Die Weltenpassage - Mio O'Ness - E-Book
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Die Weltenpassage E-Book

Mio O'Ness

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Beschreibung

Karima, bockig und rebellisch, ist bereits von vier Schulen geflogen und ist es gewohnt ihre Wege allein zu bestreiten. Ein unerklärlicher Unfall bringt sie an einen Ort, an dem ihr alles fremd ist – die Menschen, die Umgebung und die ganze Lebensweise. Sie findet sich in einem Internat für Waisenkinder und noch dazu in einer anderen Welt und in einer anderen Zeit wieder. Tagesablauf und Regeln sind für sie erdrückend. Doch ein Rauswurf aus der Schule könnte nicht nur ungemütlich werden, sondern auch riskieren nie wieder nach Hause zu gelangen. Denn allein der Direktor des Internats kennt den Weg – doch er schweigt. Mit der Hilfe von neugefundenen Freundschaften und ihrem Eigensinn begibt Karima sich auf die verbotene Suche und damit auf gefährliche Wege… "Die Weltenpassage" bringt mit dem Twist einer Zeitreise die klassische Internatsgeschichte auf eine neue, außergewöhnliche Ebene.

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Danksagung

Ich möchte diese Seite nutzen, um meinen Schwestern Conny und Cola sowie meinen Freunden Viola, Heiko, Murat und Thomas ein dickes Danke zu sagen:

Ihr habt mir immer wieder mit Rat und Tat zur Seite gestanden, Kritik geäußert und Fehler aufgespürt.

Bitte verzeiht meine unkreative Danksagung. All meine vorhandene kreative Energie ist in das folgende Werk geflossen – ihr wisst es besser als alle anderen, wie viel Energie es gekostet hat.

Danke, dass ich euch wochenlang…ach was rede ich, monatelang damit auf die Nerven gehen durfte und ihr trotzdem nicht müde wurdet, mich zu unterstützen und mir Mut zu zusprechen.

-liches Danke

Eure Mio

Mio O'Ness

Band 1:Im Antlitz von Zeit und Raum

© 2023 Mio O'Ness

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:

tredition GmbH

Abteilung "Impressumservice"

Heinz-Beusen-Stieg 5

22926 Ahrensburg, Deutschland

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Die Weltenpassage

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Epilog

Die Weltenpassage

Cover

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Prolog

Sheesh, was zur Hölle! Was passiert hier gerade? Ich bin gleich platt wie eine Flunder. Ist das etwa das Ende eines beschissenen Tages und eines noch beschisseneren Lebens – nämlich meines Lebens?

Eigentlich hätte mir das leuchtende LC-Display von Papas Anrufbeantworter heute Mittag schon eine Warnung seien sollen, dass vom heutigen Tag nichts Gutes mehr zu erwarten sein würde. Die Nachrichten auf diesem antiquierten Scheißding drangsalierten mich schon seit Monaten. Doch die heutige Nachricht zeigte mir ganz deutlich, dass mein Leben sich zu einem noch höheren Müllhaufen entwickeln könnte als ohnehin schon.

Und natürlich wollen mir immer alle weismachen, dass ich allein daran schuld bin. Ich solle mich mehr anpassen, meinen Dickkopf absetzen und meine vorlaute Klappe halten. Wisst ihr was: Ihr könnt mich alle mal! Dieser Schulverweis geht mir so was von gepflegt am Arsch vorbei. Es ist der Vierte, na und? Es werden bestimmt noch weitere folgen. Am besten gehe ich in gar keine Schule mehr.

Aber diese letzte Nachricht auf dem Anrufbeantworter nervt mich tierisch. Dabei fing alles so an wie immer. Ich kam nach Hause und auf der Kommode lag ein Zettel mit Papas Sauklaue: Komme heute Abend später!

Lass dir was Neues einfallen, Papa! Den Zettel schnippte ich in den Papierkorb, wo er mit seinen Homies gammeln konnte, bevor ich auf dem Telefon die Wiedergabetaste wählte. Ich hätte es nicht tun sollen. Ich hätte direkt auf Löschen drücken müssen. Immer noch höre ich dieses unsympathische Geschwafel von dem Sesselfurzer: »Guten Tag, Herr Blessing. Hier spricht Thomas Slomka vom Jugendamt. Ich versuche, Sie seit einigen Tagen zu erreichen. Bitte melden Sie sich schnellstmöglich zurück. Es geht um Ihre Tochter Karima. Wir müssen erneut dringend ein Gespräch führen. Sie hat ein weiteres Mal einen Schulverweis erhalten. Und diesmal sieht es sehr ernst aus. Wenn Sie sich nicht bald melden, sind wir gezwungen, Ihre Tochter in einem Jugendheim unterzubringen. Also bitte rufen Sie mich zurück. Meine Telefonnummer ist 073…«.

Mir war natürlich klar, dass mein energisches Drücken der Löschtaste mich nicht aus dieser verfickten Situation befreien würde. Was bildet dieser Honk sich überhaupt ein. Ich gehe bestimmt niemals in ein Jugendheim. Da kann ich ja gleich in einen Knast einziehen.

Warum denke ich überhaupt darüber nach? Habe ich jetzt nicht ein größeres Problem? - Oder die Lösung aller Probleme? Sie rast gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit auf mich zu. Ein solches Ende würde zu meinem Leben passen - katapultartig in das Reich des Todes befördert. Vielleicht ist es auch gut so. Dann habe ich endlich mit dem ganzen Rotz nichts mehr zu tun und chille im Himmel oder in der Hölle oder sonst wo.

Doch Menelaos denkt wohl nicht so wie ich. Typisch Pferd, der will tatsächlich noch versuchen, die Biege zu machen. Menelaos, ich glaube, es ist zu spät. Wir sind lost. Am besten schließe ich die Augen, denn das könnte nun sehr wehtun. Hoffentlich ist es schnell vorbei.«

1

Der Direktor ließ seine stahlblauen Augen aufmerksam über die Schülerschar gleiten, die laut quatschend in den Speisesaal strömte. Er musste sichergehen, dass alles seinen gewohnt geordneten und strukturierten Gang ging. Nicht, dass es irgendeinen Anlass zur Sorge gegeben hätte. Es war seine Gewohnheit. Wenn er ehrlich zu sich war, war es mehr als nur Gewohnheit, es war fast schon ein Zwang. Der Zwang, alles unter Kontrolle haben zu müssen. Nur eine festgesetzte und funktionierende Struktur verlieh ihm Sicherheit. Nur wenn er gewiss war, dass die Abläufe in der Schule reibungslos funktionierten und keiner seiner Schüler aus der Reihe tanzte, fühlte er sich wohl.

Er kannte seine Schüler in- und auswendig - über hundert an der Zahl. Er wusste, bei welchen Schülern er auf Anstand zählen konnte und welche er genau im Auge behalten musste. Ein solches Exemplar nahm er in diesem Moment ins Visier. In gewisser Weise war auch auf diesen Jungen immer Verlass, wie der Direktor mit einem Hauch an Grimmigkeit feststellte. Finn, ein fünfzehnjähriger Junge mit spitzbübischem Lächeln, war gerade dabei, den Servierwagen zu umrunden, wie ein hungriges Raubtier seine Beute. Er warf rasch einen harmlosen Blick über seine Schulter und ging hinter dem Servierwagen in Deckung. Der Direktor ahnte, was der Bengel auf der untersten Etage des Wagens in Augenschein genommen hatte. Der Junge ließ seine einzige Hand, die er noch besaß, langsam in Richtung Nachtisch gleiten. Der Direktor, der dies hatte kommen sehen, war sofort an Ort und Stelle und verpasste ihm einen gezielten Schlag auf die Finger. Finn sprang erschrocken zurück und präsentierte dann ein verschmitztes sowie schuldbewusstes Grinsen, als er dem strengen Blick des Direktors begegnete.

»Finn, Essen vom Servierwagen stehlen ist verboten - und erst recht die abgezählten Kuchenstückchen. Das weißt du!«, mahnte er den Jungen.

»Ich schon, aber mein Magen nicht, Direktor!«

»Dein Magen wird die wenigen Minuten bis zum Mittagessen noch durchhalten können oder deine Hand wird ihn daran erinnern, wenn sie zusätzliche Putzarbeiten verrichten muss.«

»Nicht mehr nötig, ist bereits geschehen«, erwiderte Finn, während er sich die Finger, die immer noch kribbelten, an seinem Hemd rieb. Mit einem Kopfnicken schickte der Direktor den Jungen weiter, als Frau Lunes mit ihrer üblichen entschlossenen und energischen Haltung an ihn herantrat. Eine Haltung, die so gar nicht zu ihrer niedlichen Stupsnase, ihrem mädchenhaften langen Zopf und den Grübchen auf ihren Wangen passen wollte. Aber sie sorgte dafür, dass die Mädchen sie trotz ihres liebreizenden Gesichts als Respektsperson in ihrer Aufgabe als Schlafsaalmutter ernst nahmen.

»Direktor, sie ist wach«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und er folgte ihr ein paar Schritte abseits des Schülerstroms.

»Ihr geht es besser.«

»Gut!«

»Aber …«, sie zog eine Grimasse.

»Aber was?«

»Aber sie redet sehr wirres Zeug. Sie möchte tetefolieren.«

Der Direktor starrte sie verblüfft an. »Sie möchte was?«

»Ich meine, so war das Wort, das sie gebrauchte.«

Der Direktor nickte mit einem Anflug von Unbehagen und schürzte seine Lippen, ehe er meinte: »Ich gehe am besten gleich zu ihr. Haben Sie Dr. Reese schon informiert?«

»Dr. Reese will später nach ihr sehen. Sie solle auf jeden Fall noch einige Tage Bettruhe halten.«

»Aber gegen ein Gespräch mit ihr ist hoffentlich nichts einzu…«

»Ein Gruß aus der Küche!«

Diese frohlockenden Worte veranlassten den Direktor, das Gespräch mit Frau Lunes zu unterbrechen und einen irritierten Blick hinter sich zu werfen. Was er dort sah, versetzte ihn in Schnappatmung. Hinter seinem Rücken hatte Finn seinen besten Freund Julien heran gewunken und gemeinsam bedienten sie sich fröhlich an der Kuchenplatte. Als wäre dies nicht schon Dreistigkeit genug, begannen sie nun weitere Kuchenstückchen an die vorübergehenden Schüler zu verteilen.

Im Augenwinkel registrierte Finn den gefährlichen Ausdruck auf dem Gesicht des Direktors und schmiss die bereits halb leere Kuchenplatte zurück auf den Servierwagen. Als der Direktor sich wütend einen Weg durch die Schüler bahnte, sahen die beiden Jungen zu, dass sie Land gewannen und schoben den Servierwagen als Schutzschild vor sich. Der Direktor beugte sich gefährlich weit darüber, während er zischte: »Ihr könnt froh sein, dass ich jetzt Besseres zu tun habe, als euch die Ohren lang zu ziehen. Ab mit euch auf euren Platz!«

Diesmal wagte keiner der beiden irgendeinen Kommentar abzugeben. Sie verschwanden frech grinsend und immer noch kauend in Richtung der drei großen Tafeln.

Karimas Kopf war schwer wie ein Medizinball und an all ihren vier Gliedmaßen spürte sie mindestens eine schmerzende Stelle. Dieser Schmerz war es auch, der ihr, als sie vor wenigen Stunden benommen erwachte, die Erkenntnis brachte, dass ihr Körper noch vollständig war.

Erst im zweiten Augenblick fragte sie sich, warum sie sich darüber überhaupt Sorgen machte. Dann schob sich zwischen all den wirren Gedanken ein Bild vor ihr inneres Auge: Sie auf ihrem Pferd Menelaos und vor sich ein großer, bedrohlicher Schatten, der rasch näherkam. Diese Erinnerung hatte sie schlagartig in die Realität zurückgeholt. Doch es war nicht die Realität, die sie erwartet hatte. Sie befand sich nicht, wie zuerst vermutet, in ihrem Schlafzimmer, sondern an einem ihr gänzlich fremden Ort. Auch nach einem Krankenhaus sah dieser Raum mit seinen mintgrün gemusterten Tapeten nicht aus. Es gab einen hölzernen Nachttisch, auf dem eine Kerze stand, und lange schwere Vorhänge vor großen Fenstern. Das Bettende an Karimas Füßen war aus massivem Holz gefertigt.

Das Erste, was sie spürte, war Unglaube, gefolgt von Panik, die sie ihre Schmerzen vorerst vergessen ließ. Sie sprang förmlich aus dem Bett und tastete nach ihrem Handy in der Jackentasche. Doch an ihrem Körper befand sich weder ihre Jacke noch ihr Top, geschweige denn ihre Jeans. Stattdessen umhüllte ein Nachthemd ihren Körper, dessen Stil selbst ihre Oma als antik bezeichnet hätte. Karimas Verwirrung hatte sie zurück auf die Bettkante sinken lassen.

Diese Verwirrung war seitdem nicht verschwunden. Selbst der kurze Besuch einer jungen Frau, die sich als Frau Lunes vorstellte, sich fürsorglich um Karimas Wohlergehen bemühte und immer wieder versicherte, es würde ihr bald wieder besser gehen, hatte Karima nur mit Fragen zurückgelassen. Wo zur Hölle war sie? Was war passiert?

Karimas Grübelei wurde jäh durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Sie hob ihre Augenlider und sah zu, wie die Tür langsam geöffnet wurde und erneut die junge Frau ihren Kopf ins Zimmer streckte. Sie nickte zufrieden, als sie Karima wach vorfand und schob die Tür weiter auf. Jetzt erschien ein Mann im Türrahmen. Karima fielen sofort seine durchdringenden blauen Augen und seine harte und strenge Miene auf. Selbst als die beiden den Raum betraten und sich Karimas Bett näherten, zeichnete sich nicht einmal eine Spur von einem Lächeln auf seinem Gesicht ab. Niemals hätte Karima es für möglich gehalten, dass ein so junger Mann (Karima schätzte ihn auf Anfang dreißig) ein derartig ernstes Gesicht haben konnte.

Um nicht weiterhin seinen Blick standhalten zu müssen, ließ Karima ihre Augen zu Frau Lunes gleiten. Sie musterte deren zierliche, aber robust wirkende Gestalt, die in, aus heutiger Sicht, ungewöhnlichen Kleidung steckte – einer Bluse mit Spitzenbesatz und einem bodenlangen Rock. Auch der Mann neben ihr schien dem modernen Stil nicht zugetan. Doch diese Tatsache verlieh seiner ohnehin schon schlanken und eleganten Statur ein fast schon edles Auftreten. Er nickte ihr steif zu. »Guten Tag.«

»Hi«, war alles, was Karima erwiderte.

»Wie geht es dir?«

»Mein Kopf brummt.«

»Dr. Reese meinte, du hättest eine Gehirnerschütterung und Prellungen an Hüften und Beinen. Du bist glimpflich davongekommen.«

»Fühlt sich nicht so an«, entgegnete Karima, während sie einen Ansatz an Erleichterung verspürte, als sie hörte, dass ein Arzt ihre Verletzungen bereits begutachtet hatte. Und die Überlegung, sie könnte sich doch in einem Krankenhaus befinden, ließ ihre Beklommenheit verschwinden.

»Wie ist dein Name?«

»Karima!«

»Wie alt bist du, Karima?«

»Fünfzehn! Wo ist Menelaos, mein Pferd?«

»In meinen Stallungen. Es geht ihm gut.«

Ein weiterer Punkt, den Karima aufatmen ließ und sie lächelte zufrieden. »Danke. Und Sie sind?«

»Du darfst mich mit Direktor ansprechen.«

»Direktor? Was für ein Direktor?«

»Der Direktor dieser Schule, eine Erziehungsanstalt für Waisenkinder.«

Die Erleichterung, die sie noch vor wenigen Sekunden empfunden hatte, verpuffte augenblicklich und sie setzte sich erschrocken auf.

»Was?!« Im nächsten Moment bereute sie ihre schnelle Bewegung und hielt sich stöhnend den Kopf. Mit vor Schmerz unterdrückter Stimme fragte sie: »Ich bin in einem Kinderheim?«

»Mach dir keine Sorgen. Hier wird alles gut.«

»Nichts wird hier gut. Wie kommen Sie auf so einen Scheiß? Ich will hier nicht sein. Sind Sie etwa vom Jugendamt?«

Der Direktor und Frau Lunes warfen sich irritierte Blicke zu, während Karima sich zurück in das Kissen fallen ließ und fassungslos brabbelte: »Wie ist das möglich? Ich habe doch alle Briefe weggeschmissen. Die Mails gelöscht. Die Anrufe blockiert. Wie konnten sie mich finden? Das darf doch nicht wahr sein.«

Sie richtete sich wieder auf. »Ich muss jetzt wirklich telefonieren.«

Frau Lunes trat näher an den Direktor heran und raunte ihm ins Ohr: »Das meinte ich.«

»Bitte! Ich brauche jetzt dringend mein Handy. Es kann sich hier nur um ein Missverständnis handeln.«

Frau Lunes ging auf Karima zu und drückte sie mit sanfter Gewalt zurück in das Kissen.

»Beruhige dich, Mädchen. Du bist noch nicht bei Kräften. Ich verspreche dir, es wird alles gut.« Doch Karima beachtete die Worte der Frau nicht, während sie erneut zu sich redete: »Bestimmt habe ich es im Wald verloren. Ohne mein Handy bin ich aufgeschmissen.«

Frau Lunes wandte sich wieder mit hochgezogenen Augenbrauen dem Direktor zu, der die Szene mit deutlichem Unbehagen musterte. »Hören Sie das, Direktor? Sie redet wirres Zeug.«

»Sie hat sich bei dem Unfall schwer den Kopf gestoßen. Das wird wieder.«

»Alter, ich rede kein wirres Zeug. Ich will nur mein Handy haben!«

In den Augen des Direktors blitzte es für einen Moment gefährlich auf, bevor er mit betont ruhiger Stimme sprach: »Frau Lunes, wären Sie bitte so freundlich, mich mit Karima für einen Moment allein zu lassen. Und könnten Sie Dr. Reese Bescheid sagen. Er soll sie noch einmal untersuchen.«

Frau Lunes nickte pflichtbewusst, verließ mit einem weiteren irritierten Blick auf Karima das Zimmer und schloss die Tür.

»Ich brauche keinen Arzt! Ich brauche ein Handy oder ein Telefon. Meinetwegen auch einen internetfähigen Computer. Dann kann ich zumindest eine E-Mail schreiben.«

»Tut es auch Schreibfeder und Papier?«

»Ich wollte keine Briefe verschicken.«

»Etwas anderes haben wir nicht hier!« Die ernste Stimme bei diesem offensichtlichen Witz irritierte Karima zwar, trotzdem konnte sie mit einer passenden sarkastischen Antwort kontern: »LOL! Aber dann hoffentlich Briefeulen.«

»Nein, wir verwenden Brieftauben oder einen Kurier per Pferd.«

»Sehr witzig!«, kam es tonlos von Karima.

»Das ist kein Witz.«

Karima blickte in die regungslose Miene des Direktors. Sie runzelte unsicher die Stirn. Der Humor dieses Mannes schien ihr äußerst befremdlich zu sein.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie langsam.

»Das werde ich versuchen, dir jetzt zu erklären.« Doch anstatt fortzufahren, ging er einige Schritte auf und ab. Karima musterte ihn dabei argwöhnisch.

»Okay?! Bin bereit.«

»Ich …«, der Direktor räusperte sich kurz. »Ich werde dir alles sagen. Soweit ich kann«, fügte er rasch hinzu.

»Cool!« Sie beobachtete, wie er weiterhin nervös durch den Raum schritt. Er ließ ein erneutes Räuspern hören. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich es dir am besten sagen kann.«

»Wie ist mir egal, Alter, aber mach‘s heute noch?«

Der Direktor warf dem Mädchen einen bösen Blick zu. Er hätte ihr jetzt am liebsten etwas anderes erzählt, aber er besann sich.

»Dein Unfall - kannst du dich an ihn erinnern?«

»Bruchstücke. Ich weiß nur noch, dass ich auf Menelaos unterwegs war.«

Der Direktor nickte, bevor er tief Luft holte und endlich in seinem Umherwandern innehielt.

»Bei dem Unfall ist etwas passiert … er hat etwas ausgelöst. Etwas, dass nicht hätte passieren dürfen. Du wirst bald sehen, dass hier nichts ist, wie du es kennengelernt hast. Du wirst dich an das Leben hier erst gewöhnen müssen.«

Der Direktor räusperte sich erneut und Karima schüttelte den Kopf.

»Sheesh, ich werde hier sicher nicht einen Tag länger abhängen als nötig.«

»Dir wird nichts anderes übrigbleiben.«

»Sie dürfen mich hier nicht gefangen halten. Ich habe einige Schulverweise erhalten und vielleicht ist das ein oder andere schiefgelaufen, zugegeben, aber sicher nicht so sehr, dass ich meine restliche Jugendzeit in ihrem abartigen Bildungsschuppen verbringen muss.«

»Ich halte dich hier nicht gefangen. Ich gebe dir die Chance auf ein Leben ohne Hunger und Armut«, sagte er und sein Ton nahm eine unangenehme Schärfe an.

»Ganz so schlecht ging es mir auch nicht. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.«

»Dir wird es aber schlecht ergehen, wenn du dieses Haus verlassen solltest.«

Karima blieb für einen Moment die Luft weg und es dauerte einen Moment, bis sie sich besann.

»Soll das etwa eine Drohung sein?«, zischte sie fassungslos.

»Nein. Das ist Tatsache«, sagte er so finster, dass dem Mädchen ein Schaudern über den Rücken lief. Ihr entfuhr es ein fassungsloses Schnauben.

»Ihre Oliver-Twist-Nummer 2.0 können Sie sich dahin schieben, wo die Sonne nicht scheint.«

»Junges Fräulein, jetzt reicht es«, rief der Direktor erbost. »Deine Wortwahl ist ja schockierend.«

»Wer sind Sie? Der große Retter der verlorenen Kinder?«

»Ich muss dich nicht davon überzeugen. Du kannst gerne gehen. Die Tür steht dir offen.«

»Vielen Dank. Ich werde hier sicher nicht freiwillig aus einem Blechnapf fressen und sinnlose Therapiege-spräche mit irgendwelchen abgedrehten Psychologen führen.«

»Stellst du dir das Leben in einem Kinderheim so vor? Sei dir gewiss, das verlangt keiner von dir. Du sollst dich hier nur anpassen. Denn wie bereits gesagt, wirst du bald merken, dass dir nicht nur diese Schule fremd ist, sondern auch die Welt drumherum, ihre Bewohner und ihr Leben.«

Karima runzelte die Stirn. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie und dieser Direktor vom selben Thema sprachen.

»Was meinen Sie?«

»Mach die Augen auf, Mädchen«, sagte er nur knapp. Das verschlug Karima für einen Augenblick die Sprache. Sie musterte ihn eingehend, dann suchte sie im Zimmer nach einem Hinweis, der bei ihr den Groschen fallen ließ. Bis auf das altertümliche Mobiliar konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Als Karima ihre Aufmerksamkeit wieder dem Direktor zuwandte, begegneten sich ihre Blicke und in seinen eisblauen Augen konnte man eine Spur Mitleid erkennen. Karima seufzte schwer und sagte: »Ich verstehe es nicht.«

»Du musst es nicht verstehen. Nur akzeptieren.«

»Ich … ey. Was soll das? Ich bin mega lost.«

»Wie bitte?«

»Lost! Verloren! Am Arsch!« Karimas erneut aufflammendes kratzbürstiges Wesen veranlasste den Direktor, sich abzuwenden. Es kostete ihm offensichtlich einiges an Mühe, keine Schimpftirade über das Mädchen mit der ungezügelten Zunge loszulassen. Bei seinem Gang zur Tür sagte er nur: »Mit der Zeit wirst du verstehen, was ich meine. Ruhe dich aus. Dann bist du schon bald wieder auf den Beinen.«

»Und auf dem Weg nach Hause?«, sagte sie schnippisch, worauf er ihr nur einen finsteren Blick schenkte. Er verschwand und Karima blieb nichts anderes übrig, als ihm fassungslos hinterher zu blicken. Schwer ließ sie sich zurückfallen, hielt sich den schmerzenden Kopf und flüsterte: »Creepy!«

Ihr kam es vor, als stünde um sie herum, plötzlich die ganze Welt Kopf … oder vielleicht war mit der Welt alles in Ordnung, und nur sie allein war kopfüber gekippt. Vielleicht hatte der Reitunfall ihre Sinne benebelt. Oder waren selbst dieser Unfall und der dunkle Schatten, der blitzschnell zwischen den Bäumen aufgetaucht war, nur eine lebhafte Fantasie und das alles hier lediglich Sinnbild ihres aus den Fugen geratenen Lebens? Oder doch der Tod? Wie zur Hölle war es dem Jugendamt so schnell gelungen, sie abzugreifen? Und wie sollte sie sich aus diesem Schlamassel wieder befreien? Und was genau hatte der Direktor ihr eigentlich erzählen wollen? Hier war eindeutig etwas nicht ausgesprochen worden. Was war es? Sie wusste es nicht und die Suche nach den Antworten würde sie verschieben müssen, bis ihr Kopf und auch ihre vier Gliedmaßen wieder vollkommen einsatzbereit waren.

Sie schloss die Augen in der Hoffnung, in einen Schlaf zu finden, aus dem sie aufwachen und alles wie immer vorfinden würde. Sie allein zu Hause in ihrem Schlafzimmer und ein Zettel von ihrem Vater auf der Kommode im Flur mit der Nachricht: Bleibe über Nacht weg!

Ein ohrenbetäubendes Scheppern, gefolgt von lautem Gejohle ließ Flavian zusammenzucken. Er wandte den Blick von der untergehenden Abendsonne ab und dem Schlafsaal hinter sich zu. Das war sie also, die sogenannte Ruhestunde, dachte er verdrießlich. Ruhe gab es selten um diese Zeit. Doch der heutige Lärmpegel übertraf den gewöhnlichen bei weitem. Das lag eindeutig an Finn und Glenn, die sich ein neues Spiel ausgedacht hatten.

Finn und Glenn bildeten die Spitze der Tunichtgute dieser Schule. Während Glenn jedoch inzwischen um einiges gemäßigter ans Werk ging, war und blieb Finn ein flegelhafter Lümmel. Seine vorlaute Zunge hatte insbesondere dann Hochphase, wenn der Moment für freche Kommentare am unpassendsten war. Und in der Regel waren seine Streiche so schlecht durchdacht, dass er umgehend als Übeltäter entlarvt wurde. Hätte man das Flavian eher gesagt, hätte er sich niemals mit Finn angefreundet und sich damit einiges an Ärger erspart. Bereits in den ersten Jahren an dieser Schule hatte Flavian sich immer wieder zu den waghalsigsten Streichen überreden lassen. Dadurch hatte Finn ihn und auch ihren gemeinsamen Freund Julien nicht selten in Bredouille und in arge Schieflage gebracht - nämlich in die Art von Schieflage, in die man kam, wenn man vom Schlafsaalvater übers Knie gelegt wurde.

Inzwischen waren sie älter und Flavian nicht mehr ganz so schnell zu überzeugen. Finn dagegen schien nichts dazu gelernt zu haben. Wieder ertönten ein lautes Krachen und Klappern. Flavian beneidete in diesem Moment Julien, der mit verschränkten Fingern vor seinem Bett kniete. Er war so tief in sein Gebet versunken, dass ihn der Lärm nicht zu erreichen schien.

Doch Flavian kam nicht umhin, den kleinen Wettkampf zu verfolgen, den sich Glenn und Finn lieferten. Sie warfen Bälle, genauer gesagt mit Sand befüllte und mit Schnürsenkeln zusammengebundene Stofftaschentücher, quer durch den Schlafsaal. Ziel war ein Eimer, der an der Eingangstür befestigt war und bei jedem Treffer schepperte, als wolle er sich über die harten Wurfgeschosse lauthals monieren.

Finn war an der Reihe, den Ball zu versenken. Doch er verfehlte den Eimer um Längen und fegte mit seinem Geschoss stattdessen eine Kerze von der nebenstehenden Kommode.

»Verdammt!«, schimpfte er, während Glenn siegessicher die Faust in die Höhe streckte. Flavian konnte ein gehässiges Lachen nicht unterdrücken.

»Sei froh, dass du keinen zweiten Arm besitzt«, rief Flavian höhnisch zu Finn hinüber. »Du scheinst ja schon mit nur einem überfordert zu sein.«

Finn wirbelte zu seinem Freund herum, während Glenn lauthals lachte. Auf seinem Gesicht konnte man neben dem schelmischen Grinsen eine ungebremste Kampfbereitschaft erkennen. Flavian wappnete sich innerlich gegen eine fiese Revanche.

»So, Kleiner!«, schnarrte Finn.

Aha! Sein Freund fuhr also die ganz harten Geschütze auf. Er wusste, wie sehr Flavian diese Anrede reizte. Zugegeben, für sein Alter von fünfzehn Jahren war er sehr klein. Er war schon immer ungewöhnlich klein und zierlich gewesen. So klein, dass Dr. Reese ihn mehrmals untersucht hatte, als man ihn in der Schule aufnahm. Aber das eingetragene Geburtsjahr im Kirchenbuch konnte der Arzt schließlich doch bestätigen und gab die Diagnose Kleinwüchsigkeit aufgrund von Mangelernährung. Eine Folge des Lebens auf der Straße.

»Dann zeig doch mal, ob du das besser kannst«, sagte Finn und hielt Flavian einen der gefüllten Sandsäckchen hin. Diese Herausforderung konnte Flavian nicht ablehnen. Hier ging es um seine Ehre, die Finn mit seiner Titulierung in Mitleidenschaft gezogen hatte. Er hüpfte von der Fensterbank und nahm den Ball entgegen.

Für einen Moment balancierte er ihn über seiner Handfläche und seinen Fingern, während er konzentriert die Entfernung zur Tür abmaß. Dann holte er aus und schleuderte den Ball kräftig gen Ziel. Im selben Moment, als der Ball wie eine Granate in dem Eimer einschlug, öffnete sich die Tür. Der Eimer löste sich aus seiner Halterung, rumste mit enormer Wucht auf den Boden und traf dabei mit der Kante den großen Zeh des Schlafsaalvaters, der zur Tür hineintrat. Herr Fander, ein korpulenter, energischer Mann mit Schnauzbart, hielt für einen Moment mit schmerzverzerrtem Gesicht die Luft an. Die Schüler im Schlafsaal taten es ihm gleich. Für einige Sekunden herrschte absolute Stille, die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Finn wandte sich betont langsam ab und Glenn ließ seinen Arm, den er bereits für seinen nächsten Wurf in Position gebracht hatte, wie in Zeitlupe wieder sinken. Flavian duckte sich hinter das nächste Bett.

»Ihr!«, grollte Herr Fander und deutete bedrohlich auf Finn und Glenn. Flavian wurde, wie so oft, übersehen und war dieses eine Mal heilfroh. Glenn wurde blass und Finn kniff die Augen fest zusammen, als hoffe er, Herr Fander würde verschwinden, wenn er ihn nicht mehr sah.

»Was fällt euch ein?«, donnerte Herr Fander ohrenbetäubend und die beiden Tunichtgute rückten ängstlich näher zusammen. Finn warf Flavian einen bösen Seitenblick zu. Dieser zeigte seinem Freund hämisch die Zunge und kroch unters Bett, als Herr Fander wie ein angeschossener, rasender Bulle auf die Jungen zu humpelte. Beide wurden am Kragen gepackt und aus dem Schlafsaal bugsiert. Während Herrn Fanders Geschimpfe und Finns und Glenns lautstarke Verteidigung vom Korridor zu ihnen hineinwehte, kroch Flavian unter dem Bett hervor. Julien machte das Kreuzzeichen und öffnete die Augen. Sein Blick, mit dem er Flavian vorwurfsvoll musterte, zeigte, dass er doch nicht so tief ins Gebet versunken gewesen war, wie von Flavian vermutet. Flavian verteidigte sich stumm mit einem Grinsen, das deutlich signalisierte: Selbst schuld! Dann zuckte er mit den Schultern und ging wieder zurück zum Fenster. Dort hielt er zufrieden seine Nase in die Abendluft und genoss die eingekehrte Ruhe im Schlafsaal.

Auch im Wohnzimmer des Direktors stand ein Fenster offen und eine sanfte Brise wehte durch seine Privaträume.

»Setzen Sie sich, Raoul«, sagte der Direktor höflich und deutete auf einen Stuhl. Die beiden Herren nahmen gegenüber an einem Tisch Platz, zwischen ihnen ein Schachbrett, auf dem noch ungeordnet die Figuren lagen.

»Ich komme gerade von einem Besuch bei dem neuen Mädchen, Karima«, berichtete der junge Arzt, während er sich setzte.

»Wie geht es der Patientin inzwischen?«

Dr. Reese wiegte unschlüssig den Kopf hin und her, bevor er antwortete: »Soweit gut. Mit der Prellung und den Schürfwunden wird sie noch ein paar Tage zu tun haben, aber das ist nicht der Rede wert. Sie könnte morgen in den Schlafsaal umziehen.«

»Eine sehr gute Nachricht. Dann werde ich morgen alles Nötige veranlassen.«

Dr. Reese zögerte für einen Moment. Nachdenklich strich er sich über seinen Vollbart und musterte seinen Freund, unsicher, ob er das Thema ansprechen sollte. Der Direktor bemerkte das Zögern und blickte auf. Die beiden kannten sich zu gut, um dem anderen etwas vormachen zu können. In den Jahren, die Dr. Reese als Lateinlehrer und Arzt an der Schule des Direktors tätig gewesen war, war ihre anfänglich kollegiale Beziehung zu einer festen und innigen Freundschaft gewachsen. Diese war geprägt von großem Respekt und einem noch viel größeren Vertrauen zueinander. Der Direktor nickte kaum merklich, was Dr. Reese dazu veranlasste, auszusprechen, was er dachte: »Sie hat bisher nicht den Eindruck erweckt, dass sie wirklich hierbleiben möchte.«

Der Direktor senkte seinen Blick auf das Schachbrett, nahm eine weiße und eine schwarze Figur in je eine Faust und hielt beide seinem Freund hin. Dr. Reese tippte auf die linke Hand und zog damit weiß.

»Sie steht unter Schock. Verständlich nach so einem Unfall«, erwiderte der Direktor und begann seine Figuren zu ordnen.

»Frederick, ich glaube nicht, dass ihr überhaupt bewusst ist, dass sie ab sofort in Ihrer Schule leben muss, beziehungsweise darf. Sie ist der festen Überzeugung, dass sie nach Hause zurückkehren wird.«

»Es ist schwer für sie, das alles zu verkraften. Ich werde morgen noch mal mit ihr darüber reden.«

Dr. Reese nickte, obwohl er spürte, dass hier noch längst nicht alles gesagt war. Er fing ebenfalls an, seine Figuren auf dem Schachbrett auf ihre Startpositionen zu stellen.

»Sie ist etwas …«, Dr. Reese suchte nach dem richtigen Wort, »sonderbar. Ihre Sprache und ihr ganzes Benehmen. Woher kommt sie?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten.«

»Sie können nicht oder Sie wollen nicht?«

Der Direktor zog es vor, nicht zu antworten und seine volle Aufmerksamkeit seinen noch zu positionierenden Figuren zu widmen.

»Was geht hier vor sich?«

»Bitte Raoul, stellen Sie keine Fragen.«

»Sie halten etwas geheim.«

Wie so oft legte Dr. Reese seinen Finger direkt in die Wunde. Er wusste um die gekonnte Verschwiegenheit seines Freundes und schon oft hatte diese Methode die Tür zu seiner verschlossenen Art geöffnet. Doch heute wollte es nicht gelingen.

»Es ist nichts. Ihr erster Zug, bitte.«

Dr. Reese setzte den ersten Bauern nach vorne.

»Sie hat mir komische Fragen gestellt.«

Dieser Umstand machte den Direktor nervös, doch er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen.

»Was für Fragen?«

»Ob ich wisse, von wo der nächste …«, Dr. Reese überlegte kurz, »… Bus fährt. Oder ob es denn keine glühenden Birnen in diesem Haus gäbe.«

»Glühende Birnen?«

»Ja!«

»Interessant! Sonst noch etwas?«

Das unbekümmerte Desinteresse war zu aufgesetzt, als das Dr. Reese dem hätte Glauben schenken können. Er seufzte: »Frederick, erzählen Sie schon. Was wissen Sie über ihr besonderes Benehmen?«

Treffer, die Fassade begann zu bröckeln.

»Raoul, hören Sie auf nachzubohren«, erwiderte der Direktor mit einem leicht gereizten Unterton. »Karima wird sich hier schon bald eingelebt haben, da bin ich mir sicher. Auch wenn sie es schwerer haben wird. Ihre Herkunft ist in der Tat nicht vergleichbar mit der der anderen Schüler. Mehr weiß ich aber auch nicht über sie. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass sie bei uns ankommt.«

»Ich muss also meine Neugier zügeln?«

»Ich bitte Sie inständig darum. Ihr nächster Zug!«

Dr. Reese ließ ein weiteres Seufzen vernehmen.

»Na gut!« Er setzte seinen Springer auf F3.

2

Frau Lunes stand vor Karimas Krankenbett und hielt dem Mädchen ein Stapel Kleider hin.

»Was soll das sein?«

»Deine neue Kleidung«, erwiderte Frau Lunes knapp. Skeptisch nahm Karima die ordentlich gefaltete Kleidung entgegen und breitete sie aus. Ihr entfuhr es ein ungläubiges Prusten.

»Was zur Hölle! Was ist das?«

»Rock, Bluse und Mieder.«

Karima hob eine knielange, weiße Hose hoch und machte ein Würgegeräusch. »Und das?«

»Eine Unterhose!« Die Verwunderung über die komischen Fragen des Mädchens konnte Frau Lunes nur schwer verbergen.

»Alter, das ziehe ich nicht an. Auf keinen Fall. Wo sind meine Jeans und mein Top?«

»Die Sachen hat der Direktor.«

»Na schön. Er soll sie mir vorbeibringen.« Mit angewiderter Miene ließ Karima die Kleidung demonstrativ auf den Boden fallen. »Das werde ich save nicht tragen!«

»Gut!« Frau Lunes Augen verengten sich leicht. »Du willst nicht. Dann geh an deinem ersten Schultag nackt. Soll mir recht sein.«

Karima fiel aus allen Wolken. »Mein erster was?!«

»Dr. Reese teilte uns mit, dass du nun gesund genug bist, um am Unterricht teilnehmen zu dürfen.«

»Nein!«, rief Karima. »Ich werde hier nicht zur Schule gehen. Ich gehe morgen wieder nach Hause.«

Frau Lunes schenkte ihr einen weiteren ungläubigen Blick, dann straffte sie sich und sagte bestimmt: »Zieh dich an. Der Direktor wird bald hier sein.« Damit verließ sie das Krankenzimmer. Karima beförderte die Kleidungsstücke am Boden mit einigen gezielten Fußtritten quer durchs Zimmer und schmiss sich dann zurück aufs Bett.

In dieser Position verharrte sie und stierte Löcher in die Decke, bis sich erneut die Tür öffnete. Diesmal war es, wie bereits angekündigt, der Direktor. Mit missbilligender Miene registrierte er die herumliegende Kleidung und dann Karima, die immer noch das Nachthemd trug.

»Warum bist du noch nicht umgezogen?«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung deutete Karima auf die Kleidung und maulte: »Das kann ich nicht tragen. Wo sind meine Klamotten?«

»Ich habe sie verbrannt. Sie waren ohnehin kaputt. Die Hose hatte mehrere Löcher.«

Karima konnte sich nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen. »Alter, das nennt man Used-Look.«

»Wie auch immer. Das kannst du hier nicht tragen.«

»Und wissen Sie, wo mein Smartphone ist?«

»Ebenfalls verbrannt.«

Karima sprang erschrocken vom Bett. »Was?! Verarschen sie mich gerade? Da waren alle meine Kontaktdaten drauf, Bilder, Videos. Alles! Mein ganzes Leben!«

»Du wirst es hier nicht mehr brauchen«, sagte er nur kühl.

»Ich brauche das sehr wohl. Haben Sie eine Ahnung, wie teuer das Ding war?«

Der Direktor entschied sich, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen. Stattdessen deutet er auf den Rock zu seinen Füßen. »Du ziehst das an! Keine weitere Diskussion! Ich komme in fünf Minuten wieder.«

Mit vor Wut zusammengepressten Lippen setzte sich Karima steif auf ihr Bett und verschränkte die Arme. An der Tür drehte sich der Direktor noch einmal zu ihr um und musterte sie fragend. »Brauchst du erst eine schriftliche Aufforderung?«

»Ja, bitte per WhatsApp oder Signal«, feixte Karima. »Ach ne, wird ja schwierig ohne Handy.«

Der Direktor warf ihr einen letzten strengen Blick zu und verschwand aus dem Zimmer. Karima seufzt genervt und schüttelt dann schockiert den Kopf.

»Was geht hier vor sich?« Mit spitzen Fingern fischte sie sich die Bluse vom Boden und warf einen erneut angewiderten Blick darauf.

Störrisches kleines Biest, schoss es dem Direktor durch den Kopf, als er die Tür hinter sich schloss. Er kannte diese Art von Jugendlichen nur zu gut. Jugendliche, denen Respekt und Anstand ein Fremdwort waren und die es nicht gelernt hatten, sich in Anwesenheit von Erwachsenen zu zügeln. Bei seinen Schülern hätte er einem derartig aufmüpfigen Verhalten direkt den Garaus gemacht. Doch bei Karima musste er sich vorsehen. Es war von entscheidender Wichtigkeit, dass das Mädchen sich hier schnell einlebte und anpasste. Und dabei so wenig Aufsehen wie möglich erregte. Auch wenn ihm das gegen den Strich ging, wusste er, dass seine Zukunft nun von dem guten Willen dieses Mädchens abhing. Dann kam ihm eine Idee, wie er ihr aufsässiges Gemüt für das heutige Gespräch besänftigen könnte.

Er gab ihr eine Viertelstunde Zeit, bevor er erneut an ihre Tür klopfte, in der Hoffnung, sie sei über ihren starrsinnigen Schatten gesprungen. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er nicht enttäuscht. Tatsächlich hatte sie ihr Nachthemd abgelegt und wie befohlen die bereitgelegte Kleidung angezogen. Aber selbst dann noch sorgte sie für Verblüffung bei ihm.

»Was soll der Knoten im Rock?«

»Ich habe versucht, die Kluft etwas stylischer zu machen«, antwortete sie, während sie mit verdrießlicher Miene an sich heruntersah.

»Mach ihn raus. So nehme ich dich nicht mit.«

Ungehalten zupfte sie am Spitzenbesatz des Stehkragens.

»Wohin?«

»Zu deinem Pferd.«

Karimas Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Ich kann Menelaos sehen?«

»Ja, wenn du dich ordentlich angezogen hast.«

Karima löste augenblicklich den Knoten aus dem Rock. Der Direktor schien zufrieden und wandte sich zum Gehen. »Folge mir!«

Erst jetzt, als sie dem Direktor durch die Korridore folgte, wurde ihr die Größe des Gebäudes bewusst, in dem sie sich befand. Natürlich hatte sie bereits einige Blicke durch das Fenster in ihrem Zimmer geworfen und sich weit hinausgelehnt, um an der Fassade hinabzublicken. Aber dies hatte ihr einzig die Erkenntnis gebracht, dass sie sich im dritten Stock befand.

Sie hatte es auch mal gewagt, den Korridor vor ihrer Tür hinunterzuwandern. Wurde aber bereits an der ersten Ecke von Frau Lunes aufgelesen, die sie mit den Worten: »Schämst du dich denn gar nicht, halbnackt in der Schule umherzulaufen?« zurück ins Zimmer und in ihr Bett gescheucht hatte.

Doch jetzt stand dem Mädchen die Verwunderung deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie hatte bereits mehrere Schulen von innen gesehen, insgesamt vier Stück an der Zahl. Aber keine hatte bisher eine derartig große Anzahl an verschachtelten Korridoren, Zimmern, Türen, Treppen und Winkeln besessen wie diese hier. Und als der Direktor sie schließlich durch einen Durchgang auf eine Empore schob, blieb sie entgeistert stehen. Unter ihr tat sich eine gigantische und majestätisch wirkende Halle auf, in der eine breite herrschaftliche Treppe mit einem ausladenden Geländer von der Empore hinunter zu einer großen hölzernen Eingangstür führte. Das alles gekrönt von einer kunstvoll verzierten Decke und umrandet von mit Stuck veredelten Wänden.

»Sie sagten, dass hier sei ein Kinderheim?«, vergewisserte Karima sich.

»Das ist es!«

»Der Schuppen wäre glatt einen Post auf Instagram wert!«

Das zischende Geräusch, das der Direktor von sich gab, ließ eine Mischung aus Missbilligung und einer nicht ausgesprochenen Warnung verlauten. Sie ignorierte es und schaute sich erneut perplex um, bevor sie dem Direktor die Treppe hinunter zum Schlossportal folgte.

Hinter dem Portal betraten sie eine breite Steintreppe. Unterhalb der ausladenden Stufen wartete ein junger Mann mit Menelaos am Zügel. Karima seufzte erleichtert, als sie ihr Pferd entdeckte, sprang sogleich zu ihm hinunter und fiel ihm um den Hals.

»Menelaos, ich kann es kaum glauben«, nuschelte sie in sein Fell. Dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände. »Du siehst gut aus. Es geht dir wirklich gut.«

»Das ist Jurij, mein Stallbursche«, sagte der Direktor, der am oberen Treppenabsatz stehen geblieben war und dem jungen Mann nun ein dankbares Nicken schenkte.

»Er hat sich vorbildlich um dein Pferd gekümmert.«

Karima sah auf und nahm Jurij erst jetzt richtig wahr.

»Danke. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin.«

»Es war mir ein Vergnügen. Es ist ein großartiges Pferd«, sagte Jurij und zeigte dabei ein strahlendes Lächeln auf einem mit Sommersprossen übersäten Gesicht. Seine struppigen Haare und die dreckige Kleidung bildeten einen deutlichen Kontrast zu dem pedantisch ordentlichen Aussehen des Direktors. Der Stallbursche wirkte fröhlich und offen und Karima empfand direkt eine tiefe Sympathie, als er meinte: »Der Stall ist dort hinten, hinter dem Eingangstor. Du kannst ihn nicht verfehlen. Du bist jederzeit willkommen.«

»Ich komme sofort mit.«

»Nein! Heute noch nicht«, ging der Direktor dazwischen und erntete von Karima ein trotziges: «Doch!«

Der Direktor ließ sich davon nicht beirren und schüttelte den Kopf. »Nein, Karima. Ich möchte noch etwas mit dir besprechen.«

»Geh lieber«, flüsterte Jurij ihr zu und nickte in Richtung des Direktors. »Ich gebe Menelaos eine extra Portion Streicheleinheiten, damit er dich nicht zu schmerzlich vermisst. Versprochen!«

Karima zeigte ein schwaches Lächeln, dass jedoch zu einem enttäuschten Schmollmund wurde, als sie zum Direktor hinaufblickte.

»Na gut! Tschüss, mein Süßer«, verabschiedete sie sich schließlich von Menelaos und blickte ihm sehnsüchtig hinterher, als er von Jurij zurück zum Stall geführt wurde. Dann stieg sie wieder die Stufen zum Direktor empor und sagte: »Ich wollte auch noch mit Ihnen reden.«

»Ich höre!«

»Frau …«, sie suchte nach dem Namen.

»Frau Lunes«, half der Direktor ihr weiter. »Sie ist unsere Schlafsaalmutter.«

»Genau! Sie sagte vorhin etwas von meinem ersten Schultag. Ich will nur noch mal klarstellen, dass ich nicht hierbleiben werde. Ich werde wieder nach Hause gehen. Mir geht es gut. Meinem Pferd auch. Also sind Sie uns schon bald wieder los.«

»Ich denke nicht!«

»Was soll das heißen?«

»Bevor ich dir das beantworte, habe ich noch Fragen an dich«, erwiderte der Direktor. »Kannst du dich inzwischen an deinen Unfall erinnern?«

»Es kommt langsam. Etwas hatte Menelaos erschreckt.«

Der Direktor nickte zögernd. »Wir fanden eine weitere Person am Unfallort.«

»Eine weitere Person?«

»Ein Mann und eine Art Auto.«

Karima runzelte die Stirn.

»Ein Auto?« Der Schatten in ihrer Erinnerung nahm langsam Gestalt an. »Ja…Ja! Jetzt erinnere ich mich.« Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen, aus Angst, das Bild in ihrem Kopf könnte wieder verschwinden. Sie sah sich auf Menelaos einen kleinen schmalen Waldweg entlang galoppieren. Plötzlich erklangen Motorengeräusche, ein Quad raste um eine Kurve und hielt genau auf sie zu. Der Fahrer versuchte panisch zu bremsen und das Quad begann zu schlingern. Menelaos warf erschrocken den Kopf in die Höhe und sprang zur Seite auf einen Abhang zu. Die Hufe fanden plötzlich keinen Halt mehr und das Pferd rutschte mit Karima den Abhang hinab. Das Quad verlor den Boden unter den Reifen und flog über sie hinweg. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Mehr zeigte ihr das Bild nicht.

«Da war ein Quad. Wir wurden von ihm überrascht.«

»Kanntest du den Mann?«

Karima schüttelte den Kopf, was den Direktor merkwürdigerweise zu erleichtern schien.

»Was ist mit ihm?«, wollte sie wissen. Die Antwort des Direktors kam zögerlich: »Er hat den Unfall nicht überlebt.« Karima entwich ein bestürztes: »Oh«. Die Erkenntnis, dass sie womöglich Mitschuld am Tod eines Menschen trug, ließ sie für einen Moment sprachlos werden. Der Direktor nutzte diese Gelegenheit und fuhr langsam fort: »Dieses Quad muss sehr schnell gefahren sein. Es hatte eine unglaubliche Wucht. Es hat etwas ausgelöst, was nicht hätte passieren dürfen.«

»Etwas ausgelöst?«

»Ja! Aber da ist noch etwas. Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Ich kann dir nicht alles erzählen. Nur so viel, dass du es vielleicht ein bisschen nachvollziehen und eher akzeptieren kannst.«

Karima musterte die ernste Miene des Mannes, die nun noch eine Spur härter wurde, und sie wappnete sich innerlich gegen eine Hiobsbotschaft.

»Dein Rückweg nach Hause … ich muss dir sagen, also … den Weg nach Hause wird es nicht mehr geben. Du wirst nicht mehr zurückkehren können. Ich …«

»Was reden Sie da?«, fuhr Karima dazwischen.

»Dass du Abschied nehmen musst…von deinem alten Leben.« Er sagte dies, ohne sie anzusehen. Als könnte er ihren bestürzten und ungläubigen Ausdruck im Gesicht nicht ertragen.

»Was?«

»Dieser Ort hier wird ab sofort dein neues Zuhause sein.«

»Nein! Nein, das wird er nicht! Ich gehör hier nicht her. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich bin«, rief Karima, lauter als beabsichtigt. Doch selbst das bewegte den Direktor nicht dazu, ihr in die Augen zu gucken. Stattdessen sprach er in Richtung des Springbrunnens, der auf dem Vorplatz des Schlosses vor sich dahinplätscherte.

»Du wirst dich schon bald daran gewöhnt haben und dich zugehörig fühlen. Du musst es nur zulassen.«

»Das können Sie nicht ernst meinen. Sie können nicht einfach von mir verlangen, hier zu bleiben. An einem völlig fremden Ort. Ich kenne Sie nicht, ich kenne Ihre Schule nicht und ich will sie auch nicht kennenlernen. Also lassen Sie mich in Ruhe und einfach nach Hause gehen.«

»Das wird nicht möglich sein.«

»Warum?«

»Ich kann dir nicht mehr sagen als das, was ich bereits gesagt habe. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die man nicht mit Logik erklären kann. Der Unfall hat dich an diesen Ort gebracht und damit musst du nun leben.«

Er sagte dies mit einer Festigkeit in seiner Stimme, die es Karima unmöglich machte, Weiteres zu erwidern. Sie fasste sich an den Kopf, wandte sich ihrerseits ebenfalls ab und sprach mehr zu sich selbst als zum Direktor: »Nein! Nein, das ist nicht möglich. Ich will hier nicht bleiben. Ich verstehe es nicht.«

»Natürlich nicht. Das verlangt auch keiner«, sagte der Direktor jetzt mit etwas sanfterer Stimme. »Du wirst mit alledem zurechtkommen. Gib dem allem Zeit. Bleib für einen Moment draußen und sortiere deine Gedanken. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach für dich ist. Aber du wirst es schaffen.«

Das sollte alles sein? – Für einen Moment hier draußen bleiben und die Gedanken sortieren? Sollte ihr das tatsächlich helfen zu akzeptieren, dass ihr Leben plötzlich gänzlich auf den Kopf gestellt wurde. Für den Direktor war wohl alles gesagt, denn er machte sich auf den Weg zur Eingangstür.

»Ich möchte das aber nicht.« Der aggressive Ton in ihrer Stimme, ließ ihn sich zu ihr herumdrehen.

»Wie bereits gesagt, es wird dir nichts anderes übrigbleiben. Wir sehen uns später.« Damit schob er das Portal auf und verschwand.

»Moment!« Karima stürmte hinterher und erwischte ihn in der Eingangshalle auf dem Weg zur untersten Stufe. »Sie können doch nicht einfach gehen.«

»Ich kann dir nicht mehr sagen. Du musst nun damit zurechtkommen.«

»Hören Sie, Direktor«, rief Karima, während sie sich treppauf an seine Fersen heftete. »So etwas können Sie nicht von mir verlangen.«

»Ich muss!«

»Mehr fällt Ihnen dazu nicht ein?«

»Es ist alles gesagt. Das Gespräch ist beendet.«

Er klang dabei so energisch, wie seine Schritte waren und bog rasch in einen Korridor ein, auf dem einige Schüler ihnen entgegenkamen. Als er nicht weit von ihnen entfernt ein zierliches, blondes Mädchen entdeckte, das an einer Fensterbank lehnte und deren Nase tief in einem Buch steckte, trat er an sie heran und legte für einen kurzen Moment seine Hand auf ihre Schulter. Das Mädchen sah irritiert auf, als hätte man sie aus einer anderen Welt zurück in die Gegenwart teleportiert. Sobald sie jedoch den Direktor registrierte, stellte sie sich augenblicklich aufrecht hin und sah eingeschüchtert zu ihm auf.

»Christin, hast du bitte einen Moment für mich?«

Das Mädchen schlug das Buch zu und nickte folgsam.

»Das ist Karima.« Während er ihren Namen aussprach, formte er mit seinen Fingern eine Reihe von Zeichen.

»Karima«, wiederholte das Mädchen langsam und der Direktor nickte.

»Zeige bitte unserer neuen Schülerin ihr neues Zuhause.«

»Natürlich, Direktor!«, sagte sie so ehrfürchtig, dass Karima es nicht überrascht hätte, wenn sie auch noch einen tiefen Knicks gemacht hätte.

»Sorge dafür, dass sie sich hier gut einlebt und wohlfühlt.«

Das wiederholt beflissene Nicken seitens des schüchternen Mädchens ließ Karima aufbrausen: »Auf keinen Fall wird das passieren!«

Doch auch dem Direktor schien nun die Hutschnur zu platzen.

»Du bist jetzt still!«, fuhr er sie an und warf dann Christin einen letzten auffordernden Blick zu, bevor er weiter den Korridor hinunterlief. Christin legte behutsam eine Hand an Karimas Arm: »Komm mit. Ich zeige dir alles.«

Unschlüssig, wie sie mit der Situation fertig werden sollte, sah Karima für einen Moment fassungslos zwischen Christin und dem davongehenden Direktor hin und her. Es konnte sich hierbei doch nur um einen dummen Streich handeln. Das konnte nicht wirklich sein. Der Direktor hatte bereits das Ende des Ganges erreicht und bestieg den Fuß einer schmalen Wendeltreppe. Voller Ärger entzog Karima dem Mädchen ihren Arm und stürmte ihm hinterher. »Direktor, warten Sie!«

»Karima!«

Karima ignorierte die zaghafte Stimme und drängelte sich durch eine Schar entgegenkommender Schüler.

»Direktor!«, brüllte sie. Doch der Direktor konnte oder wollte sie nicht hören. Er nahm zwei Stufen auf einmal und verschwand aus ihrem Blickfeld. Als Karima wütend am oberen Treppenabsatz ankam, war von ihm keine Spur mehr zu sehen. Christin, die aufgebracht hinterherlief, kam neben ihr zum Stehen. »Komm lieber zurück. Sonst verirrst du dich noch in dem Schloss.«

»Wo ist er hin?«

»Ich weiß es nicht. Bitte komm. Ich zeige dir den Schlafsaal.«

»Lass mich in Ruhe!«, entfuhr es Karima und wütend ballte sie ihre Fäuste.

»Aber der Direktor hat gesagt …«

»Lass mich in Ruhe«, zischte Karima noch einmal. »Es ist mir egal, was der Direktor gesagt hat. Hier handelt es sich um ein riesiges Missverständnis.«

»Was ist hier los?«, schnitt die barsche Stimme von Frau Lunes die Diskussion ab. Auf Christins Gesicht zeigte sich Erleichterung. »Der Direktor hat mich gebeten, Karima den Schlafsaal zu zeigen.«

»Und das ist ein Problem?« Frau Lunes blickte Karima fragend an.

»Ja, denn ich werde hier nicht bleiben.«

»Der Direktor sagte mir etwas anderes. Dein Bett ist bereits hergerichtet.«

»Das kann alles nicht wahr sein. Er lügt! Ich muss das mit ihm klären.«

»Es reicht, Karima! Der Direktor hat nicht den ganzen Tag Zeit für dich. Hier gibt es noch hundert andere Schüler. Also folge nun Christin oder du wirst mich kennenlernen.«

Die funkelnden Augen der Schlafsaalmutter signalisierten Karima deutlich, dass sie das nicht erleben wollte. Sie schnaubte verächtlich und gab schließlich nach.

»Ihr werdet noch sehen, dass der ganze Aufwand umsonst ist.«

Die Führung durch das Schloss nahm Karima nur halb wahr. Sie glaubte nicht daran, dass sie hier für längere Zeit bleiben würde. Das Bett am hinteren Ende des Schlafsaals, direkt neben einem Fenster, sah im Vergleich zu den Betten der anderen Mädchen noch kahl und verlassen aus. Auch der Nachtschrank sowie der Kleiderschrank waren noch leer. Und genau so würde das auch bleiben, schwor Karima sich.

Es ging weiter durch sämtliche Korridore, Türen und Räume. Aber was interessierte Karima schon, wo sich die Klassenzimmer oder gar die Privaträume der Lehrer befanden. Um den Waschkeller, indem zu Karimas Erstaunen uralte Waschkessel und Waschbretter anstelle von elektrisch betriebenen Waschmaschinen standen, würde sie ohnehin einen großen Bogen machen. Auch Christins Erklärungen zum allwöchentlichen Waschtag und täglich wechselndem Küchendienst hörte sie nur halbherzig zu. Allein Christins Worte: »Es ist Zeit für das Abendessen. Wir gehen nun in den Speisesaal«, nahm Karima wirklich wahr, denn ihr Magen knurrte bereits.

Der Direktor betrat den Speisesaal. Aufmerksam ließ er seine Augen über die Schüler gleiten, die Platz an den drei großen Tafeln suchten. Alles schien seinen geordneten Gang zu gehen. Eine sanfte Woge der Erleichterung überkam ihm, als er auch Karimas braunen, lockigen Haarschopf unter ihnen entdeckte. Sie war hier. Mit düsterer Miene zwar, aber immerhin ohne hitziges Theater, saß sie ruhig neben Christin. Für den außenstehenden Betrachter mischte sie sich unauffällig unter all die anderen Schüler. Natürlich wurde sie von allen neugierig begutachtet, denn schließlich war sie die Neue. Doch das, so hoffte der Direktor, würde bald schon vergessen und Karima fester Bestandteil der Schülerschaft sein. Diese Hoffnung wuchs in ihm wie eine Seifenblase. Die Hülle noch sehr zerbrechlich, aber deutlich zu sehen.

Er steuerte den Tisch am gegenüberliegenden Ende des Saals an und gesellte sich zu seinen Lehrerkollegen. Eine kleine Glocke wurde geläutet. Der Lärm im Saal verstummte und alle Versammelten erhoben sich von ihren Stühlen. Heute wurde Flavian die Aufgabe zuteil, ein Gebet vorzulesen. Der schmächtige und ungewöhnlich kleine Junge trat mit dem Gebetsbuch in der Hand über die vier Stufen auf das Podest, auf dem der Lehrertisch stand. Seine Finger spielten unruhig mit den Buchseiten. Sie waren immer unruhig, immer in Bewegung, vollführten regelrechte Kunststücke mit Füllfederhaltern, Papierkügelchen und Spielkarten. Der Direktor wusste, dies war ein Überbleibsel aus Flavians früherem Leben und bisher war es nicht gelungen, ihm diese Angewohnheit abzugewöhnen.

Alle machten das Zeichen des Kreuzes und murmelten gemeinsam: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Während Flavian das Gebet sprach, nahm der Direktor Karima erneut in Augenschein. Das Mädchen hatte weder ihre Hände gefaltet, noch schien sie den Worten des Gebets zu lauschen. Ihre haselnussbraunen Augen wanderten unstet im Saal umher und ihr Gesicht war zu einer angewiderten Grimasse verzogen. Wie lange würde es dauern, bis dieser Ausdruck von ihrem Gesicht verschwand, fragte er sich. Er konnte nur hoffen, dass es sehr bald der Fall war.

»Amen«, beendete Flavian schließlich das Gebet und löste damit die Aufmerksamkeit des Direktors von Karima. Die Schüler und Lehrer wiederholten die Schlussformel und setzten sich wieder. Nur der Direktor blieb stehen und bat mit einem kurzen Handzeichen um Ruhe. Diejenigen, die das Zeichen übersahen, wurden von ihren Mitschülern direkt mit einem Knuff in die Seite darauf aufmerksam gemacht.

»Ich möchte euch verkünden, dass wir seit heute eine neue Schülerin unter uns haben. Das ist Karima.« Er deutete Karima mit einer kurzen Handbewegung aufzustehen. Widerwillig erhob sie sich und schenkte dem Direktor einen finsteren Blick.

»Heißt sie in unserem Heim herzlich Willkommen und bitte helft ihr, sich schnell einzuleben und sich wie zu Hause zu fühlen. Ich …«

»Vielen Dank«, unterbrach Karima die Ansprache und der Direktor blinzelte überrascht. Das hatte bisher noch nie jemand gewagt. »Das wird alles nicht nötig sein. Es wird sich für euch gar nicht lohnen, sich meinen Namen zu merken. Ich bleibe hier nicht lange.«

Sie zeigte dem Direktor ein hämisches Grinsen, während sie sich wieder auf ihren Platz niederließ. Dr. Reese und der Direktor tauschten vielsagende Blicke aus. Ein Ich-habe-es-Ihnen-doch-gesagt-Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Lateinlehrers und die Seifenblase der Hoffnung wurde durch die kurze harte Brise verformt und drohte zu platzen. Von diesem Gefühl völlig überrumpelt wusste der Direktor nicht mehr, was er noch hatte sagen wollen, und so kam nur noch ein: »Ihr dürft mit dem Essen anfangen.«

Einige Schülerinnen hatten sich bereits im Mädchenschlafsaal versammelt. Sie saßen quatschend und lachend zusammen. Manche zogen bereits ihre Nachthemden über oder kämmten sich die Haare. Christin lag auf ihrem Bett und las in einem Buch.

Keiner schenkte Karima Beachtung, die nun auf ihrer Bettkante saß und wütend auf den Fußläufer vor ihrem Bett starrte. Sie hatte jeden freundlichen Versuch einer Kontaktaufnahme mit einem finsteren Blick und einem verdrießlichen Kommentar unterbunden. Schließlich stand sie auf und ging Richtung Tür. Doch ein rothaariges und sehr hübsches Mädchen, um die siebzehn Jahre alt, trat auf sie zu.

»Wo willst du hin?«

»Raus!«, erwiderte Karima knapp und wollte schon weitergehen, als sich das Mädchen ihr in den Weg stellte. »Das geht nicht mehr. Wir haben gleich neun Uhr. Dann müssen wir im Schlafsaal sein. Außerdem solltest du nicht allein im Schloss umherlaufen. Man kann sich hier leicht verirren.«

»Und du bist hier die Aufseherin, oder was?«

»Mein Name ist Jeanne. Ich bin die Älteste und habe deswegen eine gewisse Verantwortung.«