Die Welt war so groß - Rona Jaffe - E-Book

Die Welt war so groß E-Book

Rona Jaffe

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Beschreibung

Rona Jaffe: die große Wiederentdeckung   Sie waren völlig verschieden, aber das Abenteuer Erwachsenwerden schweißte sie auf dem College zusammen: die bildhübsche Daphne, die schüchterne Emily, die selbstbewusste Chris und die lebenslustige Annabel. Es ist das Jahr 1957, als ihre Reise ins richtige Leben beginnt, und zwanzig Jahre später, zum Klassentreffen 1977, ist die Welt eine andere. Und auch im Kleinen, Persönlichen hat sich viel geändert, Ehen wurden geschlossen und geschieden, Kinder geboren, Träume gelebt und Alpträume durchlitten. Das Wiedersehen weckt bittersüße Erinnerungen an die Wünsche von einst. Und die Frage, ob man nicht noch einmal ganz von vorne anfangen soll…

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Die Welt war so groß

Die Autorin

Rona Jaffe wurde 1931 in Brooklyn geboren und blieb lebenslang eine New Yorkerin. 1958 erschien ihr Debütroman Das Beste von allem, der lange vor Sex and the City das Leben und die Liebesgeschichten von fünf Freundinnen in New York beschrieb. Rona Jaffe ist Gründerin der nach ihr benannten Stiftung, die jährlich einen Förderpreis an vielversprechende Nachwuchsautorinnen vergibt. Sie starb im Jahre 2005.Von Rona Jaffe sind in unserem Hause außerdem erschienen:Das Beste von allemDiese wilden, wunderbaren Jahre

Das Buch

Radcliff, 1977, es ist das zwanzigste Klassentreffen der Abschlussklasse von 1957. Als Annabel, Chris, Emily und Daphne damals aufs College gingen, war die Welt für Frauen sehr eng. Wer gegen die rigiden Moralvorstellungen der Fünfziger verstieß, wurde mit Verachtung gestraft. Wie Annabel, die sich nahm, was sie wollte, auch sexuell, und dafür von fast allen anderen gemieden wurde. Nur Chris hielt zu ihr, die intellektuelle New Yorkerin mit der spitzesten Zunge des Colleges – und der unerfüllten Liebe zu Alexander. Irgendwann wurden sie doch ein Paar, doch etwas bewirkte, dass sie sich seiner nie sicher sein konnte. Emily, das hübsche jüdische Mädchen, wollte Ärztin werden. Stattdessen heiratete sie einen Medizinstudenten und bekam seine Kinder. Daphne war das »Golden Girl« der Klasse; sie heiratete den schönsten Studenten der benachbarten Harvard University und bekam mit ihm vier wunderschöne Jungs. Ihre Epilepsie hat sie ihrem Mann verschwiegen, so wie sie Jahre später auch nach außen über ihr fünftes Kind schweigen wird.Beim Wiedersehen nach zwanzig Jahren wird so manches Geheimnis gelüftet und mehr als eine Entscheidung noch einmal überprüft. Kann es einen Neubeginn geben?

Rona Jaffe

Die Welt war so groß

Roman

Aus dem Amerikanischen

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Dieses Buch erschien erstmals im Jahr 1981 unter dem Titel Die Schulfreundinnen. Ein Klassentreffen nach zwanzig Jahren im Rowohlt Verlag, Reinbek.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2018© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018© 1979 by The Rona Jaffe FoundationAll rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.Titel der amerikanischen Originalausgabe: Class Reunion (Delacorte Press, New York)Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Margarete Längsfeld Copyright © by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei HamburgUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenTitelabbildung: bpk / © Hans Saebens (zwei Frauen); Gamma-Rapho via getty images / © Sam Thomas (Hintergrund)E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-1781-1

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog: 1977 – Zurück

Prolog

Erster Teil: Die Fünfzigerjahre – Feste Regeln

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Zweiter Teil: Die Sechzigerjahre – Auflösung

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Dritter Teil: Die Siebzigerjahre – Zusammen

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Epilog: Treffen

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Anhang

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog: 1977 – Zurück

Widmung

Für Zeke

Prolog: 1977 – Zurück

Prolog

Tausende waren an diesem sonnigen Junitag gekommen, angelockt vom Zauber ihrer Vergangenheit; oder, wie einige, um die Zukunft zu feiern. Harvard Yard, sonst eine friedliche Enklave inmitten der geschäftigen Stadt Cambridge, war an diesem besonderen Vormittag überfüllt von einer Menschenmenge, die sich von den weißen Steinstufen der Widener-Bibliothek bis zur Kapelle hinzog und zu den schmiedeeisernen schwarzen Hoftoren hinausquoll. Die Gebäude und die mächtigen Laubbäume waren uralt; die Menschen gehörten allen Altersstufen an.

Sie waren hier zum Radcliffe-Treffen und zur Urkundenverleihung, die seit Kurzem von Harvard und Radcliffe gemeinsam veranstaltet wurde und die das erste Ereignis der dreitägigen Festlichkeiten bildete. Ehemalige Schülerinnen aus allen Jahrgängen waren gekommen, aus der Abschlussklasse von vor fünf Jahren bis zu der vor fünfundsiebzig Jahren, aus der sich eine einzige Frau eingefunden hatte. Auch Ehemänner und einige erwachsene Kinder waren anwesend, außerdem die Eltern der diesjährigen Abschlussklasse und natürlich die Abschlussklasse selbst in Barett und Robe. Sämtliche Klappstühle, die es in Cambridge zu leihen gab, waren auf Rasen und Gehwegen aufgestellt, doch es ließ sich bereits absehen, dass sie nicht reichten.

Die Ehemaligen sollten sich am Johnson-Tor sammeln, am Rande dieses Chaos ihren Jahrgang ausfindig machen, und dann sollten die Klassen, jede einzeln vom Zeremonienmeister von Harvard angekündigt, einmarschieren. Das konnte ein spektakuläres und bewegendes Schauspiel werden, im Augenblick allerdings gab es nur Krach und Durcheinander.

Für Annabel Jones war es die Zwanzigjahresfeier. Sie hatte nie vorher an einem Klassentreffen teilgenommen und war auf so viele Menschen nicht gefasst. Sie hatte die Stelle gefunden, an der sich ihr Jahrgang aufstellte, beäugte nun argwöhnisch die anderen Frauen und versuchte sich zu erinnern. Hatten die sich geändert oder waren sie immer noch so eingebildet? Sie dachte an die hasserfüllten und neugierigen Blicke, mit denen sie sie vor so langer Zeit verfolgt hatten. Würden sie sich jetzt freuen, sie zu sehen, alles vergeben und vergessen, oder waren sie immer noch so wie früher?

Damals war alles an Annabels Aussehen außergewöhnlich gewesen. Sie hatte goldschimmerndes kupferfarbenes Haar, wellig, weich, dicht; sie trug es schulterlang zu einer Zeit, als fast alle sich die Haare kurz schneiden ließen. Ihre Augen waren von einem kühlen Grün, unschuldig und leicht spöttisch. Sie hatte hohe Wangenknochen, die ihr einen vornehmen Ausdruck verliehen, und ein paar Sommersprossen, die sie wie ein Kind aussehen ließen. Sie war groß und schlank und hatte eine lachende Stimme mit dem gedehnten Klang des Südens. Sie war glücklich und geistreich, beliebt und reich. Diese Eigenschaften hätten ihr Bewunderung eintragen können; doch am Ende wurde sie von allen Mädchen gehasst.

Im vergangenen Winter war ein Fragebogen für die Jubiläumsschrift verschickt worden. Eine Frage lautete: »Haben sich die Erwartungen, die Sie nach Ihrem Radcliffe-Examen hatten, erfüllt?« Zwei Frauen hatten geantwortet: »Ich hatte keine Erwartungen.« Annabel war eine von ihnen. Sie hätte gern gewusst, wie die zweite das gemeint hatte. Ihre eigene Antwort war zugleich hoffnungsvoll und bitter. Nach ihrem Examen hatte sie erwartet, dass das Leben mit all seinen Überraschungen auf sie zukommen würde, wie es immer gewesen war, und sie war darauf vorbereitet. Aber es hatte auch Verletzungen gegeben. Keine Erwartungen … eine seltsame Haltung für eine Einundzwanzigjährige!

Sie fragte sich, wie viele von den Tausenden von Menschen hier heute liebevoll auf die Vergangenheit zurücksahen und sie für eine einfachere Zeit hielten. Annabel wusste es besser. Nichts an der Vergangenheit war einfach gewesen; die Leute dachten das nur, weil es damals Regeln gegeben hatte. »Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten.« Annabel war großzügig und nicht nachtragend, und sie hatte angenommen, die anderen wären auch so. Doch das stimmte nicht; sie waren kleinlich und erinnerten sich an alles, an die Lügen ebenso wie an die Wahrheit.

Sie wünschte, dass Max hier sein könnte. Sie hoffte, niemand würde so blöd sein und fragen: Was ist denn aus deinem Freund geworden? Aber wenigstens war Chris hier irgendwo. Sie hielt ständig nach Chris Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken. Sobald Chris auftauchte, könnten sie die Köpfe zusammenstecken und lachen und boshafte Bemerkungen über alle Welt machen und sich amüsieren.

Niemand hatte Annabel gezwungen zu kommen. Sie hatte einfach der Herausforderung und der Neugier nicht widerstehen können. Sie wollte sehen, was aus all den Leuten geworden war, mit denen sie vier Jahre so nahe beieinander gelebt hatte, was sie mit ihrem Leben, ihren Träumen angestellt hatten. Es war, als lauerte die Vergangenheit im Schrank, um sie anzuspringen und ihr wehzutun, und sie wollte ihr mit gebleckten Zähnen und ausgestreckten Krallen entgegentreten und ihr ins Gesicht lachen.

Christine Spark English trat aus dem riesigen, unpersönlichen Currier House, wo sich dreihundert Ehemalige (einschließlich Ehemänner) versammelt hatten, und schlenderte durch den überfüllten Radcliffe Quad, um einen Blick in ihr altes Zimmer in Briggs Hall zu werfen, wo sie vor zwanzig Jahren gewohnt hatte. Damals war Radcliffe Quad eine kleine Anlage gewesen, inzwischen aber war so viel dazugebaut worden, dass Christine sie kaum wiedererkannte. Der Empfangsschalter im Currier House hatte ein Sicherheitsfenster, und überall waren Schlösser wie in einem Gefängnis. Wo die Mädchen früher ihre Fahrräder abgestellt hatten, parkten Autos. Christine hoffte, dass es die Wagen von Ehemaligen waren.

Annabel hatte sie für verrückt gehalten, weil sie während des Klassentreffens im Wohnheim schlafen wollte, statt mit ihr ins Ritz-Carlton-Hotel in Boston zu ziehen. Aber dass sie sich im Heim einquartierte und mit der Eisenbahn aus New York kam, statt zu fliegen, war der Anfang ihrer Reise zu sich selbst. Sie wollte zu ihren Collegejahren zurückkehren, um herauszufinden, wo alles begonnen hatte. Das College und Alexander … sie waren unentwirrbar miteinander verknüpft. Hier hatten vor über zwanzig Jahren das Mysterium und die Faszination ihren Anfang genommen und sie zeitlebens nicht mehr losgelassen.

Ihr altes Wohnheim Briggs Hall wirkte ermutigend vertraut von außen. Es war klein, aus roten Ziegeln, hatte eine steinerne Veranda davor, wo die Pärchen geschmust hatten, und immer noch die alten Fensterreihen, von wo aus ein paar Mädchen sie beobachteten. Sie machte keinen Rundgang durch das ganze Haus, weil sie die feierliche Urkundenverleihung nicht versäumen wollte, sondern ging gleich die Treppe hinauf. Auch hier war an jeder Tür ein Schloss, aber da die Studentinnen ausgezogen waren und ihre Zimmer ausgeräumt hatten, konnte sie hineingehen. Ihr altes Zimmer war kaum mehr als eine Zelle, die Wände in schmuddeligem Gelb-Weiß gestrichen, ein paar ramponierte Möbelstücke, die dem College gehörten. Sie hatte ihr Zimmer gern gemocht – es hatte zu ihrem klösterlichen Gemüt gepasst. Als sie daran dachte, wie unschuldig und unwissend sie in Radcliffe gewesen war, konnte sie es fast nicht glauben. Sie war ein verschrecktes kleines Mädchen gewesen, das sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte.

Sie sah sich wieder vor sich, die alte Chris mit Mittelscheitel und glatten braunen Haaren, die manchmal mit zwei Klammern hinter den Ohren festgesteckt wurden, und mit der Hornbrille, die sie zum Lesen brauchte und fast nie abnahm. Die Collegekleidung von Peck & Peck wirkte wie eine strenge Schuluniform: schlichte, dunkle Strickjacken aus Shetland, weiße Baumwollblusen, Schottenröcke in gedämpften Farben, dazu Kniestrümpfe und flache Schuhe. Sie war überglücklich gewesen, denn Radcliffe bedeutete, dass sie fern von zu Hause leben konnte. Niemand würde etwas über ihr Zuhause erfahren, und sie würde frei sein.

Doch im letzten Moment, am Tag ihrer Befreiung, hatte das Schicksal sie eingeholt. Ihre Mutter, dieses Miststück, war am Bahnhof erschienen, um sich von ihr zu verabschieden, und erklärte, stockbesoffen wie gewöhnlich, lärmend sentimental aller Welt, dies sei ihre kleine Tochter und die gehe nun aufs College. Zwei andere Mädchen, die ebenfalls den Zug nach Boston nahmen und nach Radcliffe fuhren, hatten mitsamt ihren ehrwürdigen Eltern danebengestanden und Chris und ihre Mutter mit einem entsetzt wirkenden Ausdruck angestarrt. Sie hatte das Gefühl, sie müsste sterben vor Verlegenheit. Dann stellte sich heraus, dass eines der Mädchen, das gesehen hatte, wie sich ihre Mutter zum Narren machte, nicht nur im gleichen Wohnheim wie Chris, sondern auch noch im Nebenzimmer wohnte! Emily Applebaum, die hübsche Jüdin. Chris hatte solche Angst, Emily könnte etwas sagen, aber Emily verlor nie ein Wort darüber und erzählte auch sonst niemandem davon. Chris’ Beklemmungen gegenüber Emily verwandelten sich in Dankbarkeit. Emily würde nicht plaudern. Sie konnte so etwas wie eine betrunkene Mutter spielend verkraften. Erst Jahre später kam Chris auf den Gedanken, dass Emily vermutlich eigene Probleme hatte und die Mutter einer Fremden vollkommen egal war. Sie fragte sich, ob Emily auch käme. Sie hatte ein Gerücht gehört, dass Emily furchtbar in Schwierigkeiten steckte, aber das war lange her.

Sie steckte jetzt selbst in Schwierigkeiten. Sie verließ das Zimmer und ging den zugigen Flur entlang. Dies war erst der Anfang: Es gab noch mehr Orte aufzusuchen, Erinnerungen wachzurufen, all die kleinen Splitter und Bruchstücke des Mädchens, das sich in Alexander verliebt hatte. Alles musste sich ändern. Vielleicht würde sie dadurch, dass sie wegen des Klassentreffens hierher zurückkam und ihre Vergangenheit noch einmal durchlebte, Einsichten für ihre weiteren Schritte bekommen. Sie konnte die Entscheidung nicht länger aufschieben. Hastig verließ sie Briggs Hall und machte sich auf den langen Weg zum Harvard Yard.

Nervös überprüfte Emily Applebaum Buchman im Spiegel ihrer Puderdose, wie sie aussah, während das Taxi durch die überfüllten Straßen ruckelte. Sie würde alle die Mädchen sehen, die sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, alle die Mädchen, die ihr Angst und Ehrfurcht eingeflößt hatten, und sie sollten finden, dass sie jung und attraktiv aussah. Oder wenigstens, bitte, lieber Gott, nicht schlechter als sie! Auf dem College war sie hübsch gewesen, klein und zart, mit dunklen Haaren und grauen Augen und einer Haut wie Porzellan. Sie besaß mehr Kaschmirpullover als irgendein anderes Mädchen im Wohnheim und so viele Kleider, dass sie noch einen Faltschrank in ihrem Zimmer aufstellen musste. Aber das hatte ihr auch nicht mehr Selbstvertrauen verschafft. Sie wollte wie die anderen sein, aber die anderen wussten Dinge, die Emily niemals wissen konnte, weil sie in anderen Verhältnissen gelebt hatten.

Sie wusste noch genau, was es bedeutete, in den Fünfzigerjahren in Radcliffe Jüdin zu sein, aufgenommen aufgrund bestimmter Zulassungsquoten; als Minderheit, ein fremdartiges Tier, wie es manche Mädchen in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen hatten. Für sie war Emily so merkwürdig, dass einige nicht einmal wussten, dass sie Jüdin war und verletzende Dinge sagten. Das war alles so lange her, doch jetzt wurde sie wieder nervös. Sie hatten ihr das Gefühl gegeben, sie müsste sich schämen, Jüdin zu sein. Dabei wollte sie so gern dazugehören.

Am meisten Angst hatte ihr Daphne Leeds gemacht, diese Debütantin aus feinsten Kreisen der Gojim, die immer heiße Kartoffeln im Mund zu haben schien und es fertigbrachte, gleichzeitig athletisch und weiblich zu sein, das schönste Mädchen im ganzen Wohnheim. Eine Menge Leute hielten Annabel Jones für die schönste, doch für Emily war es Daphne. Daphne hatte glatte, blonde, an den Spitzen nach innen gerollte Haare und schräge kornblumenblaue Augen. Ihre Augen waren so blau, dass man sie als Erstes wahrnahm, wenn sie auf einen zukam, und das lag nur an dieser unglaublichen Farbe. Und Daphne war groß. Emily fand es abscheulich, petite zu sein, denn das war nur eine beschönigende Umschreibung dafür, dass man bei Verabredungen immer die zu kurz geratenen Jünglinge am Hals hatte.

Inzwischen war es nicht mehr besonders wichtig, wie groß ein Mann war, genauso wie es inzwischen wundervoll war, jüdisch zu sein, und sie konnte sich gar nichts anderes vorstellen, aber in den Fünfzigerjahren … außerdem war sie neureich gewesen, Daphne und Annabel dagegen stammten aus altem Geldadel. Das war eine Kluft, die Emilys Eltern nicht verstehen konnten, doch Emily verstand sie. Daphnes Kamelhaarmantel, das war’s. Wie sehnsüchtig hatte sich Emily einen Kamelhaarmantel wie Daphnes gewünscht – dezent, elegant, genau das Richtige fürs College. Aber Emilys Mutter wollte nicht, dass sie einen Stoffmantel trug. Es war zu kalt in Cambridge, fand ihre Mutter, also kaufte sie Emily einen grauen Bisammantel und erklärte ihr, sie könne froh sein, dass sie ihn habe. Emily mochte nicht, wenn die Jungen während des Unterrichts auf ihren Pelzmantel starrten und die Mädchen fragten, was für ein Pelz das war. Sie wünschte sich einen Kamelhaarmantel, der beim Gehen locker hinter ihr herschwang, und glatte, blonde Haare, die auch schwangen. Sie wollte sein wie Daphne.

Sie war neugierig, ob Daphne zum Klassentreffen kommen würde. Ob sie noch so schön war? Waren ihre Haare blond oder grau? Ob sie immer noch mit heißen Kartoffeln im Mund sprach? So zu reden war heutzutage ein Witz; die WASPs waren plötzlich eine Minderheit. Alle Minderheiten wurden in den Siebzigerjahren Mehrheiten. Ob Daphne sich noch an sie erinnerte? Ob sie sie überhaupt erkannte? Emily wusste, sie würde Daphne erkennen. Dieses Golden Girl würde sie nie vergessen, dieses von allen im Wohnheim bewunderte Mädchen. Oh … es war albern, Angst zu haben. Sie waren jetzt erwachsene Frauen. Doch Emily konnte nicht dagegen an.

Das Taxi hielt auf dem Harvard Square. Wie grässlich es hier aussah, all diese neuen Läden und Restaurants und das ganze Menschengewimmel. Es sah aus wie am Broadway/Ecke 42th Street und gar nicht mehr wie die nette Collegestadt, die sie in Erinnerung hatte. Fehlte nur noch ein Pornoladen.

»Ich komme nicht näher ran«, sagte der Fahrer. »Sie müssen zu Fuß weiter.«

Emily zahlte und stieg aus. Da war das Tor, der schmiedeeiserne schwarze Eingang in ihre Vergangenheit, und sie hatte noch nie im Leben so viele Menschen auf einmal gesehen. Wie sollte sie ihren Jahrgang bloß finden? Wie sollte man hier überhaupt jemanden finden? Was für ein Krach! Sie presste die Fäuste zusammen. Ihr Herz hämmerte. Dieser Ausflug zu ihrem zwanzigjährigen Abschlussjubiläum war die erste Reise in ihrem Leben, die sie allein unternahm, und sie wollte sie genießen, koste es, was es wolle.

Daphne Leeds Caldwell stellte sich zu ihrem Jahrgang, zündete eine Zigarette an und hielt Ausschau nach Bekannten. Es war ein irrsinniger Anblick; so viele Menschen hatten sich hier wegen einer Radcliffe-Feier versammelt; das gab einem so ein überwältigendes Gefühl von Kontinuität. Zum Beispiel diese kleinen alten Damen, die schon Examen gemacht hatten, als sie noch gar nicht geboren war! Damals hatte bestimmt eine Menge Mumm dazugehört, aufs College zu gehen. Sie war gerührt, und einen Moment lang füllten ihre Augen sich mit Tränen. Sie hatte eine Menge Courage gebraucht, um mit ihrem einsamen Geheimnis durch das College zu gehen, und sie hatte vier Jahre lang in der Furcht gelebt, dass es ans Licht käme. Sie war stolz auf ihr Examen gewesen, und jetzt war sie noch stolzer, denn sie war ein Teil einer unermesslichen Tradition. Sie, Daphne, war etwas Besonderes. Niemand hatte erkannt, was das Besondere an ihr war – sie hatten sie immer nur oberflächlich wahrgenommen, und sie hatte sie an der Nase herumgeführt.

Alle in Radcliffe hielten sie für vollkommen, das Golden Girl. Sie nannten sie sogar so; alle waren damals so romantisch. Golden Girl. Scheißdreck. Und sie, in ihrem Bedürfnis, so zu scheinen, hatte sie darin bestärkt. In den Fünfzigerjahren wollten alle vollkommen sein. Das Leben war eine genetische Auktion; angel dir den tollsten Mann, krieg so schnell wie möglich strahlende, gesunde Kinder, bring ihnen bei, in deine Fußstapfen zu treten. Kein Platz für Leute mit einem Makel. Die galten als Sonderlinge – Parias. Die Leute hatten Angst vor Dingen, die sie nicht verstanden.

Irgendwo in der Mitte des Hofs versuchten die Ehemänner Plätze zu ergattern, damit sie der Zeremonie folgen konnten. Richard war nicht dabei, er hatte sich auf seine eigene sentimentale Reise begeben und gesagt, er würde sie später beim Picknick treffen. Daphne fragte sich, wie um alles in der Welt sie ihn in diesem Trubel finden sollte. Sie dachte, wie anders ihr Leben hätte sein können, wenn sie genug Vertrauen zu ihm gehabt und ihn schon vor Jahren über sich aufgeklärt hätte. Doch bald würde alles in Ordnung sein. Sie hatte ihr Geheimnis nach Radcliffe mitgebracht und es wieder mitgenommen, und nun war sie zwanzig Jahre später zurückgekehrt, um es endlich preiszugeben.

Da drüben bei dem Baum erspähte sie einen bekannten Kopf mit kastanienbraunen Haaren. Annabel Jones … die würde sie überall wiedererkennen. Aber sie ging Annabel nicht begrüßen. Die Vergangenheit war zu plötzlich und zu lebhaft über sie hereingebrochen. Sie fragte sich, warum Annabel wohl zurückgekommen war.

Eine kleine dunkelhaarige Frau kam auf sie zugeeilt. »Du bist Daphne! Ich bin Emily! Emily Applebaum, erinnerst du dich? Du siehst genauso aus wie früher. Ich habe dich sofort wiedererkannt.«

»Wie nett, vielen Dank«, sagte Daphne. Sie lächelte. »Du hast dich auch nicht verändert.« Das war gewissermaßen eine Lüge, denn sie konnte sich so gut wie gar nicht an Emily Applebaum erinnern.

Erster Teil: Die Fünfzigerjahre – Feste Regeln

1

Alle Sachbuch-Bestseller in diesem Jahr hatten religiöse Themen, ausgenommen drei: Der Kinsey-Report über die Sexualität der Frau, Polly Adlers Lebenserinnerungen als Puffmutter und ein Buch über Golf. Es war eine Zeit des verstohlenen Sex mit schlechtem Gewissen. Die Leute redeten fortwährend von Liebe und heirateten Fremde.

Emily Applebaums Eltern brachten sie im Zug ins College und halfen ihr beim Einzug. Es war der erste Tag der Einführungswoche für die Neulinge, ein klarer, sonniger Herbsttag; die Blätter färbten sich langsam bunt. Die roten Ziegelgebäude unter dem blauen Himmel ließen den Campus aussehen wie eine Ansichtskarte aus Neuengland.

Man hatte Emily ein Zimmer in Briggs Hall zugewiesen, ein Einzelzimmer, auf Wunsch. Ihrer Mutter wäre eine Zimmergenossin lieber gewesen, dann hätte Emily von Anfang an eine Freundin gehabt, aber Emily war ganz unwohl bei der Vorstellung, ihr Zimmer mit einer Person zu teilen, die sie gar nicht kannte, und als sie die winzige Zelle sah, wusste sie, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.

Das Zimmer war ein schmales Rechteck; am einen Ende führte eine Tür auf den langen Flur mit einer ganzen Reihe ähnlicher Zimmer, am anderen Ende sah man aus einem großen Fenster auf einen Rasenplatz, den Quadrangle.

Briggs Hall war eins der sieben Wohnheime, die den Quad einrahmten und von denen jedes einen charakteristischen eigenen Ruf hatte. Briggs Hall galt als das geselligste mit den hübschesten und umschwärmtesten Mädchen. Emily war begeistert, dass man sie hier einquartiert hatte. Die College-Zeit versprach, ein Abenteuer zu werden – zum ersten Mal war sie selbstständig, und dann diese vielen Harvard-Jünglinge, mit denen man sich verabreden konnte! Es gab ja nicht nur die Harvard-Schüler, auch die angeschlossenen Universitätsinstitute steckten voller Männer: die medizinische Fakultät, die juristische Fakultät, und es gab sogar eine Architekturabteilung. Und unten am Charles River lag dann noch das M.I.T., das Elite-Institut für die ganz klugen Köpfe.

»Hier findest du bestimmt auch einen Mann zum Heiraten, wenn du willst«, sagte ihre Mutter, während sie ihr beim Auspacken half. »Ich hoffe, du vergisst darüber nicht dein Studium, damit du nicht durchfällst.«

»Du kannst erst durchfallen, wenn du verlobt bist«, sagte ihr Vater und lachte. Er wusste, Emily war viel zu klug, um durchzufallen. Er war so stolz auf sie. Der Vater ihres Vaters war aus Europa nach New York gekommen, hatte in einer Mietskaserne in der Hester Street gewohnt, in der Fabrik gearbeitet und bis zu seinem Tode einen starken Akzent beibehalten. Ihr Vater hatte nie ein College besucht, war aber Schuhkönig geworden; er besaß eine Schuhgeschäftskette im ganzen Osten. Die Familie bewohnte ein hübsches Haus im Kolonialstil am Stadtrand und war Mitglied im Country Club, und Emily ging als erstes Mädchen in ihrer Familie aufs College – und dann gleich nach Radcliffe!

Und so war sie jetzt hier, im Begriff, zum ersten Mal im Leben unabhängig zu sein, in einer fremden Stadt, an einer riesigen Universität; und sie hatte Todesängste. Ihr Vater stellte den faltbaren Kleiderschrank auf, den ihr die Eltern gekauft hatten, weil es in ihrem Zimmer nur einen einzigen Schrank gab. Ihre Eltern hatten ihr ein bescheidenes Konto auf der Bank am Harvard Square eingerichtet – auch das war etwas Neues –, damit sie Schulbücher kaufen und ihr Zimmer einrichten konnte. Sie sah sich verstört um. Ein schmales Bett mit einer gestreiften Matratze, ein zerkratzter Schreibtisch mit einem Stuhl, eine passende schäbige Kommode, alles abgenutzt, und ein Bücherregal. Auf dem Schreibtisch eine düstere Metalllampe. Emily spürte einen Kloß im Hals und merkte, dass sie jetzt schon Heimweh hatte.

Sie war ein Einzelkind und hatte noch nie eine Reise ohne ihre Eltern unternommen. In den Schulferien wurde Emily in Kurhotels nach Florida, Bermuda, Hawaii, Vermont, New Hampshire mitgenommen, damit sie nette jüdische Jungen kennenlernte. Sie hatte sogar jahrelang Tennisunterricht genommen, obwohl sie Sport nicht ausstehen konnte. Auf dem Tennisplatz konnte man immer Jungen treffen.

»Denk daran, Emily«, sagte ihre Mutter, »ich möchte nicht, dass du deine Zeit mit Wäschewaschen verschwendest. Schick sie ruhig nach Hause.«

»Ist gut, Mom.«

Die Mutter sah sich um in der schäbigen kleinen Bude, in der ihre Tochter das nächste Jahr verbringen sollte. »Kauf dir einen Bettüberwurf und einen kleinen Teppich, und du wirst sehen, wie hübsch du’s dir in diesem Zimmer machen kannst«, sagte sie aufmunternd.

Die groben weißen Musselinlaken aus Collegebeständen lagen säuberlich zusammengefaltet am Fußende des Betts. Emily bedauerte jetzt, dass sie nicht darauf bestanden hatte, ihre eigene Bettwäsche mitzubringen, aber sie hatte ohnehin schon so viel mitgebracht. Sie hatte Heimweh wie noch nie. Sie holte ihre Gedächtniskerze aus ihrem Koffer, stellte sie oben auf das Bücherregal und fühlte sich ein bisschen besser.

»Aber, Emily, wie konntest du nur dieses scheußliche Ding mitnehmen!«, sagte ihre Mutter.

Emily war leidenschaftliche Sammlerin von Andenken. Die Gedächtniskerze, die sie selbst angefertigt hatte, war eine Erinnerung an ihre Abschlussfeier auf der Scarsdale High School. Sie bestand aus einem Glas mit gefärbtem Wasser, Platzkarten, Streichholzbriefchen, einem Bleistiftstummel, mit dem sich ein Junge ihre College-Adresse aufgeschrieben hatte, dem Band ihrer Korsage und sogar der Kippe der Zigarette, die ihr Partner auf dem Ball geraucht hatte. Um diese Schätze zu konservieren, hatte sie zuoberst eine dicke Schicht Wachs geschmolzen. Das Experiment war ziemlich misslungen, da sämtliche Gegenstände Farbe und Form verloren hatten und nur noch trübe in der zähen blauen Brühe herumschwammen. Doch diese Gedächtniskerze war alles, was ihr von dem großen Abschlussball geblieben war, und sie wollte sie unbedingt behalten. Fürs College hatte sie ein dickes Sammelalbum gekauft und sich vorgenommen, jedes Souvenir darin aufzubewahren, das ihr bei dem zukünftigen gesellschaftlichen Leben in die Hände fiel. Sie freute sich auf dieses Leben, denn sie wusste genau, es war die letzte Gelegenheit für Spaß und Ungebundenheit. Hatte sie erst das Examen gemacht, würde sie heiraten und sich etablieren.

Der Besuch eines guten Colleges war eine ebenso genau geplante Etappe auf Emilys Weg zu einer guten Partie, wie es die jahrelangen Tennisstunden und die Kurhotels gewesen waren. Doch College bedeutete noch etwas anderes; sie wagte zwar nicht, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, sie hatte Angst, sie würden sie auslachen, aber Emily träumte zuweilen von einem ganz anderen Leben. Sie wollte nicht heiraten, bevor sie fünfundzwanzig war. Das war allerdings sehr spät; also dann vielleicht vierundzwanzig. Vor der Heirat jedenfalls wollte sie Medizin studieren. Und hier brach der Traum ab. Sie wusste nicht, ob sie den Mut hatte, das alles durchzuhalten: das Praktikum im Krankenhaus, richtig handfeste Medizin. Aber sie war auf eines der besten Colleges der Vereinigten Staaten gekommen, und damit konnte sie alles studieren, was sie wollte, bei den besten Professoren. Sie hatte sich immer für Medizin interessiert, und sie half gern Menschen. Vielleicht könnte sie Kinderärztin werden und kleine Kinder behandeln. So ein Beruf war gleichzeitig intellektuell und weiblich. Und vielleicht könnte sie einen Arzt heiraten, und sie könnten zusammenarbeiten. Er könnte Erwachsene behandeln und sie Kinder, und nach Feierabend würden sie gemeinsam zu Abend essen (sie würden eine Köchin haben) und ihre Erfahrungen austauschen.

»Ist das etwa das einzige Bad da hinten im Flur?« Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihrem Tagtraum.

»Ich weiß nicht«, sagte Emily.

»Lass deine Handtücher nicht da liegen. Sonst benutzt sie jemand, und du kriegst wer weiß was. Und leg Papier auf den Toilettensitz.«

»Ja, Mom.«

»Und setz dich nicht in diese grässliche Badewanne. Nimm lieber eine Dusche. Du kannst die Wanne so sauber schrubben wie du willst, es ist nie wie zu Hause.«

»Ist gut.«

Der Vater sah auf die Armbanduhr. »Wir müssen gehen. Sie geht jetzt aufs College und kann selbst auf sich aufpassen.«

»Vergiss nicht, das Obst zu essen«, sagte ihre Mutter. »Ich lasse dir Birnen da, Äpfel und die Trauben ohne Kerne, die du so gern magst. Es ist alles gewaschen. Teil’s mit den anderen Mädchen, dann wirst du dich rasch anfreunden.«

Emily sah ihren Eltern aus dem Fenster nach, wie sie in das Taxi stiegen. Es fuhr davon, und plötzlich hatte sie überhaupt kein Heimweh mehr; sie war ganz aufgeregt. Das Abenteuer begann.

Sie erkundete das Wohnheim. Immer noch kamen Mädchen an, kämpften sich mit ihrem Gepäck die vier steilen Treppen hinauf. Die ganz neuen Schülerinnen mussten im obersten Stockwerk wohnen, sie waren noch nicht so bedeutend. Im Erdgeschoss lag ein riesiger Aufenthaltsraum mit einem Kamin an jeder Stirnseite und dunklen, bedrückenden Möbeln. In der großen Eingangshalle neben der Tür standen ein Pult und eine Tafel, auf der anderen Seite der Tür war eine kleine Postkammer mit einem Fach für jedes Mädchen, wo es Briefe und Anrufe entgegennehmen konnte. Jenseits der großen Eingangshalle gab es zwei Spielzimmer mit Bridgetischen und Stühlen, und weiter hinten lag ein freundlicher Speisesaal mit vielen Fenstern, einem Kamin und Türen zur Küche. Im ersten Stock gab es eine Telefonzelle, und an einem langen Seitenflur lagen noch ein paar Räume.

An diesem Nachmittag fand im Aufenthaltsraum eine Versammlung statt, bei der die Neuankömmlinge mit der Hausordnung und anderen festen Regeln bekannt gemacht werden sollten.

Um zehn Uhr war Zapfenstreich. Die Schülerinnen im ersten Jahr durften zweimal in der Woche bis ein Uhr ausbleiben. Sonntags abends war Ausgang bis elf Uhr, es war also klar, dass alle ihre Ausgangserlaubnis freitags und samstags nutzten. Jedes Mädchen bekam einen Schlüssel. Neben der Eingangstür lag ein Ausgangsbuch. Dort mussten alle eintragen, wann und wohin sie gegangen waren, und – das Wichtigste – wann sie zurückkamen. Schummeln war nicht erlaubt. Wer nach ein Uhr zurückkam – und es kam auf jeden Fall heraus –, musste sich dem Hauskomitee stellen, das war eine gewählte Gruppe von Mädchen aus dem Wohnheim, die die Strafe festsetzte. Strafe hieß immer Ausgangsperre, man musste also an so und so vielen Abenden um acht Uhr oben sein und konnte keine Verabredungen treffen. Männerbesuch war selbstverständlich verboten, in den oberen Stockwerken des Wohnheims wurden Männer unter keinen Umständen geduldet.

Die Ämter, für die alle eingeteilt wurden, damit die Schulkosten niedrig blieben, waren Tischdienst im Speisesaal, Geschirrabräumen und Telefondienst. Den Telefondienst verrichteten meist die höheren Semester, denn dieser Job war entschieden attraktiver als der Tischdienst. Man musste an zwei Tagen in der Woche jeweils zwei Stunden arbeiten. Wenn ein Anruf kam, klingelte man bei dem betreffenden Mädchen – jedes Zimmer war mit einem Summer und einer Ruflampe über der Tür versehen, und in der Wäschekammer in jeder Etage war ein Telefon. War das Mädchen nicht da, legte man ihm eine Nachricht ins Postfach. Da kein Mann darum bat, zurückgerufen zu werden, und es als unglaublich aufdringlich galt, noch einmal anzurufen, war der Telefondienst bei Weitem nicht so anstrengend, wie er hätte sein können, denn man brauchte nicht einmal Nummern zu notieren. Emily beschloss, sich möglichst nie zum Frühstücksdienst einteilen zu lassen, sie stand ungern früh auf.

Nach dem Abendessen servierte die Hausmutter im Aufenthaltsraum Mokka, dieses Ritual hieß »kultiviertes Leben«. Eine Schülerin in Radcliffe musste ein kultiviertes Leben zu führen und sich wie eine Dame zu benehmen verstehen. Im Unterricht durften keine Jeans getragen werden, auch nicht auf dem Harvard Square oder beim Abendessen im Wohnheim. Da Emily ohnehin keine Jeans besaß, war dies für sie ein akademisches Problem. Hosen waren überhaupt verboten, sogar bei Schnee.

Rauchen auf den Zimmern war auch verboten. Dafür gab es ein Rauchzimmer in jedem Stockwerk.

Jedes Mädchen erhielt eine Abschrift des Programms für die Einführungswoche. An den Vormittagen konnten sie sich für die Unterrichtsfächer einschreiben und sich mit den Studienberatern über die Wahl ihrer Hauptfächer unterhalten. Einige Fächer waren Pflicht – Englisch für Neulinge zum Beispiel. Das mussten sie in Radcliffe selbst nehmen. Alle anderen Fächer konnten sie wahlweise in Harvard belegen. Das nahm Emily sich fest vor.

Sie durften mit keinem Mann in die Männerwohnheime gehen, es sei denn, eine dritte Person war als Aufpasser dabei oder es gab eine Party. Die Männer bekamen Schwierigkeiten bei Verstoß gegen diese für alle Häuser von Harvard gültige Regel, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, in die die Mädchen gerieten. Alle lachten bei diesem Hinweis, weil alle wussten, was damit gemeint war.

Während der Einführungswoche würden sie auch lernen, sich abzuseilen, damit sie bei Feuer aus dem Wohnheim kamen, und eine Schwimmprüfung ablegen. Man wurde nur mit einem Schwimmschein zum Examen zugelassen, also brachte man den möglichst schnell hinter sich. Emily fragte sich, ob ein Schwimmschein unbedingt nötig war, um eine Dame zu sein.

Sie sah sich im Raum um und betrachtete die anderen Mädchen. Die Mädchen auf der Highschool waren eifrig bemüht gewesen, alle gleich auszusehen; die Mädchen hier sahen alle ganz verschieden aus. Emily hörte zum ersten Mal in ihrem Leben verschiedene Dialekte, und es kam ihr fast vor wie ein Wunder, dass sie mit Mädchen aus allen Gegenden des Landes in einem Heim lebte, mit Leuten, denen sie nie begegnet wäre, wenn sie nicht aufs College ginge. Hier waren so viele Fremde, und sie kannte noch nicht einmal alle Namen, aber sie war neugierig, wer die anderen Jüdinnen waren.

Nach der Versammlung schlenderten die Mädchen herum und machten sich bekannt. Emily war schüchtern und ging nach oben in ihr Zimmer, um ihre Zigaretten zu holen.

Sie hatte ihren kleinen Aschenbecher von zu Hause mitgebracht, und weil sie zu scheu war, ins Rauchzimmer zu gehen, setzte sie sich vor ihrem Zimmer auf den Fußboden und zündete sich eine Zigarette an. Nur diese eine, gelobte sie sich, und das nächste Mal gehe ich ins Raucherzimmer und lerne ein paar Mädchen kennen. Sie war sicher, dass die anderen ebenso schüchtern waren und sich genau so fremd vorkamen wie sie selbst, aber gleichzeitig wünschte sie sich, irgendeine käme auf sie zu und spräche sie an.

Zwei große, hübsche Mädchen kamen plappernd die Treppe herauf. Die eine hatte lange rote Haare, die andere war blond. Die waren jedenfalls keine Jüdinnen, das sah sie mit einem Blick. Sie blieben vor Emily stehen.

»Nanu, ich glaube, wir wohnen Tür an Tür«, sagte die Rothaarige. Sie hatte einen Südstaatenakzent. »Ich bin Annabel Jones.«

»Ich bin Emily Applebaum.«

»Ich bin Daphne Leeds«, sagte die schöne Blonde. Sie sprach, als hätte sie den Mund voll heißer Kartoffeln, und Emily wusste sogleich, dass sie zu den oberen zehntausend Gojim gehörte. »Hübscher Name …«, fand Daphne. »Applebaum. Nie gehört. Was ist das für ein Name, ein deutscher?«

»Hm, ja, ich glaube«, sagte Emily. Wenn sie wüsste, dass er jüdisch ist, würde sie vielleicht nicht mehr mit mir sprechen, dachte sie. »Wohnt ihr zusammen in einem Zimmer?«

»Nein, Daphne wohnt zwei Türen weiter. Wir haben Einzelzimmer. Und du?«

»Ich auch.«

»Oh, du hast einen Aschenbecher dabei!«, sagte Annabel. »Wie schlau von dir. Den benutze ich gleich mit.« Sie angelte eine Zigarette aus einem Päckchen in ihrer Rocktasche und setzte sich neben Emily auf den Fußboden. »Hast du je im Leben so viele alberne Regeln gehört?«

Daphne setzte sich zu ihnen auf den Boden und blies einen perfekten Rauchring. »Ich fand, dass die in Chapin schon genug Regeln hatten«, sagte sie, »aber das hier ist wirklich lächerlich. Schließlich ist das ein College. So was Langweiliges.«

»Wir dürfen im Flur rauchen«, sagte Emily rasch.

»Ich weiß«, sagte Annabel. »Ich meine die ganzen Ausgangsregeln. Wenn wir wirklich was machen wollen, können wir das vor zehn Uhr genausogut machen wie nachher.« Sie lachte. »Unglaublich, wie scheinheilig die sind.«

»Auf diese Abseilprüfung könnte ich gern verzichten«, meinte Emily. »Glaubt ihr, wir müssen aus dem Fenster springen?«

»So schlimm kann das nicht sein«, sagte Daphne. »Das findet in der Turnhalle statt.«

»Was mich betrifft, ich finde alles schlimm, was in der Turnhalle stattfindet«, sagte Annabel.

Emily kicherte vor Erleichterung. »Oh, kannst du Turnen auch nicht ausstehen?«

»Ich find’s widerlich. Ich reite ganz gern, aber eigentlich nur, weil ich die Trinkerei hinterher so toll finde.«

Emily sah Annabel erstaunt an. Sie war noch nie einer so kultivierten und welterfahrenen Person begegnet. Sie konnte sich Annabel gut im Reitanzug vorstellen, wie im Film, von zwei gutaussehenden großen Jünglingen zu einem Jagdfrühstück eskortiert. Ob sie Mint Juleps trank? Champagner?

Annabel drückte ihre Zigarette in Emilys Aschenbecher aus. »Ich hab zufällig ein kleines Vorratspaket in meinem Zimmer«, sagte sie. »Wollt ihr mitkommen? Wenn das Abendessen so wird wie das Mittagessen, sollten wir uns lieber vorher stärken.«

Was meinte sie damit, dachte Emily, Alkohol? Obst hatte ihre Mutter ihr bestimmt nicht eingepackt.

Die drei gingen in Annabels Zimmer. Es war genauso eine Zelle wie Emilys, aber damit hörte die Ähnlichkeit schon auf. Es sah aus, als wohnte Annabel schon seit einem Jahr hier. Kaschmirpullover waren auf den Stuhl und über das Bett geworfen und auf dem Boden verstreut. Ein paar Sachen hingen im Schrank. Schuhe lagen durcheinander auf dem Schrankboden, und auf der Kommode war ein Sammelsurium von Schminksachen und Kosmetika. Sämtliche Schubladen standen offen.

Das einzig Ordentliche war das Büchergestell. Annabel hatte offenbar ihre Lieblingsbücher von zu Hause mitgebracht und sie sorgfältig in die Regale geräumt. Sie hatte The Wizard of OZ und Puh der Bär komplett, außerdem sämtliche Werke von F. Scott Fitzgerald, Emily Dickinson, Sarah Teasdale, Edna St. Vincent Millay, Yeats und T. S. Eliot.

Auf dem Boden stand ein Koffergrammophon, und daneben lag ein Stapel alter 78er-Platten mit Noël Coward. Annabel legte Someday I’ll Find You auf und zog eine Kiste unter dem Bett hervor. Sie enthielt Kekse, Kaviar, eine Dose geräucherte Austern, Käse und zwei kleine Flaschen Sekt.

»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Daphne.

»Wir werden schon am ersten Tag rausgeschmissen«, meinte Emily, begeistert und entsetzt.

»Holt eure Zahnputzgläser, und dann schließen wir die Tür ab«, sagte Annabel.

Der Sekt machte Emily leicht beduselt. Sie stellte fest, dass Daphne und Annabel solche Sachen gewöhnt sein mussten, weil sie kein bisschen beschwipst wirkten. Sie war jetzt nicht mehr so schüchtern und konnte es eigentlich gar nicht fassen, dass sie hier mit diesen beiden Mädchen aus einer völlig anderen Welt zusammensaß und sich mit ihnen verstand. Daphne und Annabel waren in vielem verschieden – zum Beispiel in ihrem Akzent –, aber sie waren sich trotzdem in vielem sehr ähnlich. Beide hatten ausgesprochen feine Schulen besucht. Beide stammten aus der weißen protestantischen Oberschicht. Beide waren reich und traten mit einem unbefangenen Selbstbewusstsein auf, von dem Emily wusste, dass sie es sich nur durch jahrelanges Training aneignen könnte. Annabel allerdings war herzlich und zugänglich, Daphne dagegen schien reserviert. Sie war zwar nett, aber es war schwer zu sagen, ob sie nur höflich und wohlerzogen war oder ob sie jemanden wirklich mochte.

»Zu welchem Debütantinnenball gehst du, Atlanta oder New York?«, fragte Daphne Annabel.

»Atlanta«, erwiderte Annabel. »Aber vielleicht gehe ich zum Grosvenor-Ball.«

»Das ist gut«, sagte Daphne. »Dann kannst du ja vorher zu meiner Party kommen. Ich gebe ein Essen in unserer Maisonette.«

Emily war noch nie einer Debütantin begegnet. Sie hatte etwas darüber in der Zeitung gelesen oder vielmehr überflogen, weil es sie nicht interessierte und nichts mit ihrem Leben zu tun hatte.

»Bist du auch Debütantin?«, fragte Annabel. Emily schüttelte ein wenig verlegen den Kopf. »Oh, das macht nichts«, sagte Annabel schnell. »Du kannst die ganzen Harvard-Knaben auch hier treffen, beim Höhepunkt der Einführungswoche, beim großen Erstsemester-Remmidemmi.«

»Erstsemester«, sagte Daphne. »Ich will keine Erstsemester kennenlernen.«

»Die Älteren kommen von ganz allein, wart’s nur ab«, prophezeite Annabel. »Sie hocken jetzt alle in ihren Wohnheimen und sind ganz wild darauf, das neue Gemüse zu begutachten. Das sind wir.«

Neues Gemüse, dachte Emily. Sie waren wie Blüten, die sich öffneten und darauf harrten, entdeckt und gepflückt zu werden. Alles war so romantisch, so irrsinnig aufregend und kurzlebig – wunderbare Collegezeit. Sie versuchte sich die Männer vorzustellen, wie sie in den Wohnheimen darauf brannten, ihr zu begegnen, sich zu verlieben. Wie schön war das Leben mit achtzehn, wenn da drüben eine ganze Welt von Männern hoffte, sie zu finden und selbst gefunden zu werden. Irgendwo war der Richtige, der, in den sie sich verlieben würde. Vor ihr lagen volle vier Jahre mit Partys und Tanzabenden, Vergnügungen, Football und Verabredungen, um ihn zu finden. SomedayI’llfind you, moonlight behind you … Es war genau wie auf der Platte, die Annabel so gern hörte.

Am nächsten Tag hatte Emily eine Besprechung mit ihrer Studienberaterin. Es war ein ziemlich langer Spaziergang bis zum Campus von Radcliffe, wo die Besprechung stattfand, und ein sehr langer bis zum Campus von Harvard, wo sie die meisten Fächer belegt hatte, und Emily stellte fest, dass sie viel auf den Beinen sein würde. Viele Mädchen schafften sich Fahrräder an, doch sie hatte Angst, seit sie als Kind einmal von einem heruntergefallen war. Außerdem war einem ständig der Rock im Weg. Es machte ihr nichts aus, zu Fuß zu gehen. Es gab so viel Neues zu sehen, und Cambridge war wirklich hübsch mit den Straßen aus Kopfsteinpflaster und den geschichtsträchtigen alten Häusern, die sich hinter Zäunen und Gärten versteckten. Auch der Radcliffe Yard – sie musste sich angewöhnen, »Yard« zu sagen und nicht »Campus« – hatte etwas Historisches. Emily sah im Geiste die ersten kühnen Frauen, die vor Jahren hier gelebt hatten, mit Hüten und langen Röcken, mit Armen voller Bücher und dem Drang nach höherer Bildung und all den Frauen verwehrten Dingen, dieselben Wege entlangspazieren, neben denselben gepflegten Rasen; sie sah sie in dieselben ehrwürdigen roten Ziegelbauten eintreten und in der Bibliothek zu denselben Büchern greifen. Damals hatten die Frauen wenig Wahl: Wer aufs College ging, wurde höchstwahrscheinlich nicht geheiratet, sondern eben eine Intellektuelle, ein Blaustrumpf. Heute dagegen wurde von Frauen sogar erwartet, dass sie aufs College gingen, sofern sie aufgenommen wurden. Für die Frauen heute in den Fünfzigerjahren war das Leben entschieden leichter.

Emilys Beraterin war eine attraktive Dame mittleren Alters namens Mrs Tweedy. »Setzen Sie sich, Emily«, sagte sie freundlich, während sie einen Aktenordner auf ihrem Schreibtisch durchblätterte. »Wie ich sehe, sind Sie mit einem ausgezeichneten Reifezeugnis zu uns gekommen. Haben Sie sich schon überlegt, welches Hauptfach Sie nehmen wollen?«

Emily holte tief Luft. »Ich möchte den Einführungskurs in Medizin belegen.«

»Medizin?« Mrs Tweedy machte ein überraschtes Gesicht.

»Ich möchte auf die medizinische Akademie. Ich habe mich schon immer für Medizin interessiert.«

»Aha, ja, mal sehen …« Eine neuerliche, aufreizend langsame Durchsicht des Aktenordners. »Sie möchten Ärztin werden?«

»Hm, ja.« Sie wusste nicht, warum sie sich auf einmal so dämlich vorkam. Wieso konnte sie denn nicht eine aufregende Karriere machen? Sie war achtzehn, und die Welt lag vor ihr.

»Sie hatten in der Highschool vier Jahre Mathematik, vier Jahre Biologie, aber keine Chemie. Sie hatten keine Chemie, Emily. Sie sind weit zurück.«

»Mir hat niemand gesagt, dass man Chemie nehmen muss.« Jetzt war sie richtig verlegen, als ob sie sich plötzlich als überkandidelte dumme Gans entpuppt hätte. »Kann ich das hier nicht nachholen?«

»Nun, ich denke, das ließe sich machen«, sagte Mrs Tweedy ohne Begeisterung. Sie sah mit einer Miene gequälter Geduld zu Emily auf. »Wer Arzt werden will, plant seine Laufbahn rechtzeitig, Emily. Sie haben sich nicht beraten lassen, haben keinerlei Pläne gemacht. Sie können nicht einfach so mir nichts, dir nichts beschließen, Ärztin zu werden.«

»Ich weiß …«

»Denken wir mal realistisch. Sie sollten hier Sozialkunde als Hauptfach nehmen. Sie können experimentelle Psychologie belegen, das wird Ihnen bestimmt Spaß machen. Sie werden die entsprechenden Kurse sehr interessant finden. Wenn Sie wollen, können Sie dann auf ein spezielles Institut gehen und später als Fürsorgerin arbeiten. Auf diese Weise können Sie ein ganz normales Leben führen und, wenn Sie möchten, eine Halbtagsbeschäftigung annehmen.«

Emily hatte gehört, was die Mädchen über Sozialkunde erzählten. Es galt als bequemes Hauptfach. Fürsorgerin, das war nichts Fesselndes oder Aufregendes. Das war nicht viel anders als das, was ihre Mutter in ihrer Freizeit tat – ehrenamtliche Aufgaben. Ihre Mutter hatte allerdings nur drei Jahre lang die Highschool besucht.

»Ich denke, Sozialkunde wird Ihnen gefallen, Emily.« Mrs Tweedy klappte den Aktenordner zu und klopfte darauf, als hätte sie soeben Emilys Leben in geordnete Bahnen gelenkt. Sie lächelte, und ihr Gesicht bekam diesen anmaßenden Ausdruck, den ältere Menschen immer zeigen, wenn sie einem klarmachen wollen, wie viel sie wissen und wie unwissend man selbst ist. »Wenn Sie sich so für Medizin interessieren, Emily, heiraten Sie einen Arzt. Sie werden hier eine Menge netter junger Männer kennenlernen, lauter angehende Ärzte. Die medizinische Fakultät von Harvard ist eine der besten im ganzen Land.«

Sie stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Sie schüttelten sich die Hände, und Emily war entlassen. Sie ging langsam über die Straßen mit dem Kopfsteinpflaster zu ihrem Wohnheim zurück und hatte nicht mehr das Gefühl, ein Teil der großen Geschichte intellektueller Frauen zu sein; sie kam sich vor wie ein Trottel. Da draußen war das Leben, und sie guckte von außen zu.

Heiraten Sie einen Arzt; machen Sie’s gut, Emily. Ihre Eltern wären bestimmt begeistert, und Mrs Tweedy hätte das Gefühl, innerhalb von fünf Minuten Emilys sämtliche Probleme gelöst zu haben. Sie könnte Arztgattin werden. Sie könnte ein trautes Heim versorgen, damit er in Ruhe seiner bedeutenden Arbeit nachgehen konnte. Sie könnte seine strahlende Kinderschar großziehen. Und sollte sie sich langweilen, dann konnte sie ja halbtags als Fürsorgerin arbeiten. Was war daran so schrecklich? Einen Arzt zu heiraten, das war doch immer zumindest die Hälfte ihres Wunschtraums gewesen.

Emily fühlte sich verwirrt und elend. Sie würde nie auf eigenen Füßen stehen. Sie würde nur wegen ihrer Beziehung zu jemand anders wichtig sein. Das war die Ehe: Man machte einen guten Fang. Und was war daran so schlimm? Sie wollte gar nicht mehr Ärztin werden. Chemie war langweilig. Sie hatte sich nicht einmal ernsthaft bemüht; wieso hatte sie dann dieses Gefühl, versagt zu haben? Sie hatte zu viel von sich verraten, sie hatte preisgegeben, dass sie eine dumme Gans war. Sie beschloss, nie wieder über ihre dämlichen, hochgestochenen Ziele zu sprechen.

Beim Mittagessen im Speisesaal des Wohnheims saß Emily neben Annabel und Daphne. Sie machten sie mit einem neuen Mädchen bekannt, Christine Spark, genannt Chris, die, wie sich herausstellte, das andere Zimmer neben Emily bewohnte. Chris, fand Emily erleichtert, war weder beängstigend hübsch noch vornehm. Sie war beruhigend adrett, still und unscheinbar, und ihre Kleider sahen aus wie eine Schuluniform, so als wollte sie sich unbemerkt durchs Leben schleichen. Emily erinnerte sich, dass sie Chris auf dem Bahnhof gesehen hatte. Chris’ Mutter war eindeutig betrunken gewesen. Das hatte auf Emily zunächst keinen besonderen Eindruck gemacht, weil sie so viel mit ihrem Gepäck zu tun hatte, und außerdem wusste jeder, dass die Gojim soffen wie die Löcher.

Beim kalten Büfett – Spargel auf durchgeweichtem Maisbrot, darüber eine klebrige weiße Soße; keine von ihnen mochte das essen – unterhielten sie sich über ihre Hauptfächer. Annabel wollte Englisch nehmen. Daphne nahm Kunst als Hauptfach, Chris mittelalterliche Geschichte. Als Emily erzählte, dass sie Sozialkunde als Hauptfach nahm, schien das keine von ihnen besonders schlimm zu finden. Sozialkunde und Englisch waren die beliebtesten Hauptfächer.

»Ist es nicht prima, dass wir alle jetzt schon unser Hauptfach wissen?«, sagte Daphne. »Das erspart viel Zeit. Da können wir uns jetzt in Ruhe auf die wichtigen Dinge konzentrieren, Männer zum Beispiel.« Sie lächelte, um zu zeigen, dass sie Spaß machte. Sie wussten alle, dass die Zeit in Radcliffe sehr schwer werden würde und dass sie hart arbeiten mussten.

»Lasst uns in den Ort gehen, Doughnuts kaufen«, schlug Annabel vor. Sie hatte das Essen nicht angerührt und schob ihren Teller zur Seite. »Ich sterbe vor Hunger.«

»Ich habe Obst bei mir im Zimmer«, bot Emily an.

»Oh fein«, sagte Chris. »Das macht nicht dick.«

»Du brauchst doch nicht zu fasten«, meinte Emily erstaunt. »Du bist doch so dünn.«

»Ja«, sagte Chris, »weil ich aufpasse.«

Die ist ja komisch, dachte Emily. Wenn man ihre glatten, glanzlosen, hinter die Ohren gesteckten Haare so ansah, das unscheinbare Gesicht und die Hornbrille mit den Fingerabdrücken auf den Gläsern, würde man überhaupt nicht auf die Idee kommen, dass sie sich irgend etwas aus ihrem Aussehen machte. Aber offenbar war es ihr nicht ganz gleichgültig. Vermutlich war niemand völlig unempfindlich gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft, nicht einmal Chris.

Am Ende der Einführungswoche fühlten sich alle Mädchen schon etwas heimischer und nicht mehr ängstlich. Sie hatten ihre Fächer belegt und herausgefunden, wie man zu den betreffenden Gebäuden gelangte, ohne sich zu verlaufen. Sie hatten ihre Bücher alle in einem Laden in Harvard gekauft, der Emily vorkam wie der größte Bücher- und Schreibwaren-Supermarkt, den sie je gesehen hatte. Der Laden lag am Harvard Square, gewissermaßen dem Einkaufszentrum, zu dessen einer Seite sich die Universität Harvard erstreckte, jene geheimnisvolle Stätte der Wissenschaft und der Männer. Sie war für die meisten Mädchen der vorherrschende Grund hierherzukommen.

Harvard! Zwar hatte Radcliffe auch einen erlesenen Ruf als beste der »Sieben Schwestern«, wie die sieben feinsten Colleges für Mädchen genannt wurden, trotzdem gab es eine Menge Leute, die noch nie davon gehört hatten. Aber wenn man sagte: »Es gehört zu Harvard«, wusste jeder Bescheid.

Emily, die früher nie viel Sinn für Schulsitten gehabt hatte, erstand einen rot-weißen Harvard-Wimpel und hängte ihn bei sich an die Wand. Alle hatten ihre Zimmer ausgestattet mit Bettüberwürfen, Lampen, Kissen, Teppichen und persönlichen Sachen, die sie teils von zu Hause mitgebracht, teils hier gekauft hatten. Daphne hatte sich kleine Reproduktionen von berühmten Gemälden und Drucken an die Wand geheftet. Annabels Zimmer behielt die Unordnung des ersten Tages bei, und weil sie nie ihr Bett machte, wusste niemand, ob sie auch eine Bettdecke gekauft hatte oder nicht. Chris war die einzige Neue auf ihrer Etage, die sich überhaupt nicht um die Einrichtung des Zimmers kümmerte, ihre einzige Erwerbung war eine Stehlampe. Ihr Zimmer sah aus wie eine Mönchszelle, und so gefiel es ihr.

Annabel hatte ein Exemplar des Harvard Freshmen Register in die Finger bekommen, das nicht nur von allen Jungen Fotos enthielt, sondern auch die Heimatanschrift sowie die Namen der Schulen, die sie vorher besucht hatten. Es war das meistgelesene Buch der ganzen Schule, und die Mädchen strömten in Annabels Zimmer ein und aus, um sich die Jungen auszusuchen, die sie kennenlernen wollten.

Die Mädchen des Wohnheims kannten sich inzwischen alle untereinander. Emily hatte noch ein paar Jüdinnen getroffen, mit denen sie sich gleich verstand. Daphne hatte noch ein paar Debütantinnen entdeckt. Aber da Emily, Annabel, Daphne und Chris sich gleich am Anfang kennengelernt hatten und ihre Zimmer nebeneinanderlagen, entwickelte sich unter ihnen ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie gewöhnten sich an, sich gemeinsam vor der Tür auf den Boden zu setzen und zu rauchen. Emily dachte daran, wie ihre Mutter staunen würde, wenn sie sie mit so ungewöhnlichen Freundinnen sähe.

Sie saßen zu viert zusammen, während die Rektorin ihre Rede an die Neuen hielt. »Schauen Sie sich das Mädchen zu Ihrer Rechten an«, sagte die Rektorin, »und das Mädchen zu Ihrer Linken.« Sie sahen sich alle gegenseitig an und lächelten. »Jede von Ihnen hat vor ihrer Abschlussklasse die Abschiedsrede gehalten«, sagte die Rektorin. »Hier wird der Wettbewerb ganz anders sein als in den Schulen, aus denen Sie kommen. Hier müssen Sie antreten gegen die besten Schülerinnen des Landes. Wir erwarten von Ihnen harte Arbeit.«

Stell dir vor, dachte Emily, dieser große Saal voll mit Klassenbesten. Wieder fühlte sie sich minderwertig. Annabels Vater war ein berühmter Herzchirurg und Chris’ Vater war Chemieprofessor an der Columbia University. Daphnes Vater war Seniorpartner im angesehensten Anwaltsbüro von New York, lauter WASPs. Ihr eigener Vater dagegen besaß eine Kette von Schuhgeschäften. Ihre Eltern waren nicht intellektuell. Alle diese Mädchen schienen aus Familien zu stammen, die seit Generationen Macht und Prestige besaßen. Sie hatten alle Privatschulen besucht. Emily fragte sich, ob sie mit ihnen Schritt halten konnte. Sie wollte es unbedingt schaffen.

»Bildung um der Bildung willen«, sagte die Rektorin gerade. »Um der Bereicherung willen, die Bildung Ihrem Leben schenken kann …«

Nicht um einer Karriere willen, das soll es heißen, dachte Emily. Um ein besserer Mensch, ein gebildeter Mensch zu werden. Jetzt schien alles einfach. Man musste sich nur stets bemühen, vollkommen zu sein. Die Kaschmir-Twinsets mussten farblich zu den Faltenröcken passen, Haare und Fingernägel mussten immer perfekt gepflegt sein, man hatte höflich, geistreich, verständnisvoll, interessiert zu sein. Und interessant. Gute Noten und eine gute Bildung waren nur ein Teil davon. Sie war froh, dass sie das jetzt begriffen hatte. Gute Bildung war nie umsonst.

2

Annabel schminkte sich für den Tanzabend, der den Höhepunkt der Einführungswoche bildete. Die Rituale des Zurechtmachens für einen Ball oder eine Party machten fast genausoviel Spaß wie das Ereignis selbst. Eine freudige Erwartung lag jedes Mal in der Luft, das Bewusstsein, heute Abend könnte alles Mögliche passieren … Sie hatte die zerkratzte kleine Badewanne geputzt, ein Schaumbad genommen und dabei ein wenig sehnsüchtig an die herrlich große Wanne daheim gedacht, in der sie die Beine ausstrecken konnte. Die frisch gewaschenen kastanienbraunen Haare glänzten. Sie hatte sich für ihr Lieblingskleid aus schwarzem Taft entschieden. Es lag auf dem Bett. Sie trug die zweite Schicht Wimperntusche auf, tupfte Arpège auf Hals und Handgelenke und die Falte, die ihr trägerloser BH formte. Auf dem Plattenspieler lag ein Stapel Platten von Noël Coward; sie summte die süßlichen Melodien mit und tanzte dazu im Zimmer herum; ein Glücksgefühl stieg in ihr hoch. Das College war fremd und neu und ein bisschen beängstigend, aber dieses Ritual zumindest war ihr vertraut.

Sie liebte Partys. In einem Raum voller Männer und Musik bekam sie immer so ein überströmendes, übermütiges Gefühl, eine verrückte Euphorie, die alles, was irgendwer sagte, komisch klingen ließ. Sie war unermüdlich, sie tanzte für ihr Leben gern. Sie wusste, dass auf dem Erstsemesterball kein Alkohol ausgeschenkt wurde, aber das machte nichts, sie brauchte keinen. Sobald sie durch die Tür treten würde, würde sie trunken sein vor Glück. Partys hatten immer so eine Wirkung auf sie, und sie hielt es für ihr Schicksal, ewige Debütantin zu sein, eine Südstaaten-Schönheit, auf Bälle zu gehen, zu flirten, von einem Mann in den Armen gehalten, herumgewirbelt und dem nächsten bereits wartenden Mann übergeben zu werden.

Sie fühlte sich auf Partys stets als Mittelpunkt. Sie wusste, dass sie schön war, sie bekam das seit Jahren gesagt. Doch das war nicht alles – sie übertrug ihre Erregung auch auf die anderen. Sie liebte die Männer.

Sie schlüpfte in ihr Kleid, hielt es mit einer Hand zusammen und ging so nach nebenan, um sich den Reißverschluss zuziehen zu lassen. Emily war nicht da, deshalb ging sie eine Tür weiter zu Chris. Chris saß im Schlafanzug im Bett und las.

»Ach, du meine Güte«, sagte Annabel. »Bist du krank?«

Chris blickte auf, ihre riesige Brille rutschte ihr von der Nase. »Nein«, sagte sie ruhig.

»Kannst du mir den Reißverschluss zumachen?« Chris tat ihr den Gefallen. »Warum machst du dich nicht fertig für den Ball?«

»Ich geh nicht hin«, sagte Chris.

»Warum nicht?«

»Ich hab keine Lust.«

Annabel setzte sich ans Fußende von Chris’ Bett. »Sei kein Frosch«, sagte sie. »Alle haben Angst. Die Männer sind noch viel nervöser als wir.«

»Ich hab keine Angst«, sagte Chris. »Ich mag einfach keine Partys.«

»Du magst keine Partys?« Sie konnte es nicht fassen. »Warum denn nicht?«

»Die Leute reden nur dummes Zeug. Du kannst doch nicht jemanden kennenlernen, indem du zwei Sekunden mit ihm tanzt. Wenn du auf einer Party mit einem redest, guckt er dir die ganze Zeit über die Schulter, ob er vielleicht eine Bessere findet. Wie der wohl den Unterschied merkt?«

»Ach, du brauchst dem bloß direkt in die Augen zu sehen, wie einer Schlange«, sagte Annabel. »So machen sie’s nämlich, wenn sie Schlangen beschwören.«

»Ich dachte, die spielen Flöte.«

»Ist doch egal.« Annabel sprang auf. »Los, komm, wir suchen ein Kleid für dich aus, und ich helfe dir beim Schminken, wenn du willst. Das mach ich wahnsinnig gern.«

Arme Chris, dachte sie, sie hat wohl Angst, Mauerblümchen zu sein, ich geh jede Wette ein, dass sie mal einer richtig gemein behandelt hat.

»Ich hab kein Partykleid hier«, sagte Chris schlicht.

Aha … das war es also. Chris war wirklich ein armes Ding. Annabel hatte bisher noch niemanden ohne Geld kennengelernt, mit Ausnahme von Dienstboten, und sie fühlte sich grässlich. Wie konnte sie Chris ein Kleid von sich leihen, ohne sie damit zu verletzen? Nun, sie würde es ihr einfach vorschlagen. Es war schließlich nichts dabei, sich Kleider auszuleihen. Das taten doch alle.

»Du wirst ja rot«, sagte Chris.

»Ist ja nicht wahr.«

»Hör mal, wenn ich ein Kleid für diesen Ringelpiez wollte, dann hätte ich eins mitgebracht. Ich hab aber keins mitgebracht, weil ich nicht die Absicht habe, auf Partys zu gehen.«

»Du bist ja nicht bei Trost«, sagte Annabel. »Absolutement folle. Du musst am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, das gehört zum College. Magst du Männer nicht?«

»Doch, ich hab bloß noch nie einen kennengelernt, den ich hätte ertragen können.«

»Du warst auf einer Mädchenschule, was kannst du da schon erwarten? Mir ging’s genauso. Aber wir hatten in Atlanta den Country Club, und alle Leute machten ’ne Menge Partys. Mit wie viel Collegeknaben bist du schon ausgegangen?«

»Mit gar keinem«, sagte Chris. »Mich hat nie einer gefragt.«

»Heute Abend werden sie dich fragen. Komm schon raus aus deinem Bett und mach dich nützlich.«

»Oh, Annabel …«

Annabel packte Chris am Handgelenk und zerrte sie aus dem Bett. Sie ließ sich bereitwillig ziehen, und Annabel war zufrieden.

»Hast du einen schwarzen Rock?« Schon wühlte sie in Chris’ aufgeräumtem Kleiderschrank. »Der hier ist genau richtig. Was hast du für oben rum?«

»Diese Bluse«, sagte Chris.

»Nein, die ist nicht sexy, ich leih dir eine von mir. Und du brauchst einen breiten Lackgürtel.«

»Ich hab keinen.«

»Aber ich.«

»Das ist furchtbar lieb von dir, Annabel.«

»Ich kann’s einfach nicht mit ansehen, wenn Potenzen brachliegen«, sagte Annabel.

Sie kamen fast als Letzte, aber es hatte sich gelohnt, dachte Annabel; Chris war völlig verwandelt. Annabel hatte sie sogar überredet, die Brille in ihrem Zimmer zu lassen. Die Turnhalle war gedrängt voll mit gut aussehenden Männern, und sie hatte recht gehabt: Es wimmelte von älteren Studenten. Sie waren leicht zu erkennen, denn sie wirkten nicht nur älter, sondern auch sehr viel selbstsicherer als die Harvard-Neulinge. Und da der Korea-Krieg inzwischen zu Ende war, gab es auch Kriegsheimkehrer, und sie waren die Spitzenreiter. Ein Orchester spielte. Annabel spürte, wie Wonne und Übermut in ihr hochstiegen, als ein gut aussehender Mann sie zum Tanzen aufforderte, kaum dass sie zur Tür hineingetreten war. Sie lächelte zu ihm hoch und registrierte mit einem Blick über ihre Schulter, dass auch Chris bereits aufgefordert war. Prima.

»Wie heißen Sie?«, fragte er.

»Annabel Jones. Und Sie?«

»Richard Caldwell.«

Himmel, wenn das nicht der bestaussehende Junge war, den sie je gesehen hatte! Groß, blond und sexy war er, mit einem klassischen Profil und einem herrlichen Kinn.

»Wo kommen Sie her?«, fragte er.

»Atlanta, Georgia. Und Sie?«

»New York.«

Sie hatten keine Zeit, mehr zu reden, weil ein kleiner, ulkig aussehender Junge sie abklatschte. »Charlie Bliss ist mein Name. Wer sind Sie?«

»Annabel Jones.«

»Ich spiele Eishockey.«

»Na so was!«

Sie nahm an, er hatte sich auf diese Weise die Ecken seiner beiden Schneidezähne ausgeschlagen. Er sah aus wie ein Vampir. Den zu küssen war das Letzte, was sie sich auf der Welt wünschte. Die Band leitete zu dem Song aus Moulin Rouge über, und der Kleine zog Annabel an sich und klemmte ihr den Kopf unter das Kinn. Annabel lächelte quer durch den Saal zu Richard Caldwell hinüber. Er durfte sie erst wieder abklatschen, nachdem ein dritter mit ihr getanzt hatte, so verlangte es die Regel.

Er zwinkerte ihr zu, und sie zog eine Grimasse. Dann klatschte Richard Caldwell Daphne ab, und der Mann, der mit Daphne getanzt hatte, klatschte Annabel ab.

Welche Erleichterung; der sah gut aus. Die Band spielte ausgerechnet Don’t Let the Stars Get in Your Eyes, und die beiden mussten herumhüpfen wie Idioten. Annabel musste über diese Ironie kichern. Doch er war der beste Tänzer, den sie je gehabt hatte, das merkte sie sofort.

»Ich bin Maxwell Harding der Dritte«, sagte er. »Meine Freunde nennen mich Max.«

»Ich bin Annabel Jones. Meine Freunde nennen mich Annabel.«

»Have you met Miss Jones …«, fing er gegen die Musik an zu singen.