Wanda – Hüte dich vor der Nacht - Brinx/Kömmerling - E-Book

Wanda – Hüte dich vor der Nacht E-Book

Brinx/Kömmerling

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Beschreibung

Wanda hat das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Plötzlich ist es da und lässt sie nicht mehr los. Schaut da jemand durchs Fenster? War das der Wind, der das Glockenspiel auf der Terrasse bewegte? Oder war es derjenige, der in riesigen Lettern das Wort "Rache" an die Kaimauer gesprüht hat? Gerade jetzt ist ihr Vater, ein Kunstprofessor, auf Geschäftsreise und sie ist allein auf dem Hausboot. Immer, wenn es Nacht wird, kommt die Angst. Als jemand einbricht und Wanda niederschlägt, findet sie einen Hinweis. Und ihr wird klar, dass der Täter gefährlicher ist, als sie dachte ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Buchinfo:

Wanda hat das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden. Plötzlich ist es da und lässt sie nicht mehr los. Schaut da jemand durchs Fenster? War das der Wind, der das Glockenspiel auf der Terrasse zum Klingen brachte? Oder war es derjenige, der in riesigen Lettern das Wort »Rache« an die Kaimauer gesprüht hat? Immer wenn es Nacht wird, kommt die Angst …

Mit Zusatzmaterial via QR-Codes!

Und so funktioniert’s: Das Handy über den QR-Codes im Buch positionieren, scannen und schon öffnet sich im Display die verlinkte Seite.

Alle Texte, Bilder und Sounds sind jedoch auch unter www.planet-girl-verlag.de/wanda-QR abrufbar.

Autorenvita:

© Sven Heubes

Thomas Brinx und Anja Kömmerling schreiben seit 25 Jahren zusammen. Sie leben mit Kind und Kegel, Hund und Katz und Mann und Maus in Düsseldorf und Bonn. Unter der Woche treffen sie sich, um sich neue Geschichten auszudenken, am Wochenende finden sie die Ideen dazu, wenn sie den Worten und Bedürfnissen der eigenen Kinder lauschen. »Wanda – Hüte dich vor der Nacht« ist ihr erster Thriller.

www.brinx-koemmerling.de

In der Nacht kann man besser hören. Es gibt kaum laute Geräusche von außen, niemand mäht Rasen, die Flugzeuge starten und landen nicht, die meisten Autofahrer haben etwas anderes zu tun, als ihren Motor laufen zu lassen. In der Nacht ist es leichter, nicht gesehen als nicht gehört zu werden.

Wanda schreckte hoch. Was war das? Barras kratzte an ihrer Tür. Der Hund war unruhig und wollte hinaus. Das kam äußerst selten vor mitten in der Nacht.

»Mmmh, echt, Barras?«, stöhnte Wanda.

Er kratzte weiter.

»Warte, ich komme!« Wanda kletterte aus ihrem Bett. Der Fußboden war kalt. Sie rollte die Zehen ein und zog eine Strickjacke über ihr weißes Nachthemd. »Komm, Süßer!« Leise öffnete sie die Tür und hörte ein schepperndes Geräusch von draußen. Ein Scheppern, das irgendwie nicht zu Ende klingen konnte, das mittendrin unterbrochen wurde. Wanda versuchte die Ziffern ihrer Uhr zu erkennen, aber es war zu dunkel. Barras drängte sich an ihr vorbei und fegte die steile Treppe hinunter. Ein rascher Seitenblick brachte Wanda zu der Erkenntnis, dass ihr Vater noch nicht da war. Seine Zimmertür stand offen. Sie lauschte nach draußen, hörte aber nichts mehr, außer das friedliche Gebimmel der Glockenspiele, die sie an Deck aufgehängt hatte. Wanda folgte Barras, schnappte sich eine Taschenlampe und öffnete die Tür des Schiffes, auf dem sie seit drei Monaten lebten. Barras rührte sich nicht und starrte in Habtachtstellung nach draußen. Jeder andere Hund hätte angeschlagen, aber Barras konnte nicht bellen. Er hatte es bisher zumindest noch nie getan.

»Was ist?«, flüsterte Wanda und knipste die Taschenlampe an. In diesem Moment raste Barras los, das riesige Tier setzte sich in Bewegung, und auch wenn er nicht bellte, so wollte sicher doch niemand der Grund für seinen Blitzstart sein.

Ein Schatten huschte aus dem Lichtkegel und verschwand über die Kaimauer, Barras sprang wie ein Wahnsinniger an dem verschlossenen Tor hoch und hätte den Schatten zu gerne gejagt.

»Hey!« Wandas Ruf schallte durch die dunkle Nacht, die ihren Lichtkegel viel zu schnell verschluckte. Sie führte ihn zurück zur Mauer, auf die in großen, roten Buchstaben Rache gesprayt worden war. Wanda starrte die noch frisch glänzenden Buchstaben an. Rache! An wem? Für was? Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken und leise pfiff sie nach Barras, der sich überhaupt nicht beruhigen wollte.

»Komm rein, den erwischen wir eh nicht mehr!« Sie machte die Taschenlampe aus und ging mit ihrem Hund zurück ins schützende Schiff.

Das Bett, in dem sie eben noch sorglos geschlafen hatte, war warm, sie zog sich die Decke bis zur Nasenspitze hoch und schloss die Augen. Rache blitzte es. Wanda öffnete die Augen wieder und lauschte, aber draußen blieb alles still. Sie wünschte, ihr Vater wäre da, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. Barras hatte sich vor ihrem Bett zusammengerollt und schlief friedlich. Das war das beste Zeichen dafür, dass der Täter nicht zurückgekommen war. Barras würde sie warnen, so wie er es eben auch schon getan hatte. Wanda seufzte und schloss die Augen wieder. Rache!

Der frühe Nebel, der über den Rheinwiesen lag, erinnerte an den Herbst, der vor der Tür stand. Die Luft war feucht und kühl. Wanda atmete sie tief ein. Sie stand am geöffneten Fenster ihres Schiffszimmers, lauschte dem Klang der Glockenspiele und reckte sich. Ihr Zimmer lag zum Rhein hinaus und sie konnte die kleinen Enten hören, die erwachsen geworden waren, aber immer noch wussten, dass es hier bei den Schiffen gelegentlich Cornflakes zum Frühstück gab. Wanda schaute auf die Uhr. Jetzt schnell duschen, eine kleine Runde mit Barras und dann Schule. Sie war immer die Erste hier, die aufstand. Leise und barfuß verließ sie ihr Zimmer, lauschte an der mittlerweile geschlossenen Tür ihres Vaters, hörte ihn gleichmäßig schnarchen und lächelte beruhigt. Nach der anscheinend sehr üppigen Semesterparty hatte der Herr Kunstprofessor doch noch nach Hause gefunden. Ob ihm die Schrift aufgefallen war? Sicher nicht!

Wanda huschte die steile Wendeltreppe aus Stahl hinunter und fröstelte. Die Stufen waren kalt und bald würde sie Strümpfe anziehen müssen. Wanda hasste Strümpfe. Gefängnisse für die Füße.

Unten wurde sie freudig von Barras empfangen. Anscheinend hatte er den Vater kommen hören und es dann, nach dem nächtlichen Zwischenfall, vorgezogen, Wachposten vor der Tür zu beziehen. Er war riesig, ein Wolfshund in seinen besten Jahren, und dadurch natürlich Furcht einflößend. Ein tiefes, bedrohliches Bellen hätte dazu allerdings einiges beigetragen. Als sie noch in New York wohnten, hatten sie ihn mal durchchecken lassen, es konnten aber keine körperlichen Defizite festgestellt werden. Die Tierwissenschaft interessierte sich brennend für diesen außergewöhnlichen Fall. Ein vielleicht freiwillig stummer Wolfshund. Sie hätte viel Geld dafür bezahlt, Barras zu Untersuchungszwecken bei sich behalten zu können. Aber wer besaß schon genug Geld, um etwas zu kaufen, das Wanda ins Herz geschlossen hatte?

Sie strich ihm über den Kopf, durchquerte den großen Wohnraum in die offene Küche und füllte seinen Napf. »Hast du noch gut geschlafen?«

Barras legte den Kopf schief, weil er nicht verstand, was sie sagte. Aber die Stimme klang vertraut und es war schön, sie zu hören. Während er fraß, verschwand Wanda ins Bad, blieb an der Tür stehen und scannte mit dem Blick erst die Decke ab, dann die Wände, den Boden, besonders die Ecken. Auf so einem Schiff gab es mehr Spinnen als in New Yorker Lofts und finnischen Holzhütten zusammen. Die meisten im Bad. Und Wanda konnte unmöglich mit einer Spinne in einem Raum sein.

Heute war keine zu sehen, sie duschte erleichtert, rubbelte ihre pechschwarzen, langen Haare trocken, zumindest trocken genug, und putzte sich die Zähne. Ihr Vater hatte viel Zeit dafür aufgewendet, das ganze Bad mit kleinen Mosaiksteinen auszulegen, allein das schon ein Kunstwerk, und immer noch konnte Wanda sich in den Mustern verlieren und unterschiedliche Figuren entdecken, brüllende Drachen, die am nächsten Tag, wenn man anders hinsah, zu einer freundlichen Meerjungfrau geworden waren.

Als sie auf die Uhr schaute, stand Eile darauf. Sie flocht die nassen Haare zu einem langen dicken Zopf, schlüpfte in ihre Klamotten, die von gestern noch über dem Sofa hingen, trank einen Schluck Milch und verzichtete auf ein weiteres Frühstück.

»Nein, Mama, ich habe keinen Hunger. Ich kann morgens nichts essen, und doch, ich kann mich dann trotzdem konzentrieren.«

Diese Diskussion hatte sie so viele Morgen geführt. Jetzt lebte ihre Mutter seit fünf Jahren auf Antigua mit ihrer großen Liebe Gerome und Wanda konnte seit ihrem elften Lebensjahr selbst bestimmen. Ihr Vater hätte nicht einmal bemerkt, dass sie nichts zu sich nahm. Vorausgesetzt, er wäre wach gewesen.

Wanda schnappte sich ihr Fahrrad und verließ mit Barras im Schlepptau das Schiff über den schmalen Steg. Sie öffnete das Metalltor und warf einen schnellen Blick auf den roten Schriftzug, um sich zu vergewissern, dass sie nicht nur geträumt hatte.

Rache. Unweigerlich blieb sie stehen und sofort machte sich wieder dieses unangenehme Gefühl in ihr breit, als würde sich alles zusammenziehen, als wäre sie gemeint. Aber wer sollte sich an ihr rächen wollen? Sie und Enno waren doch noch gar nicht lange genug da, um Feinde zu haben. Oder hatte hier nur jemand eine freie Fläche gesucht und gefunden? Jemand, der die Welt hasste oder die Politiker, und sich an ihnen rächen wollte, weil er meinte, sie hätten ihm keine Chance gegeben? Doris, die Wirtin vom Kajüttchen nebenan, hatte bestimmt keine Feinde. Das ging gar nicht, dafür war sie viel zu nett. Höchstens ihren Exmann. Aber der weilte irgendwo im Himalaja und trainierte zu überleben. Goran kam als Adressat schon eher infrage. Da gab es sicher einige, die ihm die Pest an den Leib wünschten. Er führte den Boxklub und bewohnte damit die andere Hälfte ihres Hausbootes. Sie waren nicht gerade vertrauenerweckend, die Männer, die bei ihm ein- und ausgingen, meist grundwütend und mit zermanschten Gesichtern, schiefen Nasen oder zu wenigen Zähnen. Wanda und ihr Vater, Doris und ihr Sohn Kai aber gehörten zur Familie und standen unter ihrem persönlichen Schutz.

Wanda schüttelte den Kopf, wie um sich selbst zu beruhigen oder das Bild des Schriftzuges wegzuradieren. »Schweinerei!«, murmelte sie und überließ die Schrift den anderen, die wahrscheinlich auch irgendwann aufwachen und einen Blick aus dem Fenster werfen würden. Sie lehnte ihr Fahrrad an die Mauer, genehmigte Barras die kleine Morgenrunde und brachte ihn dann zurück aufs Schiff. »Schlaf noch ein bisschen, bin gleich wieder da!«

Wanda wusste, dass Hunde kein Zeitgefühl besaßen. Wenn jemand weg war, war er weg, wie lange, das konnten sie nicht bemessen. Auf jeden Fall war Barras nicht sehr einverstanden damit, dass Wanda seit Anfang September die meisten Tage so früh morgens verschwand. Aber er musste es hinnehmen. Er war nur ein Hund. Niemand hörte seine stummen Klagen.

Wanda schwang sich aufs Rad und raste los. Sie war gut in der Zeit, aber sie liebte es, schnell durch die Morgenluft zu fahren und sich den Kopf freiblasen zu lassen. Sie preschte den Kiesweg an den Rheinwiesen entlang, die jetzt noch beinahe leer waren. Nur Krähen und ein paar Möwen, die sich um die Reste der fleißigen Picknicker vom Vortag stritten, vereinzelte Jogger, frühe Vögel und eine alte, gebückte Frau, die die Papierkörbe nach Pfandflaschen absuchte, bevor die Müllabfuhr kam.

»Wanda, Scheiße, ich hab die Mathehausis nicht hingekriegt, der Kögelmeier bringt mich um.«

Schon als sie ihr Fahrrad im Schulhof anschloss, stürzte sich Kim auf sie. Wanda ging Richtung Klassenzimmer, ließ sich von Kim das Heft geben und löste die Aufgaben im Gehen. Sicher, sie war immer hier und da gewesen, andere Länder, andere Sprachen, andere Schulen, aber ihr Vater hatte sehr darauf geachtet, dass es gute Schulen waren. Die Sprachen hatte sie von selbst gelernt und Mathe lag ihr einfach. Wanda hatte mit dem Lernpensum kein Problem. Eher mit den Leuten, die zu schnell wieder weg waren. Immer, wenn sie gerade eine Freundin gefunden hatte, wurde ihr Vater, der bekannte und erfolgreiche Künstler, wieder an eine andere Uni in ein neues Land gerufen. Zweimal war die Trennung ziemlich schmerzhaft gewesen, dann hatte Wanda die Sache mit der besten Freundin lieber gelassen. Sie war nett, die anderen mochten sie, aber sie ließ niemanden zu nah an sich heran.

»Danke, Wanda, total lieb von dir, ehrlich, ohne dich wäre ich, glaube ich, schon jetzt durchgerasselt.«

Wanda grinste. Kim war laut, spitznasig, neugierig und in jeder Hinsicht übertrieben. Als würde irgendjemand Anfang des Schuljahres auch nur die Option haben durchzufallen!

Kaya, Kims zweiter Teil, gesellte sich zu ihnen. »So, Leute, heute Abend ist die letzte Vorstellung im Open-Air-Kino. Da müssen wir hin!«

»Auf jeden Fall, wir nehmen ein Picknick mit und gucken umsonst von den Rheinwiesen aus! Und du bist eingeladen, Wanda, keine Ausrede diesmal.«

Wanda stopfte ihre Jacke in den Spind und ihr immer noch feuchter, glänzender Zopf kam zum Vorschein. »Ich kann nicht.« Kim und Kaya schauten sie finster an. »Du kannst. Du musst nur wollen!«

Wanda zuckte bedauernd mit den Schultern. »Okay, dann will ich nicht. Heute Abend ist bei Goran Showkampf!«

Kim und Kaya verschränkten die Arme vor der Brust und taten eingeschnappt. »Du mit deiner Boxbude! Wenn die mal nicht erfunden ist!«

Wanda schüttelte den Kopf, »Tut mir leid!«, und setzte sich Richtung Klassenzimmer ab. Natürlich hätte sie die beiden einladen können, Goran wäre es egal, im Gegenteil, der weibliche Anteil in seiner Bude war sowieso ziemlich gering, und Kim und Kaya hätten sofort auf Picknick und Film verzichtet. Aber Wanda wollte sie einfach nicht in ihrer Welt haben, die anders war und nicht von Jungs oder Schminktipps handelte.

»Du holst dir noch den Tod mit deinen nassen Haaren jeden Morgen!«, rief Kim ihr hinterher.

»Sagt wer?«

»Na … also, ich!«, stotterte Kim verdattert.

»Na dann!« Wanda zog die schwarzen, sehr dichten Augenbrauen hoch, grinste und betrat das Klassenzimmer. Dort setzte sie sich auf ihren Platz in der hintersten Reihe und wartete, bis das Schaukelgefühl des Schiffes nachließ, das sie immer noch eine Weile verfolgte, wenn sie an Land ging. Vor zwei Wochen hatte die Schule begonnen und sie stellte wieder einmal erstaunt fest, dass es überall ähnlich ablief. Ob in Finnland, Indonesien, Amerika oder jetzt eben Deutschland. Jungs bewarfen sich mit Papierkügelchen, rauften oder tauschten Sammelbildchen, Mädchen tuschelten, zeigten sich neue Errungenschaften wie Haarspangen, Mäppchen oder kleine Briefe von begehrten oder nicht so begehrten Jungs. Einige hingen in den Seilen, weil sie zu spät ins Bett gegangen waren, andere verschafften sich durch Ohrstöpsel, aus denen Musik wummerte, ihren eigenen Freiraum im morgendlichen Gewimmel. Bis jetzt hatte Wanda noch niemanden entdecken können, der anders war, interessant und dadurch gefährlich für sie. Sie ließen sie in Ruhe, alle, außer Kim und Kaya, das neugierige Doppel, das mit der etwas anderen Wanda gerne zum Dreigestirn geworden wäre. Der gestrenge Herr Kögelmeier, Mathelehrer und Kettenraucher, zwang die Meute zur Ruhe und fragte die Hausaufgaben bei Kim ab. Sie drehte sich dankbar zu Wanda um und zwinkerte ihr zu.

Obwohl die Sonne auch jetzt Mitte September noch nicht um sieben Uhr abends unterging, lag die Nacht schon in der Luft. Es wurde schneller frisch. Wanda zog sich die Strickjacke enger um den Körper und machte sich auf Richtung Boxklub. Es war nicht viel Platz zwischen Reling und Bootswand und sie ließ Barras vorgehen, um ihn im Blick haben zu können.

»Hey, Wanda!« Kai stand an der Kaimauer, die nicht nach ihm benannt worden war, und versuchte die Rache wegzuschrubben.

Wanda winkte. »Hey!«

Kai war Doris’ Sohn, ein problematischer Junge mit eingeschränktem Verstand. Mittlerweile war er neunzehn, aber sowohl Doris als auch allen anderen war klar, dass er immer bei ihr auf dem Schiff bleiben würde. Kai brauchte Kontrolle. Durch seine Hyperaktivität und die Mauern, die seine Gedanken scharf in nur eine Richtung lenkten, fielen ihm Dinge ein, die andere als kriminell bezeichnen würden. Es war nicht einfach, ihn zu mögen, aber er stand unter demselben Schutzschild wie alle hier, gehörte zur großen Schiffsfamilie. Man hatte ein Auge auf ihn.

»Gehs’u zum Kampf?«, rief Kai Wanda in seiner verwaschenen Sprache zu.

»Du nicht?«

»Kai muss Scheiß wegmach’n!« Krankheitsbedingt war ihm weder das Wort noch das Gefühl »Ich« bekannt.

Wanda winkte noch einmal und balancierte weiter.

Die Boxhalle war rappelvoll, die Luft stickig und verraucht. Der Ring, der sonst nur dem Training diente, mit Scheinwerfern ausgestrahlt, die sehr unterschiedlichen Gäste, eine Masse im Halbdunkel, standen noch oder hatten es sich auf den harten Holzstühlen bequem gemacht, die Goran irgendwo aufgetrieben hatte. Er nannte das »vom Laster gefallen«. An den Holzwänden hingen Poster von Muhammad Ali und den Klitschkos mit Autogrammen, was den Eindruck vermittelte, sie wären schon einmal hier gewesen und hätten Gorans Sandsäcke bearbeitet.

Wanda schaute sich um. Goran winkte ihr von Weitem, war aber zu beschäftigt damit, sich mit Bogdan, seinem Mädchen für alles, wegen irgendwas mächtig zu streiten. Schließlich entdeckte sie Doris im Gespräch mit ihrem Vater und zwängte sich durch die Menge zu ihnen, wobei sie Barras zu Hilfe nahm und ihn vorausschickte. Aus Versehen rempelte sie ein Mädchen an, das ungefähr in ihrem Alter war. Ihre Cola schwappte über und ergoss sich über ihre Hand auf den Boden.

»Oh, entschuldige, das wollte ich nicht!«

Das Mädchen wischte sich die Hand an der Jeans ab. Sie hatte blonde, sehr kurze Haare, ihre Augen blitzten Wanda wütend an, aber ihr Mund lächelte breit und legte ihre weißen Zähne frei. »Nicht schlimm!«

Wanda nickte ihr noch einmal zu und kämpfte sich weiter zu ihrem Vater und Doris durch. »Hey!«, begrüßte sie die beiden.

Ihr Vater legte sofort seinen starken Arm um sie und zog sie an sich. »Hey, Tochter, wie war dein Tag?«

»Gut und deiner?«

Enno nickte nur, weil Doris jetzt weiterredete. »Ich meine, es ist typisch Goran. Wer weiß denn schon, wo er die ganzen Stühle wieder herhat? Bezahlt hat er die nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Irgendjemandem werden sie fehlen und der sinnt auf Rache. Hallo, Kleine!«

Doris trug wie immer eines ihrer weit ausgeschnittenen Blümchenkleider über der ausladenden, üppigen Figur und hatte die blonden, strohigen Haare zu zwei kleinen, krummen Zöpfen geflochten, die ihrem Alter nicht gerade entsprachen, aber irgendwie doch zu ihr passten. Ihr Gesicht war rund und von Lachfalten durchzogen.

Enno, in seinem lockeren Anzug und dem Zigarillo im Mundwinkel, zuckte mit den Schultern. »Rache, was für ein Allgemeinplatz!« Er lachte dröhnend.

Wanda runzelte die Stirn. Es gefiel ihr nicht, wie leichtfertig ihr Vater damit umging. »Das Wort bedeutet, dass jemand irgendwas Böses vorhat. Man sollte doch zumindest darüber nachdenken!«

Enno drückte ihr beruhigend und ziemlich kraftvoll die Schulter. »Ich bin sicher, Goran wird auch mit diesem Feldzug irgendwie klarkommen!«

»Jawohl, das wird er!« Goran stieß zu ihnen, legte seinen Arm von der anderen Seite um Wanda und jetzt konnte ihr definitiv nichts mehr passieren. »Vergesst den Scheiß und konzentriert euch auf den Kampf! Ludo hat die letzten Wochen hart trainiert, um den Schweizer zu schlagen!« Er hielt Enno seine offene Hand hin. »Auf wen wettest du?«

Wandas Vater zog ein paar zerknüllte Scheine aus der Hosentasche und legte sie in Gorans Hand. »Ludo, klar, wir halten zusammen!«

Sie klatschten sich ab und nickten sich zufrieden zu. Wanda wurde warm im Bauch. Ihr Vater hatte sicher recht. Er fühlte sich wohl hier, so wie sie, wollte sich das nicht verderben lassen, und das gab ihr die Hoffnung, länger als sonst üblich bleiben zu dürfen.

»Entschuldigung, kann ich mal was fragen?« Das blonde Mädchen stand plötzlich wie aus dem Nichts bei ihnen und streckte Goran ihre Hand hin. »Mereth.«

»Hallo, Mereth, ist mir eine Vergnügung.« Goran schüttelte die auffallend große Hand des Mädchens. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich würde gerne boxen und suche einen Klub, wo ich trainieren kann. Ist das hier möglich? Ich meine, für Mädchen?«

Goran grinste in die Runde. »Na klar, also warum nicht, was meinst du, Enno, hab ich noch nie drüber nachgedacht, aber, ja, klar!«

Enno nickte und zog an seinem Zigarillo. Wanda betrachtete die sehr schlanke Mereth und konnte sie sich nicht wirklich zwischen den schwitzenden, zahnlosen Jungs vorstellen.

»Super«, sagte Mereth und steckte ihre Hände in die Hosentaschen. »Ich denk drüber nach!« Sie drehte sich um und verschwand in der Menge. Goran schaute ihr mit einer Mischung aus Wohlwollen, Überraschung und Zweifel hinterher.

»Kommt, Mädels, ich habe uns Plätze in der ersten Reihe reserviert!«, unterbrach Enno das kleine Schweigen in der lauten Masse und zog Wanda und Doris mit sich. So hatten sie die Gelegenheit, Ludos Sieg durch K. o. hautnah zu erleben. Wanda zwang sich, die ganze Zeit hinzusehen, obwohl es nicht zart zuging, aber was die anderen können, kann ich auch, dachte sie. Dennoch fiel es ihr teilweise schwer, allein schon die Geräusche zu ertragen, wenn eine Nase brach oder ein Haken gut platziert wummerte. Sie schaute sich nach Mereth um. So was wollte die machen? Wanda entdeckte sie vollkommen ungerührt ganz hinten neben der Tür. Sie beobachtete den Kampf wie ein alter Profi und zuckte mit keiner Wimper.

Als der Champ verkündet wurde, sprangen alle von den Stühlen und jubelten und dann gab es eine mächtige Feier, die überhaupt der wichtigste Teil des Ganzen war. Ludos Sieg wurde mit harten Getränken und lautem Männergeschrei gehuldigt und als der Schweizer mit perfekt genähter Platzwunde, eine von Gorans Spezialitäten, dazukam, wurde auch ihm Tribut gezollt.

Wanda hatte bald genug davon. Sie verabschiedete sich von ihrem Vater, er steckte ihr einen Teil des gewonnenen Geldes zu und küsste sie zum Abschied. »Morgen müssen wir was besprechen!«

»Was denn?«

»Morgen! Schlaf gut, mein Mädchen!«

Goran beugte sich zu ihr. »Und wann kommst du dann zum Boxtraining? Frauenmäßig sind wir total unterbelichtet, ist mir vorhin aufgefallen!«

Wanda grinste ihn an und schüttelte den Kopf. »Nichts für mich. Ich lass mir doch nicht das Gesicht vermanschen!«

Goran zuckte mit großem Bedauern die Schultern. Doris vergnügte sich mit einigen der harten Kerle, die das Wettsaufen gegen sie wie immer verlieren würden, und Mereth war nirgends mehr zu sehen. Wanda trat gefolgt von Barras an die Luft und sog sie ein. Sie war frisch, hatte aber einen merkwürdigen Beigeschmack, einen unangenehmen Geruch, den sie kannte, aber woher? Langsam balancierte sie an der Reling entlang und schnupperte. Wie aus dem Nichts stand plötzlich Kai vor ihr in der dunklen Nacht. Das war es gewesen. Die Luft roch nach Kai und Wanda wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Gehs’u schon, Wanda?«

Seine Stimme klang rau und beinahe zärtlich und sein Lächeln war wie immer überwältigend. Kai sah überhaupt blendend aus, und nur wenn man ihn kannte, sah man das irgendwie Schiefe in seinem Gesicht; wenn man seine Sprache hörte, ahnte man ein Ungleichgewicht. Und dann dieser Eigengeruch, für den er nichts konnte, der Wanda aber so unangenehm war, dass sie immer die Luft anhalten musste, wenn er ihr so nahe kam.

Sie bemühte sich um ein Antwortlächeln. »Bin müde und morgen ist Schule!«