Die Welt wär besser ohne dich - Sarah Darer Littman - E-Book

Die Welt wär besser ohne dich E-Book

Sarah Darer Littman

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Beschreibung

Seit Wochen chattet Lara mit Christian. Sie ist total verliebt und möchte ihn endlich auch mal treffen. Doch dann zerstört Christian ihr Glück mit einem einzigen Klick: "Die Welt wär besser ohne dich", schreibt er an ihre Facebook-Pinnwand. Und minütlich schließen sich ihm andere an. Irgendwann erträgt Lara die Beleidigungen nicht mehr und trifft eine verzweifelte Entscheidung. Textauszug aus Die Welt wär besser ohne dich:Wenn ich die Spiegeltür des Arzneischranks in Richtung Badezimmerspiegel halte, sind plötzlich Hunderte Versionen von mir zu sehen. Als ich das zum ersten Mal ausprobiert habe, fand ich es cool – ein unendlicher Tunnel aus möglichen Laras. Aber jetzt zittert meine Hand am Spiegel, während eine Träne über meine Wange läuft. Jedes dieser Gesichter spiegelt die Lara wider, die ich einst war, die ich jetzt bin oder die ich in Zukunft sein werde– wenn ich eine Zukunft hätte. Habe ich aber nicht.Ich schütte die Pillen in meine zitternde Handfläche und werfe so viele in den Mund, wie ich schlucken kann.Runterspülen und noch einmal.Und noch einmal.Und noch einmal.Und noch einmal.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDeutsche Erstausgabe© 2016 Ravensburger Verlag GmbHDie Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Backlash« bei Scholastic Press, New York.Copyright © 2015 by Sarah Darer LittmanAll rights reserved. Published by Scholastic Press, an imprint of Scholastic Inc., Publishers since 1920.SCHOLASTIC, SCHOLASTIC PRESS, and associated logos are trademarks and/or registered trademarks of Scholastic Inc.Übersetzung aus dem Amerikanischen: Franziska JaekelUmschlaggestaltung: formlabor unter Verwendung von Fotos von © Benoit Daoust/Shutterstock und © Karamysh/ShutterstockLektorat: Valentino DunkenbergerAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47709-8www.ravensburger.de

In Erinnerung an meinen Vater, Stanley Paul Darer, der mir beigebracht hat, die Welt um mich herum mit wachen Augen zu betrachten und, noch wichtiger, nichts einfach hinzunehmen

TEIL EINS

GEGENWART

LARA

Die Wörter auf dem Bildschirm ergeben überhaupt keinen Sinn. Sie können gar keinen Sinn ergeben.

Er schreibt: Du bist so ätzend.

Er schreibt: Du bist eine miese Freundin.

Er schreibt: Ich weiß, dass du dir Kleider für den Homecomingball angesehen hast.

Er schreibt: Wie kommst du darauf, dass ich dich jemals einladen würde?

Er schreibt: Mit einer Loserin wie dir würde ich mich nie auf einem Schulball blicken lassen.

Er schreibt mir keine persönliche Nachricht. Er postet es öffentlich auf meiner Facebook-Pinnwand, wo es jeder lesen kann.

Fünfundzwanzig Personen haben schon »Gefällt mir« angeklickt. Sogar Leute, von denen ich dachte, sie wären meine Freunde. Wie kann jemandem etwas so Gemeines gefallen?

Ein paar Leute haben etwas zu meiner Verteidigung gepostet, dass ich keine Loserin bin und was für ein Idiot er ist. Doch mein Blick wandert immer wieder zurück zu Christians Sätzen.

Ich verstehe das nicht. Ich dachte, wir wären Freunde. Ich dachte, wir wären mehr als Freunde. Er hat doch mit mir geflirtet. Oder habe ich irgendwas falsch verstanden?

Mit zitternden Fingern öffne ich das Chatfenster und tippe eine Nachricht.

Was habe ich falsch gemacht? Ich versteh das nicht.

Dann warte ich auf eine Antwort von ihm. Ich bin so betäubt vor Schmerz und Panik, dass ich nicht einmal weinen kann.

Als die Antwort kommt, wünschte ich, ich hätte nicht gefragt.

Er schreibt: Du bist so eine Loserin. Die Welt wär besser ohne dich. UNDTSCHÜSS, LOSERIN!!!

Mein Brustkorb fühlt sich an wie zugeschnürt. Ich kann nicht atmen. Warum schreibt er so etwas? Was hat sich seit gestern verändert?

Tränen laufen mir über die Wangen.

Warum? WARUM!!!!?????????

Doch als ich auf »Senden« klicke, passiert nichts. Er hat meinen Kontakt blockiert.

Ich schüttele den Kopf und haue verzweifelt auf die Tastatur. Nein, nein, nein.

Ich kann ihn nicht mehr nach dem Grund fragen. Ich kann niemanden fragen. Die einzige Person, die ich fragen kann, bin ich selbst.

SYDNEY

Lara hat das Badezimmer in Beschlag genommen – schon wieder. Es ist jeden Abend dasselbe, echt ätzend. Sie geht ins Bad, kommt ewig nicht wieder raus und verbraucht das ganze heiße Wasser. Heute sollte sie mir gefälligst was übrig lassen, denn ich muss unbedingt meine Haare waschen. Morgen ist das Vorsprechen für Die Schöne und das Biest, das Musical der achten Klassen. Maddie, Cara und ich proben dafür schon seit gefühlten Ewigkeiten und ich will auf keinen Fall, dass mein fettiges Haar Mr Brandt von meinen Talenten als Schauspielerin und Sängerin ablenkt.

Ich klopfe ein zweites Mal an die Tür. Okay, diesmal ist es eher ein Hämmern als ein Klopfen.

»Lara, komm schon! Beeil dich mal. Du bist da schon seit vierzig Minuten drin!«

Heute Abend hat sie sogar noch schlechtere Laune als sonst. Sie ruft nicht mal »Hau ab! Ich bin ja gleich fertig!« oder sonst irgendwas Charmantes. Dabei macht sie das normalerweise immer. Es herrscht Totenstille, was mich nur noch wütender macht. Ich schlage ein letztes Mal mit der Faust gegen die Tür, dann stampfe ich die Treppe hinunter, um mich bei Mum zu beschweren.

Meine Mutter ist in ihrer »Ich lese jetzt meine ach so wichtigen politischen Berichte, also lasst mich mit euren Streitereien in Ruhe«-Stimmung, wie immer nach dem Abendessen.

»Mum, ich schwöre, wenn ich noch eine kalte Dusche nehmen muss, dann –«

»Sydney, ich sitze hier gerade mal seit …«, sie schaut auf die Uhr, »… drei Minuten. Kann ich nicht ein Mal wenigstens zehn Minuten ungestört arbeiten?«

»Aber Mum …«

»Zehn Minuten, Syd.« Sie hebt abwehrend die Hand und wendet sich wieder ihren todlangweiligen Papieren zu, die sie als Mitglied des Stadtrates lesen muss. Sie murmelt etwas von Budgetkürzungen, also gehe ich wieder.

Vielleicht sollte ich mal so launisch und deprimiert tun wie Lara, damit Mum mir auch einen Freifahrtschein für Volltrottel ausstellt. Obwohl es Lara inzwischen besser geht, lassen meine Eltern ihr alles durchgehen, weil sie Depressionen hatte.

Wenn ich wie Lara bei diesem dämlichen Cheerleader-Quatsch mitmachen würde, könnte ich jetzt jubeln:

1–2–3–4!

Wer ist das TOLLSTEMädchen hier?

Sydney! Sydney!

HALLO?!!

Ich stampfe die Treppe wieder hinauf und hämmere erneut an die Tür.

»LARA! KOMM JETZT DA RAUS! Ich muss duschen!«

Stille. Kein laufendes Wasser. Kein Plätschern. Keine bissige Antwort. Nichts.

In diesem Moment meldet sich das erste leise Unbehagen, ein mulmiges Gefühl, dass heute irgendetwas anders ist. Ich rüttele an der Türklinke, aber es ist abgeschlossen. Doch es ist nicht die verschlossene Tür, die mich beunruhigt. Lara schließt sich immer im Badezimmer ein. Es ist die Stille. Die Tatsache, dass sie mich nicht durch die Tür hindurch anschreit.

»Lara?« Meine wachsende Sorge verdrängt die Wut. »Ist alles okay bei dir?«

Nichts. Nicht mal das kleinste plätschernde Geräusch. Mit einem Anflug von Panik haste ich die Treppe hinunter und stolpere fast auf den letzten Stufen.

»Mum – ich glaube, mit Lara stimmt etwas nicht!«

Jetzt habe ich Mums volle Aufmerksamkeit.

»Was meinst du damit?«

»Sie hat sich im Bad eingeschlossen. Und sie antwortet nicht auf mein Klopfen.«

Mum wird blass. Sie springt auf und rennt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Ich folge ihr. Jetzt habe ich richtig Angst.

»Lara! Mach die Tür auf! Sofort!«, ruft Mum und trommelt mit beiden Fäusten gegen die Tür.

Nichts.

Mum rüttelt an der Klinke und zieht an der Tür, als würde sie sich dadurch auf magische Weise öffnen lassen.

»Hörst du mich, Lara? Mach die Tür auf!«, schreit Mum.

Immer noch nichts. Ein erschreckendes Oh-mein-Gott-was-ist-da-drin-passiert-Nichts.

Mum dreht sich zu mir um.

»Wähl den Notruf«, sagt sie. »Und ruf Dad an.«

Schockiert stehe ich da und starre sie an. Den Notruf? Das bedeutet …

»Sofort, Sydney!«

Ich rase ins Schlafzimmer meiner Eltern, schnappe mir das Telefon und wähle 911.

»Was für einen Notfall wollen Sie melden?«, fragt eine Frauenstimme.

»Meine Schwester hat sich im Bad eingeschlossen und meldet sich nicht. Sie ist schon ziemlich lange da drin.«

»Wo befindest du dich?«

Ich gebe unsere Adresse durch, damit sie einen Krankenwagen schicken kann, doch die Frau am anderen Ende der Leitung hat weitere Fragen.

»Wie alt ist deine Schwester?«

»Sie ist fünfzehn.«

»Bist du sicher, dass sie im Bad ist?«

»Ja!«

»Warum gehst du von einem Notfall aus?«

»Weil sie sich nicht meldet!«, brülle ich in den Hörer. Mir schnürt sich die Kehle zu.

»Gibt es irgendeinen Grund zu der Annahme, dass ihr etwas passiert sein könnte?«

»Ja! Deshalb rufe ich doch an!«

»Warum gehst du davon aus, dass ihr etwas passiert sein könnte?«

Niemand in meiner Familie möchte das öffentlich zugeben, aber …

»Sie hatte Depressionen und hat schon einmal die Nerven verloren.«

»Hat sie irgendwelche Selbstmordgedanken geäußert?«

»Nicht in letzter Zeit, zumindest soviel ich weiß, aber vor ein paar Jahren.«

»Okay«, sagt die Frau. »Ein Rettungswagen und die Polizei sind unterwegs.«

Ich knalle den Hörer auf und renne zurück in den Flur. Mum hantiert mit irgendeinem merkwürdigen Metallding im Schloss der Badezimmertür herum.

»Was ist das?«

»Das ist ein Notschlüssel, mit dem man die Türen von außen aufbekommt«, sagt Mum mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber er funktioniert nicht.«

Erst jetzt fällt mir ein, dass ich Dad noch gar nicht angerufen habe. Er kennt sich mit Handwerksarbeiten aus und hätte die Tür bestimmt längst aufbekommen.

Ich husche in mein Zimmer und rufe ihn von meinem Handy aus an.

»Was gibt’s, Süße?«

»Du musst nach Hause kommen«, sage ich. »Es geht um Lara.«

»Was ist passiert?«

Er klingt plötzlich ernst. Laras Krisen sind nicht spurlos an meinen Eltern vorbeigegangen.

»Sie hat sich im Bad eingeschlossen und meldet sich nicht. Mum versucht, die Tür von außen zu öffnen. Ich habe den Notruf gewählt«, berichte ich hastig.

In diesem Moment höre ich die Sirenen. Mein Vater stößt einen Fluch aus.

»Sag Mum, ich bin unterwegs.« Dann legt er auf.

Mum kämpft immer noch mit dem Schloss und flucht vor sich hin. Die Sirenen sind jetzt ohrenbetäubend laut – der Rettungswagen muss schon vor der Tür stehen.

»Ich mach auf«, sage ich, da klingelt es bereits an der Haustür.

Es ist nicht der Notarzt. Es ist die Polizei. Genauer gesagt, eine uniformierte Polizistin mit einer Waffe am Gürtel.

Sie hält mir ihre Marke hin.

»Officer Hall, Lake Hills PD. Mir liegt eine Meldung über ein fünfzehnjähriges Mädchen mit psychisch vorbelasteter Vergangenheit vor, das sich in einem Badezimmer eingeschlossen haben soll und nicht ansprechbar ist.«

Ich nicke. »Meine Schwester.«

»Wo?«, fragt die Polizistin.

Ich deute nach oben und sie geht ohne weitere Fragen an mir vorbei die Treppe hinauf. Ich höre, wie Mum mit ihr spricht und zu weinen beginnt. Sie sei verzweifelt, weil sie die Tür nicht aufbekomme. Dieser dämliche Schlüsselersatz funktioniere nicht, dabei hätte ihr Mann ihn extra angeschafft, für den Fall, dass Lara sich einschließe und irgendetwas Dummes tue, erklärt sie der Polizistin.

Mit sanfter, sachlicher Stimme versucht die Polizistin, meine Mutter zu beruhigen, und bietet ihr an, es auch einmal mit dem Schlüssel zu probieren.

Meine Eltern haben also damit gerechnet, dass so etwas passiert? Bin ich die Einzige in diesem Haus, die das überhaupt nicht erwartet hat?

Ich frage mich, warum ich immer als Letzte von Dingen erfahre, die am Ende auch mein Leben beeinflussen. Aber ich kann nicht weiter darüber nachdenken, denn der schrille Ton einer weiteren Sirene lässt mein Hirn fast in tausend Stücke zerspringen. Der Krankenwagen ist da. Ich lasse die Rettungssanitäter ins Haus und folge ihnen die Treppe hinauf. Als wir oben ankommen, ist die Badezimmertür offen. Ich erhasche einen Blick auf einige Pillenfläschchen, die am Badewannenrand aufgereiht sind wie ein Schwarm Vögel auf der Leitung zwischen zwei Telefonmasten.

Oh, Lara. Warum?

Die Rettungssanitäter bitten Mum, das Badezimmer zu verlassen, damit sie sich um Lara kümmern können. Die Polizistin führt meine Mutter in den Flur. Mum weint immer noch. Sie dreht sich zum Bad um, doch einer der Sanitäter schließt die Tür.

Sie kümmern sich um Lara. Das bedeutet sicher, dass sie am Leben ist. Zumindest noch.

Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich mir gewünscht habe, ein Einzelkind zu sein. Doch jetzt, in diesem Moment, bete ich verzweifelt, dass es nicht so weit kommen wird.

BREE

Als ich die Sirenen auf der Straße höre, weiß ich es: Sie kommen wegen Lara. Keine Ahnung, wieso ich mir so sicher bin. Ich weiß es einfach. Eine Zeit lang war sie ziemlich durch den Wind. Da waren wir noch in der Middle School. Ihre Eltern haben das nicht an die große Glocke gehängt, deshalb weiß fast niemand davon. Laras Mutter ist doch Politikerin. Aber ich weiß es, denn wir waren mal die besten Freundinnen. Vor allem ihr ständiges Gejammer hat dazu geführt, dass wir es nicht mehr sind.

Ich nehme mein Handy und rufe Mum auf Arbeit an.

»Hi«, meldet sie sich. »In ein paar Minuten habe ich eine wichtige Hausbesichtigung, also mach es kurz.«

Ich schaue aus dem Fenster. »Da steht ein Polizeiwagen vor dem Haus der Kelleys. Er ist mit Blaulicht und Sirene vorgefahren.«

»Das klingt nicht gut«, sagt Mum und bestätigt damit nur das Offensichtliche.

In diesem Moment heult eine weitere Sirene auf. »Ich glaube, da kommt auch noch ein Rettungswagen.«

»Ja, das höre ich«, sagt Mum. »Pass auf, meine Kunden sind da. Ich muss los. Du legst jetzt auf und bleibst im Haus, damit du niemandem im Weg stehst. Ich bin so schnell wie möglich da.«

»Denkst du, sie ist …«

»Ich weiß es nicht, Bree. Ich muss jetzt wirklich los. Das könnte eine ordentliche Provision geben. Bleib einfach im Haus.«

Und schon ist die Verbindung weg.

»Was ist da draußen los?«, fragt mein Bruder Liam und geht zum Fenster. Sein sommersprossiges Gesicht zeigt die typische Neugier eines Achtklässlers. Im Warnlicht des Polizeiwagens leuchtet es abwechselnd rot und blau auf.

»Bei den Kelleys muss irgendwas passiert sein«, sage ich.

»Wow, da wäre ich ja nie drauf gekommen, wo doch ein Polizeiauto vor der Tür parkt. Danke, Miss Superschlau!«

Liam ist manchmal echt zum Kotzen. Und Mum wird nie müde zu betonen, dass er klüger ist als ich.

»Dann finde doch selbst raus, was los ist, Einstein!«, kontere ich.

Die Sirene kommt näher. Gegenüber werden Vorhänge aufgezogen. Die Nachbarn fragen sich bestimmt auch, was bei den Kelleys los ist.

Die Sirene schrillt immer lauter und wir sehen einen Rettungswagen in unsere Straße einbiegen. Liam hält sich die Ohren zu, als der Wagen an unserem Fenster vorbeifährt. Mit quietschenden Reifen kommt er direkt hinter dem Polizeiauto zum Stehen.

Wir drücken uns die Nasen an der Scheibe platt und beobachten, wie die Sanitäter zur Haustür der Kelleys laufen. Das Blaulicht ist immer noch an. Die ersten neugierigen Nachbarn haben sich draußen versammelt.

»Ich geh mal rüber, um zu sehen, was passiert ist«, sagt Liam.

»Nein!«

Liam starrt mich erschrocken an. So eine heftige Reaktion hat er wohl nicht erwartet.

»Mum hat gesagt, wir sollen im Haus bleiben, bis sie da ist.«

»Warum?«

Manchmal glaube ich, mein Bruder wurde nur geboren, um diese Frage zu stellen. Als wäre er darauf gepolt, nie ein Nein als Antwort gelten zu lassen.

»Weil Mum das gesagt hat, okay? Warum kannst du nicht ein Mal auf sie hören?«

»Weil sie es nicht zu mir gesagt hat«, quakt die kleine Kröte auf dem Weg zur Haustür über die Schulter. »Und weil die Kelleys unsere Freunde sind.«

»Liam, Mum will, dass wir drinbleiben!«

Ohne mich weiter zu beachten, öffnet Liam die Haustür. Warum muss er mir immer so auf die Nerven gehen? Ganz besonders jetzt? »Das werde ich Mum sagen …«

Die Tür knallt zu.

Weil die Kelleys unsere Freunde sind.

Unsere Freunde waren trifft es eher.

Durch das Fenster sehe ich, wie Liam zu den Gaffern neben dem Rettungswagen geht. Er drängt sich bis zu Spencer Helman vom anderen Ende der Straße durch und unterhält sich mit ihm. Wie gern wäre ich jetzt auch da draußen. Ich beschließe, Mums Anweisung zu missachten, und schnappe mir mein Handy. Wenn sie mir die Hölle heiß macht, werde ich ihr einfach die Wahrheit sagen: dass Liam das Haus zuerst verlassen hat.

Als ich auf die Menschenmenge zulaufe, kommt einer der Rettungssanitäter mit einer Polizistin aus dem Haus der Kelleys. Er öffnet die hinteren Türen des Rettungswagens und zieht eine fahrbare Krankentrage heraus.

Mir dreht sich der Magen um. Auf so einer Trage werden schwer kranke und verletzte Personen transportiert, die dringend ins Krankenhaus müssen. Oder Leichen.

»Was ist passiert?«, fragt Mrs Gorski, eine alte Wichtigtuerin, die immer aus dem Fenster guckt und sich überall einmischt. Vor ein paar Jahren hat Josie Stern mal die Schule geschwänzt und ein paar Freunde mit nach Hause gebracht, während ihre Eltern arbeiten waren. Und wer hat Josies Eltern angerufen und ihnen alles brühwarm erzählt, sodass sie einen Monat Hausarrest hatte? Natürlich – Mrs Gorski.

»Im Moment können wir keine Informationen herausgeben«, sagt die Polizistin. Zusammen mit dem Sanitäter schiebt sie die Krankentrage ins Haus.

»Ich hoffe, Syd ist okay«, murmelt Liam. Er ist eigenartig blass unter seinen Sommersprossen.

»Ich bin sicher, dass es ihr gut geht«, sage ich. Ich weiß, dass es um Lara geht.

»Vielleicht hatte Mr Kelley einen Herzinfarkt«, meint er.

Ich sehe zur Auffahrt hinüber.

»Er ist gar nicht zu Hause«, stelle ich fest. »Sein Wagen steht nicht in der Auffahrt. Abgesehen davon ist Mr Kelley gut in Form. Er ist nicht der Typ für einen Herzinfarkt.«

Anders als mein Vater, der unbedingt abnehmen sollte, was Mum ihm ständig unter die Nase reibt. Dad hat die Statur eines Teddybären im mittleren Alter.

»Ich wette, es ist die ältere Tochter«, mischt sich Mrs Gorski ein. Um ihre Worte zu unterstreichen, wedelt sie mit einem ihrer von Altersflecken übersäten knochigen Finger. »Laura. Die macht ihnen doch schon seit Jahren Ärger.«

Woher weiß die denn das? Versteckt sie sich etwa im Gebüsch und belauscht Gespräche vor offenen Fenstern? Sie kennt ja nicht mal Laras richtigen Namen.

Und sie war auch nicht jahrelang Laras beste Freundin. Sie musste Lara nicht zuhören, als sie ständig deprimiert war und nur noch herumheulte, wie sehr sie das Leben satt hätte, wie sehr sie sich selbst und ihren Körper hassen würde, wie fett sie sei – und zwar stundenlang. Echt, das ist nicht übertrieben. Bei einem unserer Videochats habe ich die Zeit gestoppt: einhundertsechsundsiebzig Minuten nur Gejammer. Schließlich habe ich behauptet, dass ich Schluss machen müsste, weil ich es nicht mehr ertragen konnte.

Die Highschool war eine echte Erlösung. Größeres Gebäude und mehr Leute. Es war nicht schwer, ihr aus dem Weg zu gehen und andere Mädchen kennenzulernen.

Wir waren die besten Freundinnen. Nun sind wir es nicht mehr. Das passiert andauernd. In jeder Teeniezeitschrift gibt es eine Rubrik mit Ratschlägen zu solchen Situationen. Unsere Geschichte ist absolut nicht außergewöhnlich.

Bis auf die Tatsache, dass jetzt ein Polizeiauto und ein Rettungswagen vor Laras Haus parken.

Die Haustür geht auf und ich halte den Atem an. Ist Lara am Leben oder bringen die gleich einen Leichensack raus?

Zwei Sanitäter schieben die Krankentrage nach draußen … und … Lara ist darauf angeschnallt, mit einer Sauerstoffmaske über Mund und Nase und einem Infusionsschlauch im Arm. Sie lebt.

Ich kann wieder atmen, wenn auch nur flach.

Mrs Kelley geht neben ihrer bewusstlosen Tochter. Sie hält ihre Hand und schluchzt. Was hat das zu bedeuten? Kann es sein, dass Lara es vielleicht nicht schafft?

Sydney schließt die Haustür und geht zum Wagen ihrer Mutter. Sie hat die Arme um sich geschlungen, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen und nun schreckliche Bauchschmerzen.

Das ist echt krass. Was hat Lara getan? Marci wird mir kein Wort glauben. Ich kann das Ganze ja kaum glauben.

Aber Marci hat bis jetzt noch keine Ahnung. Also ziehe ich mein Handy aus der Tasche und mache heimlich ein Foto von Laras blassem Gesicht, als sie auf dem Weg zum Rettungswagen an mir vorbeigeschoben wird.

»Was machst du denn da?« Liam packt mich am Arm und starrt mich entsetzt an. »Das ist doch krank!«

»Halt den Mund!«, zische ich.

Aber er redet natürlich weiter. »Bree, was soll das? Willst du das etwa posten?«

Ich schüttele seine Hand ab und schieße noch ein paar Fotos, während die Sanitäter die Krankentrage in den Rettungswagen schieben und die Türen schließen. Ich muss die Bilder sofort an Marci senden, sonst glaubt sie mir kein Wort, wenn ich ihr das erzähle. Das ist so … verrückt.

Mrs Kelley geht schluchzend zu ihrem Wagen und steigt ein. Wahrscheinlich fährt sie mit Sydney dem Rettungswagen hinterher.

Mit einem lauten Heulen gehen die Sirenen los. Liam hält sich wieder die Ohren zu. Ich filme, wie der Rettungswagen davonfährt – mit Blaulicht und Sirene.

»Bree, hör auf damit!«, schreit Liam gegen den Lärm an. »Was hast du für ein Problem?«

»Was hast du für ein Problem?«, schreie ich zurück. »Lass mich in Ruhe und kümmere dich um deinen eigenen Scheiß.«

»Ihr Kids mit euren Smartphones und Facebook und … wie heißt das doch gleich … diesem YouTube«, wettert Mrs Gorski und schüttelt den Kopf. Als die Sirenen leiser werden, wendet sie sich zum Gehen. »Ihr seid erst zufrieden, wenn ihr das Neueste online gestellt habt, damit jeder immer über alles Bescheid weiß.«

Tickt die Alte noch ganz richtig? Wovon redet die? Und mal im Ernst, Mrs Gorski kümmert sich auch nicht gerade nur um ihren eigenen Kram.

Ich schalte die Handykamera aus und gehe nach Hause. Noch bevor ich durch die Haustür trete, ist alles auf Facebook hochgeladen. Jetzt weiß jeder Bescheid.

SYDNEY

Lara ist immer noch bewusstlos. Und wenn sie nicht mehr aufwacht? Oder wenn sie aufwacht und nur noch vor sich hin vegetiert? Was dann? Die Ärzte sagen, sie können noch keine Prognose abgeben. Wir sollen einfach abwarten, aber das kann keiner von uns gut.

Dad ist gleich zu uns in die Notaufnahme gekommen. Als Lara intubiert wurde, mussten wir den Raum verlassen. Sie schoben ihr einen Schlauch in die Luftröhre und legten ihr gleichzeitig einen Blasenkatheter, was total widerlich klingt.

Für weitere Tests wurden ihr Blut und Urin (aus diesem Katheterding) abgenommen. Dann verabreichten ihr die Notärzte sogenannte Aktivkohle über einen weiteren Schlauch, den sie ihr durch den Hals bis in den Magen geschoben hatten – um die Gifte aus ihrem Körper zu entfernen.

Als wir wieder ins Zimmer dürfen, reden wir mit ihr, wie es uns die Ärzte empfohlen haben, denn es besteht die Möglichkeit, dass sie uns hört. Wir beobachten die Maschinen, an die sie angeschlossen ist, wir lauschen den langsamen Piepsgeräuschen ihres Herzschlags. Vor allem aber warten wir, hoffen und beten, dass sie durchkommt. Und neben all dem Hoffen und Beten stellen wir uns die ganze Zeit nur eine Frage: Warum? Warum gerade jetzt?

Mum sitzt an der einen Seite des Bettes, Dad an der anderen. Beide halten jeweils eine von Laras schlaffen Händen. Mum weint, betet, fleht Lara an, aufzuwachen und zu uns zurückzukommen. Dad sitzt nur still da. Er versteht das alles nicht.

»Warum hat sie das getan? Es lief doch jetzt alles viel besser für sie?«, hatte er Mum gleich nach seiner Ankunft im Krankenhaus gefragt.

Mum hatte nur den Kopf geschüttelt und noch heftiger geweint. Dad tröstete sie, stellte aber den Ärzten, den Krankenschwestern, sogar dem Hausmeister und jedem, der sonst vorbeigekommen war, dieselbe schmerzvolle, wütende Frage.

Ich kann ihm das nicht verübeln, denn ich verstehe es auch nicht. In der Middle School haben sich alle über sie lustig gemacht, weil sie so dick war. Mum hat für Lara einen Ernährungsberater engagiert, damit sie abnimmt. Am Ende mussten wir alle unsere Essgewohnheiten umstellen – also gab es keine Kekse mehr für mich, obwohl ich nicht übergewichtig war. Total unfair. Lara und Dad gingen an den Wochenenden zusammen ins Fitnessstudio, danach lud er sie immer auf einen fettarmen Frozen Joghurt ein. Das war ihre »Vater-Tochter-Zeit«.

Vor einer Weile hat Lara es sogar in die Cheerleadermannschaft ihrer Schule geschafft. Sie redete nur noch von ihrer neuen Cheerleaderfreundin Ashley und wie toll es war, mit ihr und den anderen Mädchen aus dem Team rumzuhängen.

Also warum, Lara? Ich hatte keine Frozen-Joghurt-Kur und keine »Vater-Tochter-Zeit« mit Dad. Trotzdem bin ich nicht diejenige, die bewusstlos in der Notaufnahme liegt und ihre ganze Familie fast durchdrehen lässt.

Unsere Nachtwache wird unterbrochen, als ein Polizist das Zimmer betritt.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagt er. »Könnten wir vielleicht kurz rausgehen?«

Mum sieht Dad an. Wahrscheinlich würde sie am liebsten keine Sekunde von Laras Seite weichen. Als wäre ihre Anwesenheit das Einzige, was meine Schwester am Leben hält, mehr als all die blinkenden und piepsenden Maschinen. Dad nickt in Richtung Tür. Widerwillig trennt sich Mum von Lara und küsst ihre Hand, bevor sie sie zurück auf das Bett legt.

Vor dem Zimmer stehen zwei Stühle. Mum setzt sich hin. Dad bleibt lieber stehen, also nehme ich auf dem zweiten Stuhl Platz.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gerade jetzt belästigen muss«, sagt der Polizist. »Ich bin Officer Timm. Und das ist Officer Hall«, stellt er sich und seine Kollegin vor, die vorhin bei uns zu Hause war.

»Warum sind Sie hier?«, fragt Dad. »Sehen Sie denn nicht, dass unsere Tochter …« Er bricht den Satz ab, weil er die Worte nicht aussprechen kann.

»Wir möchten Ihnen nur die in solchen Fällen üblichen Fragen stellen«, sagt Officer Hall mit ruhiger, aber fester Stimme.

Mum blickt durch die offene Tür zu Lara, die blass und reglos in ihrem Krankenbett liegt.

»Erschien Ihnen Ihre Tochter in letzter Zeit deprimiert?«, fragt Officer Timm.

»Nein, es lief richtig gut für sie«, antwortet Dad. »Deshalb kann ich nicht verstehen … weshalb sie …«

»Sie wurde in die Cheerleadermannschaft aufgenommen«, fügt Mum hinzu. »Sie hat neue Freundschaften geschlossen.«

»Haben Sie kürzlich Veränderungen in ihrem Verhalten oder ihren Noten festgestellt?«, fragt Officer Timm weiter.

»Nein«, sagt Mum. »Wenn überhaupt, kam sie mir glücklicher vor als sonst. Jedenfalls nicht deprimiert.«

»Hatte Lara in der Vergangenheit irgendeine psychische Erkrankung?«, fragt der Polizist.

Da ist es wieder: dieses kurze Zögern. Meine Eltern sehen sich nicht an. Das müssen sie auch nicht. Sie haben das alles schon mal durchgespielt.

»In der Middle School war sie etwas niedergeschlagen. Einige Mädchen hatten sie wegen ihres Gewichts gehänselt«, sagt Dad.

»Aber jetzt geht es ihr gut«, versichert Mum den Polizisten.

Wie bitte? Wir sind in der Notaufnahme und Lara liegt bewusstlos und an Maschinen angeschlossen nebenan, während die Polizisten uns befragen. Mum ist sich der Ironie ihrer Worte wahrscheinlich nicht bewusst, aber Officer Timm und Officer Hall wechseln einen kurzen Blick.

Meine Eltern tun mal wieder so, als wären wir die perfekte Familie – ein perfektes Elternpaar und zwei perfekte Töchter. Probleme? Doch nicht bei den Kelleys!

Ich stoße einen tiefen, genervten Seufzer aus. Das musste jetzt mal raus.

»Sydney, warum vertreten wir uns nicht ein wenig die Beine, während Officer Timm mit deinen Eltern spricht«, schlägt die Polizistin vor. »Ich wette, es ist ziemlich anstrengend für dich, hier so lange zu sitzen.«

»Okay.«

Ich bin froh, endlich mal von den permanent piepsenden Monitoren, von Laras reglosem, blassem Gesicht und meinen Eltern wegzukommen, die immer so tun, als sei alles bestens, obwohl es ganz offensichtlich nicht so ist. Glauben sie wirklich, dass sie irgendjemandem außer sich selbst etwas vormachen können?

Während wir den Flur entlanggehen, machen Officer Halls Gummisohlen unter den Schuhen bei jedem Schritt nervige quietschende Geräusche auf dem Vinylboden.

»Also, hier könnte ich mich wohl kaum an einen Verdächtigen heranschleichen.« Sie lächelt mich entschuldigend an.

Ich frage mich, ob sie mir angesehen hat, wie sehr mich das Geräusch nervt, oder ob sie es selbst stört.

»Nein, Sie würden sich eher anquietschen.«

Sie lacht. »Kann ich dich vielleicht auf eine kleine Erfrischung einladen?« Sie zeigt auf den Getränkeautomaten ein Stück den Flur hinunter.

»Klar, warum nicht.«

Ich kann mich nicht zwischen Vitaminwasser (das würde Mum bevorzugen) oder Gatorade (damit würde ich die voraussichtlich lange Nacht bestimmt besser überstehen) entscheiden. Weil ich aber auf Mum sauer bin, nehme ich schließlich Gatorade. Officer Hall zieht sich eine Diätcola aus dem Automaten und wir suchen uns einen Platz in einem der kleinen Warteräume, die sich den Flur entlang befinden.

Mein Getränk ist kalt, süß und erfrischend. Nach ein paar großen Schlucken fühle ich mich etwas besser. Vielleicht bin ich auch nur erleichtert, ein bisschen Abstand von meinen Eltern und Lara zu haben.

»Ich habe den Eindruck, dass die Situation deiner Schwester nicht ganz so rosig ist, wie deine Eltern sie darstellen«, sagt Officer Hall. Sie stellt die Coladose auf den Tisch zwischen einige alte Ausgaben des People-Magazins und ein paar Autozeitschriften. »Hab ich Recht?«

»Ja, meine Eltern tun so, als sei alles in Ordnung. Das machen sie immer so. Aber meine Schwester war ein ziemliches Wrack.«

»Stört es dich, wenn ich ein paar Notizen mache?«

»Nein, das ist schon okay.«

»Wenn du sagst, sie war ›ein ziemliches Wrack‹, was genau meinst du dann damit?«

Ich pule am Etikett der Gatorade-Flasche herum. »Na ja … Lara war mal … sie war nicht immer so … dünn … wie jetzt. In der Middle School hatte sie es echt schwer. Sie hat sehr unter den anderen Mädchen gelitten. Sie haben sie Specki oder Speckisaurus und so Sachen genannt, Sie wissen schon.«

Officer Hall runzelt die Stirn und presst die Lippen zu einem schmalen, grimmigen Strich zusammen. »Ja, das weiß ich leider wirklich. Und wie ist Lara damit umgegangen?«

»Es ging ihr schlecht. Sie hat viel in ihrem Zimmer geweint. Und dann hat Mum auch noch ständig über ihre Essgewohnheiten gemeckert. Sie dachte, wenn Lara abnehmen würde, würden die anderen sie nicht mehr hänseln. Also hat Lara sich heimlich Essen mit aufs Zimmer genommen. Als Mum das herausgefunden hat, gab es einen Riesenkrach. Sie hat Lara angeschrien. Das war ziemlich … schlimm.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagt Officer Hall, während sie etwas in ihr Notizbuch schreibt.

Ich frage mich, ob sie sich wirklich vorstellen kann, wie das war. Ich hatte mich damals völlig verschreckt in meinem Zimmer auf dem Bett zusammengerollt und den Teddy umklammert, den ich – zumindest vor meinen Freunden – nicht mehr mit ins Bett nahm, während meine Mutter im Nebenzimmer tobte und meine Schwester heulte. Ich habe mir die ganze Zeit gewünscht, dass sie sich endlich wieder vertragen, dass Lara wieder lachen kann und Mum sich beruhigt, dass alles so normal läuft wie in anderen Familien.

»Warum sind Sie eigentlich Polizistin geworden?«, frage ich plötzlich neugierig.

Officer Hall legt das Notizbuch auf den Schoß und spielt mit dem Kugelschreiber herum. »Das liegt bei uns in der Familie«, sagt sie. »Mein Vater ist Polizist. Sein Vater war Polizist und mein Bruder ist es auch.«

»Mein Vater ist Ingenieur. Aber das will ich auf keinen Fall werden.«

»Was möchtest du denn mal machen?«

»Woher soll ich das wissen? Ich bin in der achten Klasse.«

Sie lacht. »Gutes Argument. Nur weil meine berufliche Zukunft schon immer feststand, muss das nicht bei jedem so sein.« Sie greift nach dem Notizbuch. Jetzt kommt sie bestimmt gleich wieder auf Lara zu sprechen – es geht immer nur um Lara, nie um mich.

»Lara hatte also Depressionen. Kannst du mir mehr darüber erzählen? Wann hat das angefangen?«

»Ich kann mich nicht genau daran erinnern. Ich glaube, als sie in der siebten Klasse war oder so. Sie war wütend auf mich, weil ich sie vor Mum und Dad gefragt hatte, warum sie jeden Abend in ihrem Zimmer weint. Von da an schickten meine Eltern sie zu einem Psychiater.«

»Und wie sieht es mit Freundschaften aus? Hat Lara viele Freunde?«

»Sie wurde gerade in die Cheerleadermannschaft aufgenommen und sie verbringt viel Zeit mit dieser Ashley.«

»Kennst du Ashleys Nachnamen?«

»Irgendwas mit T. Tra… oder so.«

»Noch irgendwer?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich meine, Bree Connors war mal ihre beste Freundin. Sie wohnt nebenan, aber sie machen nichts mehr zusammen.«

»Deine Eltern haben gesagt, es ging Lara besser. Hat sie jemals Selbstmordgedanken geäußert?«

Sofort muss ich an die vielen Abende denken, an denen ich Lara durch die Wand habe weinen hören. An ihre langen, tränenreichen Videochats mit Bree und wie sie dabei jammerte, dass sie es keinen Tag länger an dieser Schule aushalten würde und wie sehr sie sich wünschte, sie wäre tot. Ich lag im Bett und hatte Angst, dass es wirklich passieren könnte. Aber manchmal fragte ich mich auch, wie es wohl wäre, Einzelkind zu sein. Jetzt hasse ich mich für diese Gedanken.

»Ja, als es ihr richtig mies ging, hat sie mal davon gesprochen. Aber das ist schon eine Weile her. In letzter Zeit war sie gut drauf. Deshalb macht uns das auch so fertig. Es ergibt überhaupt keinen Sinn.«

»Wenn ein junger Mensch sich das Leben nehmen will, ergibt das nie einen Sinn.« Officer Hall seufzt und klappt das Notizbuch zu.

»Ich glaube, ich sollte mal zurückgehen«, sage ich, obwohl sich mein Magen zusammenzieht bei dem Gedanken an meine verzweifelten Eltern und die piepsenden Maschinen.

»Komm, ich begleite dich«, sagt Officer Hall.

Sie geht quietschend neben mir den Flur entlang bis zu Officer Timm, der vor Laras Zimmer wartet. Meine Eltern hocken wieder an Laras Bett und halten ihre Hände. Für mich ist hier eindeutig kein Platz.

»Danke für das Gespräch, Sydney«, sagt Officer Hall.

»Danke für das Getränk«, erwidere ich.

Ich muss mich regelrecht zwingen, das Zimmer zu betreten und mich wieder der Nachtwache anzuschließen. Von der Flasche Gatorade bin ich zu aufgedreht, um mich hinzusetzen. Also lehne ich mich in einer Ecke an die Wand und verlagere das Gewicht immer wieder von einem Bein auf das andere. Ich wünschte, ich könnte nach Hause fahren und duschen. Morgen ist mein Vorsprechen.

Mum sagt das Vaterunser auf. Ich weiß nicht, was ich tun soll, also denke ich nur bittebittebittebittebittebitte wachaufwachaufwachaufwachaufwachaufwachauf.

Und dann – als hätte sie mich gehört – beginnen Laras Augenlider zu zucken.

»Pete! Ich glaube, sie kommt zu sich!«, flüstert und schluchzt Mum gleichzeitig.

»Lara … Lara, Süße, kannst du mich hören? Ich bin’s, Dad«, sagt mein Vater. Er drückt Laras Hand so fest, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie nur aufgewacht wäre, um ihm zu sagen, er solle ihr nicht sämtliche Finger brechen.

Sie stöhnt. Die Geräte piepsen schneller.

»Syd, hol die Schwester!«, ruft Dad.

Als ich an der Tür bin, ist die Krankenschwester in ihrem OP-Kittel mit Pandamuster schon auf dem Weg zu uns. Sie tritt an Laras Bett und mustert die Monitore.

»Lara, öffne die Augen für mich«, sagt die Schwester. »Deine Eltern sind hier und deine Schwester.«

Sie fordert Mum und Dad auf, weiter mit Lara zu reden.

»Wach auf, Liebling«, sagt Mum. »Wir lieben dich.«

»Komm schon, mein Schatz, du schaffst das«, drängt Dad.

»Lara! Wach auf!«, schreie ich plötzlich. Ich habe es satt zu warten, ich habe Lara satt, ich habe alles und jeden satt. Ich bin sauer, weil ich das Vorsprechen morgen bestimmt verpassen werde – nur wegen meiner Schwester und ihren endlosen Krisen.

Sie stöhnt und wirft den Kopf auf dem Kissen hin und her. Dad wirbelt wütend zu mir herum und öffnet gerade den Mund, um mir zu sagen, dass ich die Klappe halten soll oder etwas in der Art, als Mum nach Luft schnappt, weil sich Laras Augen flatternd öffnen.

»Willkommen zurück«, sagt die Krankenschwester.

»Gott sei Dank!«, stößt Dad aus, nimmt Laras Hand und küsst sie.

Mum schluchzt erleichtert.

Lara versucht, sich den Schlauch aus dem Hals zu ziehen.

»Lass das lieber, Schätzchen«, sagt die Krankenschwester. »Wir müssen auf den Arzt warten. Er wird entscheiden, ob der Schlauch entfernt werden darf.«

Lara sieht verängstigt und verwirrt aus. Sie blinzelt im hellen Licht.

»Du bist im Krankenhaus«, erklärt ihr die Krankenschwester. »Wegen einer Medikamentenüberdosis.« Sie leuchtet mit einer Stiftlampe Laras Pupillen an, um zu prüfen, ob sie sich zusammenziehen. Während sie Laras Reflexe testet, kommt der Arzt herein. Er trägt einen weißen Kittel über seiner OP-Kleidung.

Er spricht mit der Krankenschwester, sieht sich Laras Patientenakte an, stellt sich nah ans Bett und beugt sich über Laras Kopf.

»Lara, ich bin Dr. Delman. Wir werden jetzt den Beatmungsschlauch entfernen. Ich möchte, dass du ausatmest, wenn ich bis drei gezählt habe. Nicke einfach, wenn du mich verstanden hast.«

Meine Schwester bewegt den Kopf langsam auf und ab, ihre Augen zwinkern, als hätte sie Schmerzen.

»Okay, Lara, fangen wir an. Eins … zwei … drei …«

Ich wende mich ab und schließe die Augen. Ich kann das nicht mit ansehen. Allein bei dem Gedanken wird mir ganz flau im Magen. Aber meine Ohren kann ich nicht verschließen und ich höre Lara stöhnen und würgen, gefolgt von Mums Aufatmen. Ich vermute, der Schlauch ist jetzt draußen, also wage ich wieder einen Blick.

»Dein Hals wird eine Weile ein bisschen wehtun und sich wund anfühlen«, erklärt ihr der Arzt. »Du kannst vorsichtig mit Salzwasser gurgeln oder ein wenig warmes Wasser mit Honig und Zitrone trinken.«

Lara schaut ihn mit aufgerissenen, von dunklen Schatten umrandeten Augen an. Ich glaube kaum, dass sie im Moment an Zitronentee mit Honig denken kann. Ich wünschte, ich wüsste, was ihr durch den Kopf geht. Ich wünschte, ich wüsste, wieso sie das getan hat, obwohl alles so gut für sie zu laufen schien.

Warum muss sie mir immer alles kaputt machen? Ich habe so hart für dieses Vorsprechen geackert. Ich verdiene eine Erklärung.

Aber ich halte mich lieber zurück. Ich will mir nicht schon wieder eine Strafpredigt anhören müssen, wie egozentrisch ich sei und wie beschämend es ist, dass ich in dieser Situation nur an mich denken würde. Denn es geht wie immer nur um Lara.

Aber ich muss gar nicht fragen. Mein Vater spricht die Frage laut aus, die uns alle beschäftigt.

»Warum hast du das getan, Lara? Warum?«

»Pete!«, zischt meine Mutter und wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Besser ihm als mir.

Eine Träne rinnt langsam über Laras kalkbleiche Wange. Ganz leise, sodass wir es kaum hören können, sagt sie nur ein einziges Wort: »Christian.«

LIAM

Ich kann nicht glauben, dass Bree Fotos gemacht hat.

Noch schlimmer ist, dass sie die Fotos auch noch hochgeladen hat. Wie kommt sie nur auf so eine kranke Idee?

Ich klicke auf Sydneys Facebook-Pinnwand, um zu sehen, ob sie Neuigkeiten über Lara gepostet hat, aber da steht nichts. Ihre letzte Statusmeldung ist von heute Nachmittag – ein Selfie mit ihren Freundinnen Cara und Maddie und dem Post: Hals- und Beinbruch! Das Vorsprechen für DIE SCHÖNE UND DAS BIEST kann kommen!

Ihr strahlendes Lächeln steht in krassem Gegensatz zu ihrem blassen und völlig verstörten Gesichtsausdruck vorhin, als sie das Haus verließ, während Lara in den Rettungswagen geschoben wurde.

Ich hätte ihr so gern etwas zugerufen. Ich hätte ihr gern gesagt … keine Ahnung, dass ich für sie da bin – auch wenn wir schon lange nichts mehr unternommen haben und Bree und Lara nicht mehr befreundet sind.

Aber mein Freund Spencer stand neben mir und irgendwie hänge ich hauptsächlich wegen ihm nicht mehr mit Syd rum. Schon in der fünften Klasse hat er so Sachen gesagt wie »Syyyd plus Liiiiam«. Er nervte mich die ganze Zeit damit und wollte andauernd wissen, ob sie nun meine Freundin sei oder nicht. Als wir in die Middle School kamen, erzählte er den anderen Jungs, ich sei wahrscheinlich schwul, weil ich so viel Zeit mit Syd verbrachte, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu küssen.

Ich wollte auf keinen Fall, dass die Leute ihm glaubten, denn irgendwann hätte ich schon gern eine richtige Freundin. Ich hätte wahrscheinlich auch lügen und behaupten können, ich hätte sie doch geküsst, aber das kam mir auch nicht richtig vor.

Also erfand ich irgendwelche Ausreden und verbrachte immer weniger Zeit mit Syd, weil ich angeblich zu viele Hausaufgaben hatte. Den wahren Grund habe ich ihr nie verraten, was eigentlich total idiotisch ist, wenn ich jetzt so darüber nachdenke.

Ich war echt kein guter Freund.

Vielleicht kann ich es wiedergutmachen. Vielleicht schicke ich Syd eine Nachricht.

Ich greife nach meinem Handy, meine Daumen schweben über dem Display. Nach einer Weile stecke ich es wieder weg. Syd soll nicht denken, dass ich nur Infos über Lara will, um sie auf Facebook zu posten – wie meine bescheuerte Schwester.

BREE

Eine Menge Leute haben auf Christians Posts an Laras Facebook-Pinnwand reagiert. Stimmt, Lara ist fett und hässlich, haben einige geschrieben. Ein paar Kids, die mit uns in der Middle School waren, haben sogar den Spitznamen benutzt, den Lara so hasst: Specki. Es ist verrückt, aber es sind jetzt schon mehr als zwanzig Kommentare.

Ein paar haben Christian auch als Idioten bezeichnet und geschrieben, dass es das Letzte sei, so etwas zu posten. Andere sind dagegen sogar noch weitergegangen als er und wollten wissen, warum Lara sich nicht einfach umbringt. Ich frage mich, ob sie das gelesen hat, bevor sie … was auch immer sie getan hat, dass sogar ein Rettungswagen kommen musste. Und ich frage mich, was passiert, wenn … sie stirbt.

Oh Gott. Was, wenn sie schon tot ist?

Ich klicke auf meine Facebook-Pinnwand. Das Foto von Lara auf der Krankentrage hat schon fünfzig Likes und wurde etliche Male geteilt. Es gibt auch schon erste Spekulationen.

Sie sieht tot aus.

Ist Speckisaurus gestorben?

RIP Specki.

Leichenmädchen.

Mum ist immer noch nicht zu Hause. Ich wünschte, sie wäre hier.

Und dann erinnere ich mich wieder an … Liam.

Mein Bruder hockt in seinem Zimmer und macht Hausaufgaben. Er hat Kopfhörer auf, sein Fuß klopft zu einem Beat, den ich nicht hören kann. Liam und ich waren noch nie auf einer Wellenlänge, wenn man das so sagen kann.

Als ich ihm auf die Schulter tippe, springt er auf. »Verdammt, Bree, warum musst du dich so anschleichen?«

»Ich habe mich nicht angeschlichen. Deine Musik ist nur zu laut.«

»Was willst du? Ich hab zu tun.«

Ich zögere kurz und überlege, wie ich die Sache am besten angehe. Ich brauche seine Hilfe. Er kann für mich herausfinden, was ich so dringend wissen muss.

»Ich mache mir echt Sorgen um Lara«, fange ich an. »Du bist doch immer noch mit Sydney befreundet, stimmt’s? Kannst du ihr nicht eine Nachricht senden und sie fragen, wie es Lara geht?«

Er nimmt die Kopfhörer ab und starrt mich schweigend an, als würde er meine Beweggründe abschätzen wollen.

»Warum kümmert dich das überhaupt?«, fragt er dann, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, aus denen jeden Moment Laser schießen könnten.

Ich wusste, dass er mir nicht einfach so helfen würde, aber mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. »Was meinst du damit?«

»Du bist schon seit über einem Jahr nicht mehr mit Lara befreundet und jetzt sorgst du dich plötzlich um sie?«, sagt Liam. »Warum willst du wirklich, dass ich Syd frage? Damit du noch mehr auf Facebook posten kannst?«

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht gern als Erste weitere Neuigkeiten über Lara posten möchte. Das würde doch jeder gern. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich mich an Liam wende. Der wahre Grund ist … ich habe nie darüber nachgedacht, dass der Tod so … echt, so … endgültig ist. Das Thema Tod betrifft doch nur alte Menschen oder Menschen, die ganz weit weg in Kriegen getötet werden – darüber reden wir mit unserem Sozialkundelehrer, wenn es um die aktuellsten Ereignisse geht, oder wir sehen es in den Nachrichten, wenn unsere Eltern den Fernseher einschalten.

Das passiert doch keinem Mädchen, das ich kenne und das einmal meine beste Freundin war.

»Es hat nichts mit Facebook zu tun.« Ich tue so, als wäre ich schwer verletzt. »Wie kannst du nur so etwas denken?«

»Vielleicht weil du dieses Foto von Lara hochgeladen hast, als sie auf der Trage lag und ins Krankenhaus gebracht wurde?«, sagt Liam. »Komm schon, Bree, wie konntest du das tun? Das ist so was von daneben!«

»Warum regst du dich so darüber auf?«