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Nach einem Unfall ist sie ohne Erinnerungen und niemand scheint sich an sie zu erinnern. "Wenn du nicht weißt wer du bist, kannst du sein, wer du willst." Ein Satz, der ihr Herz öffnet, und es ihr ermöglicht, mit den Menschen um sie herum, sich selbst und der Welt in der sie lebt, in Verbindung zu treten. Schritt für Schritt nähert sie sich ihrer Identität an und sucht nach ihrem Platz in einer Gesellschaft, die ihr sehr fremd ist.
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Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Wenn ich mich nur erinnern könnte! Aber die Erinnerungen sind wie ausgelöscht und wollen sich einfach nicht wieder einstellen. Es sind schon ein paar Wochen vergangen, aber immer noch weiß ich meinen Namen nicht. Noch immer hat sich niemand gefunden, der mich kennt. Es ist, als ob ich gar nicht existieren würde. Meine Gedanken erscheinen mir wie eine Schale kleiner Splitter, die einmal eine Form hatten, aber nun zerbrochen sind und in keiner Weise erkennen lassen, wie sie mal zusammengehörten. Am Anfang, nach meinem Unfall, kam mir die Welt fremd vor, kam mir auch mein Körper ganz fremd vor. Er fühlte sich so an, als würde er nicht zu mir gehören. Wie ein unpassendes Kleidungsstück, das man anbehalten muss, weil nichts anderes zur Verfügung steht. Nun habe ich mich langsam wieder an diesen Körper gewöhnt und wir fangen an, wieder eine Einheit zu bilden. Aber trotzdem traue ich ihm nicht so richtig, weil mein Kopf zwar nach außen gesund erscheint, mir jedoch nicht gehorchen will und die Schubladen meiner Vergangenheit einfach nicht für mich öffnet. Wie soll ich meinem Körper und meinem Geist vertrauen, wenn er doch Geheimnisse vor mir hat? Wenn er mich vor mir selbst verbirgt?
Andere Patienten kommen und gehen, wie eine vergessene Puppe im Spielzeugladen sitze ich hier und beobachte die Menschen um mich herum. Nicht nur ich habe mich vergessen, die anderen offensichtlich auch. „Frau-ohne-Chip“ nennen sie mich insgeheim. Als ob ich das nicht mitbekommen würde. Während alle anderen ihre Identität auf einem implantierten Chip mit sich herumtragen, habe ich nun mal keinen. Warum, weiß nur die vor mir verborgene Hälfte. Mir wurde gesagt, dass der Chip, der zur Identifizierung dient, seit 50 Jahren jedem Säugling implantiert wird. Die wichtigsten Daten sind darauf gespeichert: Name, Geburtsdatum und -ort, Wohnort, Aufenthaltsorte der letzten 48 Stunden, neben medizinischen Informationen zu Krankheiten, Allergien, Operationen und sonstigen im Notfall relevanten Dingen. Auch Zahlungen und Bankgeschäfte können mit dem Chip erledigt werden, genauso, wie er als Zugangsschlüssel zur eigenen Wohnung dient.
Nun, was Krankheiten und Allergien angeht, so habe ich wohl keinen Chip nötig, alle Untersuchungen haben ergeben, dass ich ausgesprochen gesund bin. Wie ich es bisher geschafft habe, zu bezahlen, ist mir nicht klar, aber offensichtlich ging das ja - auch ohne Chip.
Ohne einen Namen fühle ich mich nicht existent. Aber es gibt mich ja, wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich mich immerhin. Mein Bild wurde in den Nachrichten und sozialen Medien weltweit verbreitet, dennoch fand sich niemand, der etwas über mich zu sagen hatte. Also, vielleicht gibt es mich gar nicht, und ich glaube nur, dass ich existiere?
Ich schlafe schlecht. Manchmal erinnere ich mich an merkwürdige Träume, von denen ich nicht einschätzen kann, ob sie mir meine Vergangenheit, meine Zukunft oder meine Hirngespinste, Hoffnungen und Ängste zeigen. Wahrscheinlich ein bisschen von allem, aber wie sollte ich das auseinanderhalten?
Heute ist Silvester. Um Mitternacht beginnt nicht nur ein neuer Tag, sondern gleich ein neues Jahr. Um mich herum herrscht ziemliche Aufregung. Es gibt eine Party. Silvester scheint wichtig und muss offensichtlich gefeiert werden. Die aufgeregte Stimmung, die leise Erwartung auf ein neues Jahr, Hoffnungen, dass alles besser wird, übertragen sich ein Stückweit sogar auf mich, auch wenn ich die Hoffnungen nicht so wirklich teilen kann.
Rosie, eine ungefähr 80-jährige, fröhliche Frau, die unter Demenz leidet und sich nicht an ihre eigenen Verwandten erinnern kann, wenn sie sie sieht, strahlt mich an. „Silvester habe ich meinen Gustaf kennengelernt. Nachher holt er mich ab und wir gehen tanzen, wie jedes Jahr. Sehe ich denn gut aus?“ – „Wunderschön“, bestätige ich ihr und wenn ich ihre glänzenden Augen ansehe, dann ist das auch kein bisschen gelogen. Traurig stimmt mich, dass ich weiß, dass Gustaf vor ungefähr 5 Jahren verstorben ist und sie in keinem Fall mit ihm tanzen gehen wird. „Was für ein wundervoller Tag“, schwärmt sie und bemerkt plötzlich, dass ich nicht so glücklich bin wie sie und setzt hinzu: „Warum bist du so traurig? Holt dich niemand zum tanzen ab?“ – „Nein“, antworte ich ehrlich. „Die Welt hat mich vergessen. Ich weiß ja nicht einmal wie ich heiße!“ Eine Welle der Hoffnungslosigkeit und Trauer reißt mich mit und die Tränen beginnen zu fließen. Rosie schaut mich aufmerksam an und unvermittelt streicht sie mir mit einer Hand über die Wange. „Ach Mädchen, wenn keiner weiß, wer du bist, dann kannst du doch sein, wer du willst!“ Und ihr Blick ist so klar und intensiv und tut mir so gut. Sie sieht in diesem Moment MICH - wer auch immer ich bin. Es spielt keine Rolle, dass sie nichts von mir weiß. Ich bin da und sie ist da und sie nimmt mich wahr und schenkt mir ihre volle Aufmerksamkeit. In mir entzündet sie mit diesen Worten eine kleine Flamme. „Wenn keiner weiß, wer du bist, dann kannst du doch sein, wer du willst!“ Die Worte hallen durch meinen Körper, mein Kopf schreit „Hurra, das ist es!“, mein Herz sagt: „So findest du dich selbst wieder, auch ohne Erinnerung!“ Und mein Bauch jubiliert: „Das fühlt sich so gut an!“
„Rosie“, setze ich an und möchte ihr danken, aber die Klarheit ist aus ihren Augen verschwunden, sie schaut in die Ferne. „Haben Sie Gustaf, meinen Mann, irgendwo gesehen?“, fragt sie mich und hat offensichtlich jede Erinnerung an diesen Moment gerade schon verloren. „Er kommt sicher gleich, Sie wollen doch heute tanzen gehen“, antworte ich ihr freundlich und sehe, wie ihr Gesicht aufleuchtet. Ich mag keine Erinnerung an die Vergangenheit haben, aber ich erinnere mich an das, was gerade geschieht und ich kann meine Zukunft sehen. Plötzlich gibt es eine Perspektive auf eine Zukunft für mich, die ich bis vor ein paar Minuten noch nicht gesehen habe. Rosie steht auf und geht in den Raum, aus dem die Musik für die Silvesterparty erklingt. „Danke, Rosie“, flüstere ich ihr hinterher.
„Wenn keiner weiß, wer du bist, dann kannst du doch sein, wer du willst!“
Zum ersten Mal seit Wochen lächle ich aus tiefstem Herzen. Die Hoffnungslosigkeit und Schwere, die mich fast erdrückt und jeden meiner Gedanken dominiert haben, haben nun einen Gegenspieler bekommen: ich kann sein, wer ich will, und kann neue Erinnerungen schaffen! Dass ich keinen Namen habe und keine Vergangenheit bedeutet nicht, dass ich nicht existiere. Rosie hat mich gesehen! Und andere werden folgen.
„Ich kann sein, wer ich will!“ – ein Satz, der alle Türen für mich öffnet, eine Chance und ein Lichtblick und eine neue Welt voller Fragen.
Anstelle der Frage „Wer bin ich?“, zu deren Beantwortung mir die Erinnerung an die Vergangenheit fehlt, kann ich nun auf das Hier und Jetzt und die Zukunft blicken: „Wer will ich sein?“, denn das ist eine Frage, auf die ich Antworten finden kann! In der die Vergangenheit eine untergeordnete Rolle spielt. Ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus, Aufbruchstimmung zu einem neuen Anfang …
Das war gestern doch etwas zu viel Alkohol zur Silvesterparty, mein Kopf dröhnt etwas, und ich verfluche mich innerlich, dass ich mich für den Dienst am Neujahrstag eingeteilt habe. Andererseits ist es in der Regel ein sehr ruhiger Tag und insofern hoffe ich, dass das auch heute so ist, während ich an meinem Kaffeeccino nippe und mit leerem Kopf vor mich hinstarre.
Es klopft leise an meiner Tür. „So viel zum Thema ruhiger Tag“, denke ich noch, während mein Mund schon automatisch mit einem deutlich vernehmbaren „Herein“ antwortet. Mein Blick liegt auf der Tür, die sich vorsichtig öffnet. Zu meiner Überraschung ist es keine der Schwestern, sondern eine Patientin, die schüchtern durch den Türspalt lugt. Es ist die Frau-ohne-Chip, wie wir sie mangels irgendwelcher Anhaltspunkte ihrer Identität heimlich nennen - an ihrem Blick sehe ich sofort, dass irgendetwas anders ist, sie hat ein hoffnungsvolles Funkeln in den Augen. Vielleicht hat sie sich nun doch an etwas erinnert, obwohl ich damit nicht mehr wirklich gerechnet habe. In den letzten Wochen zeigte sie zunehmende Anzeichen einer depressiven Verstimmung – was aufgrund ihrer Gesamtsituation ja nicht überraschend ist. Die Sitzungen mit ihr wurden zunehmend schweigsamer, aber heute hat ihr Blick etwas Kraftvolles und Entschlossenes. „Hätten Sie einen kurzen Moment für mich?“, fragt sie zögernd. „Aber sicher, kommen Sie herein“, lächle ich sie an und mache eine einladende Bewegung in Richtung meines Besucherstuhls, „setzen Sie sich doch.“ Ich bemerke, wie vorsichtig und leise sie sich bewegt, als sie die Tür schließt und anschließend Platz nimmt. Zunächst sagt sie nichts, als ob es ihr schwerfiele einen Anfang oder die richtigen Worte zu finden, und eine merkwürdige Stille entsteht. Gespannt warte ich, bis sie das Gespräch eröffnet.
„Ich …, ich … weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll“, beginnt sie, „aber ich hatte gestern ein Gespräch mit Rosie und sie hat zu mir gesagt, dass ich doch sein kann, wer ich will, wo doch keiner weiß, wer ich bin. Und … auch wenn ich nicht weiß, wer ich war, dann kann ich doch vielleicht herausfinden, wer ich bin … und vielleicht ja die beste Version von mir selbst werden?“ Sie verstummt und blickt mich mit fragenden Augen an. Mir ist klar, dass meine Reaktion jetzt für sie extrem wichtig ist.
Ich erwidere ihren Blick und lächle sie an, als ich sage: „Das ist ein ganz großartiger Ansatz!“ Sie strahlt mich erleichtert an, was mir klar macht, dass mein bisheriger Fokus unserer Gespräche auf die Vergangenheit für sie dazu geführt hat, nur auf das zu schauen, was fehlt, sozusagen auf ihr Defizit. Aber dass sie natürlich trotzdem eine Persönlichkeit hat und „jemand ist“, ist mir dabei aus dem Blick geraten. Ich schäme mich in diesem Moment dafür, denn damit habe ich dazu beigetragen, dass sie sich unvollständig und schlecht gefühlt hat. Statt sie zu bestärken, habe ich sie mit meinen Fragen, die ihr helfen sollten, sich an Vergangenes zu erinnern, dazu beigetragen, dass sie bei sich selbst nur die fehlende Erinnerung wahrgenommen hat. Als Entschuldigung vor mir selbst halte ich mir zugute, dass es einen Fall wie den ihren ja in meiner ganzen Berufspraxis noch nicht gegeben hat. Während wir sonst klare Behandlungsmuster haben, die auch harte Fälle von Amnesie durchbrechen konnten, indem die Patienten mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurden, hatte ich bisher bei dieser Frau so keinen richtigen Plan, wie ich ihre Erinnerungen reaktivieren kann. Aber sie hat recht. Rosie, diese schlaue Füchsin, hat recht: Es kommt ja nicht nur darauf an, was in der Vergangenheit war, sondern es ist wichtig, was im Jetzt ist. Und eine Gegenwart und eine Zukunft hat diese Frau! „Wir werden uns also in unseren zukünftigen Sitzungen darauf fokussieren, wie Sie die beste Version von sich selbst sein können“, fasse ich die Essenz unseres Gespräches zusammen und sehe, wie sie meine Worte mit einem eifrigen Nicken bekräftigt.
In diesem Augenblick klingelt mein Telefon und sie steht schnell auf mit den Worten: „Das wollte ich nur kurz besprechen, ich gehe jetzt wieder.“, während sie mit erstaunlicher Leichtigkeit den Raum verlässt. „Domas“, nehme ich den Anruf an, während ich ihr lächelnd und auch noch etwas verwundert über dieses überraschende Gespräch nachblicke. „Ein schönes neues Jahr, Doro“, erklingt die Stimme meiner Mutter. Das Gespräch mit meiner Patientin beschäftigt mich noch, so dass ich ihr gar nicht richtig zuhöre, sondern während ich ihre Worte ganz entfernt höre, meine Gedanken noch bei der Patientin verweilen und der neu aufkeimenden Hoffnung, dass ich doch etwas für sie tun kann, und sie vielleicht doch ihren Platz in unserer Gesellschaft finden kann. Als mein Blick zufällig auf die Fahne der „Globalen Union“ fällt, die ich schon lange nicht mehr so richtig angesehen habe, dringt mir unser Landesmotto gefühlt zum ersten Mal wirklich ins Bewusstsein, das in gelben Buchstaben darauf zu lesen ist: „Sei wer du willst!“ Wie konnte ich diesen Grundpfeiler unserer Gesellschaft vergessen? Wir sind schließlich stolz darauf, dass jeder Mensch das Leben leben kann, das für ihn/sie/es passt.
„Doro? … Doro!“, dringt die Stimme meiner Mutter wieder in mein Bewusstsein, „Bist du noch da?“ – „Sorry, Mum, ich hatte hier gerade eine Patientin.“, entschuldige ich mich. „Ach ja, die Arbeit… Ich hatte dich gefragt, was du heute Abend gerne essen möchtest. Du kommst doch?“ – „Ja, sicher, das ist doch unsere Tradition! Und ich freue mich darauf!“ Und daraufhin setze ich das Gespräch mit meiner Mutter mit meiner ungeteilten Aufmerksamkeit fort.
Das Gespräch mit Dr. Domas hat mich bestärkt, und ihre Unterstützung für mein Unterfangen, mich selbst zu finden oder sollte ich sagen, mich selbst zu „erfinden“? Denn diesen Aspekt sehe ich darin auch. Nachdem meine anfängliche Euphorie am gestrigen Abend verschwunden war, waren nämlich auch Zweifel hochgekommen. Eine innere Stimme, die mir immer wieder sagte: „So funktioniert das nicht! Ohne eine Vergangenheit hast du keine Zukunft. Nur die Vergangenheit zeigt dir, wer du wirklich bist, und alles was du jetzt herausfindest, ist nur Augenwischerei und sagt nichts darüber, wer du wirklich bist. Du kannst selbst glauben, ein netter, guter Mensch zu sein, aber wer weiß, was du in der Vergangenheit getan hast? Vielleicht hast du gestohlen, gelogen oder sogar jemanden umgebracht? Oder wenn du nicht Täter warst, dann warst du vielleicht ein Opfer und warst dein Leben lang irgendwo eingesperrt, wurdest missbraucht und hast deshalb keinen Chip. Und vielleicht verweigert dein Gehirn den Zugang zu deiner Vergangenheit als Schutz vor den traumatischen Erlebnissen, weil du einfach ein kaputter Mensch bist!“ Und diese Worte taten unendlich weh. Aber gleichzeitig erwiderte hier die andere Stimme, Rosies freundliche, leise Stimme: „Was auch immer in deiner Vergangenheit war, auch wenn es dich geprägt hat, so kannst du doch einfach schauen, wer du jetzt bist und wer du sein möchtest und über deine Persönlichkeit herausfinden, wie deine Vergangenheit war, aber noch wichtiger, wie du deine Zukunft gestalten möchtest! Und vor allen Dingen lebst du JETZT – und jetzt ist das, was zählt, denn nur im Jetzt stellst du die Weichen für deine Zukunft!“
Während ich letzte Nacht versuchte zu schlafen, unterhielten sich diese Stimmen die ganze Zeit und mal fühlte ich mich zuversichtlich, mal sehr niedergeschlagen, aber letztlich gewann die Stimme Rosies und die Entscheidung, mich selbst kennenzulernen und auf mich im Jetzt zu schauen, statt unbeweglich auf den Nebel der Vergangenheit zu starren und darauf zu warten, dass er sich lichtet, um mir zu zeigen, wer ich bin. Die Kraft dieser Erkenntnis gab mir den Mut, bei Dr. Domas vorzusprechen, denn ich wollte wissen, ob sie mich in diesem Unterfangen unterstützen würde oder ich das allein mit mir ausmachen müsste. Jetzt fühle ich mich stark und entschlossen wie noch nie in meinem Leben – und das ist einfach zu sagen, wenn der Teil des Lebens, an den man sich erinnert, so kurz ist – und ein glückliches Strahlen möchte einfach nicht mehr aus meinem Gesicht weichen.
Graciella
Viktor
Agnes
Armand
Sascha
Louis
Brandon
Anira
Doro
Theresa
Marta
Ole
Evelyn
Amir
Frederik
Epilog
Dank
Zur Autorin
Im Aufenthaltsraum, dem „Wohnzimmer”, setze ich mich in die Ecke am Fenster neben dem Buchregal. Die Sonne scheint leicht durch die Scheiben herein und ich denke: „Was für ein schöner Tag ist das heute!“, während ich meinen Blick im Raum umherschweifen lasse. Bisher hatte ich immer wenn ich mich umsah, darüber nachgedacht, ob mich irgendwas in diesem Raum an etwas erinnert oder erinnern könnte, heute sehe ich mich einfach um, ohne meine Wahrnehmung mit dieser Erwartung zu überfrachten. Ich sehe Brandon, wie er über seinem Smartable gebeugt dasitzt, völlig absorbiert und um sich herum gar nichts wahrnimmt. So ein Smartable, das habe ich inzwischen gelernt, ist ein modular zusammengesetzter Computer, der flexibel zum Telefonieren, Internet konsumieren, Arbeiten und in Kombination mit Kopfhörern auch zum Filme schauen und Musik hören eingesetzt wird. Offensichtlich kann er auch mit dem Chip verbunden werden, was weitere Funktionalitäten ermöglicht, die sich mir aber noch nicht erschlossen haben und, um ehrlich zu sein, auch ziemlich egal sind. Ein Smartable hat heute eigentlich jede/r/s, wurde mir gesagt. Nun, ich nicht und wenn ich mir Brandon so ansehe, dann halte ich das für ein Gerät mit ziemlichem Suchtfaktor. Ich sehe Jackie, die wie ein Tier im Käfig mit schnellen Schritten immer wieder den Gang auf- und abläuft und dabei vor sich hinmurmelt. Rosie und Agnes spielen in der anderen Fensterecke Schach. Obwohl in Rosies Gedächtnis die Demenz so viel auslöscht, ist Schach etwas, woran sie sich erinnert, und sie ist ziemlich gut darin. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon einmal gesehen habe, dass Agnes gewonnen hat. Ganz in sich selbst versunken sitzt Kiki auf einem Stuhl und zeichnet irgendetwas auf ihrem Smartable. Viktor betritt den Raum und telefoniert. Er telefoniert eigentlich immer und ich frage mich, warum er eigentlich hier ist, wo er doch ständig Geschäftsanrufe tätigt und nicht den Eindruck macht, als ob er irgendetwas vergessen hätte oder Erinnerungslücken hat. „Verkaufen, auf jeden Fall verkaufen“, höre ich ihn sagen, während er mit raschen Schritten vorbei geht, als wäre er unterwegs zu seinem nächsten Termin.
Graciella tanzt in den Aufenthaltsraum. Mit kleinen Kopfhörern schottet sie sich gegen die anderen ab und mit anmutigen Bewegungen der Arme gleitet sie elegant durch den Raum, als wäre er ihre Bühne, obwohl sie ihre Zuschauer nicht wahrnimmt, und – wenn ich mich so umsehe – ihre potenziellen Zuschauer sie auch nicht wahrnehmen. Ich beobachte sie, wie sie sich rhythmisch bewegt und bedauere, die Musik nicht hören zu können, denn es ist wirklich ein schöner Anblick, und sie scheint großes Talent zu haben. Sie wirkt so eins mit der Musik, eins mit sich selbst, zufrieden und glücklich, dass ich sie fast schon ein wenig darum beneide. Sie ist noch nicht lange hier, durch ihren Zugang zur Musik oder besser: den Zugang zu sich selbst durch die Musik, hat sie sich im Vergleich zu den ersten Tagen schon sehr verändert und ist aufgeblüht.
Als sie kam, sah sie grau und „welk“ aus. Sie dürfte so um die vierzig Jahre sein, eine hübsche Frau mit graugrünen Augen, einer flotten Kurzhaarfrisur und einem eleganten Anzug bekleidet. Gleichzeitig wirkte ihr Gesicht verbraucht und leer, sie war fürchterlich geschminkt, der Lippenstift war sehr dick und ungleich über die Lippenränder geschmiert, der Mascara um die Augen verwischt und der Lidschatten auf beiden Augen von unterschiedlicher Farbe, ziemlich übertrieben bis zu den Augenbrauen, auf der einen Seite auch darüber hinweg aufgetragen. Es wirkte fast, als hätte ein Kleinkind hier mit dem Schminkkasten experimentiert und die grellen Farben standen im krassen Gegensatz zu den ausdruckslosen Augen. Als ich sie so kurz nach ihrer Ankunft sah, berührte und schockierte mich ihr Anblick. Weniger wie sie aussah, sondern mehr, was sie ausstrahlte, dass sie wie eine leere Hülle wirkte, die Gestalt eines Menschen, in der aber niemand zuhause war. Wahrscheinlich - so wird mir gerade klar - hat mich das so sehr berührt, weil ich mir der Trennung von Körper und Geist (oder Seele oder Persönlichkeit?) durch meine eigene Situation besonders bewusst war. Anders als bei Graciella, deren Körper präsent war, während ihre Seele verschwunden schien, war mein Geist wach, aber es fehlte ihm an Verbindung zu meinem Körper und noch mehr zu mir selbst, zu meiner Seele.
Die Pflegenden hatten darüber gesprochen, dass ihr Mann sie nicht ansprechbar im häuslichen Garten gefunden habe, als er nach einem längeren Filmdreh nach Hause gekommen sei. Graciella Liono ist mit einem erfolgreichen Schauspieler verheiratet, für den offensichtlich viele schwärmen, und um den man sie mehr zu beneiden scheint als um den eigenen geschäftlichen Erfolg. Und den hat sie: erfolgreiche Managerin eines Firmenimperiums, das zahlreiche soziale Internetplattformen unterhält, und tatsächlich eine der reichsten und erfolgreichsten Frauen des Landes. Als ihr Mann sie fand, war sie völlig orientierungslos, und selbst als sie wieder auf Ansprache reagierte, konnte sie nicht sagen, wer sie ist und erkannte auch ihren Mann nicht. Nun, als ich sie nach ihrer Ankunft da wie ein Häufchen Elend sitzen sah, und sie selbst nicht mehr wusste, wer sie war, hätte ich all das nicht vermutet. Und auf den Hochglanzbildern, die ich danach von ihr gesehen habe, hätte ich sie auch nicht wiedererkannt. „Vielleicht habe ich mich ja auch einfach äußerlich sehr verändert, weshalb mich in den Medien niemand wiederkannte?“, schießt es mir kurz durch den Kopf.
Wenn ich mir Graciella in diesem Moment ansehe, wie sie selbstversunken tanzt, dann erscheint sie mir wie eine ganz andere Frau. Weder die Frau von den Bildern noch die zusammengefallene Gestalt ihrer Ankunft hier. Sie sieht aus wie jemand, der ganz bei sich selbst ist, auch wenn sie die Welt um sich herum ausschließt. Wie ein unschuldiges Kind, das einfach die Freude an Musik und Tanz lebt und mit dem ganzen Körper ausdrückt. Die Musik hat ihr geholfen, wieder einen Zugang zu sich selbst zu finden, und ich beschließe, mehr über meinen eigenen Musikgeschmack herauszufinden, da mir das ein guter Schlüssel erscheint, um etwas über mich herauszufinden. Rosie hat inzwischen Agnes beim Schach geschlagen und ihre Augen blitzen fröhlich, während sie sich anschließend suchend umsieht und unmittelbar laut und besorgt nach Gustaf fragt. Bevor sie sich aufregen kann, dass er nicht da ist, kommt einer der Pflegenden und spricht mit ihr. „Ihr Mann ist bei der Arbeit“, höre ich ihn freundlich sagen und Rosie lächelt verlegen. „Ach, natürlich, das hatte ich vergessen.“
Es ist schon ein eigenartiger Ort hier, aber ich vermute auch irgendwie ein Spiegel der Welt draußen, die mir fremd ist, während ich hier so langsam anfange, mich irgendwie zuhause zu fühlen. Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass es mir ja an Erinnerungen oder Vergleichsmöglichkeiten – je nachdem, wie man es betrachten möchte – fehlt, nicht verwunderlich. Die Räumlichkeiten, der Tagesrhythmus, die Pflegenden, Ärzte, Therapeuten und Patienten sind meine kleine Welt. Mein Schutzraum in gewisser Weise, in der ich mir über bestimmte Dinge keine Gedanken machen muss, sondern die Zeit und Möglichkeit habe, mich auf mich selbst zu konzentrieren, mich um mich selbst zu kümmern, bis ich wieder ein Bild davon habe, wie ich außerhalb des Krankenhauses (über)leben kann. Ein Gefühl der Dankbarkeit überkommt mich und ich merke, wie mir eine leise Träne über die Wange läuft. Sie hinterlässt ein sanftes, kitzelndes Gefühl, eine kleine feuchte Spur meiner Emotionen, die schnell trocknet und dennoch für mich fühlbar bleibt. Es gibt viel für mich zu entdecken, viel zu gewinnen und zum ersten Mal, seit ich hier bin, bin ich froh, hier zu sein. Habe ich nicht das Gefühl, ich sollte eigentlich woanders sein, weil mein Leben woanders ist. Mein Leben ist jetzt und hier!
Nach dem Telefonat mit meiner Mutter und einem weiteren starken Kaffeeccino (dem Erfinder dieses Getränks werde ich ewig dankbar sein) mache ich mich mal an die Akte von Graciella Liono, die nun schon seit zwei Wochen hier ist und erste Fortschritte macht. Gerade über so eine prominente Persönlichkeit gibt es oft mehr Informationen als mir lieb ist und es ist nicht leicht, die Person hinter der Öffentlichkeit zu finden. Ihr Mann hat sie noch kein einziges Mal besucht, aber vermutlich ist er wieder irgendwo bei Dreharbeiten. Da er ohnehin mehr Zeit entfernt von seiner Frau verbrachte und das Gespräch, das ich mit ihm führte, auf eine recht distanzierte Beziehung hindeutet, würde er mir ohnehin keine große therapeutische Stütze sein.
Wenn ich mir die gesammelten Informationen über Graciella so ansehe, dann erscheint sie mir wie eine erfundene Figur, deren echte Persönlichkeit ich nicht greifen kann. Ihre Profile auf den eigenen sozialen Medien sind hochglanzpoliert, von ihren Marketingstrategen mit Bedacht ausgewählt und haben eher den Sinn, von ihr abzulenken und das Bild der unabhängigen Geschäftsfrau zu zeichnen. Gerade bei Prominenten ist natürlich der Schutz der Persönlichkeit wichtig, aber für mich lässt sich wenig Hilfreiches herausholen. Aus den Medien allerdings noch weniger. Hier zählen nur Rekorde, Skandale oder Äußerlichkeiten, der Mensch spielt da keine Rolle, sondern nur, welche Story sich verkaufen lässt. Aus Familie und Freundeskreis ist ebenfalls wenig Hilfe zu erwarten. Zu ihrem Halbbruder gibt es keinen Kontakt, die Eltern leben nicht mehr und die „Freunde“ sind im Grunde oberflächliche Bekannte, die sich damit brüsten, dieser erfolgreichen Frau nahe zu stehen, aber kein echtes Interesse an ihr haben und keine Hilfe und Stütze sind, jetzt wo es ihr schlecht geht. Die Gesundheitsinformationen auf ihrem Chip zeigen mir das Bild einer gestressten Frau. Mittel gegen Schlaflosigkeit, Unruhe, Depressionen und Müdigkeit sind schon seit etlichen Jahren ihre festen Begleiter. Nun, Stress ist kaum verwunderlich bei einer Person, die geschäftlich so erfolgreich ist und vermutlich dauerhaft eine 80-Stunden-Woche arbeitet.
Tatsächlich hat sich bisher eine Biografie über Graciella als bester Zugang zu ihrer Persönlichkeit gezeigt. Es ist nicht leicht, gerade bei Biografien den Wahrheitsgehalt zu finden, aber der Autor scheint doch sehr gut recherchiert zu haben und bringt mir wertvolle Erkenntnisse. In dieser Biografie habe ich nämlich gelesen, dass Graciella als Kind viel getanzt hatte und sogar eine Karriere als Tänzerin für sie möglich gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund haben wir versucht, mit Musik einen Schlüssel zu ihren Erinnerungen zu finden. Es war beeindruckend zu beobachten, wie die Musik ihr tatsächlich diesen Zugang zu sich selbst eröffnete und sie plötzlich anfing zu tanzen und zu strahlen. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass wenn die erste Erinnerungstür aufgeht, weitere folgen. Auch wenn Graciella insgesamt noch sehr verschlossen ist und kaum spricht, so ist doch der erste Schritt getan!
Um noch mehr über sie zu erfahren, entschließe ich mich, den Autor der Biografie, Armand Kleber, anzuschreiben und hoffe, dass er sich zu einem Gespräch mit mir bereit erklärt. Vielleicht kann er mir weitere Schlüssel liefern, mit denen wir Graciellas Erinnerung zurückrufen können.
Die Mail ist schnell geschrieben und so mache ich eine Runde durch unser „Wohnzimmer”, bevor ich mich in den Feierabend begebe, um bei meiner Mutter leckeres Kariaki-Ragout zu essen. Rosie ist in der Ecke am Fenster eingedöst. Das Schachspiel steht vor ihr und so wie es aussieht, hat sie einmal mehr gewonnen. Agnes, die einzige Patientin, die dieses Spiel auch beherrscht, ist eine geduldige Verliererin, aber ein Glück für Rosie, denn Schach holt sie bisher doch immer wieder aus der Dunkelheit ihrer Demenz, gibt ihr Halt und das Gefühl, etwas beeinflussen und kontrollieren zu können. In der anderen Ecke sitzt die Frau-ohne-Chip, und während in meinem Kopf noch tönt: „Wir sollten wirklich mal einen anderen Namen für sie finden!”, sehe ich zu meiner großen Überraschung Graciella in derselben Ecke sitzen. Die Frau-ohne-Chip sieht aus wie ausgewechselt und ich denke an unser Gespräch am Morgen. So viel Kraft und Zuversicht in ihren Worten, das Gefühl, etwas tun zu können und die Hoffnung, sich nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt neu zu entdecken, hat mich wirklich beeindruckt und ich werde alles tun, um sie dabei zu unterstützen!
Sie ist in jeder Beziehung ein ungewöhnlicher Fall, wie ich ihn noch nie hatte. Nicht nur die Sache mit dem Chip ist außergewöhnlich. Sie wurde bewusstlos und verletzt von einer Frau gefunden, die den Notruf abgesetzt hat. Da sie keinen Chip hat, wurde auch kein automatischer Notruf initiiert, der schon vielen Menschen das Leben gerettet hat. Von einer Platzwunde an der Stirn abgesehen, die inzwischen gut verheilt ist, war und ist ihr allgemeiner Gesundheitszustand ausgezeichnet, alle Vitalwerte bestens, keine früheren Brüche oder sonstige Krankheitsanzeichen zu finden. Sie ist gesünder als der durchschnittliche Jugendliche, was das Schätzen ihres Alters nicht einfacher macht. Laut Knochenaltersdiagnose ist sie vierzig Jahre alt. Nach ihrem Gesundheitszustand und Aussehen zu urteilen, hätte ich eher auf dreißig Jahre getippt - also eine gute Sache, dass unsere medizinischen Analysen so genau sind. Okay, ich gebe zu, dass mich das eine oder andere Ergebnis so überrascht hat, dass ich die Untersuchung doppelt laufen ließ, um technische Fehler auszuschließen, was dann aber am Ergebnis nichts änderte. Keine der Untersuchungen zeigte irgendwelche Auffälligkeiten, ihr Gehirn funktioniert ausgezeichnet, sie hat einen normalen IQ und selbst der Lügendetektor, den ich zur Überprüfung ihrer Amnesie vorsichtshalber eingesetzt habe, hat gezeigt, dass ihre Erinnerungen wirklich nicht mehr da sind. Meine Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Beteuerungen, dass sie sich tatsächlich an nichts vor dem Aufwachen im Krankenhaus erinnern konnte, waren damit auch verstandesmäßig vom Tisch gewischt. Dennoch bringt sie meine Vorstellungskraft an ihre Grenzen. Wie kann es sein, dass sie nicht gechipt ist, so gesund und KEIN MENSCH SIE KENNT? Die Suche über alle Medienkanäle weltweit hatte nichts ergeben. Lediglich ein sehr fragwürdiger Mensch, ein angeblicher Ehemann, hatte sich gemeldet, der allerdings bei der Polizei bereits bekannt dafür war, sich bei Personensuchen immer als Angehöriger zu melden. Seine Mutter revidierte die Geschichte und stellte sehr schnell klar, dass weder er noch sie (und er lebt bei ihr) diese Frau kennt.
Die beiden Frauen sitzen hier also im Wohnzimmer nebeneinander auf zwei Sesseln und machen plötzlich gleichförmige Kopfbewegungen, was mir merkwürdig erscheint, bis mir bei genauerer Betrachtung auffällt, dass jede von ihnen einen Kopfhörer im Ohr hat und sie anscheinend zusammen Musik hören. Dabei lächeln sie sich an und wiegen die Köpfe gemeinsam im Takt. Musik berührt die Seele und kann Worte überflüssig machen. Dass Graciella eine andere Person so nah an sich ranlässt und ihre Musik teilt, ist ein sehr gutes Zeichen. Dass die Frau-ohne-Chip in der Musik etwas findet, was ihr offensichtlich auch Freude bereitet und sie einen Zugang zu einer Mitpatientin gefunden hat, ist ebenfalls ein wichtiger Schritt. Ein ziemlich guter Neujahrstag, finde ich, fühle mich mit einem Mal ganz zufrieden und freue mich noch mehr auf den Abend mit meiner Mutter. Und natürlich das leckere Kariaki-Ragout, das niemand so gut zubereiten kann wie sie!
Da sitze ich hier plötzlich mit Graciella und höre Musik. Ich kann gar nicht genau sagen, wie es dazu gekommen ist. Als ich Graciella im Raum tanzen sah, so elegant, so geschmeidig, so ausdrucksstark, musste ich einfach lächeln und obwohl sie sonst kaum etwas um sich herum zu bemerken scheint, blickte sie mich plötzlich an, hörte auf zu tanzen und kam einfach auf mich zu, nahm einen der Kopfhörer aus ihrem Ohr und reichte ihn mir wortlos. Neugierig steckte ich ihn in mein Ohr. Die Musik, die daraus erklang, war genauso wie ihr Tanz zuvor, und ich verstand, dass sie wirklich die Klänge und Stimmung in ihre Bewegungen umsetzte und war noch mehr beeindruckt von ihrem Talent. Die Musik durchdrang mich komplett, erfüllte mich mit ihrer melancholischen aber gleichzeitig warmen Stimmung. So schön, so weich, so warm und so berührend empfand ich die Musik und es fühlte sich so an, als würde die Musik durch die Adern meinen Körper durchströmen und ihn mit Leben füllen. Was für ein wundervolles Gefühl! Ich lächele sie an und sie lächelt zurück. Nicht nur ihre Kopfhörer, sondern die Musik verbindet uns in diesem Moment und es braucht keine Worte dazu. Als ein anders Musikstück beginnt, bemerke ich, wie mein Kopf unweigerlich im Takt zu wippen beginnt, auch dies im Einklang mit Graciella und ein Glücksgefühl erfüllt mich. Ihr scheint es genauso viel Freude zu machen wie mir. Und so sitzen wir eine ganze Weile einfach nebeneinander und hören ihre wundervolle Musik und lächeln uns im Einvernehmen an. Und ich habe etwas über mich gelernt, nämlich dass es Musik gibt, die mich vollständig erfüllt und eins mit mir fühlen lässt.
Als ich am nächsten Tag erwache, fühle ich mich wach und neugierig auf den Tag. Im kompletten Gegensatz zu den letzten Wochen, oder sind es doch schon Monate? Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren. Was ich weiß ist, dass ich gerne mehr Musik hören möchte, mehr darüber wissen will, was mir gefällt und was nicht. Alle - außer mir natürlich - besitzen Smartables, mit denen es sich wunderbar Musik hören lässt. Aber es wird schon einen anderen Weg geben, wie ich mehr Musik kennenlernen kann. Ich bin neugierig, wie mir Graciella heute begegnen wird. Nachdem wir gestern ja länger zusammengesessen und Musik gehört hatten, stand sie, als zum Essen gerufen wurde, lächelnd, aber ohne ein Wort zu sagen auf. Ich gab ihr den Kopfhörer zurück und sie verschwand in ihrem Zimmer.
Da ich sehr früh wach geworden bin, bin ich die erste im Esszimmer und suche mir einen Platz am Fenster aus, wo ich nach draußen in den Park blicken kann, aber gleichzeitig einen guten Blick in den Raum habe. Die Küchenhilfe ist noch dabei, die Sachen für das Frühstück bereitzustellen und entschuldigt sich bei mir, dass es noch ein wenig dauert, bis alles bereit ist. „Das ist doch überhaupt nicht schlimm“, versichere ich ihr und bevor ich nachdenken kann, höre ich mich sagen: „Kann ich helfen?“ Worauf sie mich mehr als erstaunt ansieht und erst gar nicht weiß, was sie sagen soll. Ich nehme ihr einen Saftkrug aus der Hand und sage: „Ich weiß ja, wo der hinkommt.“ Und sie lächelt mich dankbar an. Es ist schön, sich nützlich zu fühlen, und so helfe ich ihr dabei, das Frühstücksbüffet einzurichten. Wir sind fast fertig, als Viktor den Raum betritt. Natürlich telefoniert er wieder. Er telefoniert ja eigentlich immer und ich finde das schon recht merkwürdig. Als er zum Saftkrug geht, um sich einen Saft einzugießen, legt er kurz sein Smartable ab und ich sehe, dass er gar nicht wirklich telefoniert, da das Gerät gar nicht eingeschaltet ist. Okay, also telefoniert er gar nicht? „Aber warum macht er das?“, wundere ich mich nun noch mehr und schaue ihm nach, als er wieder „telefonierend“ mit dem Saft aus dem Esszimmer verschwindet. Die Küchenhilfe sieht meinen Blick und meint: „Es ist schon echt traurig mit ihm! Er ist Mr. Efficient geworden.“ – „Was meinen Sie?“, frage ich rätselnd zurück. „Naja, er hat doch Mr. Efficient gespielt, in dieser Serie“, und als ich sie immer noch ratlos anblicke, fährt sie fort: „Wie? Sie kennen die Serie Mr. Efficient nicht?“, und kann es offensichtlich kaum glauben. Obwohl es – wenn man es mal ganz neutral betrachtet – schon nicht so überraschend sein sollte, dass in einer Klinik, in der Menschen mit Gedächtnisverlust sind, auch so etwas scheinbar Selbstverständliches nicht bekannt sein könnte. „Nö“, sage ich also achselzuckend und so erklärt sie mir, dass Viktor Varell Schauspieler ist und vor sechs Jahren zum Star der Serie „Mr. Efficient“ wurde, die als tägliche Dokusoap den Alltag eines Börsenmaklers mit allen Höhen und Tiefen darstellt. Er war vorher am Theater und in Filmen sehr erfolgreich und die Hauptrolle in dieser Serie schien ein absoluter Glücksgriff für seine Karriere. Die Serie ist sogar mit Auszeichnungen bedacht worden, weil sie den Alltag so lebensnah darstellte, was ich aber nicht so ganz verstehe, denn eigentlich war sie ziemlich langweilig. Denn so ziemlich alles, was darin passierte war, dass er Aktien kaufte und verkaufte. Für Viktor hatte es beruflich die Folge, dass er so sehr auf diese Rolle festgelegt wurde, dass er gar keine anderen Charakterrollen mehr angeboten bekam und vermutlich durch die ständigen Drehverpflichtungen auch gar keine Zeit dafür gehabt hätte. Und vor ein paar Wochen ist es dann passiert: Er reagierte gar nicht mehr auf seinen Namen und verstand sich selbst als Mr. Efficient, seine Rolle also nicht mehr als eine Rolle, sondern als Realität. Jetzt ist er hier, um wieder zu entdecken, dass er Viktor Varell – aber eigentlich wohl Viktor Iwanow – ist. Und nachdem sie mir all das erzählt hat fügt sie nach einer kurzen nachdenklichen Pause hinzu: „Sind schon Schicksale hier“, und schaut mich dann ein wenig verlegen an, weil ihr jetzt erst wieder einzufallen scheint, dass sie sich ja mit einer Patientin unterhält. „Jeder hat sein Päckchen zu tragen, oder nicht? Manche Päckchen sind halt schwere Pakete …“, fällt mir dazu nur ein und ich schaue Viktor nach und, obwohl er mir leidtut, finde ich es schon ein wenig unfair, dass dieser Mann sogar drei Namen hat, aus denen er sich einen aussuchen könnte – wäre er sich allen bewusst – während ich nicht mal einen einzigen habe. Anderseits würde ich nicht mit ihm tauschen wollen, um nichts in der Welt. Und mit diesem Gedanken bin ich wieder ganz bei mir und stelle fest, dass ich mich auf einmal sehr hungrig fühle und packe mir jetzt mal mein persönliches Frühstückspäckchen. Das ist zumindest mal ein Päckchen, das ich tragen kann.
Mit meinem Tablett kehre ich zu meiner Ecke am Fenster zurück und lasse die Informationen nochmal kreisen. Ein Schauspieler, der vergisst, wer er selbst ist und ganz in seiner Rolle aufgeht. Wenn er diese Rolle über Jahre hinweg jeden Tag spielt, dann ist das doch gar nicht so verwunderlich. Manchmal verwischen sich wahrscheinlich einfach Realität und Spiel oder Schein. Dass er nun gedanklich in der Welt der Börsenmakler lebt, wäre vielleicht nicht ganz so schlimm, wenn er nicht ganz allein darin wäre. Aber sind wir nicht alle irgendwie ganz allein in unserer Welt? Der Welt, wie nur wir sie sehen und wahrnehmen? Und kann ein anderer Mensch unsere persönliche Welt überhaupt richtig teilen? Hat nicht jeder seine ganz eigene Wahrnehmung? Und wenn ich an das gemeinsame Erleben der Musik mit Graciella gestern denke, dann taucht die Frage in mir auf, inwieweit wir wirklich das Gleiche gehört und erlebt haben oder ob nicht jede eine ganz eigene Sicht und Empfindung hatte, die so gar nichts miteinander zu tun hatten? Und obwohl an diesem Gedanken sicherlich etwas Wahres ist, so ist es doch genauso wahr, dass wir beide diesen Augenblick des gemeinsamen Erlebens genossen haben, und da – trotz individuell unterschiedlicher Wahrnehmung – auch ein gemeinschaftliches und verbindendes Gefühl war. Ich stutze über meine eigenen Gedanken. Wie kann so etwas Einfaches wie das Leben nur gleichzeitig so kompliziert sein? Oder machen wir es kompliziert? Vielleicht hat sich meine Erinnerung verabschiedet, weil mir das alles zu kompliziert war? Oder bin ich zu kompliziert? Vielleicht habe ich – anders als Viktor – keine für mich passende Rolle gefunden und bin deshalb leer wie ein unbeschriebenes Blatt, das nun neu beschrieben werden kann? Apropos „Blatt“, ich brauche dringend etwas zum Schreiben, da ich meine vielen Gedanken irgendwie verschriftlichen muss, um sie zu sortieren. Dieser Wunsch ist plötzlich ganz stark in mir und sagt auch etwas über mich aus, nehme ich an. Nach dem Frühstück werde ich mal zu den Pflegenden gehen und fragen, ob sie mir etwas zum Schreiben geben können. Ein Smartable, auf dem ich schreiben könnte, besitze ich ja nicht… So langsam erscheint es mir gar nicht mehr so unpraktisch, auch so ein Ding zu haben. Da ich aber kein Geld habe, ist es eher unwahrscheinlich, dass ich so schnell eines bekommen werde. Was vielleicht auch ganz gut ist, wenn ich Brandon sehe, der das abschreckendste Beispiel dafür ist, welches Suchtpotenzial in seiner Verwendung steckt. Selbst wenn er herumläuft, hat er ständig den Blick auf seinem Smartable, nimmt seine Umgebung kaum wahr und hatte schon den einen oder anderen Zusammenstoß, was ihn aber nicht davon abhält, weiter wie ein Süchtiger nur auf das Display zu starren. Was ist das für eine Gesellschaft, in der junge Menschen sich an ein Gerät verlieren können – oder, eben weil man ja ein Smartable haben „muss“ – sich sogar an so ein Gerät absichtlich bindet?
Als ich noch meinen Gedanken nachhänge, betritt Rosie das Esszimmer und schaut sich suchend um. Ob sie wieder auf der Suche nach Gustaf ist? Zögernd steht sie in der Tür und sieht zerbrechlich und hilflos aus. Es ist kein Pflegender in der Nähe und es tut mir leid, wie sie da so verloren steht, so dass ich meinem Impuls folge und zu ihr gehe. „Guten Morgen, Rosie“, begrüße ich sie freundlich. „Äh, ja, guten Morgen“, erhalte ich zur Antwort, während sie mich mit klaren blauen Augen ansieht. „Kann ich Ihnen helfen?“ frage ich weiter und erhalte ein verlegenes, „Ich weiß nicht genau, wie ich hier etwas zu Essen bekomme.“ zur Antwort. „Etwas zu Essen wollte ich mir auch gerade holen, da kann ich Sie doch einfach mitnehmen, wenn Sie möchten“, lade ich sie ein und sie lächelt mich dankbar an, während sie mir bereitwillig folgt. „Was hätten Sie denn gerne?“, beginne ich. „Es gibt Brötchen oder Brot und dann alles Mögliche, um es zu belegen…“, erkläre ich ihr wie eine Stadtführerin die Sehenswürdigkeiten, die Einzelheiten des Frühstücksbüffets, während sie mir folgt und sich durch den Blick auf die Speisen auch nach und nach an sie zu erinnern scheint. Ich drücke ihr einen Teller in die Hand und sie beginnt sich Sachen darauf zu tun und wird dabei immer wacher. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass sie alles essen wird, was sie da auftürmt, so ist es doch schön, wie sie im Büffet bestimmte Dinge gerade wieder zu erkennen scheint und leise die Namen der Speisen vor sich hersagt, bevor sie sich welche davon auf ihren Teller packt. „Oh, Würstchen, ich liebe Würstchen… und, hmm, Marmelade … und was ist da? Ein Croissant … lecker.“ Bevor der Turm auf ihrem Teller zu groß wird, obwohl er schon bedenklich gewachsen ist, versuche ich sie abzulenken, indem ich sie frage, ob sie auch ein Getränk dazu möchte, und sie strahlt mich an und bemerkt: „Ja, bitte, einen großen Cappuccino.“ An der Kaffeemaschine ziehe ich ihr einen großen Cappuccino und biete ihr direkt an, ihn ihr zum Tisch zu tragen, da sie mit Tragen des vollen Tellers schon ziemlich gefordert ist. „Wo möchten Sie sitzen?“, frage ich sie vorsichtig, denn ich weiß nicht, ob sie sich einen bestimmten Platz aussuchen möchte, da sie keinen festen Platz im Esszimmer zu haben scheint. „Wo sitzen Sie denn?“, fragt sie zurück und ich deute auf den Tisch in der Ecke. „Ganz da hinten“, setze ich hinzu und sie nickt. „Gut, dann setze ich mich zu Ihnen, wenn es recht ist“, und geht zielstrebig mit ihrem Teller, von dem gerade schon eine Tomate gepurzelt ist, in Richtung meines Tisches. „Gerne“, antworte ich ihr freudig überrascht, folge ihr mit der vollen Tasse und versuche nichts davon zu verschütten, während ich die Lebensmittel, die auf dem Weg zum Tisch von ihrem übervollen Teller purzeln, wieder einsammele, damit niemand darauf tritt.
Am Tisch angekommen, macht sie sich sichtlich vergnügt daran, ihr großes Frühstück zu verspeisen und schafft wesentlich mehr, als ich es von so einer zierlichen Person erwartet hätte. Sie scheint überhaupt einen ziemlich guten Tag zu haben, zumindest ist sie bis auf die anfängliche Irritation nicht mehr verwirrt und widmet sich hingebungsvoll jeder Speise auf ihrem Teller, bis sie mit einem zufriedenen „Ich glaube, ich habe zu viel gegessen.“ den Teller mit den Resten ihrer Büffethamsterei von sich wegschiebt. „Da muss ich jetzt erstmal ein bisschen spazieren gehen, sonst platze ich“, setzt sie grinsend hinzu und steht entschlossen auf. „Das ist eine gute Idee“, bekräftige ich sie und wünsche ihr einen schönen Tag. Es ist ja nicht so, dass wir uns nicht noch ein paarmal an diesem Tag sehen werden, was aber nicht heißt, dass sie sich später noch daran erinnern wird, mit mir gefrühstückt zu haben. Und sowieso, Höflichkeit und Freundlichkeit schaden ja schließlich nicht. Rosie verabschiedet sich und geht recht beschwingt davon, was ich für eine Frau in ihrem Alter und nach so viel Essen wirklich bemerkenswert finde. Sie ist eine wirklich nette Frau und Demenz ist echt eine gemeine Erkrankung, die doch wirklich von der Medizin inzwischen besser erforscht und besser bekämpfbar sein sollte! Ohnehin hat sie seit unserem Gespräch an Silvester für mich eine besondere Bedeutung und einen Platz in meinem Herzen eingenommen, wie mir gerade sehr bewusst wird.
Gerade als ich auch den Raum verlassen möchte, kommt Viktor ein zweites Mal ins Esszimmer. „Verkaufen, auf jeden Fall verkaufen“, höre ich ihn – einmal mehr - laut und deutlich sagen. Als unsere Blicke sich für einen kurzen Moment treffen, nicke ich ihm freundlich zu und sage ohne nachzudenken: „Immer die Arbeit, das muss sehr anstrengend sein!“ Zu meiner Überraschung lässt er das Smartable sinken und zwinkert mir zu: „Ist doch nur für den Dreh!“ Und als ich ihn erstaunt ansehe, setzt er hinzu: „Ich behalte die Aktien, die sind Gold wert! Falls Sie mal eine Anlageberatung brauchen, wenden Sie sich gerne an mich“, und wendet sich wieder seinem imaginären Gespräch zu. „Hören Sie, sofort verkaufen!“
Verwundert stehe ich da. Irgendwie scheint er doch nicht ganz in seiner Rolle zu sein, was vielleicht ein gutes Zeichen ist. Ich bin froh, dass es nicht meine Aufgabe ist, ihn zu therapieren. Was kann man denn tun, um jemandem zu helfen, der sich so weit von der Realität entfernt hat? Und wie viele Menschen haben da vielleicht ähnliche Probleme, aber leben ein scheinbar normales Leben, weil es den anderen um sie herum gar nicht auffällt, dass sie nur noch eine Rolle leben, weil ihr Lebenskontext zur Rolle passt? Würde man Viktor zu seinem Aufnahmestudio bringen, dann würde es vermutlich gar nicht auffallen, dass er zwischen dem Schauspieler und Börsenmakler nicht mehr unterscheiden kann. Zumindest wenn er seine Texte zum passenden Moment liefert. Die Sache mit der eigenen Rolle, die man bewusst oder unbewusst einnimmt, beschäftigt mich, schließlich ist sie ja eine Variation meiner Frage nach dem „Wer bin ich“ und „Wer will ich sein“.
Heute ist wieder eine Therapiesitzung mit der Frau-ohne-Chip und ich bin sehr gespannt wie unser Gespräch verlaufen wird. In den vergangenen Sitzungen war sie sehr schweigsam, hatte sie doch wenig zu erzählen. Meine Versuche, Erinnerungen durch das Zeigen von Nachrichten, Werbung oder Filmen zu wecken, hatten wenig gebracht. Anders als bei Patienten mit Chip, deren vollständige Profile wir besitzen und die wir über die Selbstdarstellung in den sozialen Medien, im Kontakt mit Bezugspersonen und Autosuggestiver Schlaftherapie wieder zu sich selbst heranführen können, bis sich in der Regel nach ungefähr einem Monat der Schleier des Vergessens löst, und die Person wieder in ihr altes Leben zurückgeführt werden kann. Die Autosuggestive Schlaftherapie, kurz AGS, ist eine Methode, die ich in der Regel vermeide, anders als in anderen Kliniken, die sich im Wesentlichen dieser Behandlungsweise verschrieben haben, da bei dieser Methode direkt das Unterbewusstsein bearbeitet wird. Ich persönlich habe hier große Skrupel, da hier oft auch eine zu starke oder unbeabsichtigte Beeinflussung des Unterbewusstseins erfolgt, weshalb ich eher auf die Methoden der Bewusstseinsentwicklung zur Heilung setze, auch wenn dies in der Regel eines längeren Heilungsprozesses bedarf, aber meiner Ansicht nach auch anhaltenderen Erfolg zeigt. Die Frau-ohne-Chip – seit unserem Gespräch am Neujahrsmorgen, in dem sie mir ein Stück Persönlichkeit gezeigt hat, ohne dies selbst zu merken, geht es mir wirklich auf die Nerven, keinen Namen für sie zu haben - also, sie sprach auf die Behandlung mit Informationen aus den Medien nicht gut an. Sie fand die Nachrichten erschreckend und schien jede der Botschaften irgendwie sehr persönlich zu nehmen. Ich meine, wie schlimm ist es für mich persönlich, wenn in Afrika eine Dürrekrise herrscht? Es ist gut, informiert zu sein, aber letztlich hat das mit meinem Leben hier doch wenig zu tun, oder? Diese Betroffenheit oder Empörung, je nachdem um was für eine Nachricht es sich handelte, schien mit nicht gut für ihr ohnehin wackeliges seelisches Gleichgewicht, weshalb ich es dann mit dem Wiedererkennungseffekt von Werbung versuchte. Manche Produkte waren ihr bekannt, andere nicht. Sie kannte erstaunlicherweise Smartables nicht und die haben doch heute alle! Bei manchen Produkten ärgerte es sie, wie unnötig sie seien. Also auch hier kamen wir nicht so richtig weiter und die emotionalen Reaktionen waren auch nicht der gewünschte Effekt. Also versuchte ich es noch mit Filmen, wobei hier natürlich ebenfalls eine emotionale Reaktion zu erwarten ist, aber auch hier brachte keiner den erwünschten Erfolg, Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben zu wecken. Unsere Sitzungen wurden immer schweigsamer, da sie wohl zunehmend das Gefühl hatte, nichts sagen zu können, während mir zunehmend weniger einfiel, wie ich ihre Erinnerungen wecken könnte. Tatsächlich hatten wir in der letzten Sitzung im Wesentlichen bedrückt schweigend dagesessen, bis die Zeit endlich abgelaufen war, und ich sie mit einem „Dann sehen wir uns am Dienstag wieder“ endlich beenden konnte. Danach fühlte ich mich zugegebenermaßen ziemlich schlecht und ich vermute, dass es ihr auch nicht anders ging. Es war deutlich zu beobachten, dass ihre Stimmung über die Zeit hinweg immer trüber wurde, und ich erwog Antidepressiva, einfach, weil mir nichts Vernünftiges mehr einfiel, um ihr zu helfen.
Ihr Besuch am Neujahrstag hatte aber alles verändert. Und ich muss mir eingestehen, dass es nicht meine Therapieansätze, sondern ihr Gespräch mit Rosie an Silvester war, das dies bewirkt hat, und so erwarte ich sie heute mit freudiger Spannung. Für mich ist der erste Eindruck bei einer Therapiesitzung immer zentral, da er mir so viel über die Ausgangssituation der Sitzung verrät: Körperhaltung, Gesichtsausdruck, man könnte es „die Gesamtausstrahlung“ nennen. Also beobachte ich meine Patienten immer besonders aufmerksam, wenn sie den Raum betreten. Nach einem Klopfen, das nicht zaghaft, sondern entschlossen klingt, und meinem „Herein“ wird die Tür schwungvoll geöffnet und sie betritt den Raum. „Guten Morgen“, begrüße ich sie und sehe, wie sie aufgerichtet, wach und mit blitzenden Augen hereinkommt. „Guten Morgen, Dr. Domas“, grüßt sie mich und schaut mich intensiv an, fast so, als würde sie mich genauso beobachten und analysieren, wie ich es gerade mit ihr tue. Das ist etwas irritierend, aber an dieser Patientin ist ja offensichtlich alles etwas anders …
Wir setzen uns in meine Gesprächsecke und ich beginne - wie immer - mit meiner offenen Begrüßung: „Wie geht es Ihnen gerade?“ Nach kurzem Überlegen erhalte ich ein „Ich fühle mich gut“ zur Antwort. Und es ist bei ihr keine automatische Antwort auf eine Frage, die viel zu oft gestellt wird, ohne wirklich ernst gemeint zu sein. Wenn das kein guter Start ins Gespräch ist, dann weiß ich es auch nicht! Ich lächle und erwidere erst mal nichts, um ihr den Raum zu lassen, mehr dazu zu sagen. Diesmal ist es keine unangenehme Stille wie bei unseren letzten Sitzungen, sondern eine gelassene Stille, in der sie überlegt, bevor sie – wie erhofft – wieder das Wort ergreift: „Also, ich könnte etwas zum Schreiben gebrauchen. Die Pflegenden fanden, dass ich das mit Ihnen besprechen soll, weil sie wohl nicht einschätzen konnten, ob das therapeutisch sinnvoll ist. Aber ich möchte mir einfach Notizen machen. Ich habe angefangen mich zu beobachten und ich mag zum Beispiel Musik und ich möchte mir das alles aufschreiben. Mein Kopf platzt schier vor lauter Eindrücken und Gedanken. Ich brauche das Schreiben, um sie zu sortieren! Kann ich also etwas zu schreiben haben?“ Einen solchen Redeschwall hatte ich nicht erwartet, aber ich freue mich über die Energie, mit der sie ihr Anliegen vorbringt. Es ist eine einfache Entscheidung und so antworte ich direkt: „Selbstverständlich! Können Sie denn mit der Hand schreiben?“ Erleichtert über meine Zustimmung blickt sie mich an und überlegt wieder, bevor ein zögerliches „Ich denke schon“ aus ihrem Mund kommt. Ja, das Schreiben mit der Hand ist tatsächlich selten geworden, seit das Schulsystem dazu übergegangen ist, direkt tippen zu lernen, und in vielen Fällen ohnehin Texte diktiert werden, ist das mit der Hand schreiben sehr aus der Mode gekommen und - auch wenn es nur sehr selten gebraucht wird - doch eine, wie ich finde, ziemlich wichtige Fähigkeit. Wenn ich darüber nachdenke, wann ich das letzte Mal mit einem Stift geschrieben habe, dann bin ich mir gerade gar nicht so sicher, dass ich es noch kann. Ein irgendwie erschreckender Gedanke, der mich auch etwas verlegen macht. „Nun, das lässt sich ja einfach herausfinden, nicht wahr?“, bemerke ich, während ich in meinem Schreibtisch nach Papier und einen Stift suche. Tatsächlich fällt mir ein leeres Notizbuch in die Hand, das ich einmal zur Verwendung als privates Tagebuch geschenkt bekommen hatte, aber nie die Zeit dazu gefunden habe, es zu befüllen. Es sieht wirklich schön aus. Ein geschmeidiger Einband in sanfter Farbe mit einer kleinen eingearbeiteten Schlaufe für einen Stift, der auch schon darin steckt. Hoffentlich geht der überhaupt noch, frage ich mich und versuche mich krampfhaft zu erinnern, wer mir dieses Geschenk einmal gemacht hat. Da die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist, dass ich irgendwann dazu komme, dieses Buch wirklich zu nutzen, werde ich es nun weiter verschenken.
Also hole ich das Buch aus der Schublade, löse den Stift aus seiner Schlaufe und teste ihn auf einem Notizblock, der gefühlt schon genauso lange ungenutzt auf meinen Schreibtisch liegt. Auch so ein Geschenk, das ich irgendwann mal bekam, aber nie wirklich genutzt habe. Vielleicht sollte ich mal durch meinen Schreibtisch schauen und aufräumen, schießt es mir durch den Kopf, wer weiß, was sich da noch alles an Geschenken findet, von denen ich nichts mehr weiß und die ich ohnehin nicht nutze. Nun, sollte ich mal tun, aber nicht jetzt! Der Stift fährt über den kleinen Zettel und nichts erscheint. Es fühlt sich ganz merkwürdig an, ihn in der Hand zu halten. Immerhin wusste ich noch, wie man ihn hält, es wäre mir sonst schon ein wenig peinlich vor der Patientin gewesen. Ich fahre mit dem Stift noch weiter über das Papier und drücke jetzt ein bisschen fester, als ob ich die Tinte oder was auch immer da drin ist, so raus quetschen könnte. Nachdem mein Zettel mit Abdrücken des Stiftes gefüllt ist und ich kurz davor bin aufzugeben, zeigen sich tatsächlich erste Farbspuren. „Ha, geht doch!“, entfährt es mir und ich nehme einen neuen Zettel, auf dem die Striche immer deutlicher werden. Nun, nach noch mehr Kritzelei auf einem weiteren Zettel schreibt er wieder flüssige Linien und ich muss eingestehen, dass dieser Stift in der Hand ein schönes Gefühl hinterlässt. Ich bin so auf den Stift fokussiert, dass ich ganz vergesse, dass ich nicht allein bin und versuche nun tatsächlich etwas zu schreiben und fühle mich glücklich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal allein mit dem Fahrrad fährt, als mein Zettel ein „Guten Tag“ ziert. Erst dann fällt mir meine Patientin wieder ein und ich lächle ein wenig verlegen, als ich ihr Stift und Buch gebe.
„Das darf ich benutzen? Wirklich? Vielen Dank, das ist wirklich wunderschön! Und so lieb von Ihnen. Damit werde ich meine Gedanken wundervoll notieren können!“ Sie strahlt, als hätte ich ihr eine Eigentumswohnung geschenkt und so viel Freude über so eine Kleinigkeit macht mich verlegen, denn eigentlich tut sie mir gerade einen Gefallen, indem sie einem eh nur herumliegenden Gegenstand einen Nutzen verleiht. Dennoch war es ihr wirklich ein Herzenswunsch, so dass die übergroße Freude schon erklärt ist. „Nun, ich hoffe, der Stift tut es auch wirklich. Sie haben ja gesehen, dass er etwas eingetrocknet war. Wenn er nicht mehr funktioniert, dann sagen Sie Bescheid und ich finde einen anderen!“, verspreche ich ihr. – „Danke! Er scheint aber doch jetzt zu schreiben und ich denke auch, dass ich schreiben kann. Darf ich es direkt versuchen?“, setzt sie noch aufgeregt hinzu. „Sicher“, antworte ich ihr. Das kommt mir auch entgegen, denn so kann ich direkt sehen, wie sie damit klarkommt.
Anders als ich, nimmt sie den Stift direkt fest in die Hand und als ob Stift und Hand direkt miteinander verschmelzen, schreibt sie in klarer Schrift zügig und entschlossen auf die erste Seite des Buches:
Wer bin ich und wer will ich sein?
Sie strahlt mich an. „Das ist perfekt!“ Da ich den Eindruck habe, dass das, was sie jetzt gerade am dringendsten braucht, Ruhe ist, um ihre Gedanken niederzuschreiben, biete ich ihr an, die Sitzung für heute zu beenden. Dankbar lächelnd und das Buch dicht an sich gedrückt, steht sie auf und verlässt sichtlich zufrieden mein Büro. Das lief ja ziemlich gut, auch wenn wir kaum geredet haben und ich überlege kurz, ob ich die restliche Zeit, die für ihre Sitzung vorgesehen war, nun tatsächlich zum Durchgehen meines Schreibtisches verwenden sollte, aber ein kurzer Blick in das Chaos meiner Schubladen und der Gedanke, dass ich da eigentlich nie ranmuss, überzeugt mich schnell eines Besseren, und ich beschließe, mir stattdessen einen Kaffeeccino zu holen und einfach eine kleine Pause zu gönnen. Mache ich ja auch viel zu selten.
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