Die Welt der Pflanzen - Stefano Mancuso - E-Book

Die Welt der Pflanzen E-Book

Stefano Mancuso

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Beschreibung

»Unser Planet ist eine grüne Welt, weil er ein Planet der Pflanzen ist.« Stefano Mancuso Ohne Pflanzen gäbe es keine Kultur und keine Geschichte. Pflanzen sind die zahlreichsten Lebewesen der Erde. Sie bewirken nicht nur, dass wir auf der Erde leben können, sondern sind auch die Grundlage unserer Zivilisation: Nur durch sie ist Kultur überhaupt möglich. Wie Stefano Mancuso auf faszinierende Weise veranschaulicht, beginnt nahezu jede Geschichte mit einer Pflanze. Der brilliante und weltberühmte Neurobiologe Stefano Mancuso erzählt Geschichten von Pflanzen, die mit Ereignissen der Alltags- wie der Weltgeschichte verbunden sind. Etwa die Freiheitsbäume der Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert oder die spektakuläre Entführung des Sohnes von Charles Lindbergh 1932. Dieser außergewöhnliche Kriminalfall, der die Weltöffentlichkeit in Atem hielt, ließ sich mit Hilfe eines Holzstücks aufklären. Und da ist die Geschichte einer einzigartigen Rotfichte, aus der Stradivari vierzehn göttliche Geigen schuf. In diesem einzigartigen Buch machen Pflanzen (Welt-) Geschichte. Stefano Mancuso appelliert an uns alle, die Pflanzen, die Erde und damit uns selbst zu schützen. Ein wichtiges Buch, unnachahmlich erzählt und mit den neuesten Erkenntnissen der Pflanzenforschung fundiert. 

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Die Weltder Pflanzen

… und wie sie Geschichte machen

Stefano Mancuso

Aus dem Italienischen übersetzt von Andreas Thomsen

Mit Zeichnungen des Autors

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »La pianta del mondo« im Verlag Gius. Laterza & Figli in Bari und Rom

© 2020, Gius. Laterza & Figli

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung einer Abbildung von © Shutterstock, jopelka, losmandarinas, Zoya Kriminskaya

Alle im Buch verwendeten Zeichnungen /Aquarelle stammen von Stefano Mancuso © Stefano Mancuso

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co

ISBN 978-3-608-98076-9

E-Book: ISBN 978-3-608-11995-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

__Einleitung

01__Pflanzen der Freiheit

02__Pflanzen der Stadt

03__Pflanzen des Untergrunds

04__Pflanzen der Musik

05__Pflanzen der Zeit

06__Pflanzen der Erkenntnis

07__Pflanzen des Verbrechens

08__Pflanzen des Mondes

Anmerkungen

für Paola und Sonia

__Einleitung

Nachdem ich einen Großteil meines Lebens in Gesellschaft von Pflanzen verbracht habe, spüre ich nicht nur ihre allgegenwärtige Präsenz auf dem Planeten, mir ist auch klar geworden, wie sehr ihre Geschichten unsere Geschichten sind.

Anfangs glaubte ich, diese besondere Wahrnehmung der Pflanzenwelt sei schlicht eine Folge meiner Sympathie für diese stillen Wesen. Und wie jeder, der eine starke Affinität zu etwas entwickelt, begann ich, überall Pflanzen zu sehen. Wer schon einmal verliebt war, wird wissen, was ich meine. Man hat dieses seltsame Gefühl, buchstäblich alles, ganz gleich wie gering der Bezug auch sein mag, sei irgendwie mit dem Subjekt der eigenen Liebe verbunden. In jedem Ereignis, in jedem Lied, im Wetter oder in den Pflastersteinen des Bürgersteigs, in allem scheint die Liebesbeziehung widerzuhallen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen amüsanten Roman von Guy de Maupassant (1850–1893), den ich als Junge gelesen habe. Darin geht es um eine Dame, die sich häufig verliebt und bei jeder neuen Liebe ihr ganzes Leben umstellt, indem sie den Beruf des Angebeteten in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Als sie sich in einen Juristen verliebt, spricht sie von nichts anderem als von Gesetzbüchern und Prozessen, bei einem Apotheker sind es Medizin und Medikamente und bei einem Jockey dreht sich für sie plötzlich alles um Pferde, Sättel und Zaumzeug. Das bekannte, etwa zur selben Zeit entstandene deutsche VolksliedGrün, grün, grün sind alle meine Kleider thematisiert etwas Ähnliches, und ich bin sicher, dass die meisten jemanden kennen, der sich schon einmal so verhalten hat. Das ist übrigens einer der Gründe, warum mit frisch Verliebten so wenig anzufangen ist.

Ich begann mich also zu fragen, ob mich meine Verliebtheit in diese grünen Wesen überall Pflanzen sehen ließ, an jedem Ort und am Anfang jeder Geschichte und jedes Ereignisses. Ich habe gründlich darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dies sei ziemlich sicher nicht der Fall. Mit Pflanzen zu leben, sie zu studieren und in den Mittelpunkt meines Interesses zu stellen, hat nichts damit zu tun, dass sie am Anfang jeder Geschichte stehen. Es liegt schlicht an ihrer enormen Zahl und der unbestreitbaren Tatsache, dass sie die Quelle allen Lebens auf der Erde sind. Wie könnte es auch anders sein? Wir Tiere tragen gerade einmal 0,3 Prozent zur Biomasse bei, während es bei den Pflanzen 85 Prozent sind. Deshalb bleibt es gar nicht aus, dass jede Geschichte auf die eine oder andere Weise mit Pflanzen zu tun hat. Unser Planet ist eine grüne Welt, weil er ein Planet der Pflanzen ist. Eigentlich kann man keine Geschichte über ihn erzählen, in der nicht auch seine zahlreichsten Bewohner vorkommen. Trotzdem gestehen wir den Pflanzen in unseren Geschichten bestenfalls die Rolle von Statisten zu – sofern wir sie überhaupt erwähnen. Denn diese Wesen, von denen das Leben auf der Erde abhängt, sind aus unserer Wahrnehmung verschwunden.

Sobald man jedoch aufhört, in der Welt ausschließlich den Spielplatz der Menschheit zu sehen, kommt man gar nicht mehr umhin, ihre Allgegenwart zu bemerken. Denn Pflanzen sind überall und ihre Geschichten unweigerlich mit unseren verflochten.

Der englische Komponist Sir Edward Elgar (1857–1934) wurde eines Tages gefragt, woher seine Musik komme. Darauf antwortete er: »Ich denke, dass die Musik in der Luft liegt, sie ist allgegenwärtig, die Welt ist voll davon, und man nimmt sich einfach so viel, wie man braucht.«[1] Dasselbe gilt für die Pflanzen, denn auch sie sind überall. Um ihre Geschichten zu erzählen, muss man einfach nur zuhören und sich jedes Mal so viel nehmen, wie man braucht.

Genau das tue ich in diesem Buch. Ich greife hier und da Geschichten von Pflanzen auf, die mit Ereignissen der Menschheitsgeschichte verbunden sind, so dass Mensch und Pflanze im großen Epos des Lebens miteinander verschmelzen. Man kann es mit einem Wald vergleichen, in dem jeder Baum durch ein unterirdisches Wurzelgeflecht mit allen anderen zu einem Superorganismus verbunden ist. So wie dort bilden die Pflanzen überall auf der Welt die Grundlage des Lebens. Sie sind der Plan. Sie nicht zu bemerken oder gar zu ignorieren und zu glauben, wir stünden über der Natur, gefährdet das Überleben der Menschheit.

01__Pflanzen der Freiheit

__Ficus macrophylla (Großblättrige Feige). Dieser gigantische, scheinbar unangreifbare Baum ist für seine Fortpflanzung auf ein einziges Insekt, die Feigenwespe (Pleistodontes froggatti), angewiesen. Ohne sie fallen die unbefruchteten Feigen unreif auf den Boden. In seiner Stärke und Erhabenheit gleicht dieser Baum der Freiheit, denn auch sie ist nur schwer zu erschaffen.

Papier hat mich immer schon unwiderstehlich angezogen. Als ich drei Jahre alt war, verliebte ich mich zuerst in die Kindergärtnerin und gleich danach in Papier. Und diese zweite Liebe hat niemals nachgelassen. Sie besteht unverändert bis heute fort und begleitete mich schon, lange bevor meine Leidenschaft für Pflanzen erwachte. Eine meiner ersten kindlichen Emanzipationserinnerungen hängt mit Papier oder, besser gesagt, mit Comicheften zusammen. Damals glaubte ich, es hinge allein vom Großmut und den Launen meiner Eltern oder anderer erwachsener Verwandter ab, ob ich welche bekam oder nicht. Erwiesen wurde mir die Gnade dieser phantastischen Geschichten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, etwa an meinen Geburtstagen oder wenn ich etwas Besonderes geleistet hatte. Natürlich wusste ich, dass die Heftchen aus jenen Wonne verheißenden Orten stammten, die man Zeitungskioske nennt. Doch zu diesen heiligen Gefilden hatten nur Erwachsene Zutritt. Für einen Knirps wie mich waren sie so unerreichbar wie der Olymp für alle Sterblichen. Dann eines Tages – ich muss sieben Jahre alt gewesen sein – fand ich mich während eines Urlaubs in Rom unversehens zum ersten Mal in meinem Leben vor einem Stand mit Second-Hand-Comics wieder.

Ich sah Kinder in meinem Alter, mit und ohne Eltern, Erwachsene, Männer und Frauen, die sich alle gleichermaßen an den Wundern dieser Druckerzeugnisse ergötzten. Niemand wurde diskriminiert, noch nicht einmal durch sein Einkommen. Die hundert Lire, die ein Heft kostete und selbst die 400 Lire, die man für fünf Hefte hinblättern musste, lagen durchaus im Rahmen meiner finanziellen Möglichkeiten. Denn ich hatte immer einen Tausend-Lire-Schein dabei, den mein Vater mir »für alle Fälle« mitgegeben hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, was mit diesen »Fällen« gemeint sein könnte. Ich investierte die tausend Lire in zwölf (aufeinanderfolgende) Ausgaben von Comandante Mark. Es war ein magischer Moment.

Seit damals sind die Stände mit Second-Hand-Zeitschriften und antiquarischen Büchern zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden. In Florenz besuche ich einige von ihnen nun schon seit mehreren Besitzergenerationen. Und obwohl keiner von ihnen mein Herz so sehr bewegt hat wie jener erste Stand in Rom, sind mir viele der Bücher, die ich an Orten wie diesen entdeckt habe im Gedächtnis geblieben – darunter auch eines mit dem bombastischen Titel Essai historique et patriotique sur les arbres de la liberté, das mir auf dem Marché du livre ancien et d’occasion Georges Brassens, dem Markt für antiquarische Bücher in Paris, in die Hände fiel.

Der Besuch dieses Marktes gehört zu den unerlässlichen Terminen für jeden Bücherfreund, der in Paris lebt oder sich zufällig am Wochenende dort aufhält. Denn jeden Samstag und Sonntag versammeln sich fünfzig bis sechzig Bouquinisten, also Antiquare, unweit des nach Georges Brassens benannten Parks im 15. Arrondissement, um ihre Waren den stets zahlreich erscheinenden Bibliophilen feil zu bieten. Man erkennt sich sofort, denn es sind immer dieselben, die sich an immer denselben Orten treffen, um Wochenende für Wochenende begierig die unsortierten Stapel auf den Ladentischen der Buchhändler zu durchstöbern. Unter ihnen gibt es diejenigen, die seit Jahren nach der einen ganz bestimmten Ausgabe suchen, die ihnen noch fehlt, um ihre Sammlung irgendeiner obskuren Reihe aus dem frühen 20. Jahrhundert zu vervollständigen, oder solche, die Bücher zu ganz bestimmten, oftmals abseitigen Themen sammeln. So ist mir tatsächlich einmal jemand begegnet, der sich mit Kaffeemaschinen beschäftigte. Andere treibt die Leidenschaft für finnische Geschichte, japanische Waffen oder im Boden lebende Mikroorganismen an die Büchertische.

Zumeist sind es Akademiker, die sich jahrelang mit obskuren Interessensgebieten befassen und schließlich in der Welt ihrer Forschungen gefangen sind. Ich gebe zu, so sehr unterscheide ich mich nicht von ihnen. Immer wenn ich das Glück habe, in Paris zu sein, durchstöbere auch ich die Auslagen der Stände auf der Suche nach Büchern über Pflanzen und Bäume, die vielleicht schon vor Beginn des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Im Laufe meines Erwachsenenlebens habe ich auf diese Weise eine ansehnliche Sammlung längst vergessener Bücher über Pflanzen zusammengetragen.

Samstagmorgens öffnet der Markt um neun Uhr für das Publikum. Echte Enthusiasten finden sich allerdings bereits um acht Uhr dort ein, um auf die Öffnung zu warten. Man trifft sich in einer direkt vor dem Markt gelegenen Bar, ausgerüstet mit leeren Rucksäcken, die man zu füllen hofft. Die Begrüßungen fallen etwas unbeholfen aus, denn man kennt sich zwar seit Jahren vom Sehen und manchmal sogar beim Namen oder man weiß, was der andere beruflich macht, hat aber noch niemals ein richtiges Gespräch miteinander geführt. Man trinkt einen Kaffee und beäugt misstrauisch diejenigen, von denen man weiß, dass sie die eigenen Interessen teilen. Es ist fast wie eine Art Fluch, denn ganz gleich, worüber man auch forscht, es gibt immer jemanden, mit dem man um dieselben Bücher konkurrieren muss.

Mein Rivale ist ein großer, schlanker älterer Herr mit wettergegerbtem Gesicht. Er trägt sommers wie winters denselben hellen Regenmantel und wirkt, als habe er viele Jahre seines Lebens unter der Wüstensonne verbracht. Wie alle eingefleischten Büchersucher ist er vollkommen witterungsresistent – ganz gleich, ob es regnet, windet, schneit oder friert, oder ob eine atemlose Hitze auf dem Markt lastet, er ist immer da, jeden Samstag um Schlag acht Uhr. Hinkend wandert er von einem Stand zum nächsten und weiß durch seine kleine Behinderung den Eindruck zu erwecken, er könnte sich nur langsam bewegen, doch sobald etwas seine Aufmerksamkeit erregt, macht er sich mit einer wilden, jugendlich anmutenden Behändigkeit über die betreffenden Bücherstapel her. Mir ist das inzwischen bekannt, aber Neulinge lassen sich durch seine scheinbare Gebrechlichkeit immer wieder täuschen.

Er kennt kein Pardon und ist so hart im Nehmen wie das lagertrockene Holz, aus dem er geformt zu sein scheint. Niemals müde, durchsucht er Stapel um Stapel. Kein Samstag vergeht, an dem er den Markt am Ende des Tages nicht mit einem Rucksack voller Wälzer verließe. Die Buchhändler kennen ihn gut, nennen ihn respektvoll »Professeur« oder »Henri«. Und Professor Henri ist wahrlich ein furchterregender Gegner, ein richtig harter Kerl, dessen einzige Schwächen offenbar die Botanik und die Französische Revolution sind. Ich muss zugeben, dass ich ihn anfangs nicht sonderlich mochte, denn er hat augenscheinlich einen sechsten Sinn für Botanikbücher. Die Stapel durchstöbert er mit dem Instinkt eines Wiesels, das genau weiß, in welchem Kaninchenbau es auf Beute hoffen darf. Wenn wir einander über den Weg laufen, mustert er mich mit immer demselben süffisanten Blick. Zu Beginn des Tages starten wir meistens an den entgegengesetzten Enden des Marktes und beäugen uns misstrauisch aus der Ferne, in der Hoffnung, dem anderen mit einer interessanten Entdeckung zuvorzukommen – ein hartes Unterfangen, wie ich jedem versichern kann.

Umso mehr freute es mich, als ich ausgerechnet während einer unserer Begegnungen auf das berühmte kleine Buch stieß. Es steckte in einer Plastikschutzhülle, wie wir sie als Kinder für unsere Schulhefte benutzten. Ich weiß nicht, ob man es heute noch so macht, aber als Grundschüler liebte ich es, meine Hefte zu Beginn des Schuljahres mit den Schutzhüllen zu versehen. Nur wegen dieser Kindheitserinnerung nahm ich das Exemplar überhaupt in die Hand, obwohl es sich dabei vermutlich nur um ein altes Notizbuch handelte. Geistesabwesend begann ich, darin zu blättern, und stellte zu meiner großen Überraschung fest, dass sich unter der banalen Plastikhülle ein wunderschöner Ledereinband aus dem späten 18. Jahrhundert verbarg. Professor Henri stand neben mir und behielt außer seiner eigenen auch meine Suche im Blick, so als habe er wie ein Chamäleon zwei voneinander unabhängige Augen. Er bemerkte den Einband und erstarrte. Jetzt hatte ich ihn. Mit einer Arglist, die ich mir selbst gar nicht zugetraut hätte, hielt ich das Buch so, dass er es nicht sehen konnte, und blätterte genüsslich darin herum, während ihn die Ungewissheit quälen musste. Als ich die Titelseite erreichte und sah, worum es ging, wusste ich, dass der Augenblick gekommen war, um mich für die erlittenen Kränkungen zu rächen. Ich fühlte mich wie ein Pokerspieler, der unversehens einen Royal Flush auf die Hand bekommen hatte, und machte ein enttäuschtes Gesicht, das den Professor sichtlich erfreute. Unter seinen gierigen Blicken tat ich so, als wollte ich das Buch wieder zurück auf den Stapel legen, überlegte es mir im letzten Moment jedoch anders. »Ach was. Ich nehme es«, raunte ich dem Buchhändler scheinbar lustlos zu, bezahlte, was ich schuldig war, und legte das Buch achtlos zur Seite.

Professor Henri beobachtete jede meiner Gesten, während wir beide etwas geistesabwesend die Auslagen des Händlers durchstöberten. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick in mein neues Buch, nur um mich gleich wieder gelangweilt abzuwenden. Da lag es, ein unwiderstehlicher Köder, und schließlich konnte er seine Neugier nicht länger bezähmen. »Entschuldigen Sie, Monsieur«, sprach er mich höflich an. »Dürfte ich vielleicht einen Blick in das Buch werfen, das Sie soeben erworben haben?«

»Aber bitte. Nur zu, sehen Sie es sich an.«

Der Professor nahm es, schlug es auf und erstarrte beim Anblick des prachtvollen Titelblattes erneut: Essai historique et patriotique sur les arbres de la liberté stand dort. Der Verfasser war ein gewisser Grégoire (1750–1831). Henri konnte seine Augen nicht von dem Büchlein lassen und blätterte ungläubig darin herum.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, noch ein wenig Salz in seine Wunde zu streuen. »Haben Sie gesehen? Es wurde im zweiten Jahr der Republik veröffentlicht, also 1794, wenn ich nicht irre«, sagte ich und lächelte ihn an. »Ich frage mich, wie ein so interessantes Buch wohl in einer Schutzhülle für Schulhefte gelandet ist.« Er wiederum wirkte so verletzt, dass ich mich meiner Grausamkeit zu schämen begann. Da ohnehin gerade Mittag war, fragte ich ihn, ob ich ihn nicht zum Essen einladen könne. Damit wollte ich mich nicht nur für mein Verhalten entschuldigen, ich war auch neugierig und wollte mehr über ihn erfahren. Er nahm meine Einladung an, und wir gingen in eine nahegelegene Brasserie.

Sein voller Name lautete Henri Gerard. Über seinen Beruf als Lehrer für französische Geschichte hinaus versuchte ich, mehr über seine Interessen herauszubekommen. »Ich beobachte Sie nun schon seit geraumer Zeit bei der Büchersuche«, begann ich. »Aber ich dachte, Ihre Leidenschaft gilt der Botanik und nicht der Geschichte. Denn heute hatte ich ausnahmsweise Glück, aber ansonsten schnappen Sie mir nun schon seit Jahren die besten Bücher über Pflanzen vor der Nase weg.«