
Seit Jahren arbeitete sie nun mit Peggy gemeinsam in diesem kleinen Lebensmittelladen, der sich mittlerweile wie ihr eigener anfühlte, weil die eigentliche Besitzerin sich kaum blicken ließ.
Er war längst nicht mehr so groß wie früher und hatte sich der Wirtschaftskrise anpassen müssen, doch er hatte überlebt. Olivia war dankbar, mit diesem kleinen Lebensmittelladen eine gesicherte Arbeitsstelle zu haben; eine, die sie nicht jeden Monat um ihr Geld bangen ließ.
Die Zeiten, in denen die Menschen sich ganze Pakete Mehl oder Zucker leisten konnten, waren leider vorbei. Hier konnten sich die Kunden eine exakt gewünschte Menge abwiegen lassen und zahlten nur das, was sie wirklich benötigten.
Schließlich konnte es sich keiner mehr leisten, Lebensmittel schlecht werden zu lassen oder zu viel auf einmal auszugeben.
Gelegentlich kam es auch vor, dass Peggy und Olivia einen Tauschhandel eingingen, wenn es sich für den Laden lohnte. Die eigentliche Besitzerin sah dies zwar nicht gerne, bekam es aber auch nicht mit, wenn sie die frischen Eier eines Bauern gegen Mehl tauschten, weil er kein Geld mehr hatte.
Diese Eier konnten sie im Anschluss weiterverkaufen, um wieder Geld in der Kasse zu haben – und der Bauer hatte Mehl.
„Triffst du dich jetzt eigentlich mit diesem Typen, von dem du erzählt hast? Der von Relia?“, rief Peggy ihr über die Schulter zu, während sie die Rollläden der Fenster zuzog.
„Ach, ich weiß es nicht. Alleine die Tatsache, dass die beiden momentan nichts anderes zu tun haben, als alle Singles in ihrer Umgebung zu verkuppeln …“, lachte sie und kam um den Tresen herum, um die letzten Packungen Süßigkeiten richtig aufzustellen.
„Aber was viel besser ist, als irgendein Typ: Ich habe vielleicht eine Aussicht auf eine Wohnung!“, verkündete sie stolz, wobei sie sich schnippisch die Haare über die Schulter warf.
„Eine Wohnung? Wo hast du die denn gefunden?“ Peggy starrte sie überrascht an und warf einen Blick nach draußen, um sicherzugehen, dass keine Kunden mehr kommen würden.
„Elias kann scheinbar nicht nur Männer verteilen, sondern auch Wohnungen.“ Olivia griff grinsend nach ihren Jacken, während Peggy die Tür abschloss, um somit den Feierabend einzuläuten.
Geschickt fing Peggy ihre Jacke auf, als sie ihr diese zuwarf und machte sich mit ihr auf den Weg zum Nebenausgang.
„Kannst du mich mal bitte an Elias vermitteln?“, fragte Peggy lachend.
„Ich brauche auch endlich mal eine Wohnung. Ich fühle mich wie eine Dreizehnjährige bei meinen Eltern.“
„Mmmmh … ich schaue mal, was sich machen lässt. Ich glaube aber eher, dass Relia mich umbringt, wenn ich anfange, Elias neue Frauen vorzustellen.“ Amüsiert zog Olivia die Tür hinter sich zu und schloss zweimal ab. Abends wurde es mittlerweile immer frischer, wodurch sie die Jacke fröstelnd enger um sich zog.
„So, wir sehen uns. Komm gut nach Hause, Peggy.“ Sie erwiderte die Verabschiedung und sie umarmten sich kurz, nur um danach getrennte Wege zu gehen.
Auf dem Weg zu ihrer Bahn dachte sie darüber nach, wie seltsam ihre Beziehung zu Peggy geworden war. Eigentlich verstanden sie sich blendend und sie war die Einzige neben Aurelia, der sie sich sonst noch anvertrauen konnte. Trotz dieser Bindung trafen sie sich jedoch grundsätzlich nie in der Freizeit, wodurch sie so etwas wie … Arbeitsfreunde waren, wenn es so etwas denn geben sollte.
Als Olivia schließlich in die Bahn stieg, suchte sie instinktiv nach einem abgelegenen Platz in einer Ecke, um ihre Ruhe zu haben.
Gedankenverloren lehnte sie ihren Kopf an die Scheibe; beobachtete die an ihr vorbeiziehenden Häuser, Gebäude und leere Geschäftshäuser.
Alles, was Olivia sah, war eine leere Stadt, geprägt durch Armut und Sorgen. Kaum jemand schaffte es mittlerweile, sich sorglos und ungezwungen über Wasser zu halten.
Als die Pandemie ausbrach, die anschließend die weltweite Wirtschaftskrise auslöste, war sie gerade 15 gewesen und konnte sich noch gut daran erinnern, wie das Leben vor all den Veränderungen gewesen war.
Wenn sie daran dachte, für wie selbstverständlich sie all die Dinge genommen hatte, die heute purer Luxus für sie wären. Mehrmals im Monat essen gehen, immer frisches Obst und Gemüse im Kühlschrank zu finden, Dinge zu unternehmen oder einfach frei zu sein.
Mittlerweile bestand ihre Ernährung aus den absoluten Grundnahrungsmitteln, frisches Obst wurde zu einem Geburtstagsgeschenk und in ihrer Freizeit machte sie nichts anderes mehr als arbeiten und lernen, um das Überleben ihrer Familie zu sichern.
Hätte sie damals nur zu schätzen gewusst, was sie dort noch für selbstverständlich genommen hatte. Dieses Leben hatte sie alle in einem Tempo altern lassen, was sie sich selbst für ihre Zukunft nie gewünscht hätte.
Die Bahn rollte aus, hielt an ihrer Haltestelle. Ohne die anderen Insassen anzusehen, zog sie sich in die Höhe und bahnte sich einen Weg nach draußen.
Frischer Wind wirbelte ihre langen Haare durcheinander und sie kramte ein Haargummi aus der Tasche, um diese zu bändigen. Mit geübtem Griff band sie sich einen tiefen Dutt, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte.
Wenn man sie mit Aurelia vergleichen würde, wäre wahrscheinlich keiner darauf gekommen, dass sie überhaupt verwandt miteinander waren. Im Gegensatz zu ihren langen blonden Locken hatte Aurelia schulterlange, tiefbraune Haare und genauso dunkle Augen wie ihr Vater. Grundsätzlich konnte man sie beide sowieso zu ihren Eltern zuordnen, indem Aurelia alles von ihrem Vater und sie alles von ihrer Mutter geerbt hatte, was ihr Aussehen anging.
Einzig die Größe war dieselbe, worüber beide mit 160 cm nicht allzu begeistert waren.
Müde schloss sie die Haustür auf, um sich in das warme Haus ihrer Eltern zu schieben. Die ungewöhnliche Stille, die sie in diesem Moment empfing, weckte die leise Freude in ihr, ausnahmsweise einmal alleine zu Hause zu sein. Aurelia war sicher bei Elias und ihre Eltern arbeiten, so wie fast immer.
In ihren Gedanken versunken schlenderte sie ins Wohnzimmer, um sich die Nachrichten anzusehen, die Peggy zuvor abgeschaltet hatte.
„Oh, du bist schon zu Hause?“ Sie schrie auf und fuhr zurück, als sie die Stimme ihres Vaters aus der Ecke des Wohnzimmers hörte.
Er saß mit seinem Laptop in einer Ecke des Zimmers und klappte ihn hastig zu, als er realisierte, dass sie theoretisch auf den Bildschirm hätte gucken können. Schon wieder versuchte er, etwas zu verheimlichen.
Wie immer.
Seufzend setzte sie sich auf das Sofa ihm gegenüber und sah in seine müden, dunklen Augen. In den vergangenen Wochen schien er um Jahre gealtert zu sein.
„Dad, du weißt, dass sie das nicht verdient hat.“ Sie bemühte sich, ihre Worte sorgfältig zu wählen, als sie nach seinen Händen griff, ohne dass er Widerstand leistete. „Sei ehrlich zu Mama und sag ihr, wenn du jemand anderes hast. Das ist nicht fair, was du mit uns machst.“
Er schüttelte den dunkelhaarigen Kopf, löste seine Hand von ihrer und rieb sich die Augen. „Es ist nicht …“ „Siehst du nicht, was du euch antust, Dad? Du scheinst um Jahrhunderte gealtert zu sein und Mom arbeitet nur noch mehr, als sowieso schon. Nur, um nicht in dein Gesicht schauen zu müssen, aus dem sowieso nur Lügen sprechen!“
Sie merkte, wie plötzlich Wut in ihr hochkochte und stockte, um diese daran zu hindern, sich ihm zu zeigen. Es ging schon viel zu lange. Viel zu lange, hörte sie sich alle die Lügen ihres Vaters an, dass er länger arbeiten müsste, etwas dazwischengekommen war oder er einen Platten hatte. Mittlerweile versuchte er nicht einmal mehr, sich zu rechtfertigen. Viel zu oft hatte sie gehört, wie sich ihre Mutter in den Schlaf weinte, während er immer noch nicht Zuhause gewesen war und viel zu oft hatte sie die beiden schreien gehört, ohne jemals eine Lösung zu finden.
Dieses Versteckspiel zerrte an den Nerven aller und sie wollte einfach, dass er es beendete. Auch wenn das bedeuten sollte, dass es eine Familie wie diese nicht mehr geben würde; sie sich in ihm so sehr getäuscht hätte, dass sie nicht wusste, ob sie ihm das jemals verzeihen könne.
Aber es sollte einfach aufhören.
„Liv, du verstehst das nicht. Ich tue das nur für euch.“
„Für uns?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben; spürte, wie die Wut sich nun doch ihren Weg an die Oberfläche suchte. „Was genau tust du denn für uns? Tust du es für uns, abends nicht mehr nach Hause zu kommen und Mom mit allem alleine zu lassen?“ Wütend stand sie auf und starrte auf ihn hinab. „Tust du es für uns, Mom weiterhin in Ungewissheit zu lassen, während wir zusehen, wie sie leidet?“ Ihre Mutter würde sich niemals von ihm trennen, solange sie nicht mit einem Vorschlaghammer die pure, verletzende Wahrheit gegen den Kopf gestoßen bekommen würde. Sie hing viel zu sehr an ihm und der Vorstellung, unsere Familie eine Familie bleibenzulassen.
„Wie kannst du das sagen? Wenn du etwas davon für uns tun würdest, würdest du uns einfach die Wahrheit sagen!“ Sie merkte, wie ihre Stimme immer lauter wurde; wie sie immer mehr die Fassung verlor.
„Wochen! Wochen, Dad! Seit Wochen geht dieses Spiel schon! Was hast du davon? Mag deine Geliebte dieses Versteckspiel?“
„Liv …“ Seine Stimme klang leise und geschlagen, als hätte sie den wunden Punkt erwischt, den sie auch hatte treffen wollen.
„Was?! Wie wäre es, wenn du einmal zu deinen Fehlern stehen würdest und diese Farce beenden könntest? Du bist so selbstsüchtig!“ Jetzt schrie sie.
Schwer atmend starrte sie ihn an. Er saß in sich zusammengesunken in seinem Sessel, starrte auf seine Füße und schüttelte immer wieder den Kopf, ohne etwas zu sagen.
„Wenn du keine Verantwortung für uns übernehmen kannst, tue ich es.“
Damit drehte sie sich um und ging wütend zu ihrem Zimmer, während ihr Vater alleine im Wohnzimmer zurückblieb; nicht einmal den Versuch unternahm, sie aufzuhalten.
⨳
Zwei Wochen nach ihrem Gespräch schaffte es Liv immer noch nicht, ihrem Vater in die Augen zu schauen, geschweige denn, sich normal mit ihm zu unterhalten. Sie war noch immer so wütend auf ihn; so wütend über den Umstand, dass er sie einfach alle weiter leiden ließ.
Heute Morgen hatte ihr Vater sie gefragt, ob er sie zur Arbeit begleiten solle, so wie er es sonst manchmal tat. Eigentlich liebte sie die gemeinsamen Arbeitswege, da sie eine der wenigen Stunden waren, die sie mit ihrem Vater genießen konnte. Nur auf diesen Wegen hatten sie Zeit, sich unbeschwert zu unterhalten, zu philosophieren und miteinander zu lachen, als sei sie noch ein kleines Kind.
Sie vermisste den Arbeitsweg mit ihrem Vater.
Dennoch hatte sie heute Morgen erneut abgelehnt, bevor sie sich alleine auf den Weg machte, ohne länger als nötig mit ihrem Vater zu sprechen. Olivia konnte nicht so tun, als wäre nie etwas gewesen und als würde er nicht weiterhin gewissenlos tolerieren, dass sie alle wussten, was er trieb; alle dabei zusehen ließ, wie ihre Mutter Stück für Stück daran zerbrach.
Letzte Nacht war er nicht einmal nach Hause gekommen und hatte auch nicht versucht, sich zu entschuldigen.
Ihre Mutter war nicht stark genug, es ohne ihn auszuhalten. Während ihrer Ehe hatte ihr Vater seine Hand immerzu schützend über alle gehalten und sich um alles gekümmert, wodurch der Rest der Familie sich immer sicher sein konnte, einen sicheren Hafen zu haben.
Diesen Hafen hatte er in den vergangenen Wochen jedoch untergehen lassen.
Olivia rieb sich seufzend die Augen, während sie versuchte, sich wieder auf den Artikel vor sich zu konzentrieren.
Peggy hatte ihr morgens geschrieben, sie solle die Nachrichten öffnen und sie hatte ihren Augen nicht trauen können. Gestern hatten sich scheinbar Spione der weißen Füchse in das Parlament schleusen können, um dort mehrere Bomben zu platzieren, die in der letzten Nacht hochgegangen waren.
Diese Nachricht erschütterte die gesamte Gesellschaft, ganz besonders die Regierung. Bereits am Morgen meldete sich diese mit den Worten, dass sie dies nicht hinnehmen würden und es nun an der Zeit wäre, härter gegen die weißen Füchse vorzugehen.
Olivia hatte den ganzen Tag lang gearbeitet und versuchte sich nun durch verschiedene Artikel auf den neusten Stand zu bringen. Tief in ihr regte sich die Angst vor einem möglichen Bürgerkrieg, für den dieses Ereignis ein Startschuss hätte sein können.
Sie fragte sich, an welchem Punkt die Organisation so aus der Bahn geraten war. Täglich kamen neue Nachrichten darüber, welchen Schaden die weißen Füchse anrichteten und den Frieden des normalen Lebens störten.
Als Olivia noch Teil der Demonstrationen gewesen war, ging es um Gerechtigkeit und Chancengleichheit für die Armen – nicht um Bomben oder Krieg.
Die weißen Füchse erschwerten den Mitmenschen ihr Leben nur weiterhin und solange sie damit nicht aufhörten, würde die Regierung sich nicht um die Wirtschaft kümmern können.
Dass sie jedoch mittlerweile dazu bereit waren, Menschen mit platzierten Bomben zu verletzten, löste ganz neue Dimensionen aus.
Schaudernd schob sie sich die Decke bis an ihr Kinn und zog die Beine an, während sie weiterlas.
„… Anschlag gegen das Parlament … Ein Akt, der nicht geduldet werden würde … Weiße Füchse zeigen Solidarität im Internet … Experten fürchten mögliche Revolution …“
„Olivia!“, riss sie die Stimme ihres Vaters aus dem Untergeschoss erneut aus dem Artikel.
Seufzend legte sie ihr Handy zur Seite. „Was ist?“, rief sie zurück, während sie genervt an die weiße Decke starrte.
„Komm runter! Aurelia auch!“ Da seine Stimme offenbar keinen Widerspruch duldete, schlug sie stöhnend die Decke auf. Schwer warf sie ihre Beine aus dem Bett und schlurfte in den Flur, den auch Aurelia zeitgleich erreichte. Sie trug nur einen Bademantel und hatte ihre braunen, kurzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten.
„Was denkst du, will er von uns?“, flüsterte Relia ihr im Vorbeigehen zu.
„Keine Ahnung, kommt sowieso nur Schwachsinn bei herum“, brummte Liv, als sie gemeinsam mit ihrer Schwester die Treppe hinunterstieg.
Unten erwartete sie zu ihrer Überraschung ein reichlich gedeckter Tisch, mit gekochten Kartoffeln und einem frischen Salat. Auch ihre Mutter saß an diesem Tisch; ihren Töchtern genauso ratlos entgegenblickend, wie diese sich nun auch gegenseitig anschauten.
Skeptisch zog Liv die Augenbrauen hoch und setzte sich zögernd an den Tisch, während ihr Vater noch einen Braten aus dem Ofen holte.
Solch ein Essen hatte es das letzte Mal zu Weihnachten gegeben und musste ein Vermögen gekostet haben. Das hier tat er sicher nicht aus Nächstenliebe, sondern allenfalls, weil sein Gewissen sich vielleicht endlich zu melden schien.
Ihre Mutter strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und suchte unsicher den Blick zu ihrer Tochter Olivia, die in den Augen ihrer Mutter die gleichen Fragen las.
„Dad, was wird das hier?“, fragte Liv auf den prall gefüllten Tisch weisend, als sich ihr Vater endlich zu ihnen gesellte, um sich zu setzen.
„Ich wollte mit euch sprechen.“
„Oh, halleluja. Das fällt dir ja früh ein“, brummte Olivia mit vor der Brust verschränkten Armen. Aurelia trat ihr tadelnd auf den Fuß und warf ihr einen giftigen Blick zu, der ihr gebot, ihre Meinung einmal für sich zu behalten.
„Olivia hatte recht damit, dass ich unfair zu euch war und deswegen habe ich es beendet. Gestern Abend war das letzte Mal, dass ich weg war und das Ganze hat nun ein Ende.“ Ihr Vater schluckte schwer, wich ihren Blicken aus. „Ich will nur, dass ihr wisst, dass ich das alles immer nur für euch getan habe. Auch wenn ihr das vielleicht noch nicht verstehen könnt.“
„Oh bitte“, stöhnte Liv nun doch, verdrehte die Augen. „Warum fängst du jetzt wieder damit an? Hat deine Affäre gestern mit dir Schluss gemacht oder warum ist es so plötzlich vorbei?“
Als ihrer Mutter ein Schluchzen aus der Kehle entwich, presste sich diese hastig eine Serviette an den Mund, um ihr Weinen im Keim zu ersticken. Olivia bereute ihre Worte noch im gleichen Atemzug.
„Mom, ich …“
„Du hast genug gesagt“, zischte Aurelia in ihre Richtung, während sie sanft über den Rücken ihrer Mutter strich.
Sie so zu sehen, ließ abermals Wut in ihr aufsteigen und sie musste sich zusammenreißen, nicht einfach aufzustehen, um ihrem Vater die Kartoffeln entgegenzuwerfen.
„Es gab nie eine andere Frau, es gab immer nur eure Mutter.“ Ihre Mutter schluchzte erneut laut auf und schüttelte immer wieder stumm den Kopf, während sie ihre Augen vor der Wahrheit zu verschließen versuchte.
„Ich wollte euch eigentlich nicht davon erzählen, um euch nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Aber ich muss es tun, weil ich merke, wie ihr euch alle immer mehr von mir entfernt.“ Ihr Vater sah Olivia direkt in die Augen; ließ sie die tiefe Traurigkeit darin erkennen.
„Besonders du, Liv.“
Olivia schluckte den Hauch von Bedauern herunter, der in ihr aufzusteigen drohte und versuchte ihre Wut wieder hochkommen zu lassen, um nicht selbst den Tränen nah zu sein.
„Schon gut, Dad“, lenkte Aurelia, liebenswürdig wie sie war, direkt ein.
Kopfschüttelnd schnitt Liv ihr das Wort ab. „Nein, es ist nicht gut. Wovon genau sprichst du?“
Ihr Vater legte die Gabel nieder, mit der er gerade eine Kartoffel aufstecken wollte und räusperte sich.
„All die Abende war ich nicht bei einer anderen Frau, sondern … Ich bin den weißen Füchsen beigetreten.“
Plötzlich war es totenstill in ihrer kleinen Küche. Man hörte kein Schluchzen und kein Atmen mehr, nur das Ticken der Uhr, die jede Sekunde eines neuen Lebens einläutete.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: