Die Welt zum Zittern bringen, nur weil man da ist - Brinx/Kömmerling - E-Book

Die Welt zum Zittern bringen, nur weil man da ist E-Book

Brinx/Kömmerling

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Beschreibung

Fesselnd, mitreißend und emotional: ein Jugendroman mit Tiefgang über ein Mädchen, das sich der Vergangenheit stellen muss. 

Marie lebt in den Bäumen, will den Boden nicht berühren. In geschlossenen Räumen hält sie es nicht aus, darum ist sie aus jedem Heim, jeder Pflegefamilie abgehauen. Denn seit dem Tag, an dem ihr Stiefvater gestorben ist, ist da das Rot. Es brüllt, tobt und bedroht Marie, die sich nur in den Bäumen halbwegs sicher fühlt. Das Rot ist die schreckliche Wahrheit, der sich Marie nicht stellen kann. Doch so sehr Marie auch aneckt, sie ist nicht allein. Da ist Schlappe, die ihr Kuchen bringt, ihre Schwester Lisa, die Frau vom Jugendamt, die sich für sie einsetzt, und Jori, den Marie ganz nah an sich ranlässt. Kann sie sich schließlich dem Rot stellen?

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Das Buch

Marie lebt in den Bäumen, will den Boden nicht berühren. Denn seit dem Tag, an dem ihr Stiefvater gestorben ist, ist da das Rot. Es brüllt, tobt und bedroht Marie, die sich bloß in den Bäumen halbwegs sicher fühlt. Nur wenn Jori in der Nähe ist, ist es still. Ganz nah lässt sie den Jungen an sich ran und muss sich schließlich doch allein dem Rot stellen ...

Die Autoren

© Isabelle Grubert

Anja Kömmerling und Thomas Brinx erzählen Geschichten wie das Leben – mit Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen, gerne über Menschen, die anders sind und nicht ganz ins System passen. Bis heute in über 40 Büchern, Märchenfilmen, Krimis und Komödien für Kino und Fernsehen. Ihr Thienemann-Jugendbuch »Neumond« wurde mit der Segeberger Feder ausgezeichnet.

Mehr über Thomas Brinx & Anja Kömmerling: www.brinx-koemmerling.de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher und Autoren auf: www.thienemann-verlag.de

Thienemann auf Instagram: https://www.instagram.com/thienemannesslinger_booklove

Viel Spaß beim Lesen!

Brinx • Kömmerling

Die Welt zum Zittern bringen,nur weil manda ist

Thienemann

1

»Tanz, Marie, tanz, Marie, tanz durch die Nacht. Tanz, Marie, tanz, Marie, bis um halb acht. Wenn sie tanzen, tanzen kann, fängt das Fest der Farben an. Wenn sie tanzen, tanzen kann, fängt die Freude an …« Mama singt und schwingt den weiten Rock. Wie lange schon hat sie diese Kleider mit Blumen und Freude darauf nicht mehr getragen? Aber heute. Marie läuft strahlend neben ihr her, barfuß, denn die Schuhe halten sie in der Hand. Sie wirbeln Staub auf, sie lachen und ihre Lippen sind rot von Mamas Lippenstift. Vom Stadtfest klingt noch die Musik zu ihnen und Marie möchte den Geschmack der schokokandierten Erdbeeren für immer im Mund behalten. Nie mehr etwas anderes essen. Mama dreht sich im Kreis, und Marie sucht in ihrer kleinen Handtasche nach dem Schlüssel. Mamas Handtaschen sind weltberühmt. Jedenfalls für Marie. Der Griff aus einem Bambusstock, der Verschluss ein riesiger Knopf, der Henkel mal aus goldenen Ketten, mal Schlangenlederimitat. Mama besitzt Handtaschen, die es nur einmal gibt, und heute durfte Marie sie tragen.

»Tanz, Marie, tanz, Marie, tanz durch die Nacht. Tanz, Marie, tanz, Marie …!« Gerade erfühlt Marie den Schlüssel zwischen Lippenstiften, Geldstücken und Parfümproben, da hört Mama auf zu singen, bleibt stehen und packt Marie bei den Schultern.

»Das Leben ist schön, Marie!«

Na klar, Mama, natürlich, was hast du denn gedacht? Marie sprüht ihr aus einem der Fläschchen Duft auf den Körper. Jetzt riecht sie wie etwas anderes als vorher und Marie schnüffelt sie ab wie ein Hund, wer bist du, bist du noch Mama? Die muss lachen und fast klingt es wie früher, wie das Lachen, bevor das Verhängnis in ihr Leben kam und alles zwar nicht gut, aber die Freiheit größer war.

»Sollen wir in den Wald gehen? In den Wald rennen?«

Die Mutter überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf. Zaghaft, als wollte sie eigentlich nicken.

»Sicher ist sicher«, flüstert sie und schaut in Richtung Zuhause.

»Er kommt erst um sieben, frühestens, wir haben noch jede Menge Zeit. Komm, das ist unser Tag!«

Und Mama lässt sich überreden, weil sie sich fühlt wie früher, weil sie überhaupt mal wieder etwas fühlt. Sie rennen durch den Wald, ohne Schuhe, ohne Ziel und landen bei dem alten Ahorn. Dem Wappenbaum. Der nimmt sie mit offenen Armen auf, sie liegen unter ihm und finden Figuren in den Wolken. Wenn Marie einen Drachen sieht, dann sieht Mama ihn auch, sie sieht einen buckligen Zwerg, natürlich, ja, da ist er.

Es ist still, die Stille, wenn nur der Wald lebt.

Marie kletterte durch die Bäume. Von Ast zu Ast, dann einen Baum weiter, ein kleiner Sprung zum nächsten. Sie kannte sie alle, jeden Weg durch ihre Zweige und duftenden Stämme, nur das Rascheln der Blätter war zu hören.

Aber die hatten sich verfärbt. Das saftige Grün war langsam in gelb, rot und braun übergegangen und in den Nächten wurde es schneller kalt. Sie wusste, demnächst würde sie Schuhe anziehen müssen, ihre Füße einsperren und das Klettern neu üben. Die Gute hatte ihr einen Schlafsack mitgebracht. Der würde Marie im Heimatbaum vor der Kälte schützen. Als sie ihn erreichte, legte sie ihre Hand an seinen Stamm zur Begrüßung. »Hallo Baum!« Er antwortete freundlich. Marie ließ sich in ihrem Nest nieder, der Mulde, die drei Äste bildeten, und knetete ihre Füße. Sie sollten warm werden. Von selbst, ohne Schuhe. Sie dachte, Schuhe wären für ihre Füße wie Wände für sie selbst. Und Wände konnte Marie nicht ertragen. Keine Wände, keinen Boden. Keine Begrenzungen. Sie hatte es ja versucht, nach dem einen Tag, als das Verhängnis sein Leben verlor.

Die Karierte hatte Marie aus dem Haus geführt und seitdem war sie nicht mehr hineingegangen. Niemand. Es war ein Mörderhaus, ein Haus voller Unglück, ein Haus, das jeden in die Tiefe zog. Zu so einem Haus war es geworden, an diesem einen Tag. Manchmal kletterte Marie über die Bäume den Hügel hinab, um es von Weitem zu betrachten. Vielleicht auch, um sich zu erinnern, was es für ein Haus gewesen war, als das Verhängnis noch nicht darin lebte, nur Marie, die Mutter und ihre ältere Schwester. Die so schreckliche Gruselgeschichten erzählen konnte, dass die damals kleine Marie nie mehr unter der Bettdecke hervorkriechen wollte. Die sie vor den anderen beschützen konnte, den Schweigerzwillingen zum Beispiel, der Lehrerin, die Marie nicht verstand, auch vor Blitzen, wenn sie zu schnell hintereinanderfolgten und man nicht mal anfangen konnte, bis zum Donner zu zählen.

Nicht vor dem Verhängnis. Gegen das Verhängnis hatte keiner eine Chance und die Schwester war einfach gegangen. Vor dem einen Tag.

Die Karierte bemühte sich wirklich einen Platz für Marie zu finden. Etwas, wo sie wohnen konnte, wo jemand auf sie aufpasste, einen sicheren Ort. Aber Marie konnte die Wände nicht aushalten. Weder bei der Pflegefamilie eins, noch im Heim, noch bei Pflegefamilie zwei, drei und vier. Sie ertrug es nicht, die Wände bedrohten sie, sperrten sie ein und wenn das Rot kam, gab es keinen Weg zu fliehen. Marie konnte nur weglaufen, konnte es nicht erklären, als ob man über das Rot sprechen durfte, tu das nicht, sprich niemals über das Rot.

Die Karierte wurde ungeduldig und Marie immer wieder von der Polizei eingefangen.

»Was soll ich denn mit dir machen, Marie? Hm? Wie stellst du dir das vor? Was willst du denn? Du bist gerade erst 15 Jahre alt und kannst nicht alleine irgendwo leben.«

Pflegefamilie fünf. Sie war nett, die fünfte, sie gab sich Mühe. Marie durfte draußen schlafen und als es regnete, bekam sie ein Zelt. Als ob das Rot nicht in Zelte käme! Als ob Zelte keine Wände hätten! Als würden sie nicht auf dem Boden stehen! Ungeschützt. Marie blieb draußen, wurde nass und krank. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, ihrem fliegenden Rock, den Handtaschen, ihren Liedern und dem Lachen. Mit dem Lachen hatte sie alle verzaubern können. Simsalabim, verzauberlacht.

Auch das Verhängnis. Und dann bald niemanden mehr. Sie hatte nichts mehr zu lachen gehabt.

Maries Füße fühlten sich jetzt warm an. In den Zehen kribbelte es ein bisschen, wie es kribbelt, wenn Wärme auf Kälte trifft.

Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung. Sie war klein und flüchtig, und Marie wusste, es konnte nicht das Rot sein, das war niemals klein und machte immer Geräusche. Eichhorn war leise und schnell. Stets auf der Hut. Wie Marie. Es wollte nicht zu ihr kommen, viel zu gefährlich, aber es war neugierig, viel zu neugierig für sich selbst. Seit dem Frühling waren sie ein wenig vertrauter miteinander geworden und Marie hatte gelernt, wie sie Eichhorns Neugier ausnutzen konnte. Ausnutzen für Nähe, für eine flüchtige weiche Berührung an ihrem nackten Bein, für ein kleines, flüsterndes Gespräch zwischen Freunden.

Nicht in die Augen gucken! Fressbares unauffällig herumliegen lassen! So tun, als wäre sie nicht da oder zumindest bewegungsunfähig! Eichhorn setzte sich in einiger Entfernung auf, schaute Marie aus den schwarzen Kugeln an, die seine Augen waren, und wackelte mit der Nase beim aufgeregten Atmen.

»Hallo, Eichhorn, wie geht es dir heute?«

Eichhorn konnte nicht klagen.

»Hast du genug Proviant für den Winter gesammelt?«

Eichhorn hatte noch jede Menge zu tun.

»Ich frage die Gute, vielleicht kann sie das nächste Mal was für dich mitbringen.«

Eichhorn war einverstanden und sprang davon. Er war ein Freund, wie einige wenige, die auf Maries Seite standen. So wie die Gute.

Bei der Fünften lag Marie krank im Bett und fieberte nach ihrer Mutter, nach früher. Das Bett stand zwischen Wänden auf dem Boden, das Rot nutzte das aus. Auch wenn Marie es nicht sah, hörte sie es grollen, konnte sie fühlen, wie es sich zusammenbraute. Sie wollte es ja schaffen, sie wollte die fünfte Mutter nicht verletzen, die alles tat, damit Marie wieder gesund wurde, deren Nähe sie aber kaum ertragen konnte.

In der Nacht lief sie davon. Mit dem, was sie anhatte, und mit der großen Handtasche von Mama, deren Schnallen aussahen wie Elefantenköpfe, der Henkel eine gelbe, mittlerweile ausgefranste Kordel und nichts Rotes dran. Sie lief die große Straße entlang Richtung der kleinen Stadt auf dem Hügel, in der sie aufgewachsen war.

Sicher, die Polizei und die Karierte würden müde lächeln, sie vielleicht für ein bisschen dumm halten und genau dort wiederfinden. Denn Marie lief immer nach Hause zurück. Wohin auch sonst? Nicht zu dem Haus, nein, da nicht hin, aber in die Bushaltestelle, die war wenigstens nach vorne offen, auf den Schrottplatz oder eine Laube in irgendeinem Garten von irgendjemandem. Sie lief die ganze Nacht und schon von Weitem konnte sie diesen Hügel sehen mit den dunklen, verschlafenen Einfamilienhäusern und den vielen Bäumen, die die ganze kleine Stadt durchzogen. Darauf waren sie stolz. Die Stadt der Bäume. Radfahrer machten extra ihre Tour dorthin, aaah, die Stadt der Bäume, es gab einen Baumbeauftragten, der sich um alles kümmerte, und natürlich war es ein Baum, der im Stadtwappen zu sehen war. Der Ahorn.

Marie konnte ihn perfekt zeichnen und hatte in der Schule viel Lob für ihr Talent geerntet. Immer hatte sie sich gefragt, welcher der vielen Ahornbäume die Ehre gehabt hatte, im Wappen verewigt worden zu sein, und sie glaubte nach langer Suche mit der Mutter, die Antwort gefunden zu haben. Den größten Ahorn mit dicken Ästen hoch hinaus und weit verzweigt. Er stand etwas am Rand, abseits, am Beginn des echten Waldes, direkt nach dem Hügel. Zu diesem Baum lief sie in dieser Nacht. Er war ihr eingefallen, als hätte er ihr gewunken, und sie ärgerte sich ein bisschen, erst so spät hingeschaut zu haben. Sie stellte vorsichtig die Elefantentasche ab und legte ihre Hände auf den Stamm, die Rinde, die ihr beinahe warm vorkam, aber das war vielleicht nur Einbildung. Sie bat ihn um Erlaubnis, auf ihm wohnen zu dürfen, als letzter und optimaler Lebensort für sie, und er erteilte ihr diese in seiner ganzen, alten Baumgüte.

Es war nicht einfach, Heimatbaum, der er werden sollte, zu erklimmen, die ersten Äste begannen viel zu weit oben.

Doch Marie war eine der besten Turnerinnen in ihrer Altersgruppe gewesen. Bevor das Verhängnis gekommen war und derartige Hobbys für unnötig erklärt hatte. Sie konnte und sie wollte. Mit aller Kraft, die Handtasche eng am Körper, zog sie sich auf den ersten Ast und kletterte dann höher und höher, benutzte Äste, Zweige, Gabelungen, bis sie zu dieser breiten Mulde gelangte, die sich wie von selbst aus drei dicken Ästen gebildet hatte. In dieser Mulde konnte man bequem sitzen. Man war von allen Seiten geschützt und konnte nicht fallen. Auch nicht, wenn man einschlief.

»Danke«, flüsterte Marie, kauerte sich in die warme Baumkuhle und schaute durch das grüne Blätterdach in die Sterne.

Seit dieser Nacht war sie nicht mehr heruntergekommen. Ihre Füße hatten den Boden nicht mehr berührt.

Und das verdankte Marie der Guten. Denn natürlich wurde es nicht geduldet, dass plötzlich ein 15-jähriges Mädchen in den Bäumen der Stadt der Bäume lebte. Da hatten viele was dagegen, schließlich war es absonderlich und auch sicher nicht erlaubt. Die Polizei war angerückt und hatte Marie aufgefordert sofort da runterzukommen. Viele Bürger der Stadt versammelten sich trotz des strömenden Regens unter Heimatbaum, um dem Spektakel beizuwohnen, ihre Meinung kundzutun und auf jeden Fall nichts zu verpassen.

»So ein Mädchen gehört doch noch zu seinen Eltern!«

»Ich habe gehört, sie hat keine.«

»Aber die muss doch in die Schule gehen!«

»Und was soll sie essen?«

»Irgendwann wird es ja auch mal Winter, also bitte schön, und was sollen die Touristen davon halten?«

»Da muss sich das Jugendamt kümmern!«

Und das tauchte dann natürlich auch in Form von der hektischen Karierten unter einem riesigen Regenschirm auf. Sie jammerte und zeterte und redete auf Marie ein.

»Willst du denn wirklich, dass wir die Feuerwehr holen und dich da mit Gewalt runterholen?«

Marie antwortete nicht. Sie hatte einen Ort gefunden, an dem sie es aushalten konnte zu leben, und den würde sie um keinen Preis der Welt mehr verlassen. Saß triefend nass in ihrer Mulde, klammerte sich an den dicken Ast von Heimatbaum und sagte nichts. Neben der Karierten, die jetzt aufgeregt mit dem Polizisten diskutierte, stand eine wesentlich jüngere, kleine Frau. Sie versank in einem viel zu großen, neonfarbenen Regenponcho und hielt in der Hand den hochhackigen Schuh, von dem auf dem unebenen, matschigen Waldboden der Absatz abgebrochen war. Sie humpelte auf Heimatbaum zu und hielt den Schuh hoch.

»Der hat 150 Euro gekostet. Also nur der, der andere auch noch mal, aber den kann ich ja jetzt nicht mehr gebrauchen!« Eine zornige Falte war zwischen ihren hellblauen Augen aufgetaucht und sie blitzten zu Marie hinauf. Die antwortete nicht. Nicht, weil sie nicht wollte in diesem Fall, es fiel ihr nichts Passendes ein. Sollte sie sich vielleicht entschuldigen? Die kleine Frau bedauern? Oder den Schuh? Marie schaute weg. Vielleicht sollte man auch einfach nicht mit solchen Schuhen in den Wald gehen. Oder brauchte die kleine Frau die, um größer zu sein?

»Nun, ziemlich aussichtslos, was du da machst«, redete sie weiter, »die Feuerwehr kommt, sie holen dich runter und alles geht wieder von vorne los.«

»Ziemlich aussichtslos, was Sie machen«, sagte Marie. Sie war vielleicht erst fünfzehn. Oder schon? Alt genug zumindest, um zu wissen, was sie tat. Die wussten es nicht.

Die Frau antwortete nicht, und als Marie nach unten schaute, hatte sie den Regenponcho ausgezogen und hielt ihn ihr hin.

»Nimm. So was braucht man, wenn man in den Bäumen wohnt.« Marie folgte und fand die kleine Frau nett. »Aber wir sollten dir einen anderen Ort suchen, wo du draußen leben kannst.«

»Warum? Dieser Ort ist gut.«

»Dieser Ort ist wie jeder andere. Und nur auf den Bäumen, ich meine …«

»Hier ist mein Zuhause.«

Die Karierte ließ den Polizisten stehen, mit dem sie hin und her diskutiert hatte, und kam dazu. »Kommst du jetzt runter?«

»Nein.«

Seufzend gab sie dem Polizisten ein Zeichen, er zog sein Handy aus der Hose und tippte eine Nummer ein.

»Warten Sie«, rief die kleine Frau ohne Absatz ihm zu, »einen Moment noch!« Sie wandte sich an die Karierte, zog sie ein Stück weg und fand so unauffällig einen Platz unter ihrem Schirm. »Vielleicht könnte Marie ja auch hierbleiben. Nur für eine Weile.«

Die Karierte runzelte die Stirn. »Das ist nicht zu verantworten. Da gibt es genaue Vorschriften, die Sie vielleicht an der Uni noch nicht durchgenommen haben, Elena. Was, wenn ihr etwas passiert oder sie krank wird? Letztendlich muss sie ja auch mal wieder in die Schule. Wir sind zuständig und wir stehen in der Zeitung, wenn das schiefgeht.«

Die kleine Frau nickte und ihre blonden Haare kräuselten sich wegen des Regens. Durch den Schlitz, den die Kapuze des Ponchos ihr ließ, sah Marie, wie die Locken wippten, wenn sie redete.

»Nun, das weiß ich, und Sie haben sicher recht. Also, natürlich haben Sie recht, Sie machen das ja auch schon sehr lange. Ich bewundere Sie für Ihre Geduld, ich meine, das ist ja irgendwie total aussichtslos. Wenn wir sie jetzt runterholen, was unter den gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit zu sein scheint, was dann? Das geht ja immer so weiter.« Nachdenklich schaute sie zu Marie hoch, und die zog sich schnell die Kapuze über die Augen. »Vielleicht muss sie einfach mal zur Ruhe kommen.«

Die Karierte schüttelte unwillig den Kopf. »Das kann ja sein, hilft uns aber nicht. Und wie soll das gehen? Ich kann ja nicht dauernd hier rausfahren und nach dem Rechten sehen. Sie kriegen das ja wohl mit, was zurzeit los ist. Und dann noch der Umzug mit dem Büro …«

»Ich könnte das übernehmen.«

Marie lehnte unter dem Poncho oben am Schutzast von Heimatbaum. Sie hörte sehr genau zu und beschloss in diesem Moment, dass die Frau ohne Absatz die Gute heißen würde.

Seit dem einen Tag, als alles anders wurde und das Rot entstanden war, konnte Marie nichts und niemanden mehr beim Namen nennen. Das ging zu weit und ihr viel zu nah. Wenn jemand keinen Namen hat, bleibt er automatisch auf Distanz, man kennt ihn nicht wirklich und lässt ihn auch nicht an sich heran. Jemand war jemand.

Die Frau ohne Absatz war die Gute und bekam gerade einen sehr missmutigen Blick von der Karierten geschenkt.

»Sie sind ja noch nicht mal mit der Ausbildung fertig. Sie können das nicht einfach so übernehmen.«

Die Gute nickte zustimmend und Marie musste grinsen, weil das Nicken überhaupt nicht zu dem passte, was sie sagte. »Nun, rein rechtlich geht das, haben wir gerade durchgenommen.« Die Gute lächelte freundlich. »Natürlich weiß ich, dass Sie letztendlich die Verantwortung tragen würden, aber ich versichere Ihnen, dass nichts passieren wird. Ich habe das Gefühl, es könnte dem Mädchen helfen.«

Die Karierte schaute die Gute mit gerunzelter Stirn an, dann zu Marie hoch. »Gefühl, Gefühl. Für unseren Beruf nicht gerade der beste Ratgeber.«

»Ich möchte Sie einfach nur ein wenig entlasten. Und immerhin, wenn es gut geht, werden Sie vielleicht auch in der Zeitung stehen!«

Die Karierte schnaubte beim Überlegen, dann gab sie sich einen Ruck. »Wenn es schlecht ausgeht, sind Sie raus, das versichere ICH Ihnen.« Drehte sich um mit ihrem Schirm und ließ die Gute im Regen stehen. Kaum war sie außer Sichtweite, tief im Gespräch mit der Polizei, wandte sich die Gute zu Marie, ballte die Faust und übernahm die Verantwortung. Es gab einen Deal. Sie würde einmal die Woche zu ihr rauskommen und nach dem Rechten sehen, auch reden. »Du klaust nicht, du gehst den Leuten nicht auf die Nerven. Wenn du etwas brauchst, wendest du dich an mich.« Jeden Montag stöckelte die Gute mit ihren hohen Schuhen zu Heimatbaum, Marie konnte sie von Weitem fluchen hören.

Sie brachte ihr den Schlafsack und ein Kissen und einen riesigen Regenschirm und Marie baute sich ein geschütztes Nest in der Mulde. Ihr Nest. Ihr Zuhause.

Das Knattern eines Motorrades riss Marie aus ihrer Ruhe. Die Schweigerzwillinge, die auf ihrer alten Schepperkiste gelegentlich durch den Wald bretterten und die Ruhe störten, ohne es auch nur zu merken. Wie ihr Vater, der Jäger. Laut, anwesend und ohne Rücksicht auf Verluste. Wir sind die Schweigers, wir sind da!

»Hey, Tree-Marie!«

Tim und Tom, mit ihnen war Marie noch in die Schule gegangen und schon damals hatte sie sie unerträglich gefunden. Sie hielten zu viel von sich selbst und bildeten sich tatsächlich ein, kein Mensch könnte sie auseinanderhalten. Dabei wusste Marie sofort, dass es Tim war, der sie besonders auf dem Kieker hatte. Sie lief nicht wie die anderen in seinem Schatten, sagte nicht, was er sagte, und kam nicht auf seine Partys, obwohl sie immer eingeladen war. Die Zwillinge nervten sie und das nervte die Zwillinge.

Marie ging hinter dem Stamm von Heimatbaum in Deckung. Sie hielten unten und bliesen laut stinkende Abgase in den Wald.

»Was machste eigentlich, wenn’s jetzt kalt wird, Tree-Marie?« Zwilling eins, wie Tim jetzt nur noch hieß, denn wenn einer aus Maries Sicht keinen Namen verdient hatte, dann er. Allzeit der Boss, Zwilling zwei segelte in seinem Windschatten. Von hier bückte er sich jetzt und schleuderte eine Kastanie Richtung Marie. »Ja, was machste dann?«

Ging die nichts an, nicht ihr Problem, nicht wert zu antworten.

Die Kastanie traf eine ihrer Scherben und brachte den Schmuck von Heimatbaum zum Klingen. Marie sammelte ihn im Wald und hängte ihn an Schnüren auf. Scherben, die in der Sonne glitzerten und messerscharfe Strahlen aussenden konnten. Getrocknete Hagebutten an Zweigen, Blechdosen, bunte Papiere, Fähnchen im Wind dienten nicht nur als Schmuck, sondern auch als Abwehr gegen das Rot. Marie bildete sich ein, dass sie es so zumindest eine Zeit lang in Schach halten und die Flucht ergreifen konnte. Dass sie gewarnt würde. Dass es zurückschreckte vor der Schmuckabwehr.

»Wenn sie erst mal zu Eis gefroren ist, zerspringt sie in tausend Teile!« Die Zwillinge gackerten los und Marie wünschte sich ganz tief, dass sie einfach verschwanden, denn es half nichts mehr, ruhig ein- und auszuatmen. Diese Typen machten sie wütend und sie konnte nicht verstehen, was sie antrieb. Es brachte ihnen nichts, auf ihr herumzuhacken und ihr stahl es die Ruhe und geliebte Einsamkeit. Aber sie konnten es nicht lassen, wie die späte Rache für die Marie von früher.

Das Rot grollte. Noch war es nicht zu sehen, nur zu hören, die Wut in ihr wuchs und explodierte, als die nächste Kastanie in den Scherben landete.

»Verpisst euch!«

Sie lachten und Zwilling eins drehte am Gasgriff, ließ die Maschine aufheulen.

»Verpisst euch, verpisst euch«, äffte er sie nach, »und weißte was, das machen wir jetzt auch. Du bist nämlich einen Arsch voll langweilig.« Er löste die Bremse, sodass der weiche Waldboden durch die Gegend spritzte und das Motorrad vorne aufstieg. Marie schloss im Schutz des Stammes die Augen. Nicht das Rot hören, nicht noch wütender werden, nicht das Rot hören, nicht noch wütender werden, nicht das Rot hören, nicht …!

»Bis nächstes Mal, Tree-Marie, zieh dich warm an!«

Ein Montag. Die Gute setzte sich an Heimatbaum, zog ihre Schuhe aus und wackelte mit den lackierten Zehen.

»Warum ziehen Sie keine anderen Schuhe an?«, hätte Marie sie fragen können, aber sie hatte es sich abgewöhnt, sich in die Angelegenheiten der anderen zu mischen. Marie stellte keine Fragen, in der Hoffnung, dann auch keine gestellt zu bekommen.

»Nun, wie ist es dir ergangen diese Woche? Gibt es etwas Neues?« Irgendwann vielleicht, irgendwann keine Fragen mehr. Marie zeichnete sich so oder so nicht gerade durch Gesprächigkeit aus. Hatte sie früher, vor dem Tag, unentwegt geredet, bis die Mutter lachend Pause gerufen hatte oder die Schwester sich schreiend die Ohren zuhielt, so hatte es ihr seitdem die Sprache verschlagen. Reden half nicht. Die meisten verstanden nur, was sie wollten, drehten sich die Worte der anderen so, bis es für sie selbst Sinn und Zweck ergab. Und wenn das nicht gelang, widersprachen sie und dann hatten nur ihre Worte Gültigkeit. Die Karierte war perfekt darin gewesen, aber die Gute gab sich Mühe, und so berichtete Marie ihr von ihren Erfolgen. Sie hatte einen Weg durch die Bäume gefunden, der fast bis nach Hause führte. Das Seil mit dem Enterhaken daran, das sie ihr gebracht hatte, half ihr dabei, größere Abstände zu überwinden. Jetzt konnte sie das Haus im Blick halten. Ein Fensterladen hing schief und der Garten war restlos verwildert. Die Farbe wellte sich in Teilen und auf dem kiesigen Weg lagen die ersten Blätter, Beweise des Herbstes.

»Der Garten ist deiner Mutter sehr wichtig gewesen«, meinte die Gute, »ich habe Bilder gesehen, der sah wirklich toll aus.«

Darauf antwortete Marie nicht. Was auch? Die Gute wusste es ja eh schon. Stunden hatte ihre Mutter hier verbracht, vor allem nachdem das Verhängnis ihr verboten hatte, in der Tankstelle zu arbeiten. Sie sollte schön zu Hause bleiben, nicht die Männer anlachen mit ihrem Lachen, nicht eine ihrer Handtaschen nehmen und mit wehendem Rock auf dem Fahrrad durch die kleine Stadt fahren. Sie gehörte ihm allein. Marie hatte ihr oft geholfen, mit der Gießkanne oder ihr Flickflacks auf dem Kiesweg vorgeführt, um sie aufzuheitern. Das Verhängnis war tagsüber in der Arbeit und die Mutter konnte wenigstens lächeln.

Die Gute schaute nach oben zu Marie und sah ihre glitzernden Schätze in den Bäumen hängen. Damals waren es noch lange nicht so viele.

»Schön hast du es dir gemacht!«

Einmal hatte sie einen Zeichenblock und eine Schachtel Buntstifte mitgebracht. Natürlich wusste Marie, was sie damit wollte. Anhand der Zeichnungen in Marie hineinschauen, sie verstehen. Die Gute wollte sie letztendlich aus den Bäumen holen, musste sogar. Nach jedem Besuch mahnte die Karierte das wieder an. »Das kann kein Dauerzustand sein, das wissen Sie!«

Irgendwie gelang es ihr immer, noch mehr Zeit für Marie herauszuschlagen, aber jetzt kam der Herbst, dann der Winter, es würde nicht einfacher werden.

Marie zeichnete, was ihr einfiel oder was sie sah. Den Baum, Tiere, die Füße der Guten zum Beispiel. Oder sie schrieb Sätze wie »Heute war Schlappe da und hat Kuchen gebracht. Die Sonne war schon auf dem Weg hinter den Wald.«

Schlappe war eine dickliche Frau mit wenigen Haaren und riesigen Schlappen an den geschwollenen Füßen. Die Riemen lagen so tief ins Fleisch gegraben, dass man sie kaum sehen konnte. Wenn man wollte, glaubte man, dass Schlappe nur klatschende Sohlen unter den Füßen trug, die wie von selber hielten. Sie kam manchmal und brachte Marie etwas zu essen, war eben nicht eine von denen, die es per se störte, dass da ein Mädchen in den Bäumen wohnte. Vielleicht weil sie früher, bevor sie Schlappe wurde, in der Anstalt gearbeitet hatte. Sie wusste, wie man mit Irren umgeht, und Marie wusste nicht, warum ausgerechnet Schlappe nicht mehr dort war. Sie war nett zu den Andersartigen.

Sie aßen zusammen, Marie oben, Schlappe unten, zum Beispiel den Kuchen.