Die Welt - Arno Camenisch - E-Book

Die Welt E-Book

Arno Camenisch

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Beschreibung

Arno Camenisch erzählt von den Jahren, als er in seinen Zwanzigern war, sein Leben auf den Kopf stellte und über die Kontinente zog, die Sorgen fern waren und das Leben um die Liebe kreiste. Es waren die Nullerjahre, Die Welt war im Wandel, die Orte wechselten sich ab, und die Tage wurden zu Nächten, Moby und die Rolling Stones lieferten den Soundtrack zu dieser Zeit. Und immer wieder waren da dieses Gefühl der Enge und die Neugier auf Die Welt, die am Anfang jedes neuen Aufbruchs standen.

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Seitenzahl: 131

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Arno Camenisch

Die Welt

Roman

Diogenes

1

Die Welt hatte sich verändert. Es war Januar, und ich stand auf der Terrasse meiner Wohnung und schaute über den See. Ein kräftiger Wind ging an diesem Morgen, der Wind kam aus dem Osten, und in der Hand hielt ich eine Tasse Kaffee. Ich hatte einen dicken Mantel an und hatte keine Ahnung, was kommen würde, alles war ungewiss, die Welt war im Aufbruch. Ich war bald 44, in der Mitte des Lebens. Ich mochte den Januar, und ich mochte vor allem die Klarheit der Tage im Januar. So klar waren die Tage nur im Januar. Ich hielt den Mantel am Hals zu, und wenn man die Augen zumachte, hörte sich der See an diesem Tag an wie das Meer, und ich dachte an Santiago, wie er am Meer stand und übers Meer schaute, mit seinem alten Gesicht und den jungen Augen, nachdem er während 84 Tagen nichts gefangen hatte und dann in See stach. Ich sah ihn da stehen am Meer und sah ihn dann ins Boot steigen und übers Meer gleiten. Der alte Mann, der da übers Meer fuhr, würde nicht mehr zurückkommen, es kam ein anderer zurück. Und ich dachte an das Jahr 2003 zurück, es war das Jahr, in dem sich alles änderte.

 

Angefangen hatte alles jedoch bereits zwei Jahre zuvor, im Sommer 2001. Wir hatten den Millennium-Crash überstanden und waren gesund und vielleicht etwas verkatert im neuen Jahrtausend angekommen, und das entgegen der Aussagen einiger Experten, die die Welt am Ende sahen. Aber die Welt hatte sich einfach weitergedreht wie sonst auch. Während Monaten hatte der Millennium-Crash die Welt in Atem gehalten, die Menschheit befürchtete, der Himmel würde ihr auf den Kopf fallen, Chaos und Tod und Bürgerkriege würden ausbrechen, das war die große Angst und dass wir mit einem Streich zurück in der Steinzeit wären. Dies alles traf nicht ein, und bereits ein paar Wochen nach der Jahrtausendwende sprach niemand mehr vom Millennium-Crash, der uns so lange beschäftigt hatte. Nach der Ausbildung hatte ich zwei Jahre gearbeitet, dann wurde mir eine Stelle über fünf Jahre angeboten, es sollte eine leitende Stelle sein, mein Leben wäre also in Silber gegossen gewesen, und das schreckte mich ab, ich war dreiundzwanzig und die Vorstellung, das Leben bis dreißig bereits durchgeplant zu haben, kam mir einem Gefängnis gleich. Ich lehnte das Angebot ab, kündigte meine Stelle, gab meine Wohnung auf und verscherbelte mein Auto, was übrig blieb, war ein Gepäckstück und das Geld, das ich während der zwei Jahre, die ich gearbeitet hatte, auf die Seite gelegt hatte. Kurz darauf saß ich im Flugzeug nach Hongkong und kam mit einem gewaltigen Jetlag an, aber erleichtert, alles stehengelassen zu haben. Das war der Sommer 2001, ich war dann dreiundzwanzig und war hungrig, ich wollte diese Welt sehen, ich wollte da raus und sie mir reinziehen, die Vorstellung, festgenagelt zu sein für die nächsten Jahre löste bei mir genau das Gegenteil aus, ich hasste es, eingesperrt zu sein, ich hasste es aufs Blut.

 

Ich fuhr vom Flughafen in Hongkong mit der Bahn in die Stadt, die Kräne vom Hafen zogen vor dem Fenster vorbei, die Sonne stand tief, wir waren am Abend gelandet, und ich dachte daran, wie sehr ich das Militär gehasst hatte, und konnte in diesem Moment nicht mehr verstehen, warum ich das überhaupt mitgemacht hatte. Aber dann ignorierst du alle Anzeichen und schaust darüber hinweg und redest dir ein, das werde auch vergehen, und dann geht man halt, kurz: Ich scherte mich nicht darum, bis ich schließlich aufgeboten wurde und mir keine Wahl blieb, sodass ich mich den Sommer darauf vor der Kaserne in Airolo befand, vor dir ein paar Monate, in denen man in diesem Gefüge gefangen war. Ich habe nichts mehr auf dieser Welt so sehr gehasst wie das Militär, und wenn es den Affen dort vorne gefiel, ließen sie dich die Übung zwanzig Mal wiederholen, da gab es offenbar keine Grenzen, und wenn du widersprachst, musstest du die Gasmaske tragen, damit man nicht mehr verstand, was du sagtest. Heute hätte ich für all das ein Lächeln übriggehabt, aber mit zwanzig oder einundzwanzig lässt man sich noch davon beeindrucken. Sodass ich schaute, so lange wie nur möglich unter dem Radar zu fliegen. Im Militär gibt es eine ganz einfache Regel, und das war nicht aufzufallen. Denn es gibt keinen anderen Weg da raus als abzuwarten, bis es vorbei war. Du bist nicht zuhinterst, und auch nicht zuvorderst. Du machst nur, was dir gesagt wird, und zeigst keine Initiative, und du widersprichst nicht, denn sobald du widersprichst, bist du auf dem Radar, du setzt dich bei den Theorieteilen nie in die letzte Reihe, sondern in die drittletzte, und nicht zuäußerst, und auch nicht in die Mitte. Im Militär ging es also darum, den toten Winkel zu finden, wo man dich nicht sieht, und darin war ich gut. Ich flog während Wochen unter dem Radar, ohne dass die sich auch nur meinen Namen hätten merken können. Das war der einzige Weg, um aus dieser Situation rauszukommen. Und danach, als ich ins Ausland reiste, schmiss ich den ganzen Plunder weg, für mich war klar, dass ich da nie mehr antraben würde.

 

Das Militär hatte eine gute Sache, und das war das Gefühl der Ohnmacht, das ich dadurch erlebt hatte, das Gefühl, gefangen zu sein in diesen Strukturen, ich wusste nun also, wie sich so was anfühlen würde, und ich wusste nur zu genau, dass ich es nicht noch einmal so weit würde kommen lassen. Das war ich mir schuldig. Du musst deinem Wesen treu bleiben. Verbiegst du dich, holt dich das ein, das ist ein Bumerang, und wenn es dich einholt, haut es dich um, so viel war sicher. Wie gut mein Flug unter dem Radar gewesen war, sollte sich Jahre später zeigen, als ich mit einer Frau im Bett war und wir nach dem Sex auf dem Rücken lagen und an die Decke schauten. Sie hatte uns über zehn Jahre zuvor mit drei Freundinnen besucht, als wir im Militär waren. Wir hatten Ausgang und waren mit ihnen in eine Bar gegangen und hatten den Abend dort verbracht, bevor wir um elf wieder reinmussten, und als ich in der Nacht im Bett viele Jahre später jenen Abend im Ausgang mit ihnen erwähnte, war sie erstaunt, sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ich dabei gewesen war. Ich war für sie unsichtbar gewesen, und vermutlich noch für viele andere in dieser Zeit. Ich flog unter dem Radar.

 

Ich erreichte Hongkong und fuhr weiter nach Kowloon, einem Stadtteil von Hongkong, wo sich die Hochhäuser in den Himmel strecken, von Hongkong bekam ich nicht viel mit, die Stadt war überwältigend, und zu intensiv waren die Gerüche und die Eindrücke und der Verkehr und die Leuchtreklamen, ich würde Jahre später nochmals nach Hongkong zurückkommen, dann würde ich mehr von der Stadt und ihrem Puls mitbekommen, aber beim ersten Mal blieb mir außer ein paar gewaltigen Bildern wenig hängen, ich hatte kaum geschlafen auf der Reise, ich flog nicht gerne, ich hatte Höhenangst und auch Flugangst, und ich würde deswegen kein Auge zumachen können auf dem Flug, egal wie nett das Personal war, ich bekam kein Auge zu. Umso heftiger war der Jetlag in Hongkong, wo ich nicht lange blieb, nach wenigen Tagen bereits zog ich weiter nach Perth, das mir mäßig gefiel und wo ich mir ein Grammatikbuch kaufte. Das trug ich für die nächsten paar Monate mit mir herum. Über Broome reiste ich im Bus weiter die Westküste hoch in den Norden und landete irgendwann in Cairns, das mir schon besser gefiel. Inzwischen waren einige Wochen vergangen, und als ich in Brisbane eintraf, kam ich dem Ganzen schon näher. Da blieb ich länger. Brisbane gefiel mir, es war keine Perle wie die Vorzeigestädte, aber umso ehrlicher. Es war nur das, was es war. Und das sind die interessanten Städte. Die geben nie vor, etwas zu sein, das sie nicht sind. Die interessanten Städte sind widersprüchlich, und Brisbane war eine Millionenstadt, die Größe und Kraft solcher Städte hat mich schon immer fasziniert. Man spürt dem Ort seine Größe an, dafür musst du keine Rundfahrten machen, eine Stadt pulsiert, sie hat einen Drive und einen Rhythmus. Jahre später sollte ich in China eine längere Tour machen, während der ich für einige Tage in Shenzhen war, einer Stadt, die dreißig Jahre zuvor noch aus ein paar Dörfern bestand und aus dem Nichts in eine Millionenstadt verwandelt wurde. Es war eine Stadt ohne Gesicht und ohne Geschichte. Man spürte die Leere, diese Stadt hatte keine Seele. Ich zählte die Tage, bis ich da wieder verschwinden konnte, so eine Stadt nimmt dich aus.

 

Australien war der erste zaghafte Versuch eines Ausbruchs, es war nicht so, dass diese Zeit sonderlich ereignisreich gewesen wäre, die Tage wurden zu Nächten, das Leben fand insbesondere in der Nacht statt, Konzerte und Alkohol und Liebschaften, so ließe sich diese Zeit zusammenfassen, wir tranken ziemlich viel und waren bis in die Morgenstunden in den Bars unterwegs, und am nächsten Tag ging es gleich weiter, wir waren im neuen Jahrtausend angekommen, eine Aufbruchstimmung hatte sich über die Welt gelegt wie ein feiner Glanz. Und am Morgen gingen die Surfer mit ihren Brettern raus aufs Meer auf die Wellen, jeder Tag war wieder von Neuem Sommer, wir feierten weiter, es gab keine Verpflichtungen, und es kümmerte niemanden, wenn man erst am Nachmittag aufstand. Ich lebte in den Tag hinein, aß irgendwelches Fast Food oder Sandwiches und traf jede Menge Menschen, hin und wieder schlief man mit jemandem ein, und hin und wieder schlief man auch alleine ein, wen kümmerte das schon. Als ich ein Jahr später nach Hause zurückkehrte, war ich jedenfalls pleite.

 

Eigentlich wollte ich nach San Francisco, flog aber dann in die andere Richtung über Hongkong und landete eben in Brisbane. Wäre ich nach San Francisco, wäre ich nach zwei Monaten wieder zurück gewesen, ich wollte ein Jahr unterwegs sein, und San Francisco war mir zu teuer, ich wäre nach zwei Monaten bereits ausgeschossen gewesen. Ich hatte also ein Diplom in der Tasche, war im Militär gewesen, das ich verachtet hatte, hatte zwei Jahre gearbeitet und anschließend das Angebot ausgeschlagen, es war mir alles zu eng, und landete mit einem Gepäckstück, etwas Cash in der Tasche und ein paar Travelers Cheques, so hießen die glaube ich, und Geld für ein Jahr auf dem Konto in Hongkong und stand am Hafen und schaute über die Kräne vom Hafen, das Licht zog über die Stadt, die Kräne am Hafen sahen aus wie riesige Stühle, als stünden sie bereit für die Großen dieser Welt, die hinter den Hügeln warteten und in der Dämmerung, wenn sich das Leben in die Gassen und Straßen mit ihren Leuchtreklamen verlegte, rauskamen und sich auf die Stühle setzten und über das Meer schauten und sich hin und wieder ansahen und nickten.

 

Hongkong war aufregend, es war aufregend, da zu sein, bereits die Tatsache, keinen Plan zu haben, war aufregend. War ich unterwegs, hatte ich keine Pläne, ich hatte keine Route, ich kannte lediglich das Endziel, und das war in diesem Moment Brisbane. Es sollte noch öfters so sein, dass ich dem Instinkt folgte, etwas fühlte sich richtig an oder nicht. Darauf habe ich immer viel gegeben, auch später im Leben, machten andere einen klaren Plan und überlegten sich, was dafürsprach und was nicht, was dagegensprach und was nicht, und sich das lang und breit im Kopf überlegten, machte ich das alles nicht. Ich entschied alles schnell und aus dem Gefühl heraus. Ich vertraute auf den inneren Kompass. Und dann stand ich in Broome, einer kleinen, verschlafenen Stadt an der Westküste Australiens, wo es ein paar Häuser gab, ein Einkaufszentrum, riesige Strände und viel Wind, dann stand ich da und schaute über das Meer hinweg wie Santiago, bevor er in See stach. Die Sonne glitzerte auf der Meeresoberfläche, und die Wellen schlugen auf. Das Schöne an dieser Zeit war die Tatsache, dass man nichts musste, ich hatte keinen Plan, ich hatte keine Verpflichtungen und keine Seilschaften, und ich hatte auch keine Ahnung, wie es danach weitergehen würde, ich stand also da und schaute über das Meer, in der Tasche hatte ich das Grammatikbuch, das ich in Perth gekauft hatte und in dem ich hin und wieder blätterte, und schaute über diese endlose Weite, es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einfach da war an diesem Strand und mir bewusst wurde, dass ich nichts musste. Das war befreiend. Ich hatte nicht mal ein Handy, noch bevor ich losgezogen war, hatte ich das Handy in der Hand gehabt, eine Sekunde innegehalten und dann das Handy ausgeschaltet und dagelassen und war ohne Handy losgereist. Das war eine gute Entscheidung. Würde ich ein Jahr später das Handy wieder einschalten, schneiten ein paar Nachrichten rein, die längstens dem Alten angehörten, wenn du gehst, kommt ein anderer zurück. Diese Nachrichten waren nicht an mich adressiert, die waren für den, der gegangen war, aber nicht für den, der kam.

2

In Broome setzte ich mich in ein Kino, das unter freiem Himmel war und wo man auf Strandstühlen saß, der Sternenhimmel lag in seiner ganzen Größe über dem Land ausgebreitet, und ich schaute mir den Film Moulin Rouge an. Das war einer der schönsten Momente auf dem Kontinent. Und als ich da saß, Nicole Kidman hatte auf der Leinwand einen schönen Part gespielt, sie war in ihrer Rolle aufgeblüht, blieb ich im Strandstuhl sitzen und lehnte den Kopf nach hinten, ich schaute in den Sternenhimmel hoch und überlegte mir, wo ich nun wäre, wäre ich nach San Francisco gereist. Das Leben wäre ganz ein anderes geworden, du hättest andere Leute getroffen, du wärst andere Wege gegangen, und vielleicht wäre man hängengeblieben, hätte sich entschieden, dortzubleiben und hätte verlängert, hätte einen Job angenommen, um über die Runden zu kommen, hätte ein Studium angefangen und sein Leben dort aufgebaut, wer weiß das schon so genau. In jenen Jahren schien einem alles offenzustehen, wenn du dreiundzwanzig bist und weit weg von daheim, losgelöst vom Gefüge und den Strukturen, in die du hineingeboren wurdest, die Zeit auf deiner Seite ist und du davon so viel hast, dass man es verschwenden könnte, und du nicht getrieben bist von Sachen, die du machen müsstest, und von dem, was auch noch sein müsste, keine Mails dich durch die Tage jagen und keine Leute, die auch noch etwas von dir wollen, dann kommst du das erste Mal in deinem Leben dazu, das Leben von einer anderen Seite aus zu betrachten. Du denkst anders über das Leben nach. Das war für mich diese Zeit. Und die war wichtig. Es lüftet dir den Kopf durch. Das erste Mal überhaupt musst du nichts, rein gar nichts.

 

Ich mochte dieses Leben, es war unkompliziert und pragmatisch. Und es war ein sorgenfreies Leben. Wenn man schlief, dann schlief man, wenn man aß, dann aß man, und wenn man ausging, ging man aus. So unbeschwert wie dann sollte das Leben nie mehr werden. Und alles, was man hatte, passte in ein Gepäckstück. Das ist eine Kunst für sich, und so war ich während eines Jahres unterwegs. Ein Handy hatte ich nicht, wollte ich nach Hause telefonieren, stand da eine Telefonkabine, und eine E-Mail-Adresse hatte ich, das gab es noch nicht so lange, E-Mail war relativ neu, das Internet