2,99 €
Bücher nicht nur zu hören, sondern auch in sie reisen zu können, ist eine Gabe der Zeilenspringer. Die 16-jährige Tamara ist eine von ihnen. Doch jede Gabe begleitet auch ein Fluch. Zeilenspringer können den Verlauf von Büchern ändern und damit der Welt der Bücher großen Schaden zufügen. Erebos, der Anführer der Schatten, entführt Tamara und zwingt sie dazu, genau das zu tun: Den Handlungsverlauf eines Buches zu ändern. Gelingt es ihr nicht, die Geschichte in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, wird die Bibliothek des Lebens mit den darin enthaltenen Geschichten aller Menschen zerstört – und damit auch das gesamte Leben auf der Erde ausgelöscht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
HYBRID VERLAG
Vollständige elektronische Ausgabe
02/2022
© by Jeannine Molitor
© by Hybrid Verlag
Westring 1
66424 Homburg
Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg
Shutterstock-Nr. 1554268784, Bildnachweis: titanlee
Lektorat: Donatha Czichy, Barbara Dier
Korrektorat: Petra Schütze
Buchsatz: Rudolf Strohmeyer
Autorenfoto: Privat
Coverbild ›Halbwesen – Diener zweier Welten‹
© 2018 by Creativ Work Design, Homburg
Coverbild ›Spiel der Mächte - Erwachen‹
© 2019 by Magical Cover Design, Giuseppe Lo Coco
Coverbild ›Cataleya – Der Drache in dir‹
© 2021 by Creativ Work Design, Homburg
Stock-Fotografie-ID: 114456959, Bildnachweis: Denis-Art
Stock-Fotografie-ID: 5029336463, Bildnachweis: RazoomGaames
Coverbild ›Phönixerwachen‹
© 2021 by Creativ Work Design, Homburg
Stock-Fotografie-ID: 1223696895, Bildnachweis: cihatatceken
ISBN 978-3-96741-133-1
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Printed in Germany
Jeannine Molitor
Die Welt hinter den Zeilen
Fantasy
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Hybrid Verlag …
Für Mama.
Durch dich habe ich meine Liebe zu Büchern entdeckt.
Prolog
Eine schwarze Flut ergoss sich in den engen Wohnraum des Hauses und drohte, alles unter sich zu begraben. »Raus hier!«, schrie André verzweifelt und sah sich nach Lionel und Bridget um. Durch das Auftauchen der Schatten hatte er sie aus den Augen verloren. Etwas blitzte neben ihm auf und er wirft sich gerade rechtzeitig zu Boden, bevor der Dolch eines Schattens ihn direkt in die Brust getroffen hätte.
Der hohe Schrei eines Kindes ließ ihn herumfahren. Wenige Meter entfernt entdeckte er einen hellblonden Haarschopf zwischen all dem Schwarz. Verzweifelt versuchte er, sich einen Weg in dessen Richtung zu bahnen. Er schob sich durch die Kämpfenden, als ihn ein harter Schlag im Rücken traf, der ihm den Sauerstoff aus den Lungen presste. Abermals ging er zu Boden.
Fluchend rappelte er sich auf und drehte sich zu seinem Angreifer um. Es handelte sich um denselben Schatten, der wieder seinen Dolch aus dem schwarzen Mantel zog und kampfbereit auf ihn zustürzte. Blitzschnell duckte André sich unter dem Dolch weg und setzte zu einem Schlag in die Magengrube seines Gegners an. Der Schatten drehte sich jedoch einmal um die eigene Achse und wich dem Schlag aus, setzte dann einen Schritt vor und stieß zu.
Der Dolch raste auf André zu und er schaffte es, diesem haarscharf auszuweichen, indem er einen Schritt zur Seite machte und sich unter dem Arm seines Gegners hindurch beugte. Zischend sog er die Luft ein, als die Klinge den Ärmel seines Shirts und die darunterliegende Haut aufschlitzte. Er spürte, wie das Blut warm an seinem Arm herunterlief. Doch davon durfte er sich nicht ablenken lassen. Zu viel stand auf dem Spiel. Eine schnelle Drehung ausführend, kickte André dem Schatten gegen die Hand, worauf ein schmerzerfülltes Aufstöhnen folgte. Der Dolch entglitt dem Griff des Mannes und fiel zu Boden. Schnell beugte sich André nach vorn und hob ihn auf.
So schnell er konnte, rannte er in Richtung der Eingangstür, von wo ein weiterer Schrei ertönte. Bridget, schoss es ihm durch den Kopf und die Kälte durchfloss in Schüben seinen Körper, so groß war seine Angst. Endlich sah er Bridget und Lionel, der sich schützend vor seine Frau schob und versuchte, dem Schatten seine Tochter aus den Armen zu reißen.
Plötzlich tauchten zwei Schemen an Andrés Seite auf. Er zuckte zusammen und umklammerte den Griff des Dolches fester. Doch als er sich umwandte, erkannte er Mike und Paul. Er nickte ihnen zu und mithilfe der Verstärkung gelang es ihm, dem Schatten das Kind zu entreißen und es sicher in Lionels Arme zu bugsieren. Er stieß den Mann zu Boden, der mit dem Kopf gegen die Steinwand krachte und augenblicklich starb.
»Ihr müsst sofort raus hier!«, versuchte André die Kampfgeräusche zu übertönen. Mike und Paul nahmen die junge Familie in ihre Mitte, um sie vor weiteren Angriffen abzuschirmen, während er Ausschau nach den übrigen Schatten hielt. Doch diese waren im Moment in ihre eigenen Kämpfe verwickelt. Lionel und Bridget eilten aus dem Haus und zum bereitstehenden Wagen. Hektisch setzten sie sich auf die Rückbank, während Mike und Paul vorne einstiegen. Doch einige der Schatten schienen die Flucht der fünf inzwischen bemerkt zu haben. André und seine Männer hatten große Not, sie zurückzudrängen, wodurch ein paar von ihnen zu ihren eigenen Autos gelangten.
»Nein!« Fluchend rannte André den entkommenen Männern hinterher. Doch er konnte nur noch beobachten, wie die Schatten die Verfolgung aufnahmen und dem schwarzen Wagen der Organisation in halsbrecherischem Tempo hinterherjagten. Die Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu und er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Bitte lass sie heil ankommen. Sonst ist alles verloren.«
André wandte sich erschöpft ab. Er und seine Männer mussten irgendwie verhindern, dass noch mehr Schatten den Flüchtigen folgten. Umso höher war die Chance, dass sie es schaffen würden. Und zwar alle fünf.
Kapitel 1
»Tamara, nun mach schon! Du musst dich beeilen. Duweißt, dass du ansonsten zu spät zur Schule kommst.« Henrys Stimme hallte durch das Haus und trieb seine Nichte zur Eile an.
»Ja, Onkel Henry! Ich bin doch schon so gut wie auf dem Weg. Ich kann mich nur nicht entscheiden, welches Buch ich mitnehmen soll.«
Ratlos stand Tamara in der großen Bibliothek ihres Onkels und ließ den Blick über all die Regale mit den verschiedensten Büchern schweifen. Kurz blieb er an einem der zahlreichen Gemälde mit prunkvollem Goldrahmen hängen, das eine malerische Landschaft mit vielen Laubbäumen und einem kleinen Teich zeigte. Dann wanderte ihr Blick zurück zu den Regalen aus hellem Holz, die sich an die eierschalenfarbene Wand schmiegten, und den damit bestückten Büchern.
Es lief immer gleich ab. Tamara wusste einfach nie, von welchem Buch sie sich als Nächstes in fremde Welten entführen lassen wollte.
Vorsichtig strich sie über die farbigen Einbände und lauschte dem Flüstern der Werke. Für andere mochte es sonderbar sein, für sie war es jedoch das Normalste der Welt. Tamara kannte es nicht anders. Sie hatte jedoch früh lernen müssen, dass andere Menschen diese Fähigkeit nicht besaßen und sie auch nicht darüber sprechen sollte, wenn sie nicht als komisch abgestempelt werden wollte.
»Heute bist du an der Reihe«, flüsterte Tamara und strich sachte über einen der Buchdeckel, ehe sie die Bibliothek verließ und sich auf den Weg nach unten machte.
»Entschuldige.« Tamara hauchte Henry einen Kuss auf die Wange.
Sanft strich er seiner Nichte eine der losen, dunkelbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Ich weiß, ich habe das schon unglaublich oft gesagt, aber in deinen Augen sehe ich deine Mutter. Es ist dasselbe, warme Braun. Deine Nase und die Mundpartie hast du jedoch eindeutig väterlicherseits geerbt.« Ein liebevolles, aber auch trauriges Lächeln lag auf seinem Gesicht und schließlich wandte er den Blick ab.
Tamara wusste, dass er das tat, um seine Gefühle vor ihr zu verbergen. Der Verlust seiner Schwester und ihres Mannes ging ihm nach all den Jahren immer noch sehr nah.
»Mist, ich habe meine Schultasche vergessen. Ich geh schnell nach oben und hole sie.«
»Das würde dir mit einem Buch nicht passieren.« Lachend setzte Henry seinen Weg in die geräumige Küche fort. Wie jeden Morgen schmierte er ihr rasch einen Marmeladentoast.
Währenddessen polterte Tamara bereits wieder die Treppen in die Küche hinunter. »Hier, nimm das mit und iss es auf dem Weg.« Henry hielt Tamara das Toastbrot vor die Nase.
Sie nahm einen großen Bissen und sprach mit vollem Mund: »Hmmm, lecker! Marmelade. Du weißt, wie du mich glücklich machst, Onkel Henry.«
Dieser lachte auf und drohte ihr spielerisch mit dem mahnenden Zeigefinger. »Na los, Matthew wartet bestimmt schon.« Er zwinkerte seiner Nichte zu. Gleichzeitig wies er mit dem Daumen über die Schulter.
»Ja, ich weiß schon. Dein langjähriger Kumpel Dr. Simmons erwartet mich, wie jeden Morgen. Du weißt es mindestens genauso gut wie ich, dass er das inzwischen als Normalität ansieht, dass ich zu spät komme.« Frech grinste sie Henry zu, der daraufhin theatralisch die Augen verdrehte.
Tamara verabschiedete sich winkend von ihrem Onkel und ging hinaus. Tatsächlich stand Dr. Simmons’ schwarzer Mercedes vor dem Eisentor. Während sie dort hindurch schritt und auf das Auto zu ging, schob sie sich noch rasch den letzten Bissen ihres Toasts in den Mund.
Durch das Autofenster sah sie Dr. Matthew Simmons sofort. Seine und Henrys Freundschaft bestand bereits seit vielen Jahren. Tamaras Latein- und Erdkundelehrer legte zudem viel Geduld an den Tag. Mit den kleinen braunen Augen und der viel zu groß geratenen Brille glich er einem Maulwurf.
»Guten Morgen, Tamara«, erklang seine tiefe Stimme, als sie die Autotür öffnete und auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Sie fuhren schweigend zur Schule. Tamara sah aus dem Autofenster hinaus und betrachtete die Landschaft. Grüne Wiesen erstreckten sich am Seitenrand der Straße, soweit das Auge reichte. Große und kleine Bäume wechselten sich ab und wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, hörte sie die Vögel zwitschern.
Der Weg zur Schule dauerte normalerweise nur wenige Minuten, aber heute kam er ihr länger vor.
Ich verstehe immer noch nicht, wieso ich nicht mit dem Fahrrad zur Schule fahren darf. Das wäre doch überhaupt kein Problem. Simmons besteht als alter Freund von Onkel Henry natürlich darauf, mich mitzunehmen. Auch, weil es auf seinem Weg liegt, aber irgendwie ist es trotzdem ziemlich unangenehm. Immerhin ist er mein Lehrer.
Endlich kamen sie auf dem Parkplatz der Schule an, der bereits aus allen Nähten platzte. Autos in allen erdenklichen Farben und Formen reihten sich, mal mehr, mal weniger gerade, auf den Plätzen ein. Dr. Simmons lenkte seinen schwarzen Mercedes auf einen der Lehrerparkplätze und Tamara öffnete rasch die Tür.
»Vielen Dank fürs Mitnehmen, Dr. Simmons.«
»Nichts zu danken. Wir sehen uns dann in der dritten Stunde.«
Er zwinkerte ihr zu und hob die Hand zum Abschied. Tamara stieg aus und schulterte ächzend ihren schweren Rucksack. Zwei Bücher mehr und sie würde ihn bald nicht mehr schließen können. »Irgendwann falle ich noch einfach rückwärts um wegen diesem blöden, schweren Ding. Und dann strampele ich mit allen vieren in der Luft wie ein auf dem Rücken liegender Käfer«, grummelte sie vor sich hin.
Mit schnellen Schritten ging sie über den Parkplatz auf den grauen Betonklotz zu und auf direktem Weg in ihr Klassenzimmer. Sie musste sich beeilen, um rechtzeitig zur ersten Stunde zu kommen. Mit dem Klingeln ließ sie sich auf ihren Platz neben Leslie fallen.
»Gerade noch rechtzeitig, was?« Ein wenig außer Puste nickte Tamara. Sie lächelte zurück und ließ ihre Finger durch Leslies Haare gleiten.
»Dieses Mal also schwarze Haare mit blauen Strähnen? Und morgen kommt dann rot. Du bist einfach einmalig.« Grinsend schüttelte sie den Kopf.
Die beiden Mädchen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Tamaras dunkelbraune Haare ihr in glatten Strähnen auf die Schultern fielen, standen Leslies in alle Richtungen ab. Jede Woche färbte sie sich die Haare in einer anderen Farbe.
Noch bevor Leslie antworten konnte, öffnete sich die Tür und ihre Lehrerin Mrs. Silvers trat ein und ließ den Blick durch das Klassenzimmer schweifen.
Keiner von Tamaras Klassenkameraden nahm Notiz von ihr. Der Lärm im Zimmer schwoll zu einer monströsen Lautstärke an. Jeder musste mitteilen, was am Wochenende los gewesen war.
Sie lachten, quatschten und grölten. Kein Einziger machte Anstalten, seinen Sitzplatz aufzusuchen.
Tamara beobachtete, wie Mrs. Silvers mit zitternden Händen ihre Tasche auspackte, und stieß Leslie mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Mrs. Silvers kann einem wirklich leidtun, oder?«
Leslie nickte. »Ich verstehe wirklich nicht, wieso die anderen das machen. Die Frau ist schon beim Betreten des Klassenzimmers völlig fertig mit den Nerven.« Sie zuckte bemitleidend die Schultern.
»Da hast du recht. Und der größte Idiot von ihnen allen ist und bleibt Miljan. Wo ist der überhaupt schon wieder? Normalerweise ist er doch das Zentrum des Sonnensystems und alle anderen Planeten ziehen ihre Kreise um ihn.«
Tamara wies mit dem Kopf in die hinteren Sitzreihen und verdrehte dann theatralisch die Augen.
Leslie brach in lautes Gelächter aus. »Tu doch nicht so. Ich weiß, dass du auf ihn stehst.«
»Niemals.« Schnaubend verschränkte Tamara die Arme vor der Brust.
»Du hast keine Ahnung, wie egal es mir ist, ob er hier ist oder in Timbuktu. Von mir aus kann er dort bleiben, wo der Pfeffer wächst!«, rief sie laut aus, woraufhin Leslie nur noch mehr lachen musste.
Leslie lief knallrot an. Sie bekam vor Lachen keine Luft mehr und auch Tamara spürte, wie ihr aus Scham die Hitze in die Wangen stieg.
Mrs. Silvers beendete in der Zwischenzeit ihre Vorbereitungen und ließ ein leises Räuspern vernehmen.
»Guten Morgen, ihr Lieben. Ich würde nun gerne mit dem Unterricht beginnen.« Die Stimme der Lehrerin schraubte sich bei jedem Wort vor Nervosität eine Oktave höher und sie sprach sehr leise.
Doch die Klasse schenkte ihr immer noch keinerlei Beachtung. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und knetete nervös ihre Hände.
Tamara fragte sich, ob ihre Fassungslosigkeit daher rührte, dass sie sich das immer noch antat oder daher, dass sie wirklich nicht verstand, wieso die Schüler sich nicht für sie interessierten.
»Heute werden wir den Satz des Pythagoras noch einmal anschauen. Das wird eines der Hauptthemen der nächsten Klassenarbeit sein. Auch im Hinblick auf eure kommenden Prüfungen.«
Kaum waren die Worte »Klassenarbeit« und »Prüfungen« gefallen, schon stellten sich die Gespräche größtenteils ein. Mrs. Silvers drehte sich lächelnd um. Sie zeichnete ein rechtwinkliges Dreieck an die Tafel und schaute dann, anscheinend voller Freude darüber, dass ihr die meisten Schüler nun zuhörten, wieder in die Klasse.
»Wenn die Katheten drei Zentimeter und vier Zentimeter lang sind, wie lang ist dann die Hypotenuse?«
Sofort schoss Laurens Hand in die Höhe.
»Ja, Lauren?«, rief Mrs. Silvers erfreut.
»Wenn a im Quadrat neun ist und b im Quadrat sechzehn, dann ist c im Quadrat fünfundzwanzig. Somit ist das Ergebnis fünf, weil man dann ja noch die Wurzel ziehen muss«, plapperte Lauren eilig die Lösung heraus.
»Vollkommen richtig.«
Tamara hätte es bei dem Strahlen in Mrs. Silvers’ Gesicht nicht gewundert, wenn diese bei der Antwort ihrer Mitschülerin vor Freude hoch- und runtergesprungen wäre oder verkündete, dass sie für diese Antwort fünf Punkte für ihr Haus verdiente.
Lauren richtete sich in ihrem Stuhl auf und ließ den Blick triumphierend durch die Klasse schweifen.
So ging das die restliche erste Stunde. Mrs. Silvers stellte Frage um Frage und führte den Unterricht gewissermaßen mit Lauren alleine, bis es an der Tür klopfte.
»Herein!«
Kein Geringerer als Miljan Stewart trat durch die Tür und alle Mädchen der Klasse glotzten ihn an, als würden ihre Augen magnetisch angezogen werden.
Beinahe augenblicklich erfüllten getuschelte Gespräche und leises Kichern den Raum.
Lässig schritt Miljan durch die Klasse, als kümmere es ihn nicht, dass er die ersten zwanzig Minuten verpasst hatte. Dabei warf er einigen der Mädchen Blicke aus seinen azurblauen Augen zu, die sie offensichtlich beinahe zum Schmelzen brachten.
Die dunkelblonden Locken hingen ihm in die Stirn und das enge schwarze T-Shirt brachte seine Muskeln noch mehr zur Geltung.
»Reichlich spät, Mr. Stewart«, echauffierte sich Mrs. Silvers. Es schien, als hätte sie in den letzten Minuten an Selbstbewusstsein gewonnen.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Mrs. Silvers. Es war nicht meine Absicht, Ihren äußerst lehrreichen Unterricht zu versäumen. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.« Er sagte das ohne Ironie und setzte ein reumütiges Lächeln auf.
Auch die Lehrerin ließ Miljans Charme nicht kalt. Ihr Gesicht verfärbte sich feuerrot, während sie ein
»K… kein Problem, setzen Sie sich einfach« vor sich hin stotterte.
Miljan ging zu seinem Platz und ließ dabei den Blick über die Klasse schweifen. Er grinste seinen Kumpels zu und schenkte Leslie daraufhin ein Lächeln, während seine Augen Tamara einfach übersprangen.
Dieses Mal traf Leslies Ellenbogen auf Tamaras Rippen. Ihre Augenbrauen hüpften keck auf und ab.
Frustriert stöhnte Tamara auf und rollte mit den Augen. »Wenn man vom Teufel spricht.«
»So schlimm, wie du sagst, ist er gar nicht. Im Gegenteil.« Leslies Augen sprangen in die hintere Reihe, wo Miljan im selben Moment Platz nahm.
»Er kommt einfach immer mit allem durch. Findest du nicht?«
»Nun ja, es kann ihm einfach niemand widerstehen.« Leslie spielte mit ihren Haaren und ihre Augen wanderten immer wieder zur hinteren Reihe.
»Er fehlt teilweise mehrere Tage am Stück oder kommt zu spät. Und trotzdem kriegt er von keinem einzigen Lehrer Ärger«, regte sich Tamara weiter über Miljans Auftritt auf.
Leslie zuckte nur mit den Schultern, was Tamara nur noch mehr aufregte.
»Er ist ganz schön arrogant geworden und hält sich für etwas Besseres«, setzte sie noch einen obendrauf.
»Jaja, ich weiß schon. Er hat sich verändert. Damals hat er sich ganz anders verhalten, blabla. Das haben wir doch schon öfter durchgekaut.« Mit einem Augenrollen wandte sie sich ab.
»Das stimmt aber wirklich!«, stieß Tamara hervor, doch Leslie blickte weiter stur geradeaus.
Damit war das Gespräch dann wohl beendet.
Tamaras Gedanken schweiften ab. Im Kindesalter hatte es niemanden gegeben, der sich zwischen sie und Miljan stellen konnte. Damals war er oft zu Besuch gekommen.
Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie und Miljan sich in Henrys riesiger Bibliothek versteckt hatten. Ihre Freundschaft hielt sehr lange an. Doch umso mehr Zeit verging, desto weniger sahen sie sich. Abgesehen vom Schulunterricht. Dann kam es immer häufiger vor, dass er in der Schule fehlte. Miljan wurde arrogant und behandelte Tamara von oben herab, bis er sich schließlich vollkommen von ihr distanzierte.
Erst nach dem zweiten Klingeln bemerkte Tamara, dass die Stunde zu Ende war, so tief war sie in ihren Gedanken versunken gewesen. Gemeinsam mit Leslie lief sie über den mit grauen Fliesen ausgelegten Schulflur zu den Reihen aus Schließfächern, die zumindest ein wenig Farbe ins Spiel brachten. Dort tauschte sie das Mathebuch gegen das Lateinbuch aus und legte zwei weitere dicke Wälzer darin ab.
Für mehr gab es keine Zeit, denn sie musste für den nächsten Unterricht einmal durch das gesamte Schulgebäude laufen.
»Wir sehen uns später, ja? Viel Spaß mit dem Doktorchen.« Ein freches Grinsen umspielte Leslies Lippen.
»Bis später.«
Leslie hatte Französisch gewählt und musste daher zu einem anderen Klassenraum. Sie verstand immer noch nicht, wieso Tamara diese ausgestorbene Sprache lernte, und riss daher ständig Witze darüber.
Tamara hastete durch das Gebäude, um rechtzeitig im Klassenraum anzukommen. Ständig rempelten fremde Jugendliche sie auf den Treppen an und sie musste ihr Lateinbuch fest umklammern, damit es nicht herunterfiel. Ich hasse es, durch die überfüllten Gänge hetzen zu müssen. Jeden Dienstag dasselbe.
Der Lärmpegel nahm immense Ausmaße an und verursachte nicht nur ihr des Öfteren Kopfschmerzen. Endlich trat Tamara an die Tür des Klassenzimmers heran und ihr Blick huschte unbewusst zu Miljan. Er stand nur wenige Meter von ihr entfernt und eine Mädchentraube umgab ihn, die ihn anhimmelte. Schnell wandte Tamara sich ab und blickte in die entgegengesetzte Richtung.
Dr. Simmons kam mit langen Schritten den Gang entlang. Auf den Armen balancierte er mehrere dicke Bücher und seine Brille rutschte ihm immer wieder auf die Nasenspitze. »Hier, nimm das bitte.« Dr. Simmons drückte einem der Jungen, die vor der Tür standen, die Bücher in die Hand und schloss den Raum auf.
Als Tamara das Zimmer betrat, stiegen ihr sofort die stickige Luft und ein unangenehmer Geruch in die Nase,was ihren Magen rebellieren ließ.
Auch die Klassenzimmer bestanden hauptsächlich aus verschiedenen Graustufen. Der einzige Farbklecks waren die olivgrünen Vorhänge, auf die Tamara nun zuging, um eines der Fenster zu öffnen. Sie setzte sich auf einen Platz in der vorletzten Reihe und legte ihr Lateinbuch vor sich auf den Tisch. »Guten Morgen, Klasse«, schallte Dr. Simmons’ tiefe Stimme durch den Raum, als alle Schüler auf ihren Plätzen saßen.
»Heute beschäftigen wir uns intensiv mit dem Übersetzen lateinischer Texte. Schlagt euer Buch bitte auf Seite 65 auf.«
Tamara tat wie geheißen und stöhnte frustriert auf. Um sie herum wurden weitere, ähnliche Seufzer laut. Der Text war sehr klein geschrieben und beim Umblättern erkannte sie, dass er sich über insgesamt drei Seiten erstreckte. »Übersetzt bitte den Text. Ihr habt Zeit bis kurz vor dem Ende der Stunde. Dann werde ich den ein oder anderen von euch darum bitten, eine Passage eurer Übersetzung vorzulesen. Und ich werde am Ende eure Texte einsammeln und bewerten. Gebt euch also Mühe.«
Tamara zog ihren Schreibblock aus den Untiefen ihrer Schultasche hervor und machte sich an die Arbeit.
Ich hasse Latein. Ich hasse es!, dachte sie still bei sich. Sie tat sich mit der Übersetzung schwer. Es gab sehr viele Worte, die sie nicht kannte und nachschlagen musste, wodurch sie für einige Absätze zu viel Zeit brauchte.
»Kommst du zurecht?«
Tamara zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass Dr. Simmons plötzlich hinter ihr stand und einen Blick auf ihre Übersetzung warf.
Sie nickte langsam. »Der Text ist zugegebenermaßen sehr schwer. Aber ich glaube, dass ich es einigermaßen hinbekommen werde.«
Bloß nicht zugeben, wie schrecklich das alles hier wirklich ist. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie er ansonsten sofort zu Onkel Henry rennt und ihm sagt, dass ich eine absolute Niete in Latein bin.
Dr. Simmons nickte zufrieden und wandte sich einem anderen Schüler zu.
Erleichtert stieß Tamara die Luft aus.
Ich habe zwar keine Ahnung wieso, aber Onkel Henry scheint es wichtig zu sein, dass ich diese Sprache lerne. Also ziehe ich das durch.
Sie quälte sich weiter durch den Text und gab sich die größte Mühe, alles richtig zu machen.
»Die Zeit ist um«, verkündete Dr. Simmons und brachte damit wohl nicht nur einen Schüler ins Schwitzen. »Möchte jemand freiwillig nach vorne kommen und eine Passage vortragen?«
Jedes Mal versuchte er es auf diese Art, aber natürlich meldete sich auf diese Frage hin niemand.
Dr. Matthew Simmons ließ seinen Blick über die Klasse schweifen, bis er an Tamara hängen blieb, die sich auf ihrem Stuhl immer kleiner machte.
Das kann nicht sein Ernst sein. Wieso denn immer ich? »Tamara, würdest du bitte nach vorne kommen?«
Als sie vorne an der Tafel stand, stachen die Blicke ihrer Mitschüler sie wie Messer. Tapfer begann sie, ihre Übersetzung vorzulesen, doch bereits nach zwei Sätzen unterbrach sie ihr Lateinlehrer.
»Und er hält seinen Arm, nicht seinen Kopf.« Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um seine Belustigung zu verbergen, doch Tamara sah das Lächeln dennoch.
Sie verbesserte ihren Fehler und fuhr fort, bis er sie abermals stoppte.
Nach der vierten Verbesserung seitens Dr. Simmons ertönten erstickte Lacher aus den Sitzreihen.
Tamaras Gesicht glühte vor Scham. Bestimmt mutierte es vor der gesamten Klasse zu einer knallroten Tomate. Dr. Simmons entließ sie schließlich mit einem Blick, den sie nicht einzuordnen wusste.
»Miljan, würdest du bitte vor die Klasse treten und weitermachen?« Dr. Simmons rieb sich bereits erfreut die Hände.
Jeder wusste, dass Miljan die besten Noten der Klasse in diesem Fach erreichte.
Ich kann es nicht glauben. Wieso ausgerechnet er? Das wirkt beinahe so, als würde mir der Simmons noch einmal absichtlich vorführen wollen, wie man es richtig macht.
Vielen Dank auch.
Natürlich trug Miljan seine Passage vor, ohne dass er verbessert werden musste.
Endlich erklang kurz darauf das erlösende Klingeln und die Schüler gingen nach vorne, um ihre Übersetzungen zur Bewertung abzugeben.
»Bleibst du bitte noch einen kurzen Moment hier, Tamara?«, sprach Dr. Simmons sie an, als sie ihren Text auf das Pult legte. Auch das noch. Reicht es ihm für heute denn immer noch nicht?
»Du weißt, dass ich mit deinen Fortschritten in Latein bisher sehr zufrieden bin, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Den Verbesserungen eben nach zu urteilen, wohl eher nicht.«
»Du hast in den letzten Wochen große Schritte in die richtige Richtung gemacht. Darauf kannst du stolz sein. Und von deinem Interesse an Erdkunde bin ich ohnehin begeistert, obwohl ich mir manchmal wünsche, dass du dieses auch für diese wunderbare alte Sprache aufbringen könntest.« Dr. Simmons zwinkerte Tamara zu und entließ sie aus dem Gespräch.
Der restliche Schultag zog sich ewig in die Länge und Tamara atmete erleichtert auf, als sie mit Leslie zu ihren Schließfächern ging, um die Schulbücher zu verstauen.
»Bis morgen, Leslie.« Tamara nahm ihre Schulfreundin zum Abschied in den Arm.
»Bis morgen. Versuch ausnahmsweise mal, pünktlich zu sein!«, rief Leslie ihr hinterher und Tamara blickte sich noch einmal um, um ihrer Freundin eine Grimasse zuzuwerfen, ehe sie zu den Parkplätzen lief und auf ihre Mitfahrgelegenheit wartete.
Die ganze Fahrt über belastete eine unangenehme Stille das Auto und Tamara verabschiedete sich daher schnell von ihrem Lehrer, als sie endlich an Henrys Villa ankamen.
Sie begrüßte ihren Onkel mit einer Umarmung und ging kurz darauf die knarrenden Treppenstufen hinauf in ihr Zimmer, um dort die Schulsachen abzulegen. Sobald sie durch die große Flügeltür die Bibliothek betrat, legte sich ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen.
Alles Unangenehme des Tages fiel von ihr ab, als sie den Geruch von Papier und Tinte in sich aufsog.
Seit zwölf Jahren verbrachte Tamara jede freie Minute in diesem Raum und kannte daher beinahe alle Werke, die die Regale schmückten. Sie liebte es, von den Büchern umgeben zu sein, ihrem Wispern und Flüstern zu lauschen und in ihnen zu schmökern, um sich in fremde Welten entführen zu lassen.
Oft saß sie in dem Erkerfenster, das Henry für sie mit Kissen und Decken zu einer bequemen Lese-Oase hergerichtet hatte, und schaute zum Fenster auf den kleinen Garten mit seinen bunten Blumenbeeten hinaus.
Immer wenn sie das tat, musste sie an ihre Eltern denken, die bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen waren. Henry erzählte Tamara immer, wie sehr ihre Mutter den Duft frischer Blumen und die Arbeit in ihrem Gärtchen geliebt hatte. Auch ihr Vater hatte versucht, so viel Zeit wie möglich im Freien zu verbringen.
Es gab nur noch wenige kleinere Erinnerungen an ihre Eltern und diese hütete sie wie einen Schatz. Sie rief sich die Bilder immer wieder ins Gedächtnis, aus Angst, sie könnte sie vergessen und müsste so die beiden vollständig loslassen.
Eine dieser Erinnerungen beschwor einfach nur ein Lächeln ihrer Mutter in ihrem Kopf herauf. Ein strahlendes Lächeln, das Tamaras Herz wärmte. Nun ja, viel ist es nicht, aber es ist trotzdem wunderschön.
Ihr Blick wanderte über die hohen, frei im Raum stehenden Regale, die sich in Richtung der mit Stuck verzierten Decke erhoben, und folgte der schmalen Wendeltreppe, deren Geländer weiße Verzierungen aufwies und die zur zweiten, kleineren Ebene führte. Dort befanden sich die besonders kostbaren Werke.
Es sah so magisch und wunderschön aus, dass es unmöglich schien, sich daran sattzusehen. Die freien Flächen an den Wänden bedeckten Ölgemälde mit verschiedenen Landschaftsmotiven, die ihr Onkel Henry aus aller Welt mitgebracht hatte. Sie konnte kaum in Worte fassen, was sie immer wieder empfand, wenn sie dieses Herzstück des Hauses betrachtete.
Eine innere Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Sie stand auf, ging zu einem der Regale und kletterte die Leiter bis zur vorletzten Stufe hinauf.
Mit geschlossenen Augen ließ sie ihre Hand sachte an den Buchrücken entlang streichen, bis sie das Flüstern eines Buches vernahm, dessen Geschichte sie noch nicht kannte. Sie zog den Schmöker hervor, ohne sich den Titel näher anzusehen, und setzte sich in ihre kleine Oase.
Sachte öffnete sie das Buch und schloss genussvoll die Augen. Sie kuschelte sich tiefer in die weichen Kissen und ließ sich von dem Murmeln und Tuscheln in die wunderbare fremde Welt des Werkes tragen.
Kapitel 2
»Leslie!« Tamara hetzte mit schnellen Schritten auf ihre Freundin zu.
»Na los, beeil dich, wir haben nicht viel Zeit, bis der Unterricht anfängt«, sagte Leslie, sobald Tamara keuchend neben ihr zum Stehen kam.
»Lass … mich … kurz … Luft holen.«
Leslie wippte ungeduldig mit dem Fuß, während Tamara versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Dabei lehnte sie sich an ihren Spind und schnappte einige Male nach Luft. »Na los.«
»Okay, wir können.« Tamara hatte bereits zwei Schritte gemacht, als ihre Freundin sie zurückhielt.
»Dein Erdkundebuch ist im Spind.« Grinsend wies sie mit dem Daumen über ihre Schulter.
»Oh, danke. Wenn ich dich nicht hätte, was?« Tamara ging zu ihrem Spind zurück und zog schnell das Schulbuch daraus hervor. Sie bogen mit eiligen Schritten um die Ecke. Leslie atmete erleichtert auf und murmelte »Glück gehabt«, als sie sahen, dass Dr. Simmons gerade die Tür aufschloss und in das Zimmer trat.
Alle nahmen ihre Plätze ein und warteten, während Dr. Simmons den Tageslichtprojektor anwarf und eine Folie darauflegte. »Wer kann mir sagen, was auf diesem Bild zu sehen ist?« Langsam gingen nacheinander die Hände hoch. Dr. Simmons wartete noch einige Momente, bis alle dieMöglichkeit bekamen, das Bild genau anzusehen. »Ja, Stella?«
»Es gab ein Erdbeben.« Stella sprach so leise, dass man sie kaum verstand.
»Woran machst du das fest?« Dr. Simmons trat einen Schritt vor das Pult und sah sie auffordernd an. Sie meldete sich nicht oft und daher wollte er sie vermutlich etwas aus der Reserve locken.
»Überall liegen Trümmer. Manche türmen sich meterhoch auf. An den Seiten sieht man zerstörte Häuser und man könnte meinen, dass diese auch bald einstürzen.«
»Sehr gut, Stella. Du hast natürlich recht mit deiner Annahme.« Dr. Simmons nickte seiner Schülerin anerkennend zu, die im selben Moment knallrot anlief und auf ihrem Stuhl herunterrutschte, als wollte sie den Blicken ihrer Mitschüler entgehen.
»Wer kann mir sagen, wie Erdbeben entstehen? Wir haben bereits einmal kurz darüber gesprochen, aber das würde ich gerne noch einmal genauer durchgehen.«
Tamara hob ihren Arm und Dr. Simmons erteilte ihr augenblicklich das Wort. »Das liegt an den sogenannten tektonischen Platten. Sie sind immer in Bewegung und reiben aneinander. Manchmal verhaken sie sich, wodurch sichSpannungen aufbauen. Zum Beben kommt es, wenn dieseSpannungen sich durch ruckartige Bewegungen entladen.«
»Das ist vollkommen richtig. Um es für alle anschaulich darzustellen, werde ich kurz eine Skizze aufzeichnen.« Er drehte sich um, nahm ein Stück Kreide in die Hand und begann mit der Zeichnung.
Den Rest der Stunde beschriftete er die Skizze und erklärte sie umfangreich.
»Also das muss ja nun wirklich jeder verstanden haben.«
Leslie stöhnte auf, als sie den Klassenraum verließen und in Richtung Musiksaal gingen.
»Ja, da hat es Dr. Simmons sehr gut gemeint. Aber dafür gab es wenigstens keine Hausaufgaben«, versuchte Tamara ihre Freundin aufzumuntern.
»Das ist nur ein geringer Trost.« Leslie verdrehte die Augen. »Ich habe dir ja schon erzählt, dass morgen meine Großtante Meggie zu Besuch kommt. Ich habe versucht, mit meinen Eltern zu sprechen, um da irgendwie rauszukommen. Keine Chance. Ich muss während des ganzen Besuchs zu Hause sein. Tut mir wirklich leid, aber ich kann zu deinem Geburtstag morgen nicht kommen.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Tamara versuchte, ihre Enttäuschung hinunterzuschlucken und setzte mit einem hoffnungsvollen Lächeln »Wie wäre es mit heute?« hinterher.
»Ich bin froh, dass du fragst. Darauf habe ich ehrlich gesagt gewartet. Das hätte wirklich peinlich werden können, wenn du es nicht getan hättest.« Leslie warf ihr ein freches Grinsen zu.
Tamara blieb stehen und sah ihre Freundin unverwandt an. »Hast du mich etwa die ganze Zeit auf den Arm genommen?«
»Vielleicht ein bisschen. Und vielleicht habe ich auch schon mit deinem Onkel darüber gesprochen. Er holt uns später übrigens auf dem C-Parkplatz ab.«
»Du bist unglaublich.«
»Ich weiß, danke.« Leslie zwinkerte ihr zu und grinste breit.
Wenige Minuten später betraten sie den Musiksaal. Im hinteren Teil des Raumes standen Schlagzeuge, Gitarren und ein Klavier auf einem Podest. Die zweite Hälfte des Zimmers sah aus wie alle anderen Schulräume. Vorne eine Tafel und das Lehrerpult und dahinter genug Einzeltische für alle Schüler. Bis auf die Tafel und die obligatorischen olivgrünen Vorhänge natürlich alles in Grau.
Mr. Jones saß bereits auf dem Pult, als nach und nach die restlichen Schüler in das Zimmer hereinströmten. »Einen schönen guten Morgen euch allen.« Der Musiklehrer ließ seinen Blick durch die Reihen der Schüler schweifen. Durch das dunkle kurze Haar wirkten seine hellgrünen Augen noch strahlender.
Er gehörte zu den jungen Lehrern, die frisch aus dem Referendariat kamen, und Tamara wusste, dass einige ihrer Klassenkameradinnen ihm aufgrund seines Aussehens des Öfteren schöne Augen machten.
»Wir werden uns heute noch einmal ein wenig mit der Theorie befassen und über einige der größten Musikgenies aller Zeiten sprechen.« Mr. Jones schenkte der Klasse ein strahlendes Lächeln.
Während Tamara und Leslie sich ansahen und die Augen verdrehten, blickten die anderen Mädchen den Lehrer verträumt an.
»Ich würde sagen, dass wir mit Mozart starten. Wolfgang Amadeus Mozart wurde am 27. Januar 1756 in Salzburg geboren. Mit vier Jahren begann er Klavier zu spielen und …«
Tamara schaltete ab. Anstatt weiter zuzuhören, zog sie ihre aktuelle Lektüre aus dem Rucksack hervor und legte sie heimlich auf ihren Schoß. Sie saß weit genug vom Pult entfernt, um das Risiko einzugehen. Ein Seitenblick zu Leslie verriet ihr, dass sie ebenso wenig Lust auf Musiktheorie hatte, denn sie kritzelte irgendetwas auf ihrem Schreibblock herum, was eine Art Blume darstellen könnte.
Die Lektüre vereinnahmte Tamara komplett, wodurch sie erst zum Ende der Stunde wieder etwas anderes als das Flüstern vernahm.
»Bis nächste Woche erwarte ich einen fünfseitigen Aufsatz über Mozarts Leben. Achtet darauf, die richtigen Daten zu verwenden, und geht insbesondere auf sein Leben als musikalisches Wunderkind ein«, riss Mr. Jones sie endgültig aus dem Buch.
Verdammt. Ausgerechnet heute.
Sie schaute auf und der Blick ihres Lehrers blieb etwas länger als gewöhnlich an ihr hängen. Er hat es bemerkt, schoss es ihr sofort durch den Kopf. Diese Vermutung bestätigte sich, als nacheinander alle Schüler den Raum verließen. Tamara und Leslie gingen gerade in Richtung Tür, da hielt Mr. Jones’ Stimme sie zurück. »Einen Moment. Würdet ihr beiden bitte kurz zu mir kommen?«
In der Hoffnung, dass er nicht sie meinte, sahen sich die Mädchen um, doch außer ihnen war niemand mehr im Raum.
»Da ihr es scheinbar nicht für nötig erachtet, dem Unterricht zu folgen, gehe ich davon aus, dass ihr bestens über Mozart informiert seid. Daher erwarte ich von jeder von euch anstatt fünf mindestens zehn Seiten.«
Tamara verkniff sich ein frustriertes Aufstöhnen und nickte stattdessen nur. Dennoch war sie sauer. Sowohl auf sich selbst als auch auf ihren Lehrer.
»Entschuldigen Sie bitte, Mr. Jones. Das kommt nicht wieder vor.« Leslie schenkte dem Musiklehrer ein Lächelnund als dieser daraufhin nickte, waren die beiden entlassen.
Auf dem Weg zu ihren Spinden und im Anschluss in Richtung Parkplatz sprachen sie über die Strafarbeit, die ihrer Meinung nach viel zu hoch ausfiel.
»Da vorne steht er.« Tamara deutete mit dem Zeigefinger auf Henrys Auto, das er auf dem linken Teil des Parkplatzes abgestellt hatte. Er lehnte an der Fahrertür und winkte den Mädchen von Weitem zu.
»Hallo Onkel Henry.« Tamara gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Hallo ihr zwei. Wie war euer Schultag?«
»Hi.« Leslie grinste ihn an und stieg schnell hinten in das Auto ein, um die Frage nicht beantworten zu müssen.
Da Tamara nicht wollte, dass er es von jemand anderem erfuhr, erzählte sie ihm kurz, was im Musikunterricht vorgefallen war.
»Was soll ich dazu noch sagen? Ich sollte wahrscheinlich froh darüber sein, dass es Bücher sind, die dich vom Unterricht ablenken.« Henry lachte laut und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Versprich mir nur, dass das nicht zu oft vorkommt. Du wolltest doch nächstes Jahr deine A-Levels machen. Verliere deine Ziele nicht aus den Augen.«
»Das werde ich nicht, Onkel Henry.«
»Dann ist doch alles in Ordnung.« Er drückte noch einmal Tamaras Schulter und stieg dann ins Auto.
Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, ihn als Onkel zu haben. Sie lächelte in sich hinein, ging um das Auto herum und stieg auf den Beifahrersitz.
»Da hat unser kleiner Trick doch ganz gut funktioniert, Leslie«, sagte Henry lächelnd, als er den Kombi vom Parkplatz auf die Straße manövrierte.
»Absolut. Wobei ich mir nicht mehr ganz sicher gewesen bin, ob sie mich noch fragen würde oder nicht. Aber ansonsten wäre ich einfach trotzdem mitgekommen.«
»Ganz genau.« Henry lachte und bog rechts ab. Die Fahrt dauerte nur noch wenige Minuten.
Sie stiegen aus dem Auto und betraten das große Haus. Aus der Küche wehte Tamara bereits der wunderbare Geruch von Roastbeef entgegen, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
»Wollen wir gleich zu Mittag essen?« Henry sah zwischen Tamara und Leslie hin und her.
»Gerne. Bei dem Duft bekommt man ziemlich Hunger«, antwortete Leslie für sie beide.
Mit einem Nicken verschwand Henry in der Küche, während Tamara und Leslie den Tisch eindeckten und sich hinsetzten.
Zuerst aßen sie schweigend, bis Henry das Gespräch begann. »Hast du auch vor, im nächsten Jahr mit deinen A-Levels zu starten, Leslie?«
»Ja, auf jeden Fall. Ich möchte später nach Oxford und Architektur studieren.«
»Ach wirklich?« Henry beugte sich interessiert nach vorn und Leslie kam nun richtig in Fahrt.
Tamara hielt sich die meiste Zeit raus. Sie selbst wusste noch nicht so genau wie ihre Freundin, was sie später einmal machen wollte. Nach dem Essen fing Tamara an, dasdreckige Geschirr zu stapeln, um es in die Küche zu tragen.
»Lasst es ruhig stehen. Ich erledige das.« Henry schenkte den beiden ein Lächeln. »Geht lieber in die Bibliothek oder in dein Zimmer und quatscht ein bisschen.«
»Das ist eine hervorragende Idee«, grätschte Leslie dazwischen und griff nach Tamaras Hand, um sie die Treppen hinaufzuziehen. Sie gingen in die Bibliothek und setzten sich auf Tamaras Stammplatz.
»Ich habe etwas für dich.« Leslie zog aus ihrem Rucksack ein Päckchen hervor, das in grünes Geschenkpapier eingewickelt war.
»Dankeschön. Aber du hättest nicht …«
»Widersprich mir nicht. Nimm es einfach und mach es auf. Ich bin so gespannt, was du dazu sagst.«
»Na gut.« Tamara nahm es lächelnd entgegen. Es war rechteckig und sie vermutete, dass es ein Buch beinhaltete. Langsam öffnete sie die Verschnürung und zerriss das Papier. Zum Vorschein kam eine Ausgabe von Jane Austens »Stolz und Vorurteil«. »Das ist unmöglich«, flüsterte sie und strich immer wieder hauchzart über den Einband. »Sag nicht, dass das die Erstausgabe ist.«
»Doch, das ist tatsächlich eine. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist.« Leslie hob die Hände zum Schwur und strahlte ihre Freundin an.
»Aber wie? Woher …? Das kann nicht sein. Dieses Buch ist unbezahlbar.«
»Das bleibt mein Geheimnis.« Leslie zwinkerte Tamara zu. »Aber es hat mich auf jeden Fall vor einige Hürden gestellt, es zu besorgen.«
»Ich kann es einfach nicht glauben.« Tamara legte sanft ihre Hand auf das Buch und schloss für einen Moment die Augen. Obwohl sie es auswendig kannte, ließ sie sich kurz in Elizabeth Bennets Geschichte hineinziehen.
Als sie die Augen wieder öffnete, klopfte sich Leslie selbst auf die Schulter. »Na, wenn diese Überraschung nicht gelungen ist, dann weiß ich auch nicht weiter.«
»Das ist dir definitiv gelungen.« Sie nahm ihre Freundin zum Dankeschön fest in die Arme. »Trotzdem finde ich es wahnsinnig schade, dass du an meinem Geburtstag morgen nicht da sein kannst.«
»Geht mir genauso. Aber Großtante Meggie ist extrem anstrengend. Ich kann meine Eltern da wirklich verstehen. Wenn ich nicht da wäre, würde das in einem großen Familienstreit enden. Sie sieht nämlich absolut alles als Angriff auf ihre Person.« Leslie zuckte hilflos mit den Schultern.
»Das heißt, wenn du bei ihrem Besuch nicht da bist, denkt sie sofort, dass du sie nicht sehen willst.«
»Und dass ich sie hasse.« Theatralisch rollte Leslie mit den Augen, bis man für einen Moment nur noch das Weiße sah.
»Da geht es mir morgen wohl auf jeden Fall besser.« Tamara streckte ihr die Zunge heraus und stand ruckartig auf, als sie sah, dass ihre Freundin ihr in die Seite knuffen wollte.
Kapitel 3
Ein schrilles Klingeln riss Tamara aus dem Schlaf. Sofort stülpte sie sich das Kissen über den Kopf, um den lästigen Lärm im Keim zu ersticken. Der Wecker schellte jedoch immer lauter.
»Verdammt nochmal!«, stieß sie wütend aus und schmiss ihr Kissen danach.
Daraufhin stürzte er zu Boden und das lästige Klingeln erlosch endlich.
Müde schlurfte sie ins Bad und drehte den Wasserhahnder Duschbrause auf. Kurz darauf stand sie im Halbschlafunter der Dusche und versuchte, durch das Wasser wach zu werden.
Doch heute schien wieder ein Tag zu sein, an dem es wohl nicht funktionieren wollte.
Tamara schnappte sich das Shampoo und massierte es in ihr Haar, um es kurz darauf wieder auszuwaschen.
»Scheiße, das kann doch nicht wahr sein!«, fluchte sie, als sie sich ihren kleinen Zeh am Badezimmerschrank anstieß.
Es schien wirklich nicht ihr Tag zu sein. Frisch geduscht und mit einem immer noch schmerzendem kleinen Zeh begab sie sich nach unten in die Küche.
Dort hatte Henry bereits das Frühstück vorbereitet. Auf dem großen Esstisch, an dem bestimmt über zehn Leute Platz gefunden hätten, standen nicht nur drei verschiedene selbstgemachte Marmeladen, sondern auch Weißbrot, Toast, Butter, Margarine, Wurst und Käse.
Erfreut klatschte Tamara in die Hände. Vielleicht entpuppte sich der Tag ja als doch nicht so schlimm, wie sie vorher gedacht hatte. Tamara liebte ihren Onkel für alles, was er für sie tat.
Er war ein fester Bestandteil ihres Lebens und immer fürsie da. Sie konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit mit ihm reden.
Henry lächelte ihr entgegen, als sie auf den Tisch zusteuerte und sich setzte.
»Guten Morgen, Kleines. Hast du gut geschlafen?«
»Leider nicht. Ich bin tierisch müde«, grummelte Tamara vor sich hin und ein lautes Gähnen, das ihre Worte unterstrich, entschlüpfte ihr.
»Entschuldigst du mich kurz?« Henry schob seinen Stuhl zurück und erhob sich.
Tamara sah ihn verdutzt an.
»Ähm, ja.« Was ist denn jetzt auf einmal los? Onkel Henry steht nie beim Essen auf. »Natürlich«, setzte sie rasch hinterher.
Henry war jedoch schon aufgestanden und in der Küche verschwunden.
Zurück kam er mit einem großen, mit verschiedenfarbigen Streuseln verzierten Kuchen. Auf ihm thronten sechzehn Kerzen und er bestand aus insgesamt vier Böden, zwischen denen mehrere Schichten hervorlugten. Auf den ersten Blick erkannte Tamara, dass Schoko, Erdbeere und Zitrone auf jeden Fall dazugehörten. Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Vorsichtig stellte Henry ihn vor ihr auf dem Tisch ab.
»Ach Tamara.« Henry lachte laut auf. »Du musst aufpassen, dass dir die Augen nicht aus dem Kopf fallen. Nun puste die Kerzen endlich aus und wünsch dir was.«
Damit riss er Tamara aus ihrer Starre. Sie hob ihre Haare hinten rasch zusammen, damit sie nicht aus Versehen Feuer fingen, wenn sie sich über die Kerzen beugte. Fest pustete sie alle sechzehn Kerzen auf einmal aus und schloss dann die Augen. Ich wünsche mir genügend Zeit, um alle Bücher in der Bibliothek lesen zu können.
»Und, hast du dir etwas gewünscht?« Ein wissendes Lächeln lag auf Henrys Lippen.
»Ja, aber was ich mir gewünscht habe, darf ich dir nicht verraten, sonst geht es nicht in Erfüllung.«
Er lachte und Tamara grinste ihn frech an.
Sie verputzten das Frühstück und zwei große Stücke des köstlichen Geburtstagskuchens. Im Anschluss schlich sie sich davon.
Sie wollte, wie jeden Tag, in die Bibliothek. Als sie jedoch vor den großen Flügeltüren stand und die Klinke herunterdrückte, merkte sie, dass sie sich nicht öffnen ließen.
Wieso sind die Türen verschlossen? Zutiefst schockiert eilte sie die Treppen hinunter, um mit Henry darüber zu reden.
Dieser stand in der Küche. Doch anstatt wie jeden Morgen das Geschirr wegzuräumen, unterhielt er sich mit jemandem.
Wer ist denn da?
Tamara packte die Neugierde und sie drückte sich fester in die Ecke zwischen Tür und Kommode, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen.
»Henry, du musst heute Abend mit zu der Sitzung kommen. Niemand kennt das Mädchen so gut wie du und außerdem gehörst du zu den Mitgliedern des Rates. Auch, wenn du dich bisher immer gut raushalten konntest.« Die Stimme des Mannes überschlug sich beinahe. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor, doch in diesem Augenblick konnte Tamara sie nicht zuordnen.
»Matthew, das geht nicht. Ich habe Tamara, seit sie hier ist, noch nie alleine gelassen. Und dann gerade heute? An ihrem sechzehnten Geburtstag? Du weißt, was gerade dann passieren kann!« Henry sprach immer lauter und Tamara hielt die Luft an.
Dr. Simmons? So hat Henry noch nie mit ihm gesprochen.
»Ich dachte, du hättest die Vorsichtsmaßnahmen eingeleitet. Verdammt noch mal, Henry! Sei doch nicht immer so ein dickköpfiger Hornochse.« Inzwischen brüllten sich die beiden Männer beinahe an.
Ich verstehe gar nichts mehr! Wovon reden Onkel Henry und Dr. Simmons? Was ist das für eine Organisation? Was für Vorsichtsmaßnahmen soll Onkel Henry getroffen haben? Was soll denn heute passieren? Die Gedanken schossen alle auf einen Schlag durch Tamaras Kopf.
»Solange sie das Lebensbuch nicht in die Hände bekommt, ist sie in Sicherheit«, versuchte Dr. Simmons Henry zu beschwichtigen.
»Du hast wohl Erebos vergessen, Matthew.«
»Von dem hat die Organisation seit Jahren nichts mehr gesehen oder gehört. Die Vermutung liegt demnach nahe, dass er tot …«
»Er ist nicht tot! Das ist das, was wir glauben sollen. Er hat sich die letzten Jahre gestärkt und gewappnet. Und das genau für den heutigen Tag.« Ein gefährlicher Unterton lag in Henrys Stimme.
Tamara wusste, dass er wirklich kurz davor stand, zu platzen. Erebos? Wer ist das denn schon wieder und was soll das Lebensbuch sein? Ich verstehe nur noch Bahnhof, verdammt!
Tamaras Atem stockte. Das alles überforderte sie heillos. Sie wusste einfach nicht, was sie mit diesen Informationen anfangen sollte. Zitternd und nach Luft schnappend kauerte sie sich in die Ecke.
Die pure Angst erfasste sie und das, obwohl sie keine Person kannte, die Erebos hieß. Allein der Name ließ sie erschauern. Auch ihr Onkel Henry sah aufgewühlt aus und es wunderte sie, dass er gegenüber jemand anderem laut geworden war. So kannte sie ihn gar nicht.
Wer ist dieser Erebos? Und was hat es mit dem Lebensbuch auf sich?
Immer wieder drehten sich Tamaras Gedanken um das Gehörte. Als sie weiter über das Lebensbuch nachdachte, fingen ihre Hände an zu kribbeln.
Sie beugte sich ein Stückchen weiter vor, um die zwei Männer beobachten zu können. Allerdings bot sich ihr kein sonderlich spektakuläres Bild: Die beiden standen sich einfach nur gegenüber und starrten auf den Boden.
Ich muss mir unbedingt Gedanken über das machen, was ich eben mitbekommen habe. Wieso hat mir Onkel Henry nie etwas erzählt? Immerhin scheint es ja um mich zu gehen.
Sie schlich schließlich aus ihrem Versteck und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Henry und Dr. Simmons musterten sie erschrocken, als sie den kleinen Raum betrat.
»Ah, Dr. Simmons. Ich dachte, dass Sie heute einen wichtigen Termin haben und mich daher nicht zur Schule fahren können. Oder fällt der etwa aus?«, versuchte Tamara sich aus der Affäre zu ziehen. Weder Henry noch Dr. Simmons sollten wissen, dass sie ein paar Gesprächsbrocken mitbekommen hatte.
Zunächst schien Matthew Simmons nicht zu wissen, was Tamara mit Unterricht meinte und es dauerte ein paar Sekunden, bis der Groschen bei ihm fiel.
»Nun ja. Eigentlich bin ich hier, um dir alles Gute zu deinem Geburtstag zu wünschen. Die Zeit reichte aus, um doch noch rasch vorbeizukommen, bevor ich zu der Besprechung fahren muss.« Simmons lächelte nervös und Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
Er zog ein Stofftuch aus seiner Hosentasche hervor und tupfte sich damit über die Stirn und seinen kahlen Schädel. »Nun gut, dann mach ich mich mal wieder auf den Weg. Ich muss noch einige, ähm, Dinge erledigen. Wegen des Termins, ihr wisst schon.« Mit einem feuchten Händedruck verabschiedete er sich von Henry und Tamara.
Während Tamara sich unbeobachtet die Hand an der Hose abwischte, begleitete Henry seinen langjährigen Freund zur Tür. Obwohl die beiden Männer sich weitestgehend im Flüsterton unterhielten, verstand Tamara, was sie sagten.
»Wir sehen uns dann heute Abend. Um fünf im Hauptsitz«, hörte sie Simmons Stimme.
Als Henry zu einem Widerspruch ansetzen wollte, unterbrach er ihn sofort.
»Keine Widerrede. Das war keine Frage, Henry. Du weißt, dass es sein muss und wir keine andere Wahl haben. André besteht darauf, dass alle Ratsmitglieder anwesend sind. Wir können Tamara besser beschützen, wenn wir all unsere Informationen zusammentragen.« Henry zuckte ergeben mit den Schultern.
Hauptsitz. Ratsmitglieder. Besprechung. Beschützen.
Die Worte flogen geradezu durch ihren Kopf, doch sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.
Warum muss ich beschützt werden? Hat das etwas mit diesem Erebos zu tun, vor dem Dr. Simmons und Onkel Henry große Angst zu haben scheinen? Was geht hier vor? Hier ist nie etwas Besonderes passiert. Im Gegenteil! Es ist immer und immer wieder dasselbe. Die Schule, die gemeinsamen Mahlzeiten mit Henry und das Lesen. Lesen, lesen, lesen. Mehr gibt es in meinem Leben nicht.
Tamara schreckte aus ihren wirren Gedanken hoch, als Henry scheinbar aus dem Nichts auftauchte und sie ansprach.
»Was? Entschuldige, ich war in Gedanken.« Sie lächelte ihren Onkel unschuldig an.
»Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist.« Henrys Blick fixierte Tamara.
»Klar. Ich gehe nach oben, ja?«
Sie drehte sich um. Doch dann fiel ihr plötzlich wieder ein, dass die Flügeltüren der Bibliothek verschlossen waren. Sie blieb ruckartig stehen, ging die wenigen Schritte zurück und sah Henry unverwandt in die Augen. »Ich wollte vorhin nach dem Frühstück in die Bibliothek gehen, aber sie ist abgeschlossen.«
Das unausgesprochene »Warum« hing zwischen ihnen in der Luft.
Henry wandte seiner Nichte den Rücken zu und schwieg, doch sie wollte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
Sie öffnete bereits den Mund, um nachzusetzen, als er augenblicklich dazwischenfuhr.
»Tamara, über dieses Thema wird nicht weiter gesprochen. Die Bibliothek ist und bleibt vorerst zu.«
»Aber …«
»Kein aber!«, brauste Henry auf und in Tamara kochte langsam die Wut hoch. »Ich muss heute Abend zu einem wichtigen Termin fahren, aber es wird nicht allzu lange dauern.«
Also geht er nun doch mit Dr. Simmons zu diesem Termin. Und das, obwohl er sich zuerst so dagegen gesträubt hat. Was ist hier nur los?
»Komisch. Muss Dr. Simmons heute Abend nicht auch auf einen Termin? Das ist ja ein Zufall.« Henry schien unter Tamaras Blicken zu schrumpfen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder fing.
»Ja, aber das ist tatsächlich nichts weiter als ein Zufall«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort.
Tamaras Wut verrauchte genauso schnell, wie sie aufgekommen war, und ihr wurde ein wenig mulmig zumute.
Immerhin würde sie den Abend das erste Mal in ihrem ganzen Leben alleine in diesem großen Haus verbringen.
»Wann musst du gehen?« Ihre Stimme zitterte ein wenig.
»In einer Stunde. Der Termin ist nicht unbedingt hier in der Umgebung. Ich fahre dich zur Schule und Miljan wird dich nach Hause bringen.«
»Miljan?«, rutschte es Tamara lauter heraus als gewollt und ihre Stimme schraubte sich dabei mehrere Oktaven in die Höhe.
»Ja, Miljan.«
»Aber wieso ausgerechnet er? Ich kann doch auch das Fahrrad nehmen. Das ist überhaupt kein Problem«, versuchte sie eilig, das drohende Unheil abzuwenden.
»Nein, er wird sich bestimmt freuen, wenn er dich nach Hause bringen kann. Ihr seid doch so gut befreundet gewesen.«
»Ja, wir waren gut befreundet.« Sie verdrehte die Augen.
»Ich möchte jetzt nicht weiter darüber diskutieren. Miljan wird dich nach Hause fahren.«
Tamara wusste, dass es nichts brachte, weiter auf ihn einzureden. Wenn ihr Onkel sich einer Sache sicher war, dann kam man nicht mehr dagegen an. Also nickte sie nur geknickt und setzte einen Fuß vor den anderen, um in ihr Zimmer zu gelangen.
Ganz schön viel, was ich heute alles mitbekommen habe. Und trotzdem kann ich überhaupt nichts mit dem Gehörten anfangen. Was versuchen sie vor mir zu verheimlichen?
Oben angekommen setzte sie sich auf ihr Bett und schnappte sich aus ihrem Rucksack rasch einen Block und einen Kugelschreiber.
Vielleicht, dachte sie, fällt es mir so leichter, das Erfahrene zusammenzufügen.
Zunächst schrieb sie ihren Namen auf die Mitte des Papiers und kringelte ihn mit einem Rotstift ein. Dann fügte sie die Dinge hinzu, an die sie sich aus dem Gespräch erinnern konnte. Am Ende entstand eine ziemlich chaotische Mindmap. Neben ihrem Namen hatten sich einige Begriffe angesammelt: Lebensbuch, Geburtstag, Organisation, Bibliothek, Erebos, Schutz.
Ratsmitglieder: Henry, Dr. Matthew Simmons. André (?). Hauptsitz (von Organisation?).
Sie versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen. Jedoch wusste sie nicht genug, um das Rätsel zu lösen.