Scheiß Liebe - Brinx/Kömmerling - E-Book

Scheiß Liebe E-Book

Brinx/Kömmerling

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Beschreibung

Alles wird gut. Trotzdem. Da ist sich Lene sicher, daran hält sie sich fest. Obwohl ihre heile Welt gerade auseinanderbricht. Nichts mehr ist, wie es vorher war, weil ihre Eltern sich getrennt haben. Aber Lene ist und bleibt optimistisch. Ganz anders ihre große Schwester Rose, die in einer dunklen Liebe zu dem Musiker Dante gefangen ist. Und eigentlich nicht mehr an die Liebe glaubt … die Scheiß Liebe. Ab 13 Jahren.

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Autorenvita:

Thomas Brinx und Anja Kömmerling schreiben seit über zwanzig Jahren zusammen Bücher und Filmdrehbücher für Kinder und Jugendliche. Sie leben mit Söhnen, Tochter und Katzen in Bonn und Düsseldorf.

„Scheiß Liebe“ ist nach „Neumond“ der zweite Teil einer Trilogie, die sich mit den großen Themen eines jeden einzelnen Menschenlebens beschäftigt – immer unter Aufsicht des Mondes, der mürrisch über allem wacht.

Buchinfo:

Alles wird gut. Da ist Lene sicher, daran hält sie sich fest. Obwohl ihre heile Welt gerade auseinanderbricht und nichts mehr ist, wie es vorher war. Aber sie lässt sich nicht davon abbringen. Alles wird gut. Ganz anders ihre große Schwester Rose. Gefangen in ihrer dunklen Liebe zu dem Musiker Dante glaubt sie eigentlich an nichts mehr … vor allem nicht an die scheiß Liebe.

Es spielen mit:

+ Die kleene Lene +

Tochter, Harmoniebeauftragte und viel zu klein

+ Die große Rose +

ältere, pubertierende Schwester und talentierte Sängerin

+ Schweinchen +

Lenes beste Freundin, direkt vom Schlachter

+ Doktor Daniel Dunker +

Vater, Wissenschaftler und Uhrensammler

+ Natascha Dunker +

Mutter, Hausfrau mit Waschzwang und serienabhängig

+ Oma Luise +

Nataschas Mutter, unsensibel und egozentrisch

+ Opa Franz +

Nataschas Vater, stoisch und hört gar nicht mehr, wenn Oma was sagt

+ Greta +

junge, elegante Mitarbeiterin von Daniel

+ Dante +

dunkler Weltverächter mit enormer Ausstrahlung

+ Black Blogs +

Dantes Band

+ Schrottpaule +

Dantes Vater, depressiv und unzugänglich

+ Johnny +

Lenes Freund, auch zu klein und weit weg in Hamburg

+ Judith +

seine Mutter, alleinerziehend, taff und selbstständig

Roses Clique

+ Etrib +

nur von hinten schön

+ Lenebitte +

Roses Konkurrentin um den Anführerposten

+ Traumichnicht +

einfach nur immer ängstlich

+ Hinz und Kunz +

alberne Jung

+ Flammo +

Roses größter Verehrer

+ Walter Kamphus +

Kulturbeauftragter der Stadtbank

+ Herkules +

wohlgeformter Postbote und Verehrer von Natascha

Es gibt eins, worauf sie schwören von Anfang an,

nur Liebe, die Liebe, die treibt uns voran.

Dabei stehen sie still, reden Tag und Nacht Müll,

so wie: die Liebe, die Liebe, das schönste Gefühl!

Sitzen herum mit gebrochenen Herzen,

lächeln, als hätten sie keine Schmerzen,

haben begriffen, ihr Konzept ist verschissen,

irgendetwas ist faul, Liebe stinkt aus dem Maul.

Sie wissen Bescheid, doch sie geben's nicht zu,

sie sind nicht bereit, bitte lasst uns in Ruh,

wir lieben uns doch, und wir glauben es noch,

immer weiter, die Leiter runter und hoch.

Das haben schon unsere Eltern gesagt

und auch die davor haben sich nicht beklagt.

Darauf steht unser Haus, und da schauen wir raus,

lass es innen drin stinken, wir grinsen und winken.

Lasst uns in Ruh, wir glauben euch nicht,

wir ham 'ne völlig andere Sicht.

Haut ab, macht euch fort,

denn für uns ist Liebe kein Zauberwort

Black Blogs

Das Scheißliebeslied der Black Blogs könnt ihr euch anhören unter: www.thienemann.de/scheissliebeslied

+ 0 +

Ich schließe ab. Nicht, damit es Einbrecher schwerer haben, nicht um irgendwann wieder aufzuschließen, nicht um wiederzukommen. Ich schließe ab, weil man immer abschließt, wenn man geht. Heute das letzte Mal. Typisch, dass ich es wieder bin. Die Jüngste geht als Letzte, die Jüngste fegt den Hof.

»Lulu! Los, wir haben uns genug verabschiedet!«

Lulu kommt um die Ecke und ich möchte wissen, warum sie bei jeder Bewegung diese Geräusche macht. Andere Schweine grunzen, wenn sie zufrieden sind. Oder wenn nicht. Sie haben einen Grund, aber Lulu grunzt immer und ich habe sie in Verdacht, mittelpunktssüchtig zu sein. »Seht her, seht her, was für ein schönes Schwein ich bin, ganz sauber und nicht zu fett, bitte sehr, grunz, grunz!« Es war nicht immer so. Wenn ich darüber nachdenke, eigentlich erst, seit sie ihr linkes Auge verloren hat, denn als Rose sie mitbrachte, machte sie überhaupt kein Geräusch. Sie war noch klein und Metzger Brandt hatte mit dem Finger auf sie gezeigt: »Spanferkel!«

Das bedeutete, dass sie nicht viel größer werden sollte, zumindest wenn es nach Brandt ging, und wenn meine Schwester Rose zu diesem Zeitpunkt nicht auf dem hundertprozentigen Vegetariertrip gewesen wäre, immer auf der Hut und immer auf der Suche nach zu rettenden, armen Kreaturen, auf die irgendein Finger zeigte.

Papas Gesicht! »Nee, also wirklich Rose, das geht zu weit, was sollen wir denn noch mit einem Schwein? Tascha, sag du doch mal was!«

Damals sagte er noch Tascha zu meiner Mutter. Zärtlich. Und Tascha sagte was. »Wir haben zwei Hühner, vier Kaninchen und die Katzen, die keiner mehr zählen kann. Warum sollten wir also nicht auch ein Schwein haben!« »Hey Süße, und jetzt sind wir die Letzten!« Ich streichle Lulu zwischen den Ohren und Lulu grunzt. Ein Schwein zu streicheln geht anders als zum Beispiel ein kleines Kaninchen. Schweine streichelt man hart, damit das gute Gefühl durch ihre dicke Haut bis zu den Nerven dringt, die dann das Grunzen auslösen. »Dann los!«

Ich lege den Schlüssel wie mit den Nachmietern ausgemacht unter den Blumentopf neben der Tür, in dem keine Pflanze mehr wächst, und ziehe meinen großen Koffer hinter mir her über die gerade Straße, die an unserer Tankstelle vorbeiführt.

Tankstellen liegen immer an geraden Straßen, die aus dem Ort führen. »Letzte Tankstelle vor der Autobahn!« Alle halten hier, weil es billiger ist. Seit ich denken kann, haben wir hier gewohnt, und seit ich denken kann, war diese Tankstelle nie eine Tankstelle, sondern immer nur unser Zuhause. Schon als wir einzogen, gab es hier kein Benzin mehr, keine Chips oder Zeitungen, man konnte sein Auto weder waschen noch reparieren lassen. Die große Rose war ein kleines Kind und meine Mutter schwanger mit mir. Wenn Erwachsene Kinder bekommen, beschließen sie, ein bisschen rauszuziehen aus der Stadt, etwas Natur, etwas weniger Gefahr.

Von wegen!

Aber das ist so was wie ein Instinkt. Die meisten kaufen sich ein Reihenhäuschen mit einem winzigen Garten und vielen Nachbarn, die auch Kinder haben und alles sehen und hören, weil sie so nah aneinander wohnen. Meine Eltern haben die stillgelegte Tankstelle gemietet.

Soll ich mich noch einmal umdrehen? Noch einen Blick? Einen letzten?

Vorne der Verkaufsraum mit den Kassen und Regalen, den Rose ziemlich schnell zum Tiergehege umfunktioniert hatte. Hier lebten die Hühner und Kaninchen, die Katzen und auch das Schwein bekam ein Eckchen mit Stroh und Futtertrog, so wie Schweine es mögen. Aber mein Schwein war anders. Lulu war der Kontakt zum Kleinvieh nicht genug. Sie heftete sich an meine Fersen und klebt bis heute daran. Warum an meine? Ich war die Jüngste und die Kleinste. Extrem klein. Die kleene Lene. Klein, aber fein. Klein und Schwein. Oder so.

Hinter der flachen Tankstelle das Wohnhaus mit dem großen Hof davor, den die alte Waschanlage und die Reparaturwerkstatt zu dem machten, was er war: ein abgeschlossener Raum voller Pflanzentröge und der Sitzgelegenheit am Grillplatz, einer langen Schaukel an der alten Linde und einem Sandhaufen, den Rose und ich uns lange Jahre mit den Hühnern teilten.

In meiner kindlichen Vorstellung war dieser Ort der gewesen, an den ich immer würde zurückkehren können. Natürlich wollte ich in die Welt gehen und in großen Städten leben, aber mit der Sicherheit, dass meine Eltern, mittlerweile grau geworden, in einer Hollywoodschaukel vor dem Haus sitzen und auf mich warten würden, auf ihre Lene, die gerade Urlaub hat und nach Hause kommt, um mit ihnen über früher zu reden. Ich dachte, alles würde so bleiben. Ich könnte blind ins Haus gehen und würde keinen Schrank anrempeln und nicht über Schuhe stolpern, weil sich nichts verändert haben würde.

Die Treppe hoch, in meinem Zimmer immer noch das Hochbett mit den Sternen an der Decke, die alles selbst konnten, kleben und leuchten, und der Tapete mit Pflanzenmuster, Farnen und anderen wildwuchernden Blättern, die meine Mutter gesammelt, getrocknet und darauf gedruckt hatte. Die Tapete, in der so viele Geschichten steckten, weil sie an keiner Stelle gleich aussah und die Blätter sich ineinander hakten und Augen oder Klauen bildeten, Könige oder Monster wurden, aus denen mein Vater jeden Abend schützende Begleiter für die Nacht machte.

Ich hätte dort immer gut schlafen können und auch weiterhin blind den Weg unters Dach in Roses Zimmer gefunden. Über die knarrende Treppe, durch die Luke und weiter in ihr kuscheliges Bett, das immer ganz weiß bezogen war, und vom Vollmond durch das kleine Schrägfenster angestrahlt heller aussah als hell, silbern fast. Wie oft haben wir dort gelegen, Kopf an Kopf, und dem Mond ins Gesicht gesehen.

Meistens hat er schlechte Laune. Die Augen sitzen schief und der Mund steht ein wenig auf, als würde er schreien oder maulen. »Was macht ihr da unten? Warum schlaft ihr noch nicht? Morgen ist Schule! Außerdem: Glotzt mich nicht so an, das ist mir peinlich!« Irgendwann habe ich rausgefunden, warum. Weil er nicht wegschauen kann wie wir, wenn uns jemand anstarrt. Er kann kein Signal geben, indem er die Augen abwendet und zu Boden blickt oder aus einem Fenster.

Lulu grunzt und stößt mir ihre Nase in die Kniekehle. Sie will gehen und sie hat recht. Wenn man zu lange zurückblickt, kommt man nicht voran, ein halbschlauer Spruch meines Vaters. Halbschlau, weil das, was hinten war, mit dem Vorne zu tun hat. Weil alles aufeinander aufbaut und wenn du die unteren Steine nicht kennst, wenn du nicht weißt, ob die halten, dann kannst du auch kein stabiles Haus bauen. Wenn du nicht weißt, welche Stufe knarrt, kannst du nicht bis in Roses silbernes Bett gelangen und den Mond anstarren, ob er will oder nicht.

Diese Tankstelle war bis heute mein Zuhause. Hier war alles gleich und hier hat sich alles verändert. An dem Tag vor sieben Jahren, als ich den Zettel gefunden habe.

+ 1 +

An dem Tag, als ich den Zettel gefunden habe, hatte mein Vater wie immer den Grillanzünder vergessen. Gerade hatte er die Schale sorgfältig mit Öl gereinigt und dann mit altem Zeitungspapier ausgerieben, da fiel es ihm ein.

»Mmmmmh!«, stöhnte er.

»Ha, ich weiß es, du hast den Grillanzünder vergessen?« Ich saß auf der Schaukel und grinste.

Mein Vater drehte sich zu mir um und legte den Kopf schief. »Du bist ziemlich frech für dein Alter, aber es stimmt!«

Damals war ich 13. Keine Ahnung, wie frech man zu dieser Zeit sein darf, ob es da eine Tabelle gibt oder so was, und eigentlich war ich auch nicht frech, bestimmt nicht. In Wirklichkeit liebte ich es, wenn mein Vater den Grillanzünder vergaß, weil er das immer tat. Es war so etwas wie ein Ritual, wie jeden Morgen Haferflocken essen, etwas Vertrautes. Und jedes Mal tat er so, als sei ihm etwas derart Dramatisches noch nie passiert.

Die Sache mit dem Grill war uns allerdings auch erst heute Morgen eingefallen, normalerweise grillen wir nicht im März, viel zu kalt. Mama hatte das Fenster aufgemacht, die Sonne brannte schon am Himmel und es war kein erfrischend kühles Lüftchen an den Vorhängen vorbei über unseren Frühstückstisch geweht. Die warme Luft war einfach draußen stehen geblieben. Es war außergewöhnlich.

»Neumond. Trotzdem merkwürdig!« Der Astrogeologe in meinem Vater kam ins Grübeln.

»Wenn es schon so warm ist, könnten wir doch grillen, wenn meine Eltern kommen. Was meinst du, Daniel?« Meine Mutter liebte es zu grillen, weil sie es hasste zu kochen, und beim Grillen musste man nicht viel rummachen.

»Mist, und jetzt? Der Grill sollte doch schon heiß sein, wenn die kommen.« Papa kratzte sich am Kopf und schaute dem Schwein zu, wie es immer hin und her lief, immer neben meiner Schaukel, die vor und zurück schwang, weil ich die Beine hob und senkte. Das Gewicht verlagerte. »Wenn du so weitermachst, bekommt es einen Herzschlag, fällt um, bumm und dann hätte Metzger Brandt es besser geschlachtet und leckere Schweinenackensteaks daraus gemacht. Wo ist Tascha?«

Ich ließ mich ausschaukeln und beobachtete das kleine Schwein, das sich schließlich hinsetzte, zurückschaute und geduldig darauf wartete, dass ich endlich abstieg und all meine Zeit seinem sehr ausgeprägten Zärtlichkeitsbedürfnis widmete (ich sag's ja, mittelpunktssüchtig, das war schon damals angelegt).

»Lene, bitte geh doch mal deine Mutter suchen. Immerhin sind es ihre bezaubernden Eltern, die uns heute beschäftigen!«

Mein Vater konnte die Eltern meiner Mutter nur eine kleine, begrenzte Zeit aushalten. Er hielt nichts von Omas Selbstbewusstsein.

»Selbstbewusstsein nennst du das?« Jedes Mal gab's hinterher Diskussionen. »Ausgeprägte Tyrannei würde ich mal sagen. Der arme Franz, sein Leben lang unter dem Joch dieses Bestimmerweibchens!«

»Der arme Franz hat sich das selber ausgesucht, er liebt sie, da steckt doch ganz was anderes dahinter ... ja, du hast recht, anstrengend!«

Oma und Opa. Sie war laut und er war leise. Sie sagte, wo es langging, und er folgte ihr. Das war sie gewöhnt und das hielt sie mit allen so.

Ich sprang von der Schaukel und pfiff leise durch die Zähne, was ich aber auch hätte lassen können, Schweinchen wäre sowieso mitgekommen. »Los, wir holen Mama, such Schweinchen, such!«

Ich mochte Oma und Opa und freute mich, wenn sie uns besuchen kamen. Dann war es laut, Oma erzählte Geschichten von früher, als Mama noch klein war, und auch wenn es immer die gleichen waren, hörte ich sie gerne, auch weil Oma stets etwas Neues dazu erfand und Mama die Augen verdrehte. Wenn Opa zu Wort kam – und das war fast immer nur dann, wenn Oma auf der Toilette war – berichtete er von ihrem Weingut, ihrem Altersruhesitz, dem Zustand der Trauben, Problemen mit dem Ungeziefer oder neuen Verfahren für ökologisch wertvollen Wein.

Ich lief Richtung Waschanlage unauffällig unter dem Stehtisch durch. Sehnsüchtig wartete ich auf den Tag, an dem ich mit dem Kopf anstoßen würde und endlich gewachsen wäre. Dieser Tag war nicht heute.

Die Falttür der alten Waschanlage war geschlossen. Mama hatte den Raum zur Waschküche ernannt – »was soll man auch sonst aus einer Waschanlage machen?« – und verbrachte sehr viel Zeit dort. Waschen war zu einer ihrer ganz großen Leidenschaften geworden. Sie hatte über die Jahre ihre höchst persönliche Wissenschaft daraus gemacht:

Wäsche sortieren, Waschmittel wählen, Fleckenentferner aller Art einsetzen – eine ganze Batterie davon stand auf einem langen Tisch wie Soldaten einer strengen Armee, immer bereit den Kampf aufzunehmen und zu gewinnen.

Dann Temperatur berechnen, mit Vorwäsche und Weichspüler, und wenn ja, welcher, einweichen oder kurz schleudern, in der Waschmaschine oder lieber die Extraschleuder und so weiter. Warten. Warten. Warten.

Dann Wäsche raus und aufhängen. An die Leine oder den Wäscheständer, draußen oder drinnen, mit Wäscheklammern oder nur hängen, wie am besten, damit keine Falte entsteht? Warten, warten, warten.

Dann bügeln, trocken, mit Dampf, vorwärts oder rückwärts ...!

Aber die Tür war geschlossen, und so konnte ich davon ausgehen, dass sich meine Mutter heute, kurz vor dem Besuch ihrer Eltern, nicht in einer Waschprozedur verheddert hatte.

Das Rolltor der Werkstatt war ebenfalls zu. Hier wurden früher die Autos repariert und die Hebebühne funktionierte noch eins a, sodass Mama ihre Stoffe und Filzprojekte daran aufhängen konnte und wir unsere eigene kleine Welt hatten, in der uns niemand erwischen konnte. Man musste nur die Fernbedienung mitnehmen, sich auf die Bühne setzen und hochfahren. Da kriegte einen so schnell keiner mehr weg. Unsere eigene kleine Hebebühnenwelt! Ein Schränkchen mit Gläsern, ein paar Kissen, die Lieblingsbücher und die Glocke, um Keksnachschub bei Mama zu bestellen. Dann saßen wir da unter der Werkstattdecke, konnten nicht runter und keiner zu uns hoch, unsere kleine, unberührbare Welt, ein winziger Kosmos, in dem wir, noch kleiner, zu Prinzessinnen erster Güte wurden und mit hohen Fistelstimmen vornehm spielten. Oder mit langen Stöcken als untadelige Ritter nach unten fuchtelten, um die Burg zu verteidigen, während Mama Blattstrukturen auf Stoffe druckte oder Filzringe konstruierte. Und wenn wir was zu besprechen hatten, vielleicht etwas, das keiner wissen durfte, dann versteckten wir uns hier. Wenn man das Tor aufließ, war nur der Mond unser Zeuge.

Aber es war zu und Mama nicht da.

»Dann ist sie wohl doch im Haus! Was meinst du, Schweinchen?«

Das Schwein grunzte, als hätte es tatsächlich etwas dazu zu sagen, und genau in diesem Moment brauste Oma mit dem alten VW-Bus auf den Hof. Mit quietschenden Reifen, dass die Steine flogen. Dabei hupte sie, winkte aus dem Fenster und schrie, um sich selbst zu übertönen: »Huhu!«

Opa saß kerzengerade auf dem Beifahrersitz und lächelte.

Mein Vater verweilte einen Augenblick ruhig an seinem Grill, für den er keine Anzünder hatte, als würde er sich sammeln, innerlich vorbereiten auf einen anstrengenden Nachmittag, Meditation, dann zauberte er sein schiefes Strahlen aufs Gesicht (es ist immer schief, auch heute noch, nach der Sache mit dem Zettel und allem, was darauf folgte) und lief den Gästen entgegen.

»Franz! Luise! Seid ihr schon da. Meine Güte, ich habe keine Ahnung, wo Natascha steckt!«

Kaum gesagt, stand sie da. Als hätte sie jemand mitten in den Hof gebeamt, mit einem riesigen Strauß selbst gepflückter Blumen im Arm. »Hey, ich musste doch noch für die Tischdeko sorgen! Mama, lass dich drücken, komm her, gute Fahrt gehabt?«

»Oh, frag nicht, diese Landpomeranzen und alten Leute, mit 80 auf der linken Spur und keinen Sinn für den Rückspiegel! Lene, meine Kleene, wo bist du, lass dich ansehen!«

Während meine Eltern Opa begrüßten, der sich langsam aus dem Bus bewegte, nahm Oma meine Schultern, hielt sie ganz fest und drückte mich von sich weg, um sich ein Bild zu machen. »Also, gewachsen bist du nicht. Wie machst du das? Du willst doch nicht immer so eine kleine Mücke bleiben?«

Sie schaffte es in der ersten Sekunde unseres Wiedersehens, sofort das Messer in die Wunde zu stechen und darin herumzubohren.

»Sie wird schon noch wachsen!« Papa sprang sofort für mich ein. »Alles zu seiner Zeit!«

»Daniel, hast du den Grill schon an?«, wollte Opa wissen und machte mit dieser Frage auch nicht gerade Pluspunkte.

»Wir haben die Anzünder vergessen!« Papa warf Mama einen verzweifelten Blick zu, der so viel bedeutete wie bitte lach nicht!. Mama lächelte also nur, weil sie dachte: wie immer, legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm und Oma hielt mich immer noch fest. »Seh ich da einen kleinen Ansatz?«

Sie meinte den Busen, der angefangen hatte sich an meinem Körper zu entwickeln, nur ein bisschen, aber immerhin.

»Na bitte, wenigstens etwas, das wächst!«

Ich machte mich los. Es gibt Dinge, über die muss man nicht sprechen, aber Oma wusste das nicht. Sie sprach nur über solche Sachen.

»Es gibt da eine ganz gute Alternative, wie man einen Grill auch ohne Anzünder anwerfen kann.« Opa bewegte sich mit Papa zum Objekt der Begierde. »Die chilenische Methode!«, flüsterte er und es klang wie ein geheimer Mafiatrick, um Verräter zur Strecke zu bringen oder es ihnen zumindest anzudrohen.

Mama verteilte die Blumen locker auf unserem langen Tisch und es sah sofort genial aus, ohne dass sie viel tun musste, einfach so, und Oma schlug lautstark die Hände über dem Kopf zusammen, als sie das Schwein entdeckte, das verzweifelt versuchte, sich hinter mir zu verstecken.

»Ach du meine Güte, wer ist das denn?«

»Darf ich vorstellen, Oma: Schwein, Schwein: Oma!«

»Wo hast du das denn her?«

»Rose hat es vor Metzger Brandt gerettet. Stell dir vor, er wollte es schlachten! So ein kleines Schwein!«

»Die Kleinsten sind die Zartesten!«, bemerkte Opa und wickelte Zeitungspapier um eine leere Flasche, um seine Mafiamethode vorzuführen.

»Wo steckt Rose eigentlich?« Oma schaute sich suchend um, als hätte meine ältere Schwester sich hinter einem Blumentopf ganz klein gemacht, dabei wäre das nie gegangen, sie war nämlich nicht klein, sie nicht, sondern genau richtig und schwarz. Damit meine ich dunkel. Die Haare und die Augen wie bei Mama, während ich die hellen Drahtzotteln von Papa geerbt habe. Wir tragen sie kurz, weil sie sonst nach allen Richtungen abstehen und aussehen wie Mamas Filzgebilde in Flammen.

»Lene, holst du sie? Sie ist bestimmt in ihrem Zimmer und schmollt«, meinte Mama und zu Oma: »Sie machen ein Lagerfeuer unten am Fluss, ihre Freunde, na ja, da wollte sie eigentlich hin, unbedingt, du weißt ja, wie sie sind in dem Alter!«

Schweinchen und ich zogen los und Oma schwirrte zum Bus, um die Salate rauszuholen, die sie mitgebracht hatte, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, wie meine Mutter behauptete. Was nicht stimmte – sie war nämlich selbst noch nicht dazu gekommen.

Rose saß in ihrem Zimmer und zupfte lustlos auf ihrer Gitarre herum.

»Sie sind da!«

»War ja nicht zu überhören!«

»Du sollst runterkommen, damit Oma nachgucken kann, ob du gewachsen bist!«

»Die können mich mal. Der spinnt doch, der Alte!« Damit meinte sie Papa, weil er sie gezwungen hatte dazubleiben.

»Familie ist Familie und die kommen selten genug«, war seine Rede gewesen. »Lagerfeuer kannst du noch tausend Mal machen!«

»Woher willst du das wissen? Was, wenn ich morgen tot bin?«

»Erstens bist du das nicht und wenn, dann weißt du auch nicht mehr, dass du kein Lagerfeuer gemacht hast!«

»Aber dann habe ich den letzten Tag meines Lebens mit Oma und Opa verbracht!«

»Rose, ich bitte dich!«

Ich setzte mich neben sie und Schweinchen neben mich. »Rose?«

»Hm?«

»Kommst du bitte mit runter?«

Rose zupfte eine Tonfolge und antwortete nicht.

»Opa hat eine chilenische Methode, mit der man den Grill anmachen kann.«

»Sag bloß, Papa hat schon wieder die Grillanzünder vergessen?«

Ich grinste und Rose stellte die Gitarre weg. »Weil du's bist!«

Opa hatte mithilfe einer Weinflasche einen Zeitungspapierzylinder hergestellt, um den er die Kohle drapiert hatte. Gerade warf er einen brennenden Papierknödel hinein. »Kamineffekt. Ganz einfach und vollkommen unschädlich. Hallo Rose!«

Rose knallte sich in einen knarrenden Korbsessel, der zwischen Blumentöpfen stand und schon so viele Jahre in seinen Geflechten hocken hatte, dass er eigentlich nicht mehr zum Sitzen taugte. Trotzdem hatte Mama ihn da hingestellt und das sah sehr gut aus, einfach so, wie immer, wenn Mama etwas irgendwo hinstellt und noch besser mit Rose darin, die sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Puh, ist das heiß!«

»Ja, Röschen, eigentlich genau richtig, um sich in den kühlen Fluss zu stürzen.« Oma kam mit einem riesigen Tablett aus dem Haus. Darauf ölige Fleischlappen mit Kräutern bestreut, die aussahen wie kleine Tiere. »Stattdessen musst du mit deinen uralten Großeltern hier herumsitzen!«

Sie stellte das Tablett bei Opa und Papa ab und nahm Rose in den Arm, ob sie nun wollte oder nicht. Sie wollte nicht. Sie war mit den Fleischlappen beschäftigt.

»Widerlich!«

»Was denn, Röschen?«

»Schau dir doch mal diese Vorstellung roher Gewalt an. Wir bringen Tiere um, ziehen ihnen das Fell ab, schneiden mit einem scharfen Messer das Fleisch von den Knochen, um es bluttriefend in den Mund zu stecken. Zu fressen!«

Mein Vater ließ den Blasebalg sinken, mit dem er verzweifelt versuchte, der chilenischen Methode auf die Sprünge zu helfen, und warf Rose einen scharfen Blick zu. Die beiden hatten es nicht miteinander. Noch nie so wirklich, aber im Moment noch weniger, so wie es eben ist in Familien. Die Liebe ist da, aber die einen verstehen sich besser, die anderen schlechter oder müssen zumindest dauernd aneinander herumzerren, vielleicht ja auch, weil sie sich besonders lieben. Dabei war mein Vater der beste Vater, den ich kannte, jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt, und Rose die allerbeste Schwester. Bis heute und immer.

Scharfe Blicke meines Vaters brachten Rose meistens dazu, weiter auf dem heiklen Thema herumzureiten. Diese Blicke stachelten sie an, ließen ihre Augen zu Schlitzen werden und zauberten ein leichtes Grinsen auf das weiche Gesicht.

»Dieses Fleisch hat gestern noch zu lebendigen Tieren gehört, Oma. Es war gut durchblutet von einem Herzen, das fröhlich und vollkommen automatisch vor sich hingeschlagen hat. Bis der Mörder kam und es einfach angehalten hat. Stopp. Weißt du, warum? Damit er Geld bekommt für das leblose Fleisch. Geld von Leuten wie uns, die es sich zwischen die spitz geschliffenen Zähne schieben!«

»ROSE!« Papa verschränkte die Arme vor der Brust. »Von mir aus kannst du dich ja nur noch von Sonnenstrahlen ernähren oder von bereits verstorbenen Früchten«, Achtung: messerscharfe Alarmstimme, »aber lass uns mit dem Mist in Ruhe und verdirb uns nicht den Appetit!« Er wandte sich an Oma, die tatsächlich ein bisschen blass geworden war und sich möglichst unauffällig am Tisch festhielt. »Hör nicht hin! In dem Alter kann man eben nicht anders und muss dauernd allen die jeweiligen Extremmeinungen aufdrücken!«

Rose wirkte vollkommen ungerührt. Nur ihre Wangen waren leicht gerötet und ich wusste, wir wussten es alle, jeder, der Rose kannte, dass sie kurz vor der Explosion stand.

»Wenn man dir so zuhört, scheint sich das auch bis ins hohe Alter nicht mehr zu ändern. Wo ist eigentlich das Schwein, Lene? Bist du sicher, dass sie es noch nicht geschlachtet haben? Mehr Fleisch, mehr Blut!« Rose machte Krallen, verzog ihr Gesicht und redete mit fieser Blutsaugerstimme.

Erst jetzt fiel mir auf, dass Schweinchen weg war. Nicht an meiner Seite. »Schweinchen?«

Unterm Tisch, hinter der Linde, nirgends.

Papa lachte auf. »Lene, du glaubst doch nicht wirklich, dass wir in fünf Minuten dein Schwein geschlachtet haben. Davon abgesehen, dass wir das nie tun würden!«

»Aber es ist nicht da!«

»Wäre ich auch nicht mehr an seiner Stelle«, merkte Rose an und warf meinem Vater einen schrägen Blick zu.

Ich rannte die Treppe hoch in Roses Zimmer. Vielleicht war Schweinchen dort eingeschlafen, ich konnte mich nicht mehr erinnern. War es mit uns nach unten gelaufen? Anscheinend, denn oben fand ich es nicht. Ich rannte wieder runter. »Es ist weg!«

Rose legte einen Arm um mich. »Komm, wir gehen es suchen. Kann ja nicht weit gekommen sein.«

»Aber seid zum Essen wieder da!«, rief mein Vater uns noch hinterher und wir liefen aus dem Hof hinaus, an der Tankstelle vorbei auf die gerade Straße, schauten links, schauten rechts, nichts.

»Wo wärst du hingelaufen, wenn du Schweinchen wärst?«, fragte ich Rose und sie zeigte über die Straße auf die große Wiese, die sich langsam aber stetig zu einem Hügel erhob, dessen Ende den Horizont bildete.

»Es muss da lang sein, auf der Straße würden wir es noch sehen.«

Wir liefen nebeneinander her über die Wiese den Hügel hoch und hielten die Augen offen.

»Warum bist du so zu Papa?«

»Er versteht mich nicht. Er hat einfach vergessen, wie es war, als er jung war. Dauernd hackt er nur auf mir herum.«

»Aber das willst du doch auch!«

»Ich will nur meine Meinung sagen und dass ihr darüber nachdenkt. Ehrlich, man kann doch nicht in ein Schwein verliebt sein, so wie du zum Beispiel, und gleichzeitig ein fettes Nackensteak essen.«

»Schweinchen!« Ich pfiff durch die Zähne, aber die Luft stand so still an diesem Tag, dass man das Gefühl hatte, sie könnte keinen Ton weitertragen. »Mist, so weit kann es doch gar nicht gekommen sein!«

Plötzlich blieb Rose stehen. »Da!«, flüsterte sie und machte eine unauffällige, ganz kleine Bewegung mit ihrem Kopf Richtung Horizont, der schon sehr viel näher gekommen war.

Dort, an der Grenze zum Himmel stand ein Baum und unter dem Baum ein dunkler Mensch. Ein junger Mann in einem langen, schwarzen Ledermantel.

»Dante, das muss Dante sein!«, flüsterte Rose und ging weiter, direkt auf ihn zu.

Der Typ war mir unheimlich und ich zögerte, aber ich wollte Schweinchen wiederhaben und vielleicht hatte er es ja gesehen. Außerdem vertraute ich meiner großen Schwester blind und war sicher, sie wusste, was sie tat. Damals.

Zu Füßen dieses komischen Typen, der sich nicht regte wie der Baum, neben dem er stand, lag etwas. Ein Haufen. Rosa. Vier Beine. Ein Schwein.

»Schweinchen!«, kreischte ich, weil ich dachte, es wäre tot, da sprang es auf und kam quiekend zu mir gerannt. Ich ging in die Hocke und küsste es auf die Steckdosennase, während Rose und Dante voreinander standen und sich anstarrten.

»Bist wieder da?«, sagte Rose.

Dante nickte. Er hatte schwarz gefärbte Haare, so wie alles an ihm schwarz war, nur seine Haut sah blass aus, durchsichtig fast. Die Hände steckten in den Manteltaschen und die Augen waren so stechend blau, dass es beinahe unecht wirkte, weil er auch nicht blinzelte. »Sieht so aus!«

Seine Stimme war tief und ihre Wärme stand im krassen Gegensatz zu diesen Augen, in die Rose schaute, was ich nie gekonnt hätte, nie. Sein Kopf war schief, das ganze Gesicht irgendwie verschoben.

Ich zog an ihrem T-Shirt, wollte weg hier und tatsächlich kam Bewegung in die große Rose. »Lass unser Schwein in Ruhe.«

Dantes volle Lippen zuckten, als wollte er grinsen, hätte es sich dann aber wieder anders überlegt. Rose legte einen Arm um mich, wir drehten uns um und gingen, Schweinchen vorneweg.

»Ist das der Dante vom Schrottpaule? Der im Gefängnis war?«, fragte ich, als wir weit genug weg waren. Ich konnte mich nur dunkel an ihn erinnern.

Rose nickte. »In irgend so einem Heim für durchgeknallte Jugendliche, glaube ich. Weißt du das nicht mehr? Damals in der Grundschule hat er schon immer alle verprügelt.«

Dunkel, aber ich hatte ihn vergessen. Natürlich wussten alle, dass Paul einen Sohn hatte, der auffällig war und deswegen immer auf irgendwelchen besonderen Schulen und so. Aber mir war er nie wirklich über den Weg gelaufen, nicht so, dass ich mich erinnern konnte.

»War er schon immer so schwarz?«

Rose wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Nicht angezogen, aber schwarz, ja.«

»Und wo ist seine Mutter?«

»Bei seiner Geburt gestorben.«

»Der Arme!«

»Man sollte nichts mit ihm zu tun haben.« Rose blieb stehen und drehte sich noch einmal um, also warf auch ich einen vorsichtigen Blick über die Schulter. Da stand er immer noch und bewegte sich nicht. Winkte nicht und ging nicht weg.

»Ah, da seid ihr ja endlich!«, rief Oma begeistert, als hätte sie hundert Jahre auf uns gewartet und uns schon tausend Jahre nicht mehr gesehen. »Und Schweinchen ist auch wieder da. Setzt euch, wir haben schon angefangen.«

Der Trubel um unseren kleinen Grill wirkte wie eine Erholung, Schweinchen wich nicht mehr von meiner Seite und wir ließen uns in die Mitte der Erwachsenen nehmen und bedienten uns an Omas Salaten. Irgendwie war mir die Lust auf Fleisch vergangen.

»Also, im Sommer müsst ihr alle zu uns aufs Weingut kommen«, redete Oma mit vollem Mund, »da wird mal richtig gefeiert. Na, wer weiß, warum?« Sie schaute in die Runde und wischte sich den Fleischsaft aus den Mundwinkeln.

Mama lachte, schüttelte den Kopf und legte Papa eine Hand aufs Bein. »Goldene Hochzeit!«

»Bingo!«

Opa seufzte. »Fünfzig Jahre. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Nein!«, sagte Rose sofort und Papa stand auf, um das Fleisch umzudrehen. Mamas Hand fiel einfach runter.

»Und? Was plant ihr, Franz?«

»Na, einmal noch all unsere Lieben um uns versammeln«, antwortete Oma, »ich meine, fünfzig Jahre, das muss man erst mal hinkriegen.«

Papa brachte fertiges Fleisch und verteilte es auf die Teller. »Du könntest ja vielleicht was auf der Gitarre vorspielen, Röschen! Zum Beispiel ... zum Beispiel ...?« Endlich fiel ihm der passende Schlager ein und wir bekamen eine Kostprobe mit tropfender Fleischzange als Gitarrenersatz. »Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Lie-hiebe nicht!« Er holte tief Luft. »Alles, alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu!«

Rose zog die Augenbrauen hoch, aber Mama kam ihr mit einer Antwort zuvor, wohl wissend, dass Roses wahrscheinlich schmerzhaft gewesen wäre.

»Das musst du schon uns überlassen, ob wir da was vormachen oder nicht, stimmt's, Rose?«

Papa grinste und konnte sich einen kleinen Seitenhieb Richtung Oma nicht verkneifen. »Das wird dir schwerfallen, Schwiegermutter!«

Oma lachte laut und versprühte Fleischreste. Schweinchen grunzte. Ich gab ihm ein Stück von meinem Brot zur Beruhigung und Papa legte von hinten beide Arme um mich.

»Wirst du jetzt auch zur Vegetarierin, Lenchen?«, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich lehnte meinen Kopf an seinen warmen Bauch, der in letzter Zeit ein bisschen nach vorne gewachsen war. Mir war's egal, immerhin noch jemand, dem etwas nach vorne wuchs. »Nee, nur heute.«

Papa klopfte mir leicht auf die Schulter und ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen.

»Eigentlich könnte ich doch jetzt gehen?«, schlug Rose vor.

Oma strahlte sie an. »Röschen, wir sehen uns doch so selten. Komm, hol deine Gitarre und sing uns was vor. Du kannst so schön singen.«

Roses Gesicht verfinsterte sich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Ich hab eine Kehlkopfentzündung.«

Mama schaute sie ernst an. »Wirklich? Dann mach ich dir am besten gleich den Spezialtee, mein Schatz.«

Der Spezialtee war das übelste Gebräu auf Gottes Erde. Wir bekamen ihn immer, wenn wir krank waren, egal was wir hatten, und hielten uns deswegen schwer zurück damit, krank zu werden, oder, wenn wir es waren, es zu erzählen. Rose schoss wütende Blitze in Mamas Richtung.

»Ein Lied, Rose, meinst du, das ließe sich einrichten?« Papa war gnadenlos. »Lene, hol die Gitarre, ja?«

Ich schaute zu Rose. Wollte ihr nicht in den Rücken fallen, ich nicht. Sie schnaubte und nickte leicht. »Meinetwegen.«

Also rannte ich los, weil ich es liebte, wenn Rose sang. Ihre Stimme war dann auf einmal nicht mehr so wie sonst, sondern weich und wie Regen, abgehackt wie Tropfen, die auf ein Zeltdach prasseln, eindringlich wie die ganze Rose. »Pass auf Schweinchen auf.«

Als ich die Gitarre vorsichtig die Treppe hinuntertrug, hörte ich Papas Handy. Es klingelte spacig, wie die Tür eines Raumschiffes, wenn sie per Fernbedienung geöffnet wird, aus seinem Mantel, der ordentlich wie immer an der Garderobe hing. Ich griff mit meiner freien Hand in die Manteltasche und fingerte das Handy raus. Ein verknüllter, selbstklebender Zettel hing daran und ich stellte die Gitarre ab, um ihn abzuziehen. Warum? Wie ein Reflex. Ein Zettel gehört eben nicht an ein Handy.

LIEBE IST ... WENN ER SIE NICHT VERGISST, stand in roten Buchstaben darauf. Daneben ein Herz. Und es war nicht die Handschrift meiner Mutter.