Die Wikipedia-Story - Pavel Richter - E-Book

Die Wikipedia-Story E-Book

Pavel Richter

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Beschreibung

Niemand wurde zum Milliardär, Werbung gibt es nicht und doch gehört Wikipedia zu den Top 10 aller Websites. Die Enzyklopädie ist weltweit ein Synonym für Wissen - und sie konnte sich gegen Konkurrenten von Brockhaus bis Google durchsetzen. Ihre Entwicklung in Deutschland nahm auf ganz besondere Weise Fahrt auf. Wikipedia ist soziales Experiment, bedeutendes Instrument der Freiheit und gleichzeitig geschlossene Gesellschaft. Und Pavel Richter, Wikipedianer der ersten Stunde, der fünf Jahre in Berlin die Geschäfte hinter dem Wissensriesen führte, ist dessen Biograf. Er erzählt eine Geschichte voller faszinierender Begebenheiten und auch von einigen Skandalen, Fehlern, Fakes und legendären Editierkriegen. Wikipedia ist eines der spannendsten Kulturphänomene unserer Zeit. Hier kommt das Buch dazu.

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Pavel Richter

DieWikipedia-Story

Biografie eines Weltwunders

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Niemand wurde zum Milliardär, Werbung gibt es nicht und doch gehört Wikipedia zu den Top 10 aller Websites. Die Enzyklopädie ist weltweit ein Synonym für Wissen - und sie konnte sich gegen Konkurrenten von Brockhaus bis Google durchsetzen. Ihre Entwicklung in Deutschland nahm auf ganz besondere Weise Fahrt auf. Wikipedia ist soziales Experiment, bedeutendes Instrument der Freiheit und gleichzeitig geschlossene Gesellschaft. Und Pavel Richter, Wikipedianer der ersten Stunde, der fünf Jahre in Berlin die Geschäfte hinter dem Wissensriesen führte, ist dessen Biograf. Er erzählt eine Geschichte voller faszinierender Begebenheiten und auch von einigen Skandalen, Fehlern, Fakes und legendären Editierkriegen. Wikipedia ist eines der spannendsten Kulturphänomene unserer Zeit. Hier kommt das Buch dazu.

Im Gedenken an meine Mutter SabineGewidmet meinem Vater Dieter

Danke

Inhalt

Vorwort von Jimmy Wales

Einleitung: Wissen ist Macht

Kapitel 1Die Anfänge von Wikipedia

Enzyklopädie trifft Technik

Amateure vor Experten

Wikipedia 0.1

Schnelle Internationalisierung

Streitpunkt Kommerzialisierung

Kapitel 2Wie ein Artikel entsteht – und manchmal auch wieder verschwindet

Das Wikipedia-Wunder

Der Löschantrag

Exklusionisten gegen Inklusionisten

Inklusionisten gegen Exklusionisten

Auskunftsbibliothekare 2.0

Kapitel 3Die Organisation der Wikimedia-Bewegung

Kapitel 4Die Finanzen des freien Wissens

Kapitel 5Wenn plötzlich Geschichte passiert – vom Umgang mit Nachrichten

Kapitel 6Auf den Schultern von Giganten

Was ist eine Enzyklopädie?

Der Weg zur Encyclopédie des Denis Diderot

Rückkehr nach Großbritannien: die Encyclopaedia Britannica

Brockhaus und Meyers

Encarta: Ohne Community geht gar nichts

Warum heute nicht brockhaus.de die Adresse für Wissen ist

Die digitale Transformation

Kapitel 7Blick hinter die Kulissen: im Maschinenraum des freien Wissens

Die viereinhalb Typen der Wikipedianer

Wikipedia geht offline

Unter Besserwissern und Idealisten

Wer hat die Macht?

Kapitel 8Stalins Badezimmer: Fehler, Fakes und Fantasien

Geschichte in Gefahr: das erfundene Vernichtungslager

PR in Wikipedia

Vor dem Gesetz sind alle gleich – doch welches Gesetz gilt?

Kapitel 9Das globale Wikiversum

Warum ist die chinesische Wikipedia nur auf Platz 14?

Kapitel 10Die Weiterentwicklung der Wikipedia-Idee

Wikidata – das erfolgreichste Wiki-Projekt, das keine Enzyklopädie ist

Wikis außerhalb der Wikimedia-Welt

Kapitel 11Wikipedia in Gefahr – und nur Autorinnen können sie retten

Danksagung

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

1. Die Anfänge von Wikipedia

2. Wie ein Artikel entsteht – und manchmal auch wieder verschwindet

3. Die Organisation der Wikimedia-Bewegung

4. Die Finanzen des freien Wissens

5. Wenn plötzlich Geschichte passiert – vom Umgang mit Nachrichten

6. Auf den Schultern von Giganten

7. Blick hinter die Kulissen: im Maschinenraum des freien Wissens

8. Stalins Badezimmer: Fehler, Fakes und Fantasien

9. Das globale Wikiversum

10. Die Weiterentwicklung der Wikipedia-Idee

11. Wikipedia in Gefahr – und nur Autorinnen können sie retten

Vorwort von Jimmy Wales

Am 15. Januar 2001 habe ich eine kleine Webseite mit dem Namen Wikipedia gestartet, indem ich eine Open-Source-Software installierte und ein paar Worte als Test in dieses Wiki schrieb. Meine Idee war eine Enzyklopädie von allen Menschen für alle Menschen, und schnell zeigte sich, dass ich damit nicht alleine war. Die englische Ausgabe wuchs in wenigen Wochen rasant, immer mehr Menschen machten mit, schrieben Artikel und bildeten eine Community. Wikipedia ist eine globale Idee – deshalb starteten wir bereits am 16. März des gleichen Jahres Ausgaben in anderen Sprachen. Dass die deutsche Ausgabe die erste nach der englischen war, ist ein faszinierender historischer Zufall. Wie es dazu kam und noch viel mehr, erzählt Pavel Richter in diesem Buch.

Nachschlagewerke waren schon immer ein Teil meines Lebens. Als ich als kleiner Junge mit meiner Familie in Huntsville, Alabama, lebte, kaufte meine Mutter ein Lexikon mit dem Titel World Book von einem Vertreter an der Haustür. Damals konnte ich noch nicht einmal lesen, ich blätterte jedoch in dem Lexikon und war sofort fasziniert. Für mich war das World Book ein Fenster in eine schier unendliche neue Welt.

Ich habe einen ganz normalen Lebenslauf: Ich habe studiert und in der Finanzbranche gearbeitet, beim Internetboom der Jahrtausendwende habe ich mein Glück probiert. Schnell war mir klar, dass das Internet den Menschen ungeahnte Möglichkeiten bot, sich zu informieren und zusammenzuarbeiten. Gerade diese frühen Jahre des World Wide Webs haben mir gezeigt, welches Fenster in eine unglaublich große Welt das Netz sein kann.

Die Enzyklopädie hat mich nie wirklich losgelassen – nicht gerade als dickes, in Leder gebundenes Buch, aber als Idee. Wenn man das ganze Wissen der Menschheit allen Menschen der Welt frei zur Verfügung stellen könnte – und wenn man das noch verbinden würde mit den Möglichkeiten der Zusammenarbeit des Internets …

Um dies zu verwirklichen, habe ich Wikipedia ins Leben gerufen. Allerdings nicht allein: Viele andere Menschen verdienen Anerkennung für ihre Rolle beim Aufbau von Wikipedia, denn von Anfang an war das Projekt eine echte Gemeinschaftsaufgabe. Larry Sanger war zum Beispiel der erste (und einzige) Chefredakteur. Tim Shell erfand das Konzept der Diskussionsseite, eine eigene Seite für jeden Artikel in Wikipedia, auf der die Autoren Verbesserungen besprechen können. Und es gibt noch viele andere in unserer Community, die ebenso brillante Ideen zu Wikipedia beigetragen haben.

Als mein Freund Pavel mir erzählte, dass er ein Buch über Wikipedia schreiben wolle, war mir sofort klar: Dazu möchte ich etwas beitragen! Denn Deutschland und die deutsche Wikipedia mit ihrer Community hat für mich stets eine besondere Bedeutung gehabt. Außerdem kenne ich Pavel schon seit der Zeit, als er mitgeholfen hat, das deutsche Wikimedia-Chapter erfolgreich aufzubauen.

Kurz nachdem wir die deutsche Wikipedia gestartet haben, stellte sich heraus, dass die Deutschen offenbar ein besonderes Verhältnis zur Idee hinter Wikipedia haben. Denn wie sonst ließe sich erklären, dass Deutsch zwar auf der Liste der am häufigsten gesprochenen Sprachen weltweit nur auf Platz 13 steht, die deutsche Wikipedia aber die viertgrößte aller Ausgaben ist? Ein deutscher Wikipedianer sagte einmal zu mir: »Es brauchte einen optimistischen Amerikaner, um so etwas wie Wikipedia überhaupt zu denken.« Worauf ich antwortete: »Und es bedurfte der Deutschen, um rauszufinden, wie man das dann umsetzt.«

Wikimedia Deutschland war die erste lokale Organisation, das erste sogenannte Chapter, das es auf der Welt gab, und es ist auch heute noch das größte. Das erste weltweite Treffen der Wikipedianer, die Wikimania, fand 2005 in Frankfurt am Main statt. Die Deutschen sind also offenbar sehr gut darin, eine Enzyklopädie zu schreiben und Dinge zu organisieren!

Woher ich das alles weiß? Natürlich aus Wikipedia. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich Wikipedia nicht nutze. Um Vorträge vorzubereiten, bevor ich Interviews gebe oder auf Kongressen auftrete. Aber natürlich nutze ich Wikipedia auch wie alle andere: Um eine Frage zu beantworten, über die ich mir mit einem Kumpel nicht einig werden kann. Um meiner Tochter bei den Hausaufgaben zu helfen. Oder einfach nur so, indem ich mich von einem Artikel zum anderen klicke.

Ich selbst nehme bei Wikipedia eine besondere Rolle bei. Allerdings nicht in dem Sinne, wie sich das viele Menschen außerhalb von Wikipedia vorstellen. Ich bin nicht der Geschäftsführer der Wikimedia Foundation, und ich bin niemandes Chef. Ich bin eines von zehn Mitgliedern des Kuratoriums der Wikimedia Foundation. In Wikipedia schreibe ich natürlich mit. Und ich werde innerhalb und außerhalb des Projekts um Rat gefragt. Am Anfang war ich noch sehr direkt beteiligt, habe viele der frühen Regeln festgelegt und auch mal jemanden rausgeworfen, der das Projekt sabotierte. Heute äußere ich mich, wenn ich gefragt werde oder wenn ich glaube, dass ich etwas zu einer Diskussion beitragen kann. Denn Wikipedia lebt von der Qualität des Arguments, des Belegs, des Gedankens. Nicht vom Namen oder Status eines Einzelnen.

Ein wichtiges Element des Erfolgs von Wikipedia ist, dass wir von Anfang an und bis heute den Menschen vertrauen. Es ist eine der weltweit größten Webseiten – und jeder kann sie ändern, ohne sich anzumelden und ohne zu fragen. Einfach so. Das geht nur mit Vertrauen: darauf, dass die Menschen diese Freiheit nicht für eigennützige Zwecke missbrauchen, und in die Gemeinschaft der Wikipedianer, dass sie Regeln und Prozesse aufstellen, die diese Freiheit ermöglichen und unterstützen. Diese Art zu denken fällt vielen schwer, denn in gewisser Weise wird die Kontrolle aufgegeben. Doch es funktioniert, auch und besonders in einem Land wie Deutschland, dem gerne mal eine besondere Beziehung zu Regeln und Kontrolle unterstellt wird. Vertrauen ist ein wichtiges Element zum Gelingen des Projekts Wikipedia.

Was mich heute umtreibt, sind zwei Dinge: zum einen die Qualität von Wikipedia. Wir sind so erfolgreich geworden, dass mit dem enormen Erfolg auch enorme Verantwortung einhergeht. Was in Wikipedia steht, das wird von Millionen Menschen gelesen. Zwar sollte sich jeder immer auch noch zusätzlich außerhalb von Wikipedia informieren, aber oft genug schauen die Leute nur in unseren Artikel zu einem Thema. Umso wichtiger ist es, dass unsere Artikel stimmen. Dafür ist es nötig, dass alles, was wir schreiben, mit seriösen Quellen belegt ist. Voraussetzung dafür sind funktionierende Communities: Communities, in denen die Mitglieder respektvoll und freundlich miteinander umgehen; Communities, die offen sind für Menschen aus jeder Religion, jeden Geschlechts, jeder politischen Ausrichtung und jeder sozialen Herkunft.

Das Zweite, was mich bewegt, ist die nächste Milliarde Menschen, die in den kommenden Jahren online gehen wird. Denn diese Menschen kommen fast ausschließlich aus Entwicklungsländern. Immer wenn ich in Asien, Afrika oder Südamerika unterwegs bin, sehe ich, wie wichtig Wikipedia für die Menschen dort ist. In Ländern, in denen Schulbücher nur schwer erhältlich oder zu teuer sind, ist Wikipedia oft die einzige Quelle für verlässliche Informationen, die den Menschen zur Verfügung steht. Wikipedia ist eigentlich nicht für uns, sondern für sie. Sie ist für die Mädchen irgendwo in Afrika, die das Leben von Hunderttausenden Menschen um sie herum retten könnten – aber nur, wenn sie Zugang zu Wissen haben.

Wikipedia lebt nicht nur davon, gelesen zu werden. Wikipedia lebt davon, dass Menschen mitmachen und mitschreiben. Und es ist wichtig, dass aus dieser nächsten Milliarde Menschen nicht nur viele Wikipedia lesen, sondern auch zu ihr beitragen. Damit auch ihre Sichtweisen, ihre Sprachen, ihr Denken und ihr Wissen repräsentiert sind in Wikipedia. Davon profitieren nicht nur die Entwicklungs- und Schwellenländer, sondern auch wir in der westlichen Hemisphäre. Wir können mit Wikipedia die Sichtweisen ansonsten marginalisierter Gruppen kennenlernen. Diese Chance sollten wir nutzen.

Doch mein Denken und mein Handeln gehen über Wikipedia hinaus. Wikipedia wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Aber die Idee dahinter kann auch in vielen anderen Bereichen erfolgreich umgesetzt werden. Sei es Wikidata (übrigens auch in Deutschland erfunden und umgesetzt) oder sei es als ein freies und selbstverwaltetes alternatives soziales Netzwerk, wie ich es gerade mit WT.social aufbaue. Wir sollten das Internet als einen Ort der Freiheit und der Gemeinschaft erhalten und verteidigen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen dieses Buches von Pavel Richter. Es bietet Ihnen einen Blick in den Maschinenraum von Wikipedia; schauen Sie uns über die Schulter, während wir Wikipedia schreiben, für Sie und für uns.

Aber bitte schauen Sie nicht nur zu: Machen Sie mit. Ich schließe daher mit einer Bitte, ja sogar mit einem Appell, an Sie, die Leserin, den Leser dieses Buches: Bleiben Sie der Idee von Wikipedia gewogen. Beteiligen Sie sich, nehmen Sie teil an Wikipedia: als Leser, als Spender, als Autor, als Fotograf, als Korrektor, als Diskutant.

Denn Wikipedia, das sind wir!

Einleitung: Wissen ist Macht

Wikipedia ist eine Enzyklopädie, und sie ist die größte Enzyklopädie aller Zeiten. Doch Wikipedia ist noch sehr viel mehr.

Sie ist eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte – sie ist weltweit die einzige Webseite unter den Top 10, die nicht kommerziell ausgerichtet ist. Niemand wurde durch sie zum Milliardär, Werbung gibt es nicht – und doch ist sie global zum Synonym für Wissen geworden. Zunächst belächelt als ein Internetprojekt von ein paar Nerds, lange von den etablierten Nachschlagewerken ignoriert, schließlich heftig bekämpft, hat sie sich schließlich behauptet: Brockhaus und Co. gibt es nicht mehr. Die Geschichte der Enzyklopädie Wikipedia ist abwechslungsreich, spannend, voller faszinierender Entwicklungen, Anekdoten und auch einiger Skandale.

Zugleich ist Wikipedia, und gerade auch die deutsche Wikipedia, geprägt von einer mitunter toxischen Diskussionskultur. Der Umgangston kann rau werden, immer wieder auch aggressiv. Fachleute fühlen sich oft nicht ernst genommen, ja geradezu verachtet von einer Kultur der Anonymität. Auch Frauen sind massiv unterrepräsentiert unter den Autoren (90 Prozent sind Männer), von Menschen mit Migrationshintergrund oder ohne formale Schulbildung wollen wir gar nicht erst sprechen. Wikipedia ist eine Erfolgsgeschichte mit Schattenseiten, die hier nicht verschwiegen werden sollen.

Als Enzyklopädie steht Wikipedia in der Tradition der Encyclopédie des Denis Diderot, der Encyclopedia Britannica, von Meyers und Brockhaus. Enzyklopädien sammeln nicht nur einfach Wissen. Sie sind Instrumente der Aufklärung, der »Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie es der Philosoph Immanuel Kant 1784 formulierte. Das war im 18. Jahrhundert ebenso revolutionär, wie es das heute ist. »Wissen ist Macht« ist kein Spruch aus einem Glückskeks, sondern Versprechen und Drohung zugleich. Ein Versprechen für die Unterdrückten und Benachteiligten auf Teilhabe und Macht, und eine Drohung gegen diejenigen, die Wissen bisher kontrolliert und den Zugang zu ihm beschränkt haben. Indem Wikipedia Wissen frei zur Verfügung stellt und für jedermann zugänglich macht, bedroht es die Machtpositionen von Herrschenden, von Kirchen, von Unternehmen nachhaltig. Wissen ist ein großes Geschäft – und Wikipedia erschüttert die Grundlagen dieses Geschäftes.

Wikipedia ist aber auch ein Projekt zum unabhängigen Aufbau einer Enzyklopädie. Denn dahinter steht kein Verlag, keine Redaktion, kein Vertrieb, keine Anzeigenabteilung. Wikipedia lebt vom Engagement von Zehntausenden Menschen, die Tag für Tag ihr Wissen einbringen, damit es frei für jeden zugänglich und nutzbar ist. Dafür haben diese Menschen ein komplexes und ausgefeiltes System entwickelt, mit dem sie den Aufbau der größten Enzyklopädie der Welt organisieren. Es haben sich formale Regeln herausgebildet, aber auch unendlich viele ungeschriebene. Doch wie funktioniert das? Niemand steuert die Wikipedianer, niemand gibt eine Richtung vor, außer sie sich selbst. Ihre Mission lautet: »Stell dir eine Welt vor, in der jeder einzelne Mensch frei an der Summe allen Wissens teilhaben kann. Das ist unsere Verpflichtung.«

Dieses Buch lädt Sie ein, einen Blick hinter die Kulissen dieses unglaublichen Projektes zu werfen. Es berichtet von den sieben Versuchen, die es vor Wikipedia gab, die aber allesamt gescheitert sind; von den Anfängen in Florida, als die Enzyklopädie sich ihre Rechner noch mit Softpornos teilte, während gleichzeitig in wenigen Wochen Tausende Artikel entstanden; von der deutschen Wikipedia, die nach der englischen Ausgabe die erste in einer anderen Sprache war. Überhaupt spielt Deutschland, das wird schnell klar, eine besondere Rolle für Wikipedia. Immer wieder kommen Impulse aus diesem Land, die weit über die deutsche Ausgabe der Enzyklopädie hinausgehen, zuletzt Wikidata, eine nach dem Prinzip der Wikipedia aufgebaute Wissensdatenbank und das am schnellsten wachsende Wikimedia-Projekt, das in Karlsruhe erfunden, in Berlin programmiert und weltweit ein Erfolg wurde.

Wie kommt ein Artikel in Wikipedia, und wieso fliegen auch immer wieder Artikel raus? Wie wird dabei für Qualität gesorgt? Wie geht man mit Lügen, Fälschungen und Fake News um? Wie werden Selbstdarstellung, Werbung und Lobhudelei verhindert? Wer sind die Menschen hinter Wikipedia, wer verbringt seine Tage und Nächte damit, Enzyklopädie-Artikel zu schreiben? Und kann wirklich jeder beitragen, einfach so, ohne Anmeldung?

Wikipedia gilt Kritikern als notorisch unzuverlässig und ist aus vielen Schulen verbannt. Und tatsächlich sind Probleme mit EditWar und Relevanzkriterien, Streit und Fake trauriger Alltag bei Wikipedia. Kein Wunder also, dass Wikipedia oft Anlass gibt für eine teils hämische, teils herablassende Kritik der »Intelligenz der Vielen«. Doch Wikipedia ist zugleich das transparenteste Medium, das es gibt. Niemand ist so radikal offen, auch und gerade für die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten, wie Wikipedia.

Das ist die eine Geschichte, die der Enzyklopädie. Doch es gibt noch eine zweite Geschichte zu erzählen. Denn Wikipedia ist nicht nur ein Internetphänomen, sondern Ausdruck grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen. Diese Geschichte beginnt im Summer of Love 1967 in Haight-Ashbury, als 10 000 Menschen in diesem verschlafenen Viertel in San Francisco zusammenkamen und einfach alles anders machen wollten – anders lieben, anders leben, anders Musik machen, anders wirtschaften, anders aussehen, anders Politik machen. Ausgehend von den USA begann eine grundlegende Verschiebung zentraler gesellschaftlicher Werte: Akzeptanz für unterschiedliche Lebensentwürfe und eine gewisse Skepsis gegenüber staatlichem Handeln, verbunden mit einem Ethos des Experimentierens, mit einer Erfindungs- und Erneuerungskraft, die sich in der Kultur, in der Musik, im Zwischenmenschlichen und schließlich in der ganzen Gesellschaft Bahn brach.

Heute wird dieser Veränderungsprozess in der digitalen Transformation sichtbar, die alle Bereiche unseres Lebens berührt. Das Buch betrachtet diese Veränderungen nicht aus der Sicht der Technik und der Produkte, nicht als die Erfolgsgeschichten von Google, Facebook, TikTok. Eine sich verändernde Gesellschaft baut sich die Tools, die sie benötigt. Digitalisierung ist nicht das Ergebnis neuer Technik – die neue Technik ist im Gegenteil Ergebnis eines Veränderungsprozesses, der lange vor dem Internet begonnen hat.

In dieser Dimension ist Wikipedia ein Paradebeispiel für eine neue Art des gemeinsamen Arbeitens und Lebens, sie ist Ausdruck des Wunsches, dass nicht alle Aspekte des Lebens kommerziellen Interessen unterliegen sollen. Wikipedia repräsentiert die Werte einer sich verändernden Gesellschaft: Hierarchiefreiheit, Nachhaltigkeit und Achtsamkeit, Individualismus und Gemeinwohlorientierung.

Wikipedia ist Ausdruck eines Wunsches und ein Versprechen zugleich; Ausdruck des Wunsches vieler Menschen, nicht nur reine Konsumenten zu sein, Empfänger, Leser, sondern selbst beizutragen, mitzumachen, weil sie es können, aber vor allem, weil das Ergebnis nicht nur so viel besser ist, sondern weil es eben ihr eigenes Ergebnis ist. Wikipedia zeigt, wie erfolgreich dieser Ansatz sein kann. Ebenso gibt es zahllose lokale Wikis, die längst die Aufgaben einer Dorfchronik übernommen haben und oft auch die der lokalen Presse. Aber auch Rezeptsammlungen werden nach dem Wiki-Prinzip erstellt, Landkarten, Witzesammlungen, Medizininformationen, Reiseinfos, Wörterbücher – kaum ein Lebensbereich, in dem Menschen nicht nach der gleichen Idee wie Wikipedia zusammenkommen.

Wikipedia und ihr Erfolg sind außerdem ein Versprechen, dass ein anderes Internet immer noch möglich ist. Ein Internet, das nicht aufgeteilt ist zwischen den Interessen milliardenschwerer Konzerne aus dem Silicon Valley und den Tech-Provinzen in China einerseits und einer zunehmenden staatlichen Einflussnahme auf die Grundstrukturen des Netzes andererseits. Das Versprechen von Wikipedia ist, dass wir uns selbst organisieren können, dass wir selbstbestimmt unser Leben regeln können.

Kapitel 1Die Anfänge von Wikipedia

»Hello, world«, schrieb Jimmy Wales am 15. Januar 2001 auf wikipedia.com, nachdem er die Webseite wenige Tage zuvor registriert hatte. Kurz müssen diese Worte – der Gruß der Programmierer – aufgeleuchtet haben, bevor Wales sie wieder löschte.1 Unmittelbar damit beginnt die Geschichte von Wikipedia, der mit Abstand größten Wissenssammlung, die die Welt jemals gesehen hat. Geschrieben nicht von Experten und Professoren, sondern von Menschen wie dir und mir, die sich häufig hinter Pseudonymen verbergen. »Wiki« steht für die genutzte Software, die bereits 1995 von Ward Cunningham entwickelt worden war, und »pedia« nimmt direkten Bezug auf die Idee einer Enzyklopädie, wie sie Denis Diderot und andere im 18. Jahrhundert entwickelt hatten.

Wikipedia ist nicht der erste Versuch einer gemeinschaftlich im Netz erstellten Variante. In den ersten Wochen diente Wikipedia sogar gar nicht dem Aufbau einer Enzyklopädie, sondern sollte nur die große, aber auch etwas schwerfällige Schwester Nupedia mit Inhalten anfüttern. Allen Vorläufern war gemein, dass sie als Autoren nicht etwa Fachwissenschaftler gewinnen oder bezahlte Redaktionen aufbauen wollten, sondern sich auf die noch junge Form des Crowdsourcings verließen. Diese Form des gemeinschaftlichen Produzierens von Inhalten schien ideal für ein komplexes Unterfangen wie den Aufbau einer Enzyklopädie. Wikipedia war der siebte Versuch, eine Enzyklopädie gemeinschaftlich zu schreiben, und doch gelang ihr etwas, woran alle anderen scheiterten: Sie lockte zunächst Hunderte, schnell Tausende und bis heute Zehntausende Menschen an, die sich dauerhaft zu einer Gemeinschaft, einer Community, von Enzyklopädisten zusammenschlossen und bereits drei Monate nach Start des Projekts den 1 000. Artikel auf Englisch veröffentlichten.

Die ersten Jahre von Wikipedia sind geprägt vom Entstehen der weltweiten Community, einem kurzen, aber folgenreichen Streit mit der spanischen Ausgabe der Wikipedia und von der Zusammenarbeit und späteren Konkurrenz zweier Männer: Jimmy Wales und Larry Sanger. Am Ende dieser ersten Phase waren alle Grundlagen gelegt, die den Erfolg des Projekts erst möglich machen.

Enzyklopädie trifft Technik

Was hatte Jimmy Wales anders gemacht? Warum setzte sich Wikipedia durch, während andere scheiterten? Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Bevor wir ihr nachgehen, sollten wir zunächst klären, wer Jimmy Wales ist und wieso er auf die Idee kam, eine Enzyklopädie im Netz zu starten.

Wales stammt aus den Südstaaten der USA, geboren am 7. August 1966 (oder vielleicht auch am 8. August, aber dazu kommen wir noch) in Huntsville im Bundesstaat Alabama als eines von vier Kindern. Seine Eltern waren amerikanische Mittelschicht par excellence: Der Vater, Jimmy sen., war Manager eines Lebensmittelladens, und seine Mutter Doris Ann leitete zusammen mit Jimmys Großmutter eine kleine Privatschule namens House of Learning. In dieser Einklassenschule, die sich an den Montessori-Prinzipien orientierte, ging Jimmy in die Grundschule ebenso wie sein Bruder und seine beiden Schwestern. Da es nur noch vier weitere Schüler in seiner Klasse gab, folgte der Unterricht keinem festen Lehrplan. Vielmehr hatten die Kinder die Gelegenheit, sich eigenständig mit Themen zu beschäftigen und sich in den Stoff zu vertiefen, der sie interessierte. Dieser Ansatz kam dem lesebegeisterten Jimmy entgegen.

Stoff dazu fand er in seinem eigenen Elternhaus. Besonders seine Mutter war bemüht, stets ausreichend intellektuelle Nahrung vorrätig zu halten. Und was lag da näher, als sich eine Enzyklopädie zuzulegen? 1968 klingelte ein Handelsvertreter an der Haustür von Jimmy sen. und Doris Ann Wales und stellte ihnen das World Book vor.2 1917 das erste Mal erschienen, verstand sich das World Book stets als eine Populär-Enzyklopädie; wo andere trocken, akademisch und technisch-formal waren, setzte man auf Illustrationen und eine verständliche Sprache.

Die Ausgabe des World Book im Hause Wales war vermutlich die zwanzigbändige Ausgabe, die ab 1967 erschien. Diese basierte auf dem redaktionellen Stand von 1960, jeweils mit Aktualisierungen einzelner Artikel, sowie entsprechenden Ergänzungslieferungen, mit denen die Redaktion auf aktuelle Entwicklungen reagierte. Zusammen mit dem Kauf schloss Familie Wales auch ein Aktualisierungs-Abonnement ab und bekam daraufhin neben dem jährlichen Ergänzungsband auch Einleger und Aufkleber, mit denen neu entdeckte Fehler sowie neue Fakten in den bereits ausgelieferten Bänden korrigiert beziehungsweise ergänzt werden konnten.

Das World Book hat das Auftauchen von Wikipedia übrigens überlebt: Seit 1985 gehört es zum Mega-Konzern Berkshire Hathaway des legendären Investors Warren Buffet. Zwar gibt es bereits seit 1998 (also drei Jahre vor Wikipedia) eine kostenpflichtige digitale Ausgabe, daneben bietet der Verlag jedoch bis heute jedes Jahr eine 22-bändige gedruckte Enzyklopädie an, die 2019 für 999 US-Dollar zu erwerben war. Nach eigenen Angaben verkauft der Verlag jedes Jahr Tausende dieser Enzyklopädien, hauptsächlich an Schulbibliotheken und Familien, die ihre Kinder zu Hause unterrichten.

Der junge Jimmy fing früh an, im World Book zu stöbern. Mit vier Jahren konnte er bereits etwas lesen, und er erinnerte sich später daran, wie er sich stundenlang in den oft farbig illustrierten Artikeln verlor.

In schulischer Hinsicht ging Wales den typischen Weg der bildungsaffinen amerikanischen Mittelschicht: Nach acht Jahren Grundschule wechselte er an die angesehene (und entsprechend teure) Randolph School, eine Privatschule, in der er sich von 1979 bis 1983 auf den Besuch eines Colleges vorbereitete. Was die Randolph School schon damals auszeichnete, war ihre exzellente und äußerst moderne technische Ausstattung: 1982 eröffnete das erste Computer Lab der Schule, in dem eine ganze Reihe von PDP-11-Rechnern der Digital Equipment Corporation (DEC) den Schülern zur Verfügung standen. Diese für damalige Verhältnisses überaus modernen Rechner erlaubten es Wales, sich ein erstes Verständnis für die Funktionsweise von Computern und die Grundlagen des Programmierens anzueignen.

Statt mit Computern beschäftige sich Wales beruflich jedoch zunächst mit Finanzen. Er besuchte die Auburn University und die University of Alabama, die er 1988 mit einem Master in Finanzwissenschaften verließ. Damit legte Wales nicht nur die Grundlage für seine kurze, aber äußerst lukrative Karriere als Trader an den globalen Finanzmärkten; wichtiger noch wurde seine fast schon exzessive Beschäftigung mit den ersten Online-Spielen, die er in seiner Zeit an der University of Alabama kennenlernte. Diese Online-Fantasy-Rollenspiele (auch Multi-User Dungeons oder MUD genannt) machten ihm erstmals die Bedeutung von Communities, von Gemeinschaften im Netz, bewusst. Der operative und technische Rahmen dieser Spiele wurde von Unternehmen geschaffen, die damit ihr Geld verdienten. Was jedoch den Reiz dieser Spiele für die User ausmachte, waren die Gruppendynamik zwischen den Spielern, das Aushandeln von Regeln untereinander und ganz besonders die radikal nicht-hierarchische, egalitäre Einstellung aller Beteiligten. Wer man im »richtigen Leben« war, spielte keine Rolle. Das Verhalten im Spiel, die Interaktion mit den Mitspielern und die eigenen Beiträge zum Gesamtverlauf waren das, was zählte, nicht, wie viel Geld man hatte, welchen Bildungsabschluss, wie man aussah oder welcher sozialen Schicht man entstammte. Und mit der Zeit erwarben die Spieler dieser Rollenspiele ein soziales Kapital, das sie in Diskussionen, Auseinandersetzungen, Debatten einsetzen konnten, um ihre rein virtuellen Mitstreiter zu überzeugen.

Zugleich trennte sich in den MUDs der 1990er Jahre auch erstmals die reale Person von der Online-Persona. Es kam in diesen MUDs oft vor, so Sherry Turkle, Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), dass Menschen, die diese MUDs länger nutzten, die Fähigkeit entwickelten, zugleich mehrere Personas innerhalb des gleichen Spiels einzunehmen.3 Motiviert wird dies nicht durch den Versuch, zu schummeln oder anderweitig zu betrügen; vielmehr bieten das Internet und die MUDs die Möglichkeit, verschiedene Personas »auszuprobieren«. Wer hat nicht davon geträumt, einmal jemand ganz anderes zu sein – auf Zeit, ohne Risiko? Tatsächlich lag (und liegt auch heute noch) ein besonderer Reiz vieler Angebote im Netz darin, dass man nicht »man selbst« sein muss, sondern dass man sich neu erfinden kann. Für die meisten Menschen ist das ein spielerisches Ausprobieren – wie man ein Paar verrückter Schuhe anprobiert oder sich ganz anders gibt, wenn man im Urlaub neue Menschen kennenlernt.

Alle drei Aspekte, das Zurücktreten der »echten« Person hinter die Spiele-Persona, die Kraft der Selbstorganisation einer Community und die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Personas an einem Internetprojekt teilzunehmen, werden wir bei Wikipedia wiederfinden. Denn Wikipedia ist das Paradebeispiel einer selbstorganisierten Community, und »Sockenpuppen«, also mehrere Konten, die von ein und derselben Person unter verschiedenen Namen betrieben werden, sind ein konstituierender Bestandteil des Erfolgs von Wikipedia.

Bevor Jimmy Wales diese Erfahrungen in den Aufbau von Wikipedia einfließen ließ, machte er zunächst Karriere in den aufblühenden Finanzmärkten der 1990er Jahre. Besonders die immer leistungsfähigeren Computer erlaubten eine Form des Hochfrequenzhandels von Finanzprodukten, die ungeahnte Gewinne versprach. In den Jahren zwischen 1994 und 1996 arbeitete Wales für die Chicago Options Associates und handelte dort mit Zinsderivaten und spekulierte auf minimale Veränderungen von Wechselkursen. Bereits 1996 hatte Wales genügend Geld verdient, um in Zukunft ein sorgenfreies Leben führen zu können. Er sei nicht reich im eigentlichen Sinne, so sagte er später, aber er habe genug Geld als Händler in Chicago verdient, um sich fortan nur noch den Dingen zu widmen, die ihm tatsächlich Freude bereiteten.

Die Richtung, in die es Wales zog, wurde durch ein Ereignis beeinflusst, das 1995 für viele Menschen zu einer Art Erweckungserlebnis wurde: der Börsengang des Browser-Herstellers Netscape. Zwar hatte Netscape nicht das erste Programm geschrieben, mit dem man im World Wide Web surfen konnte; aber innerhalb weniger Wochen nach dem Erscheinen des Mosaic-Netscape-0.9-Browsers hatte dieser bereits einen Marktanteil von mehr als 75 Prozent. Als die Muttergesellschaft schließlich am 9. August 1995 an die Börse ging, explodierte der Wert der Aktie: Wurde sie am Morgen des Tages noch für 28 US-Dollar gehandelt, stieg der Preis im Tagesverlauf auf über 75 US-Dollar. Damit begann das, was man als New Economy bezeichnete: Firmen mit Geschäftsmodellen, die irgendetwas mit »dem Internet« zu tun hatten, wurden unabhängig von Gewinnen oder Kunden hoch gehandelt und entsprechend gehyped. Die Investoren, Gründer und viele Mitarbeiter wurden quasi über Nacht märchenhaft reich. Als Zentrum dieser Entwicklung etablierte sich schnell Kalifornien.

Für Wales, der sich schon lange für das Internet begeisterte, lag es daher nahe, ebenfalls sein Glück dort zu versuchen: So zog er im Jahr 1996 nach San Diego im äußersten Süden Kaliforniens. Dort gründete er mit zwei Partnern die Firma Bomis. Es dauerte etwas, bis das eigentliche Geschäftsmodell der Firma feststand. Zunächst versuchte man, ein Stadtportal aufzuziehen für Chicago, wo Wales als Finanzhändler gearbeitet hatte. Dann experimentierte man mit der damals populären Idee sogenannter Webringe: In diesen vernetzten sich thematisch verwandte Webseiten, um gegenseitig die Sichtbarkeit und den Webtraffic zu erhöhen. Bevor es Google gab, war die Suche nach Webseiten noch äußerst schwierig und ungenau, weshalb lange Zeit die Lösung entweder in redaktionell betreuten Portalen wie Yahoo! oder eben in solchen Webringen gesehen wurde. Das Besondere an diesen Ringen war, dass sie ein frühes Beispiel von sogenanntem User Generated Content darstellen, bei dem die Inhalte eines Angebots nicht von einer Redaktion oder Ähnlichem kommen, sondern von den Benutzern einer Seite gemeinschaftlich generiert werden.

Einigermaßen erfolgreich war jedoch erst eine Suchmaschine namens The Babe Engine, die Bomis speziell auf ein primär männliches Publikum ausrichtete. Neben Sport und Autos waren erotische Bilder von Frauen besonders erfolgreich. Unklar bleibt, welche Form erotischen Inhalts angeboten wurde und welchen Umfang dies am Gesamtgeschäft von Bomis hatte. Der entsprechende Artikel in der englischen Wikipedia spricht von »explicit material« und Softcore-Pornografie, während im deutschen Artikel lediglich von Pornografie allgemein die Rede ist. Im Jahr 2005 ließ sich Wales dazu hinreißen, etwas zu tun, wovon in Wikipedia grundsätzlich abgeraten wird: Er bearbeitete seinen eigenen Artikel, um einen Hinweis auf mögliche Pornografie-Angebote durch Bomis zu löschen. Noch im gleichen Jahr bezeichnete er dies selbst als einen Fehler: »Niemand sollte das tun, auch ich nicht«, sagte er dem amerikanischen Magazin Wired.4 Wales bestreitet nach wie vor, dass Bomis Pornografie in irgendeiner Form zugänglich gemacht habe, und spricht lieber von »Glamour Photography«. Heute steht der Hinweis auf diesen Teilaspekt von Bomis wieder in den entsprechenden Artikeln in Wikipedia.

Über die weiteren Geschäfte von Bomis ist wenig bekannt; die Firma ging nie an die Börse und musste somit auch keine Rechenschaftsberichte oder Finanzdaten veröffentlichen. Ein Großteil des Umsatzes stammte schon damals aus Werbeeinblendungen, unter anderem als Teil eines Sport-Webrings des amerikanischen TV-Senders NBC. 1998 zogen Bomis und Jimmy Wales von San Diego nach St. Petersburg in Florida.

In dieser Stadt mit rund 260 000 Einwohnern am Golf von Mexiko in Florida beginnt die eigentliche Geschichte von Wikipedia. Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte steht allerdings ein Scheitern: das von Nupedia, einem Enzyklopädie-Projekt von Bomis und Jimmy Wales. Auf nupedia.com, so hieß es in einer Pressemeldung von Bomis, sollte mittelfristig die größte Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte entstehen, unübertroffen in ihrer thematischen Breite und Tiefe, frei von jeder ideologischen Verzerrung und von ungeahnter Aktualität. Weniger poetisch betrachtet, war das Projekt durchaus als kommerzielles Unterfangen ausgelegt (was sich auch an der Domain-Endung .com ausdrückte), sollten auf der Webseite doch Werbeanzeigen eingeblendet werden. Die Domain wurde im Oktober 1999 registriert.

Die Idee zu Nupedia wird Jimmy Wales zugerechnet, der überzeugt davon war, dass sich das Internet ideal dazu eignet, eine Enzyklopädie ungeahnter Größe und Qualität aufzubauen. Ganz offensichtlich kommen hier die unterschiedlichen Aspekte von Wales’ Denken zusammen: die Zuneigung zu Enzyklopädien, die er bereits als Kind zum World Book entwickelt hatte; seine Affinität zum Internet und besonders zu Netzwerken aus Usern, die gemeinschaftlich Inhalte schaffen; und natürlich seine Erfahrungen mit Bomis und den Möglichkeiten, die eine Webseite zur günstigen Veröffentlichung von Inhalten (und der wirtschaftlichen Verwertung dieser Inhalte) bot.

Amateure vor Experten

So wichtig die Erfahrungen in der Kindheit sicherlich waren, man muss doch tiefer gehen, um die Motive von Wales zu verstehen. Warum kommt ein finanziell abgesicherter 34 Jahre alter Mann auf die Idee, sich fortan mit dem Aufbau einer Enzyklopädie zu beschäftigen? Es sind zwei Aspekte, die bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtige Rolle spielen: die Überzeugung, dass Menschen in freier Selbstbestimmung bessere Ergebnisse produzieren als zentral gelenkte Einheiten; und in der Open-Source-Software hatte sich zweitens dieses Prinzip tatsächlich bereits bewährt. Aber war es auch auf eine Enzyklopädie übertragbar?

Im September 1945 schrieb der österreichisch-britische Ökonom Friedrich August von Hayek einen gerade mal zwölf Seiten langen Artikel mit dem Titel »The Use of Knowledge in Society«5 (auf Deutsch: »Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft«). Ohne diesen Text würde es Wikipedia in der jetzigen Form vermutlich nicht geben.

Dieser Essay, der heute als einer der einflussreichsten Texte der Wirtschaftswissenschaften und als einer der intellektuellen Pfeiler der freien Marktwirtschaft gilt, richtet sich gegen die Idee einer zentralen Lenkung der Wirtschaft. Im September 1945, in dem der Text erschien, war die globale Katastrophe des 2. Weltkriegs erst wenige Wochen vorbei, und die Idee einer gelenkten Planwirtschaft als Antwort auf den Faschismus war weltweit populär.

Hayek geht es in seinem Artikel weniger um enzyklopädisches Wissen, sondern darum, dass jeder Mensch nur über bruchstückhafte Informationen verfügt, auf deren Grundlage er Entscheidungen treffen muss. Um jedoch die richtigen ökonomischen Entschlüsse fassen zu können, bedarf es mehr als nur dieser Bruchstücke. In der Planwirtschaft wird versucht, dieses Wissen zu zentralisieren und damit eine wirtschaftliche Planung möglich zu machen. Hayeks Ansatz der freien Marktwirtschaft geht hingegen davon aus, dass Wissen dezentralisiert ist und dass Menschen zusammenkommen müssen, um ihr jeweils unvollständiges Wissen zusammenzusetzen, und dies nicht zentral gelenkt, sondern jeweils für jede Entscheidung aufs Neue und auf lokaler, nicht zentraler Ebene.

Es fällt nicht schwer, die Verbindung zu Wikipedia zu ziehen, besonders, wenn man weiß, dass Wikipedias Gründer Jimmy Wales den Essay von Hayek nach eigener Aussage als junger Student und dann später in den 1990er Jahren nochmals gelesen hat. In einem langen Interview erklärt Wales, welche Bedeutung dieser Essay für ihn und für die Idee hinter Wikipedia hatte.6 Für Wales lag der Erkenntnisgewinn vor allem in der Frage, ob man alle Informationen, alles Wissen an eine zentrale Stelle weiterleiten solle, an der dann Experten die »richtigen« Entscheidungen basierend auf diesem Wissen fällen sollten; oder ob es nicht klüger wäre, das Wissen dort zu lassen, wo es von Anfang an war, nämlich bei den Individuen, und lieber das Finden der »richtigen« Entscheidungen zu dezentralisieren, indem man es in die Hände aller Menschen gab.

Das klingt erst einmal sehr abstrakt. Was heißt das bezogen auf Wikipedia als Enzyklopädie? Soll man versuchen, alles Wissen zu zentralisieren, und eine Gruppe von Experten trifft dann Entscheidungen als Chefredakteure oder als Herausgeber, was davon wichtig genug ist, es an die Allgemeinheit zu geben, indem man es in einer Enzyklopädie veröffentlicht? Dabei ist Wales durchaus bewusst, dass der Enzyklopädie als traditionellem Ort durchaus die Bedeutung zukommt, ein zentraler, autoritativer Ort zu sein, auf den »man« sich verlassen kann. Wales revolutioniert nicht das Konzept der Enzyklopädie als zentralem Ort des Wissens – er revolutioniert den Prozess dessen Entstehung, indem er den Experten die Entscheidungsmacht nimmt und sie in die Hände der Crowd, der Masse, gibt. Wales hat nicht die Enzyklopädie verändert – er hat ihren Entstehungsprozess vom Kopf auf die Füße verlagert.

Mit Hayeks Artikel war die eine Grundlage für Wikipedia gelegt: die Bevorzugung der Vielen vor den Wenigen, der Amateure vor den Experten und der tiefe Glaube daran, dass eine bessere Enzyklopädie entsteht, wenn sich viele Menschen unterschiedlichen Wissens, unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Herkunft zusammentun, um diese zu schreiben. Doch wie sollten diese vielen Amateure ihre Arbeit organisieren, das Projekt Wikipedia so strukturieren, dass eine Enzyklopädie dabei herauskäme? Dies ist der zweite intellektuelle Baustein dieses Fundaments, ohne den Wikipedia nicht denkbar wäre. Und abermals steht ein Essay am Anfang von Wales’ Überlegungen: »The Cathedral and the Bazaar« (deutsch: »Die Kathedrale und der Basar«), den der amerikanische Autor und Software-Entwickler Eric S. Raymond 1997 als Artikel und 1999 als Buch veröffentlichte.7

Kathedrale und Basar sind Bilder für zwei gänzlich unterschiedliche Herangehensweisen; von Raymond entwickelt, um die Unterschiede zwischen Open Source und proprietärer Software zu verdeutlichen, hat sich dieses Bild zwischenzeitlich verselbstständigt und wirkt auch weit über die Software-Entwicklung hinaus. Die Kathedrale steht dabei für den Ansatz, nach einem fertigen Bauplan durch Experten und Fachleute ein Gebäude zu planen und dann umzusetzen. Es gibt einen Architekten, der das große Ganze im Blick behält und dafür sorgt, dass am Ende tatsächlich das rauskommt, was im Plan vorgesehen war.