Die unglaubliche Reise der Pflanzen - Stefano Mancuso - E-Book

Die unglaubliche Reise der Pflanzen E-Book

Stefano Mancuso

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Beschreibung

Sie machen den Blauen Planeten zur grünen Insel im Weltall. Die faszinierende, verblüffende Geschichte der größten Gruppe von »Lebewesen«, die wir als solche gar nicht wahrnehmen und (noch) nicht hinreichend wertschätzen. Am weitesten verbreitet auf unserem Planeten sind nicht Menschen, sondern Pflanzen, deren Intelligenz uns das Leben und Überleben überhaupt ermöglicht. Sie verwandeln Wüsten in blühende Kontinente, sie breiten sich auch in den entlegensten Gegenden der Welt aus, ihr Lebenswille ist unbezwinglich. Sie sind der Inbegriff natürlicher Schönheit und empfindungsfähiger als Tiere. Pflanzen tauschen sich untereinander aus, sie kommunizieren und sind soziale Wesen. Die eigentlichen Pioniere der Erde sind die Pflanzen. Sie sind Flüchtlinge, Heimkehrer, Kämpfer, Einsiedler und Zeitreisende, und das ohne sich erkennbar zu bewegen. Mühelos verbreiten sich Pflanzen über alle Kontinente hinweg und machen seit fast 500 Millionen Jahren unseren Planeten zu einer fruchtbaren Erde. Zahlreiche Aquarelle veranschaulichen die Schilderungen von Stefano Mancuso. Welche unglaublichen Leistungen Pflanzen, ohne die wir nicht überleben könnten, täglich vollbringen, führt der italienische Bestsellerautor eindringlich vor Augen. Denn wir wissen kaum etwas über die Pflanzen, und was wir wissen, ist falsch. Ein wunderbar gestaltetes Buch, das uns inmitten des Klimawandels auf die unerreichte Schönheit der Natur wieder und wieder achten lässt und mit ihr – und ihren Pflanzen – versöhnt.

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Seitenzahl: 164

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Die unglaubliche Reise der Pflanzen

Stefano Mancuso

Aus dem Italienischen übersetzt von Andreas Thomsen

Mit Aquarellen von Grisha Fisher

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag Klett-Cotta dankt Grisha Fisher und dem Verlag Laterza für die freundliche Genehmigung zum Druck der in diesem Buch abgebildeten Aquarelle.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »L’incredibile viaggio delle piante« im Verlag Gius. Laterza & Figli in Bari und Rom

© 2018, Gius. Laterza & Figli

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung eines Aquarells von © Grisha Fisher

Alle im Buch verwendeten Aquarelle © Grisha Fisher

Fachliche Beratung: Dr. Alexandra Kehl, Tübingen

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN978-3-608-98192-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11592-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Pioniere, Kämpfer und Heimkehrer

01_a. Die Pioniere von Surtsey

01_b. Die Kämpfer von Tschernobyl

01_c. Hibaku jumoku oder die »Heimkehrer« von Hiroshima

Flüchtlinge und Eroberer

02_a. Von Insel zu Insel

02_b. Die schöne Abessinierin

02_c. Die Wasserhyazinthe oder Flusspferde in Louisiana

Mutige Kapitäne

03_a. Kokosnuss, göttliche Frucht

03_b. Die Kallipygos-Palme

Zeitreisende

04_a. Jan Teerlinks Samen

04_b. Die Palme von Masada

04_c. Der Samen aus dem ewigen Eis

Einsiedler

05_a. Die Fichte von Campbell Island

05_b. Die Akazie der Ténéré

05_c. Der Baum des Lebens in Bahrain

Anachronisten

06_a. Avocado, die Speise des Mastodons?

06_b. Der Dodo und der Dodobaum

Anmerkungen

für Rosaria und Franco, meine Eltern

Einleitung

Erinnern Sie sich an Frank Capras Meisterwerk »Ist das Leben nicht schön?«, mit dem unvergesslichen James Stewart in der Rolle des George Baily? Bestimmt haben die meisten den Film schon einmal angeschaut, in dem der Protagonist wiederholt zugunsten anderer auf die Verwirklichung eigener Träume und Bestrebungen verzichtet.

Als Kind rettet er seinen jüngeren Bruder Harry, der ins Eis eingebrochen ist, und behält ein taubes Ohr davon zurück. Als Erwachsener arbeitet George in der Bausparkasse seines Vaters und sorgt mit eigenen Ersparnissen dafür, dass sein Bruder die Universität besuchen kann. Er heiratet während der Weltwirtschaftskrise 1929 und verwendet das eigentlich für die Hochzeitsreise vorgesehene Geld, um die Bausparkasse zu retten. Verzicht reiht sich an Verzicht und unbemerkt verrinnt sein Leben, bis George sich schließlich nach weiteren Widernissen an einem Weihnachtsabend das Leben nehmen will. Gerade will er sich von der Brücke in den Fluss stürzen, als Clarence, ein Engel zweiter Klasse erscheint. Dieser führt George in eine Parallelwelt, um ihm zu zeigen, wie die Welt aussähe, wäre er niemals geboren worden.

Ich weiß, auf diese sentimentale Weise erzählt, bräuchte es – wie Oscar Wilde über Dickens’ Weihnachtsgeschichte »Raritätenladen« spöttelt – ein Herz aus Stein, um nicht zu lachen. Aber Capra ist es gelungen, aus einer kitschigen Weihnachtsgeschichte einen Meilenstein der Kinogeschichte zu zaubern. Und jetzt, da ich über ihn gesprochen habe, kann ich es kaum erwarten, bis wieder Weihnachten ist und der Film gezeigt wird.

Nun ja, aus meiner Sicht – der eines Pflanzengenetikers wohlgemerkt – erscheint es mir so, als seien die Pflanzen dieses Planeten wie dieser George Bailey. Niemand beachtet sie gebührend, sie werden kaum erforscht und wir wissen noch nicht einmal annähernd, wie viele es überhaupt gibt, wie sie funktionieren oder welche Eigenschaften sie besitzen. Und doch könnte ohne sie keines von uns Tieren überleben. Zweifellos lehrreich wäre, führte uns jemand vom Format eines Frank Capra eines Tages vor Augen, wie die Welt aussähe, hätte es niemals Pflanzen gegeben.

Wir wissen also kaum etwas über Pflanzen und oftmals ist das wenige, das wir zu wissen glauben, auch noch falsch. Wir denken, sie könnten ihre Umgebung nicht wahrnehmen, in Wirklichkeit sind sie empfindungsfähiger als Tiere. Wir sind davon überzeugt, dass ihre Welt still ist und sie nicht in der Lage sind zu kommunizieren, doch sind sie äußerst mitteilsam. Wir glauben, dass sie keinerlei gemeinschaftliche Beziehungen pflegen, doch tatsächlich sind sie ausgesprochen soziale Wesen. Und wir sind uns sicher, dass Pflanzen unbeweglich sind, und davon lassen wir uns auch nicht abbringen. Pflanzen bewegen sich nicht und fertig! Um das zu erkennen, muss man sie doch nur ansehen.

Und doch irren wir uns auch hier, denn Pflanzen sind keinesfalls unbeweglich. Tatsächlich trifft das Gegenteil zu, wenngleich ihre Bewegungen sehr langsam sind und über sehr lange Zeiträume erfolgen. Pflanzen können sich bewegen, nur fortbewegen können sie sich nicht – zumindest nicht, solange sie leben. Das Adjektiv, das sie am besten beschreibt, ist nicht »unbeweglich«, sondern »sesshaft« oder »verwurzelt«, wenn man so will. Ein sesshafter Organismus kann zwar nicht den Ort verlassen, an dem er geboren wurde, aber bewegen kann er sich durchaus. Und wie sehr Pflanzen sich bewegen, kann man den zahllosen Zeitrafferaufnahmen entnehmen, die inzwischen überall im Internet zu finden sind.

Auch wenn Pflanzen im Laufe ihres individuellen Lebens den Standort nicht wechseln können, sind sie über Generationen hinweg dazu in der Lage, auch die entferntesten, unzugänglichsten und ungastlichsten Gegenden zu erobern, mögen diese für das Leben auch noch so ungeeignet erscheinen. Und dabei legen sie eine Hartnäckigkeit und Anpassungsfähigkeit an den Tag, um die man sie nur beneiden kann.

Wie ich bereits in früheren Büchern ausgeführt habe, unterscheiden sich Pflanzen grundlegend von Tieren. Ihr Körper, ihr Aufbau und ihre Strategien sind dem, was man in der Tierwelt vorfindet, oftmals geradezu entgegengesetzt. Tiere besitzen ein Kommandozentrum, Pflanzen sind multizentrisch. Tiere haben einzelne oder doppelte Organe, Pflanzen diffuse. Tiere sind Individuen (in dem Sinne, dass sie unteilbar sind), Pflanzen hingegen ähneln eher Kolonien. Kurz gesagt, bei den Tieren steht die Einzahl im Vordergrund, während es bei den Pflanzen die Mehrzahl ist. Was bei den Tieren das Individuum, ist bei den Pflanzen die Gemeinschaft. Pflanzen sind weit mehr als nur behinderte Tiere und lassen sich nicht durch Vergleiche mit der Tierwelt verstehen.

Erst wenn man sie nicht mehr durch die tierische Brille betrachtet, werden ihre außerordentlichen Fähigkeiten offensichtlich, die letztlich – man mag es kaum glauben – sogar die Fähigkeit zur Fortbewegung einschließen. Wenn man sich mit Migrationsbewegungen befasst, genügt ein Blick auf die Pflanzen, um zu begreifen, dass es sich dabei um einen unaufhaltsamen Prozess handelt. Mithilfe von Sporen, Samen und allen verfügbaren Transportmitteln verbreiten sich die Gewächse von Generation zu Generation und erobern auf diese Weise neue Lebensräume. Farne etwa setzen geradezu astronomische Sporenmengen frei, die vom Wind jahrelang Tausende Kilometer weit getragen werden können. Die Methoden, derer Samen sich bedienen, um alle Weltgegenden zu erreichen, sind erstaunlich. Offenbar hat die Evolution im Laufe der Zeit alles Machbare ausprobiert – und jede von ihr gefundene Lösung scheinen auch ein paar Arten adaptiert zu haben.

So gibt es Samen, die sich mithilfe des Windes ausbreiten oder einfach über den Boden rollen; Samen, die von irgendwelchen Tieren oder bestimmten Tiergruppen wie Ameisen, Vögeln oder Säugetieren verbreitet werden; Samen, die von Tieren gefressen werden oder ihrem Fell anhaften; Samen, die im Wasser schwimmen oder einfach von der Pflanze herabfallen; Samen, die sich durch Schaukeln oder mittels spezieller Mechanismen – wie Austrocknung oder Hydratation der Frucht – von der Mutterpflanze lösen und anderes mehr. Jedes Jahr werden neue raffinierte Strategien entdeckt, die von Pflanzen entwickelt wurden, um die Keimfähigkeit ihrer Samen zu erhöhen. Diese Vielfalt an Möglichkeiten, Verfahren und Mitteln zeigt den unaufhörlichen Expansionsdrang des Lebens, der die Pflanzen jede erdenkliche Umgebung erobern lässt.

Die Geschichte dieser unaufhaltsamen Ausbreitung ist den meisten Menschen unbekannt. Deshalb soll auf den folgenden Seiten davon berichtet werden, wie sich Pflanzen mit der Hilfe von Tieren in der Welt verbreiten, wie es ihnen gelingt, an so unzugänglichen und ungastlichen Orten zu gedeihen, dass sie dort schließlich isoliert bleiben, wie sie der Atombombe oder der Tschernobyl-Katastrophe widerstehen konnten, wie sie Leben auf bislang sterile Inseln bringen, wie sie es schaffen, durch die Jahrhunderte zu reisen, und wie sie die Welt umrunden. Es sind Geschichten über Pioniere, Flüchtlinge, Heimkehrer, Kämpfer, Einsiedler und Zeitreisende, die auf uns warten. Genießen wir die Reise.

Pioniere, Kämpfer und Heimkehrer

01

Art: Echte Trauerweide • Domäne: Eukaryoten • Reich: Pflanzen (Plantae) • Abteilung: Gefäßpflanzen (Tracheophyta) • Unterabteilung: Samenpflanzen (Spermatophyta) • Klasse: Bedecktsamer (Magnoliopsida) • Ordnung: Malpighienartige (Malpighiales) • Familie: Weidengewächse (Salicaceae) • Gattung: Weiden (Salix) • Wissenschaftlicher Name:Salix babylonica • Herkunft: China • Verbreitung: weltweit

Erstes Auftreten in Europa: Um 1700

Der Begriff »Pionier« lässt mich unweigerlich an den Wilden Westen und an die Abenteuergeschichten während der Eroberung des amerikanischen Westens denken. Kaum spricht jemand das Wort »Pionier« aus – schon scheint in meinem Gedächtnis ein Schalter umgelegt: Vor meinem inneren Auge entstehen die Gesichter von Gregory Peck, John Wayne, James Stewart, Eli Wallach, Richard Widmark, Lee Van Cleef, Henry Fonda, Debbie Reynolds und natürlich Karl Malden mit seiner riesigen Nase in »Das war der Wilde Westen«. Und so geht es bestimmt nicht nur mir. Ich bin sicher, die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff »Pionier« Westernfilme oder Romane wie die von Emilio Salgari[1]. Einige wenige werden vielleicht auch jene militärischen Spezialeinheiten vor Augen haben, die der kämpfenden Truppe schon seit der Antike buchstäblich den Weg bereiten. Doch, seien wir ehrlich: So gut wie niemand denkt dabei an Pflanzen.

Und das ist eine große Ungerechtigkeit, denn Pflanzen müssten eigentlich das Erste sein, was einem in den Sinn kommt, wenn von Pionieren die Rede ist, und nicht Westernstars aus Hollywood oder das Militär. Denn ohne den Helden unserer Jugend zu nahe treten zu wollen, was ihre Besiedlungsfähigkeiten betrifft, macht den Pflanzen kein anderer Organismus etwas vor. Und das gilt erst recht für ihre Bedeutung als Wegbereiter für nachfolgende Besiedlungen durch andere Lebewesen – in dieser Hinsicht sind Pflanzen die Pioniere schlechthin. Es gibt kein irdisches Umfeld, in dem Gewächse (gemeint sind sämtliche Organismen mit der Fähigkeit zur Photosynthese) nicht Wurzeln schlagen könnten. Von den eisigen Polarregionen bis zu den heißesten Wüsten, von den Tiefen der Ozeane bis hinauf zu den Gipfeln der Berge haben Pflanzen alles erobert – und tun es weiterhin, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.

Manch einer fragt sich vermutlich, wie es den Pflanzen gelingt, jedwedes Gelände zu bedecken und neue Gebiete zu erschließen oder diese – häufiger noch – langsam, aber unaufhaltsam für die Natur zurückzuerobern. Vor Jahren wurde unweit meines Labors am naturwissenschaftlichen Zentrum der Universität Florenz im Rahmen einer Restrukturierung unserer Streitkräfte ein ehemaliges Armeelager aufgelöst, das von einem Tag auf den anderen sich selbst überlassen blieb. Wegen der Nähe zu meinem Arbeitsplatz konnte ich die Inbesitznahme des verlassenen Areals durch die Pflanzen über viele Jahre hinweg genauestens beobachten. Gleichzeitig machte ich mir Gedanken darüber, wie sich das Kasernengelände für die Untersuchung und Erprobung innovativer Methoden im Rahmen der städtischen Landwirtschaft nutzen ließe. Während ich noch hoffte, ein Versuchsgelände daraus machen zu können, verfolgte ich (beinahe bedauernd), mit welcher Geschwindigkeit und Effizienz die Pflanzen ihre Rückeroberungsstrategien umsetzten. Zwei Jahre nach Aufgabe der Kaserne war die Umfassungsmauer von über 20 verschiedenen Arten bedeckt, darunter der Echte Kapernstrauch (Capparis spinosa), das Große Löwenmaul (Antirrhinum majus), das Mauer-Glaskraut (Parietaria judaica) und verschiedene Farne wie die Mauerraute (Asplenium ruta-muraria)[2]. Kurz gesagt, es war ein kleiner vertikaler botanischer Garten entstanden, der viele Geschichten zu erzählen hatte.

Gleichzeitig siedelten sich zwischen Mauer und Straße zahlreiche Bäume an. Schon in den ersten Monaten bemerkte ich überall Sprösslinge von Götterbäumen (Ailanthus altissima) und Blauglockenbäumen (Paulownia tomentosa), die rasch wuchsen und dabei Teile der Umfassungsmauer einrissen. Die Blauglockenbäume stammen sicherlich von den Samen jenes Exemplars ab, das ich selbst vor Jahren bei meinem Labor gepflanzt habe und an dem ich sehr hänge. Eine Feige (Ficus carica) keimte in einem Riss im Asphalt und hat sich zu einem prächtigen Baum entwickelt. Er verdeckt inzwischen einen aus dem Mauerwerk hervortretenden Wachtturm. Später kamen die Acker-Winde (Convolvulus arvensis) und die Große Klette (Arctium lappa) hinzu, um ihren Platz zu beanspruchen – Letztere ein Anhafter, mit dem wir uns an anderer Stelle noch eingehender befassen werden. Heute, 15 Jahre nach der Aufgabe des Militärlagers, gelingt es nur noch wenigen Strukturen, den Angriffen der Pflanzen zu widerstehen, darunter ein Gebäude aus Stahlbeton, ein Platz und ein riesiger Metalltank, der jedoch bereits erste Anzeichen seiner bevorstehenden Kapitulation erkennen lässt. In kurzer Zeit konnten die Pflanzen ein scheinbar für das Leben ungeeignetes Areal zurückerobern. Das ist zweifellos ein bemerkenswerter Erfolg und doch nichts im Vergleich zu den gewaltigen Eroberungen, die Pflanzen andernorts gelungen sind.

01_a. Die Pioniere von Surtsey

Anfang November 1963 kam es etwa einhundert Kilometer südlich von Island in 130 Metern Tiefe auf dem Meeresboden zu vulkanischer Aktivität, in deren Verlauf große Mengen Magma freigesetzt wurden. Der vorherrschende Wasserdruck schwächte die explosiven Ausbrüche zunächst ab, doch im Laufe der Zeit wuchs der Vulkankegel immer weiter an, sodass die Eruptionen schließlich die Wasseroberfläche durchstießen. Schon vom 6. bis 8. November hatten Seismografen in Kirkjubæjarklaustur, einer Gemeinde im Süden Islands, eine Reihe kleinerer Beben registriert, deren Epizentrum im Meer etwa 140 Kilometer südöstlich von Reykjavík lag. Am 12. November nahmen die Bewohner der Küstenstadt Vík í Mýrdal den ganzen Tag über einen starken Schwefelwasserstoffgeruch wahr. Und am 13. November maß ein gut ausgerüsteter Fischkutter auf der Suche nach Hering in der Nähe des Unterwasserausbruchs eine um 2,4 Grad erhöhte Meerestemperatur.

Am 14. November um 7:15 Uhr schließlich bemerkte die Besatzung des Kutters Ísleifur II, der in denselben Gewässern unterwegs war, mitten auf dem Meer eine Rauchsäule und fuhr in der Annahme darauf zu, ein anderes Schiff sei in Seenot geraten. Stattdessen wurden die Männer jedoch die ersten Augenzeugen der Eruptionen[3]. Gegen 11:00 Uhr desselben Tages war die Rauch- und Aschesäule bereits mehrere Kilometer hoch und das eruptive Material trat aus separaten Kratern aus, die bis zum Nachmittag zu einer einzigen Spalte verschmolzen. Wenige Tage später besaß das Vestmannaeyjar-Archipel bei 63,303 Grad Nord und 20,605 Grad West eine neue, über 500 Meter lange und 45 Meter hohe Insel[4]. Sie wurde Surtsey, isländisch für Insel des Surt genannt – nach jenem Feuerriesen der nordischen Mythologie also, der eines Tages mit seinem Flammenschwert den Weltenbrand auslösen soll. Die Eruptionen dauerten bis zum 5. Juni 1967 an. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Insel ihre größte Ausdehnung von etwa 2,7 Quadratkilometern. Seither hat sich ihre Oberfläche durch das Einwirken des Meeres kontinuierlich verringert, sodass sie im Jahr 2012 nur noch etwa 1,3 Quadratkilometer umfasste.

Surtseys Schicksal scheint besiegelt, denn die Erosionskräfte sorgen dafür, dass die Insel in rund hundert Jahren wohl schon wieder verschwunden sein wird – ein kurzes Leben für eine Insel, aber lang genug, um für immer in die Wissenschaftsgeschichte einzugehen. Dank dieses seltenen natürlichen Laboratoriums konnte erstmals mit den Methoden und Werkzeugen der modernen Forschung auf vergleichsweise kleinem Raum detailliert untersucht werden, wie auf einem sterilen Untergrund ein vollständiges Ökosystem entsteht. Als die Lava die Wasseroberfläche durchbrach und deutlich wurde, dass es sich, anders als in vorherigen Fällen, nicht um ein flüchtiges Phänomen handelte[5], erkannte die wissenschaftliche Gemeinschaft die einmalige Gelegenheit, die sich hier bot. Man beschloss, genauestens zu verfolgen, wie sich das Leben auf der entstehenden Insel festsetzen und entwickeln würde. Bereits 1965, als die Eruptionen noch in vollem Gange waren, wurde Surtsey daher zum Naturschutzgebiet erklärt, das nur von Wissenschaftlern betreten werden durfte. Asche, Bimsstein, Sand und Lava warteten nur darauf, vom Leben in Besitz genommen zu werden.

Und es dauerte nicht lange. Die ersten Pflanzen siedelten sich sehr schnell, noch vor Ende der Eruptionen an. Bereits 1965 wurde mit dem Meersenf (Cakile arctica) die erste Gefäßpflanze an einem Sandstrand der Insel beobachtet. Der Meersenf ist ein ganz erstaunliches Gewächs. Er ist klein und wirkt auf den ersten Blick uninteressant, doch sein dezentes Erscheinungsbild täuscht. In Wahrheit ist er ein echter Seebär und zäher Erstbesiedler, der in verschiedenen Unterarten in allen Breitengraden vorkommt. Er wächst entlang der Küsten, kann lange Seereisen überstehen und kommt ohne Süßwasser aus. Alle Arten der Gattung Cakile sind Halophyten (aus altgriechisch hals, Salz und phyton, Pflanze), Gewächse also, deren besondere Physiologie es ihnen ermöglicht, mithilfe von Meerwasser und damit unter Bedingungen zu gedeihen, unter denen andere Arten nicht überleben könnten[6].

Doch damit nicht genug. Die Evolution hat den Meersenf mit einem ganzen Paket von Überlebensmechanismen ausgestattet, die bei Bedarf zum Tragen kommen. Ebenso wie der Aston Martin von James Bond über gewisse Sonderausstattungen verfügt, können auch die Arten der Gattung Cakile auf eine Reihe von Tricks zurückgreifen, die ihnen jederzeit maximale Überlebenschancen garantieren. Dazu gehört auch die besondere Art, wie der Meersenf seine Samen verbreitet. Wenn diese reif sind, öffnet sich die zweigliedrige Samenschote. Die eine Hälfte fällt unweit der Mutterpflanze zu Boden und wird vom Sand bedeckt, sodass einige Samen auf jeden Fall gute Keimmöglichkeiten haben[7]. Die andere Hälfte hingegen wird vom Meer fortgetragen, auf dem die Samen jahrelang treiben können, bis sie irgendwo an einem weit entfernten Strand angespült werden, wo sie dann keimen und sich ausbreiten können. Es war diese Fähigkeit, die der Cakile arctica im Rennen um die Erstbesiedlung Surtseys zum Sieg verhalf[8].

Die wissenschaftliche Bestandsaufnahme, die mit der Ankunft der Gründerpopulationen auf Surtsey einsetzte, zeigte rasch unerwartete Ergebnisse. So rechnete beispielsweise niemand damit, dass die Samen verschiedener Kräuter mithilfe von Fischeiern, genauer gesagt: in den Eikapseln von Rochen (Raja batis) auf die Insel gelangen würden. Neben originellen Transportmitteln wie diesen waren es jedoch vor allem Wind, Wasser und Vögel, die dafür sorgten, dass Pflanzensamen auf die Insel kamen. Schneeammern (Plectrophenax nivalis) etwa sind Singvögel, die eher raues Klima mögen und von Schottland aus nach Island ziehen. In ihren Muskelmägen, die im Verdauungssystem von Vögeln der Nahrungszerkleinerung dienen, brachten sie zahlreiche Samen mit und trugen so aktiv zur Verbreitung von Pflanzen auf Surtsey bei. Auf diese Weise sind seit 1967 zum Beispiel Vogelknöteriche wie Polygonum maculosa und die Braun-Segge (Carex nigra)[9], ein Sumpfgras, auf der Insel heimisch geworden. Sogar Seevögel wie Möwen haben, obwohl sie sich nicht oft von Pflanzenmaterial ernähren, in ihren Mägen Samen nach Surtsey transportiert. Einen wichtigen Beitrag zur Ansiedlung neuer Arten leisteten Gänse, die ihre Exkremente im Flug über Surtsey fallen ließen. Von diesem natürlichen Dünger umhüllt, hatten die dabei mitausgeschiedenen Samen beste Voraussetzungen, um zu keimen, und trugen auf diese Weise zur Vergrößerung der insularen Pflanzenvielfalt bei.

Von den auf Surtsey erfassten Gefäßpflanzenarten gelangten 9 Prozent durch den Wind, 27 Prozent über das Meer und 64 Prozent mit Vögeln dorthin.[10] Ende 1998 wurde schließlich das erste Exemplar einer Teeblättrigen Weide (Salix phylicifolia) registriert, die sich in der Folge als erste Baumart auf Surtsey etablierte. Im Jahr 2008, also 45 Jahre nach ihrer Entstehung, zählte man 69 Pflanzenarten auf der Insel, von denen mittlerweile 30 als dauerhaft ansässig gelten können. Und die Eroberung Surtseys durch die Pflanzen schreitet weiter voran, denn bis heute kommen jedes Jahr zwei bis fünf neue Arten hinzu.

01_b. Die Kämpfer von Tschernobyl

Das Reaktorunglück von Tschernobyl ist eine jener Katastrophen, an die man sich wohl immer erinnern wird. Wenigen selbst jüngsten Lesern wird unbekannt sein, was damals geschehen ist. Wenn ich die Ereignisse an dieser Stelle dennoch kurz rekapituliere, dann nur, um unser aller Erinnerung daran ein wenig aufzufrischen.