Die wirkliche Lage in Rußland - Leo Trotzki - E-Book

Die wirkliche Lage in Rußland E-Book

Leo Trotzki

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Beschreibung

Der weltbekannte russische Revolutionär Leo Trotzki (1879-1940) fand einen verdienten Platz in den Geschichtsbüchern: ohne ihn wären die Oktoberrevolution in Russland, die Rote Armee und der russische Marxismus kaum denkbar. Seine eloquenten und überzeugenden Schriften machten ihn und seine Lehre den Trotzkismus berühmt. Die in diesem Buch abgedruckte Schrift "Die wirkliche Lage in Russland" erschien im Jahre 1928. Es war die Zeit der sich zuspitzenden Machtkämpfe mit Stalin und der daraus resultierenden Verbannung nach Alma-Ata und schließlich in die Türkei. In diesem Werk fasste er die Folgen der Oktoberrevolution zusammen, wies auf die schwerwiegenden Probleme des jungen Landes hin und machte praktische Vorschläge zur Verbesserung der Lage in Russland. Nach Lenins Tod 1924 wurde Trotzki von Josef Stalin zunehmend entmachtet, 1929 ins Exil gezwungen und 1940 von einem sowjetischen Agenten in Mexiko ermordet. Nach ihm wurde die von der sowjetischen Parteilinie des Marxismus-Leninismus abweichende Richtung des Trotzkismus benannt.

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Leo Trotzki

Die wirkliche Lage in Rußland

Die wirkliche Lage in Rußland

Leo Trotzki

Impressum

Texte: © Copyright by Leo Trotzki

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Verlag:Das historische Buch, 2022

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Erster Teil: Die Furcht vor unserem Programm

Zweiter Teil: Die wirkliche Lage in Rußland

Dritter Teil: Stalin fälscht Geschichte

Dokumente

Erster Teil: Die Furcht vor unserem Programm

Meine Verteidigung vor dem Zentralausschuß

Mein Antrag, die Untersuchungen über den Wrangeloffizier und die militärische Verschwörung unverzüglich durchzuführen, wurde niedergestimmt. Ich erhob vor allem die Frage, warum, wie und durch wen die Partei getäuscht worden ist, als man ihr erzählte, die mit der Opposition verbundenen Kommunisten nähmen an einer gegenrevolutionären Organisation teil. Um nun noch einmal zu zeigen, was Sie unter einer Diskussion verstehen, beschlossen Sie, meine kurze Rede über den unechten Wrangeloffizier aus dem Bericht zu streichen – das heißt, ihn vor der Partei zu verheimlichen. Bucharin hat uns hier auf der Grundlage dieser Dokumente der G. P. U., der politischen Polizei, die überhaupt keine Beziehungen weder zu der beschlagnahmten Druckerpresse, noch zu der Opposition haben, mit dem Phantasiebild einer Thermidorischen Verschwörung beschenkt. Was wir aber wollen, sind nicht Bucharins billige Phantasien, sondern Tatsachen. Es sind keine Tatsachen vorhanden. Darum war das Hineinwerfen dieser ganzen Fragen in die Diskussion über die Opposition nur ein Winkelzug. Ihre Rücksichtslosigkeit und Unehrlichkeit sind auf der Stufe verbrecherischen Verrats angelangt. Alle die von Menschinski verlesenen Dokumente sprechen unzweideutig gegen den augenblicklichen politischen Kurs – man braucht sie nur mit einer marxistischen Analyse zu beleuchten. Aber ich habe dafür keine Zeit. Ich kann nur die wesentliche Frage erheben: Wie und warum hielt es die augenblicklich herrschende Gruppe für nötig, die Partei zu täuschen, indem sie einen Agenten der G. P. U. für einen Wrangeloffizier ausgab, und diese Bruchstücke einer unbeendeten Untersuchung aus dem Zusammenhang herausriß, um die Partei durch die falsche Nachricht von einer Verbindung der Oppositionsleute mit einer gegenrevolutionären Organisation zu beunruhigen? Woher kommt dies alles? Wohin soll es führen? Nur diese Frage hat politische Bedeutung. Alles andere geht uns erst in zweiter oder in zehnter Linie an.

Zunächst aber zwei Worte über den sog. »Trotzkismus«. Jeder Opportunist versucht, seine Schande mit diesem Worte zu decken. Die Fälschungsfabrik arbeitet Tag und Nacht in zwei Schichten, um »Trotzkismus« zu fabrizieren. Ich schrieb vor nicht langer Zeit über dieses Thema einen Brief an das Bureau für Parteigeschichte. Er enthielt über fünfzig Zitate und Dokumente, die die jetzt herrschende theoretische und historische Schule der Fälschung, Verdrehung und Unterschlagung von Tatsachen und Dokumenten und der Entstellung Lenins überführte – alles zum Besten des sog. Kampfes gegen den »Trotzkismus«. Ich verlangte, daß mein Brief den Mitgliedern in einer Plenarsitzung vorgelegt würde. Dies geschah nicht, obgleich mein Brief fast ausschließlich aus Dokumenten und Zitaten bestand. Ich werde ihn an das Diskussionsblatt der Prawda senden, obgleich ich glaube, daß sie ihn dort ebenso vor der Partei verheimlichen werden, denn die Tatsachen und Dokumente, die ich beifüge, sind zu vernichtend für die Stalinsche Schule.

In unserer Julierklärung vom vergangenen Jahr haben wir mit vollständiger Genauigkeit alle die Stufen vorausgesagt, durch die die Zerstörung der Leninistischen Parteiführung gehen würde, und auch ihre zeitweilige Ersetzung durch eine Stalinistische Führerschaft. Ich sage, durch eine zeitweilige Ersetzung, denn je mehr »Siege« die gegenwärtig herrschende Gruppe gewinnt, desto schwächer wird sie werden. Unserer Julivoraussage vom vergangenen Jahr können wir nun folgende Schlußfolgerung hinzufügen: Stalins augenblicklicher Sieg in der Organisation wird seinen politischen Schiffbruch zur Folge haben. Dieser ist völlig unvermeidlich; und er wird – gerade durch die Auswirkungen des Stalinschen Regimes – sofort seinen Anfang nehmen. Es wird die grundlegende Aufgabe der Opposition sein, darauf zu sehen, daß die Folgen der verderblichen Politik der jetzigen Führung unserer Partei und ihrer Verbindung mit den Massen möglichst geringe Verluste bringen.

Sie wollen uns aus dem Zentralausschuß entfernen. Wir geben zu, daß dieser Schritt im vollen Einklang ist mit der gegenwärtigen Politik auf der gegenwärtigen Stufe ihrer Entwicklung oder vielmehr ihres Niedergangs. Diese herrschende Gruppe, die aus der Partei Hunderte und Tausende ihrer besten Mitglieder, ihrer standhaftesten Arbeiterbolschewisten, hinaustreibt – diese bureaukratische Clique, die es wagt, solche Bolschewisten wie Mrachkowski, Serebriakow, Preobraschenski, Scharow und Sarkis auszuschließen, Genossen, die allein ein Parteisekretariat schaffen könnten, ein unendlich einflußreicheres, tüchtigeres, mehr leninistisches als das jetzige Sekretariat – diese Stalin-Bucharin-Clique, die in dem geheimen Gefängnis der G.P.U. ergebene und bewundernswerte Männer wie Nechaew, Stikhold, Vasiliew, Schmidt, Fischelew und viele andere gefangen hält –, diese Gruppe von Beamten, die sich durch Gewalt, durch Erstickung des parteilichen Denkens, durch Zerrüttung der proletarischen Avantgarde nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt auf ihren Plätzen an der Spitze festhält – diese durch und durch opportunistische Sippschaft, an deren Schweif in diesen letzten Jahren marschieren Chang Kai-schek, Feng Yuschang, Wan Tin-wei, Purcell, Hicks, Ben Tillett, die Kusinens, die Schmerals, die Peppers, die Heinz-Neumanns, die Rafieses, die Martinows, die Kondratiews und Ustrialows –, diese Gesellschaft kann unsere Anwesenheit im Zentralausschuß selbst einen Monat vor dem Parteikongreß nicht ertragen. Wir verstehen das.

Rücksichtslosigkeit und Unehrlichkeit gehen Hand in Hand mit Feigheit. Sie haben unser Programm unterschlagen – oder vielmehr, sie haben versucht, es zu unterschlagen. Was bedeutet Furcht vor einem Programm? Jedermann weiß es: Furcht vor einem Programm ist Furcht vor den Massen.

Wir kündigten Ihnen am achten September an, daß wir trotz aller entgegenstehenden Erlasse unser Programm zur Kenntnis der Partei bringen würden. Wir haben dies begonnen, und wir werden unser Unternehmen auch bis zum Ende durchführen. Die Genossen Mrachkowski, Fischelew und alle die andern, die unser Programm druckten und verteilten, sie haben gehandelt und handeln auch jetzt noch in voller Solidarität mit uns. Als oppositionelle Mitglieder des Zentralausschusses und des Zentralkontrollausschusses nehmen wir sowohl in politischer Hinsicht wie für die Organisation die volle Verantwortung für ihr Handeln auf uns.

Die Rücksichtslosigkeit und Unehrlichkeit, von der Lenin schrieb, sind nicht länger Merkmale einer bestimmten Persönlichkeit. Sie sind Charaktereigenschaften der herrschenden Gruppe, sowohl in ihrer eigentlichen Politik, wie in ihrer Leitung der Organisation. Es handelt sich nicht mehr um die Frage äußerlicher Umgangsformen. Die wesentliche Eigenschaft unseres gegenwärtigen Führertums ist der Glaube an die Allmacht von Gewaltmethoden – auch gegenüber der eigenen Partei. Aus der Oktoberrevolution hat die Partei ein starkes System von Zwangsmaßnahmen geerbt, ohne die eine Diktatur des Proletariats undenkbar ist. Der Brennpunkt dieser Diktatur war der Zentralausschuß unserer Partei. Zu Lenins Zeit – bei einem Leninistischen Zentralausschuß – unterstand das Organisationssystem der Partei einer international eingestellten, revolutionären Klassenpolitik. Es ist wahr, daß Stalin von dem ersten Tage seiner Erwählung zum Generalsekretär Lenin Besorgnis eingeflößt hat. »Dieser Koch wird uns ein gepfeffertes Gericht vorsetzen!« sagte Lenin zu vertrauten Genossen in der Zeit des zehnten Kongresses. Aber unter Lenins Führerschaft, unter einem Leninistischen Stab im politischen Bureau, spielte der Generalsekretär eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle. Die Situation begann sich zu verändern von der Stunde an, als Lenin krank wurde. Die Auswahl von Führern durch das Sekretariat, die Besetzung maßgebender Stellen mit Stalinisten, wurde ein besonderes Geschäft, das mit den Gesichtspunkten unserer Politik nichts mehr zu tun hatte. Dies ist der Grund, warum Lenin in Erwägung der Möglichkeit seines Abscheidens der Partei seinen letzten Rat gab: Entfernt Stalin, er würde die Partei zur Zersplitterung und zum Ruin führen.

Die Partei erfuhr nicht rechtzeitig von diesem Rat, eine ausgesiebte Bureaukratie hielt seinen Brief zurück. Die Folgen davon sehen wir jetzt in ihrer ganzen Größe. Die herrschende Gruppe glaubt, daß sie mit Gewaltmitteln alles erreichen kann. Das ist ein tiefer Irrtum. Gewalt kann eine ungeheure Rolle in einer Revolution spielen, aber nur unter einer Bedingung – wenn sie einer ehrlichen Klassenpolitik unterworfen bleibt. Die Gewaltanwendung der Bolschewisten gegen die Bourgeoisie, gegen die Menschewisten, gegen die Sozialrevolutionäre, wie sie unter bestimmten historischen Bedingungen vor sich ging, führte zu riesenhaften Ergebnissen. Die Gewalttaten Kerenskis und Tseretellis gegen die Bolschewisten haben nur den Zusammenbruch des kompromißlerischen Regimes beschleunigt. Aber die jetzt herrschende Gruppe benutzt Verbannung, Verhaftung und Arbeitsentziehung als Unterdrückungs- und Einschüchterungsmittel gegen ihre eigne Partei. Das Arbeitermitglied fürchtet sich, in seinem eignen Lokalverband, seine Gedanken auszusprechen. Es fürchtet sich, nach seinem Gewissen zu stimmen. Unsere Partei, angeblich der höchste Ausdruck der Diktatur des Proletariats, wird von einer Diktatur der Bureaukratie terrorisiert. Indem Sie aber die Partei terrorisieren, vermindern Sie Ihre Fähigkeit, die Feinde des Proletariats in Furcht zu halten.

Aber eine Organisationsleitung führt kein von andern unabhängiges Leben. In der Parteileitung findet der ganze politische Kurs der Partei seinen Ausdruck. Dieser politische Kurs hat in den letzten Jahren hin und her geschwankt – sein Klassenherz und seine Triebkraft haben von links nach rechts geschwankt, von den Proletariern zu den Kleinbürgern, vom ungelernten Arbeiter zum Spezialisten, vom gewöhnlichen Parteimitglied zum Funktionär, vom Landarbeiter und Kleinbauern zum Kulak, zum reichen Bauern, vom Schanghai-Arbeiter zu Tchang Kai-schek, von den chinesischen Bauern zu den bürgerlichen Generalen, von den englischen Proletariern zu Purcell, Hicks und dem Generalausschuß – und so endlos weiter. Darin liegt das Wesen des Stalinismus.

Auf den ersten Blick scheint es ja, als ob der Stalinkurs vollständig siegreich gewesen sei. Die Stalinpartei scheint ihre Hiebe nach links auszuteilen (in Moskau und Leningrad) und auch nach rechts (im nördlichen Kaukasus). In Wirklichkeit geht aber die ganze Politik dieser zentristischen Partei selbst auch unter den Hieben von zwei Peitschen vorwärts – einer Peitsche von rechts und einer von links. Diese bureaukratische, zentristische Partei, die jeder Klassengrundlage entbehrt, taumelt zwischen zwei Klassenlinien daher mit dem Plan, von dem proletarischen zu dem kleinbürgerlichen Kurs hinüberzuschleichen. Sie tut dies aber nicht in einer direkten Linie, sondern in scharfen Zickzackschwankungen. Wir haben viele von diesen Zickzackbewegungen in der Vergangenheit gehabt. Besonders scharf und auffällig war die Verbreiterung der Wahlrechte unter dem Druck der Kulaks, der reichen Bauern (ein Peitschenhieb von rechts) und dann die Aufhebung dieser Anordnung unter dem Druck der Opposition (ein Hieb von links). Wir haben viele von diesen Zickzackbewegungen gesehen in den Bereichen der Arbeitergesetzgebung, der Lohnpolitik, der Steuerpolitik, der Politik gegen das Privateigentum usw. Aber im ganzen ist der Kurs unentwegt nach rechts abgewichen. Das jüngste Manifest ist eine unbestreitbare Zickzackbewegung nach links. Aber wir werden unsere Augen nicht einen Moment der Tatsache verschließen, daß diese Zickzackbewegung nicht im mindesten den allgemeinen politischen Kurs ändert und daß sie in Wirklichkeit – und zwar in sehr naher Zukunft – das Abtreiben des herrschenden Zentrums nach rechts beschleunigen wird.

Das heutige Geschrei nach einer »verstärkten Attacke« auf die Kulaks, auf die wohlhabenden Bauern – auf dieselben Kulaks, denen Sie gestern noch zuschrien: »Bereichert euch!« – kann die allgemeine Richtung nicht ändern. Alljährliche Jubiläumsversprechungen in bezug auf den Siebenstunden-Arbeitstag können sie auch nicht ändern. Die politische Richtung der augenblicklichen Führerschaft wird nicht durch diese vereinzelten spekulativen Gesten bestimmt, sondern durch das Gefolge, das diese Führerschaft in ihrem Kampfe gegen die Opposition um sich versammelt hat. Durch das Stalinistische System, durch die Stalinistische Herrschaft, sind jetzt die Kräfte, die den proletarischen Vorkämpfer niederdrücken, der Bureaukrat, der Arbeitsausbeuter, der Verwalter, der industrielle Geschäftsführer, der neue Privatkapitalist, die privilegierte Intelligenz in Stadt und Land – alle diese Elemente, die anfangen, den Kulak, den reich gewordenen Bauer, dem arbeitenden Mann als Muster vorzuhalten, und sagen: »Vergiß nicht, es ist jetzt nicht mehr 1918, mein Freund.«

Nicht die nach links gerichtete Geste entscheidet, sondern der grundlegende politische Kurs. Die Auswahl Ihrer Kollegen entscheidet. Der leitende Stab entscheidet. Der soziale Anhang. Sie können nicht die Stimme des Arbeiters unterdrücken und zugleich den Kulak angreifen. Diese beiden Dinge sind unvereinbar. Ihr fortwährendes Streben nach links wird, sobald man es in die Wirklichkeit umsetzen will, einer unnachgiebigen Opposition in den Reihen Ihrer eigenen Majorität begegnen. Heute zu sagen: »Bereichert euch!« und morgen: »Fort mit dem Kulak!«, das ist für Leute wie Bucharin sehr leicht. Er taucht seine Feder ein und ist fertig. Er hat nichts zu verlieren. Aber der Kulak, der Geschäftsunternehmer, der mächtige Bureaukrat, der Spezialist – die sehen das anders an. Diese Leute haben keinen Sinn für plötzliche Seitensprünge und Jahresfeiern. Sie werden aber ihr Wort zu sagen wissen.

Genosse Tomski, der Gewerkschaftsführer, der in einer übleren Lage steckt als irgend jemand anderes, wandte sich in scharfer Opposition gegen die neueste Rechtsschwenkung. Tomski hat eine Ahnung von dem, was die Arbeiter in den Gewerkschaften fragen werden. Er wird derjenige sein, der zu antworten hat. Morgen werden die Arbeiter von Tomski verlangen, daß er endlich dieses Abweichen nach rechts aufhalten und für den im Manifest angekündigten Linkskurs eintreten soll. Dies ist die Ursache zu dem unvermeidlichen Kampf innerhalb des regierenden Blocks. In unserem rechten Flügel gibt es eine Tendenz nach der Seite der industriellen Unternehmer und eine nach der Seite der Gewerkschaften. Sie arbeiten eine Zeitlang zusammen, wie es oft in der Geschichte der Arbeiterbewegung geschehen ist. Aber dieses Jubiläumsmanifest für einen Ruck nach links treibt einen Keil zwischen die Unternehmer und die Gewerkschaftler. Der berufsmäßige Bureaukrat, der zwischen ihnen hin und herschwankt, wird deren Unterstützung verlieren.

Dieses Jubiläumsmanifest ist auf der einen Seite eine ganz unzweifelhafte und feierliche Anerkennung, daß die Ansichten der Opposition über alle tieferen Probleme unseres Stadt- und Landlebens die richtigen sind. Auf der anderen Seite ist er eine politische Selbstverwerfung der herrschenden Partei, ein Bekenntnis ihres eigenen Bankrotts. Es ist ein Bekenntnis in Worten von Leuten, die nicht imstande sind, irgend etwas in Taten zu zeigen. Dieses Jubiläumsmanifest wird den politischen Zusammenbruch des gegenwärtigen Kurses nicht aufhalten, sondern beschleunigen.

Das Regime der Unterdrückung der Partei entspringt unvermeidlich der ganzen Politik dieser Führerschaft. Hinter dem Rücken der extremen Bureaukraten steht die erwachende innere Bourgeoisie, hinter deren Rücken die Weltbourgeoisie. Alle diese Kräfte drücken auf den proletarischen Vorkämpfer und hindern ihn, seinen Kopf zu erheben, oder seinen Mund aufzutun. Je mehr die Politik des Zentralausschusses von dem Wege der proletarischen Klasse abweicht, desto mehr ist sie gezwungen, mit Methoden der Unterdrückung dem Proletarier diese Politik aufzuzwingen. Das ist die Grundursache für die augenblicklichen unerträglichen Zustände in der Parteileitung.

Wenn die Martinows, Schmerals, Rafieses und Peppers die Leitung in der chinesischen Revolution spielen, und Mrachkowski, Serebriakow, Preobraschenski, Scharow und Sarkis aus der Partei ausgestoßen werden, weil sie ein bolschewistisches Programm für den kommenden Kongreß drucken und verbreiten, so tragen diese Tatsachen nicht nur ein innerpolitisches Gepräge. Sie sind ein allgemeiner Ausdruck für den schwindenden Klassenkampfcharakter unserer Politik. Die Weltbourgeoisie und die innere Bourgeoisie – diese natürlich nicht in einem so unverschämtem Maße – drücken gemeinsam gegen die Diktatur des Proletariats und seine proletarischen Vorkämpfer, und diesem doppelten Druck muß man gleichzeitig begegnen. Diejenigen Elemente aber in der arbeitenden Klasse und in der Partei, die zuerst diese heranrückende Gefahr fühlten und von ihr sprachen – die wirklich revolutionären, entschlossenen, weitblickenden und unbeugsamen Vorkämpfer der Arbeiterklasse – sie bilden heute die Reihen der Opposition. Diese Reihen füllen sich, sowohl in unserer Partei, wie in der ganzen Internationale. Tatsachen und Ereignisse von gewaltiger Bedeutung befestigen die Stellung, die wir eingenommen haben. Ihre Bedrückungen verstärken unsere Reihen, sie gewinnen uns die Besten von den »Alten« der Partei, sie stählen die Jungen und sammeln die echten Bolschewisten unter ihnen um die Opposition. Die Oppositionsleute, die Sie aus der Partei ausgeschlossen haben, sind in Wirklichkeit die besten Parteimitglieder. Die andern aber, die Urheber des Ausschlusses und der Verhaftungen, bilden – auch wenn sie es nicht wissen und nicht verstehen – nur die Instrumente, durch die die andern Klassen das Proletariat zurückdrängen. Indem die herrschende Gruppe versucht, unser Programm in den Schmutz zu treten, erfüllt sie nur das soziale Gebot Ustrialows und der wiederauflebenden kleinen und mittleren Bourgeoisie. Im Gegensatz zu der aussterbenden alten Emigrantenbourgeoisie strebt Ustrialow, der tüchtige, weitblickende Politiker der neuen Bourgeoisie, nicht nach der Gegenrevolution oder nach irgendwelchen Unruhen. Er beabsichtigt keine Stufen zu überspringen. Die nächste Stufe für Ustrialow ist der Stalinkurs. Ustrialow setzt ganz offen auf das Spiel Stalins. Ustrialow verlangt von Stalin, daß er die Opposition beseitigt, und indem Stalin die Mitglieder der Opposition ausschließt und verhaftet und sie einer Thermidorischen Verschwörung und eines Militärkomplotts mit einem Wrangeloffizier beschuldigt, erfüllt er die Befehle Ustrialows.

Die unmittelbare Aufgabe, die sich Stalin gestellt hat, ist die Zersplitterung der Partei, die Beseitigung der Opposition, die Gewöhnung der Partei an die Methode der Hinrichtungen. Faschistische Banden von Auspfeifern, Fausthiebe, das Werfen mit Büchern und Steinen, die Gefängnisgitter – hier hat das Stalin-Regime einen Augenblick Halt gemacht auf seinem Wege, aber die Richtung ist vorgezeichnet. Warum sollten die Jaroslawskis, Schwerniks, Goloschchokins und andre sich mit der Opposition in ehrliche Auseinandersetzungen über Regierungsstatistiken einlassen, wenn sie einfach einen schweren Band dieser Statistiken einem Oppositionsmann an den Kopf fliegen lassen können? Der Stalinismus findet in einem solchen Akt seinen rückhaltlosesten Ausdruck und scheut sich vor keiner Pöbelei. Und wir wiederholen: Diese faschistischen Methoden sind nur eine blinde und unbewußte Erfüllung von sozialen Befehlen anderer Klassen. Das Ziel ist, die Oppositionsmitglieder auszuschließen und sie womöglich durch Hinrichtung zu beseitigen. Schon kann man Stimmen hören: »Wir werden tausend ausschließen und hundert erschießen, dann haben wir Frieden in der Partei.« Es sind dies Stimmen von elenden, ängstlichen und doch auch teuflisch verblendeten Menschen. Es ist dies die Stimme Thermidors. Die schlechtesten Elemente, durch Macht verdorben, geblendet durch bureaukratischen Haß, bereiten mit aller Kraft den Thermidor, den Tag der Vernichtung der Revolution, vor. Sie brauchen dazu zwei Parteien. Aber alle ihre Gewalttaten werden zerbrechen vor der Macht eines ehrlichen politischen Kurses. In der Hingabe an einen solchen Kurs wird der revolutionäre Mut der oppositionellen Reihen fest zusammenstehen. Stalin wird keine zwei Parteien schaffen. Wir sagen offen zu der Partei: Die Diktatur des Proletariats ist in Gefahr. Und wir sind davon überzeugt, daß die Partei in ihrem proletarischen Kern uns hören und verstehen und daß sie der Gefahr entgegentreten wird. Die Partei ist schon tief aufgerührt. Morgen wird sie bis zum tiefsten Boden aufgerührt sein. Hinter den wenigen tausend Mann in den wirklichen Reihen der Opposition kommt eine zweite und dritte Reihe von solchen, die der Opposition zugetan sind, und hinter ihnen noch eine breitere Schicht von Arbeitermitgliedern, die schon angefangen haben, auf unsere Stimme zu hören und sich nach unserer Seite hin bewegen. Dieser Prozeß kann nicht rückgängig gemacht werden. Die nicht in der Partei befindlichen Arbeiter haben Ihre Lügen und Verleumdungen gegen uns nicht geglaubt. Ihre berechtigte Unzufriedenheit über das Anwachsen von Bureaukratie und Unterdrückung hat die arbeitende Klasse von Leningrad in ihrer Demonstration vom 17. Oktober deutlich zum Ausdruck gebracht. Das Proletariat ist unentwegt für die Sowjetmacht, aber es will eine andere Politik, und es wird sie unwiderstehlich durchsetzen. Ihr System ist machtlos dagegen. Je brutaler Ihre Unterdrückungsmaßregeln sind, um so stärker wird das Ansehen der Opposition in den Augen der einfachen Parteimitglieder und der Arbeiterklasse im allgemeinen. Für jedes Hundert von Oppositionsleuten, das Sie aus der Partei ausstoßen, werden tausend neue in die Partei hineingelangen. Der ausgeschlossene Oppositionsmann fühlt sich immer noch als ein Parteimitglied und bleibt auch eins. Sie können dem echten bolschewistischen Leninisten mit Gewalt die Parteikarte aus der Hand reißen, Sie können ihn für eine Zeit seiner Parteirechte berauben. Aber er wird niemals seinen Parteipflichten entsagen. Als Janson in der Sitzung des Zentral-Kontrollkomitees Mrachkowski fragte, was er tun würde, wenn man ihn aus der Partei ausschlösse, antwortete Genosse Mrachkowski: »Ich werde das Steuer anfassen und den alten Kurs beibehalten.« Wir stehen am Steuer des Bolschewismus, es wird Ihnen nicht gelingen, uns davon fortzureißen. Wir halten es auch weiter fest. Sie werden uns nicht von der Partei abschneiden, Sie werden uns nicht von der arbeitenden Klasse abschneiden. An Bedrückungen sind wir gewöhnt, wir sind auch an Schläge gewöhnt. Wir werden die Oktoberrevolution nicht der Politik eines Stalin überlassen, dessen ganzes Programm in diese wenigen Worte zusammengefaßt werden kann: Unterdrückung des proletarischen Kerns, Verbrüderung mit den Kompromißlern aller Länder, Kapitulation vor der Weltbourgeoisie. Sie schließen uns aus dem Zentralkomitee aus, gerade einen Monat vor Beginn des Parteikongresses, den Sie schon in ein armseliges Werkzeug der Stalinpartei umgewandelt haben. Der fünfzehnte Kongreß wird scheinbar der höchste Triumph Ihres bureaukratischen Systems sein. In Wirklichkeit wird er sich als ein Zeichen Ihres vollständigen politischen Schiffbruchs erweisen. Die Siege der Stalinpartei sind die Siege fremder Klassenmächte über die proletarischen Vorkämpfer. Die Niederlagen der durch Stalin geführten Partei sind Niederlagen der proletarischen Diktatur. Die Partei fühlt dies schon. Wir werden helfen, daß es weiter verstanden wird. Das Programm der Opposition liegt auf dem Tisch der Partei. Nach dem fünfzehnten Kongreß wird die Opposition in der Partei unendlich stärker werden als jetzt. Die Anklageliste der arbeitenden Klasse und die der Partei stimmen nicht überein mit der bureaukratischen Anklageliste Stalins. Das Proletariat denkt langsam, aber es denkt tief. Unser Programm wird diesen Prozeß beschleunigen. Die Entscheidung liegt in letzter Linie in dem Verlauf, den die Politik nimmt, nicht in den Fäusten der Bureaukraten. Schließen Sie uns heute aus dem Zentralausschuß aus, wie Sie gestern Serebriakow und Preobraschenski aus der Partei ausgeschlossen, wie Sie Fischelew und andere ins Gefängnis gesteckt haben. Unser Programm wird seinen Weg finden. Die Arbeiter der ganzen Welt werden sich in tiefer Besorgnis fragen: »Aus welchen Gründen verfemen und verhaften sie am zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution die besten Kämpfer jener Tage? Wer steckt dahinter? Welche Klasse? Etwa die Klasse, die im Oktober gesiegt hat? Oder vielmehr die Klasse, die den Oktobersieg stumpf macht und ihn untergräbt?«

Selbst die rückständigsten Arbeiter aller Länder werden, durch unsere Bedrückungen erregt, unser Programm in die Hand nehmen, um selbst die Wahrheit über Ihre nichtswürdigen Verleumdungen in der Sache des Wrangeloffiziers und des Militärkomplotts herauszufinden. Ihre Verfolgungen, Ausschließungen, Verhaftungen werden unser Programm zum beliebtesten, gelesensten und geschätztesten Dokument der Arbeiterbewegung machen. Schließen Sie uns aus. Den Sieg der Opposition – den Sieg der revolutionären Einheit unserer Partei und der kommunistischen Internationalen werden Sie nicht aufhalten.

Zweiter Teil: Die wirkliche Lage in Rußland

Zur Einführung

In seiner Rede auf dem letzten Parteikongreß, dem er beiwohnte, sagte Lenin: »Wir haben hier ein Jahr lang die Staatsgewalt in unsern Händen gehabt – hat sich nun das neue wirtschaftliche System nach unserm Ziel hin entwickelt? Nein. Es ist nicht angenehm, das zuzugeben, aber es war wirklich nicht der Fall. Wie hat es sich denn entwickelt? Die Staatsmaschine geht nicht dahin, wohin wir sie lenken, sondern wohin sie irgendwelche heimliche, ungesetzliche und Gott weiß woher stammende Spekulanten oder privatkapitalistische Geschäftsmenschen lenken. Eine Maschine geht nicht immer genau ihren Weg, sie geht manchmal einen ganz anderen Weg, als sich der einbildet, der am Steuer sitzt.«

In diesen Worten ist uns der Prüfstein gegeben worden, mit dem wir die Grundprobleme unserer Politik beurteilen sollten. In welcher Richtung geht die Maschine? geht der Staat? geht die Macht? Gehen sie in der Richtung, wie wir, die Kommunisten, die die Interessen und den Willen der Arbeiter und der gewaltigen Masse der Bauern zum Ausdruck bringen, es wünschen? Oder gehn sie nicht in dieser Richtung? Oder nicht »ganz genau« in dieser Richtung?

In diesen Jahren seit dem Tode Lenins haben wir mehr als einmal versucht, die Aufmerksamkeit der zentralen Organe unserer Partei und später der gesamten Partei auf die Tatsache zu lenken, daß dank einer falschen Führerschaft die Gefahr, auf die Lenin hingewiesen, sich beträchtlich vergrößert hat. Die Maschine geht nicht in der Richtung, wie sie die Interessen der Arbeiter und Bauern verlangen. Am Vorabend des neuen Kongresses halten wir es für unsere Pflicht, trotz aller Verfolgungen, die wir erlitten haben, mit erneuter Energie die Aufmerksamkeit der Partei auf diese Tatsache zu lenken. Denn wir sind sicher, daß die Lage geändert werden kann. Sie kann geändert werden durch die Partei selbst. Als Lenin sagte, die Maschine ginge öfters so, wie sie von uns feindlich gesinnten Mächten gelenkt würde, richtete er unsere Aufmerksamkeit auf zwei Tatsachen von höchster Bedeutung. Zunächst darauf, daß in unserer Gesellschaft solche, unserer Sache feindlichen Mächte existieren: die Kulaks, die wohlhabenden Bauern – die Nepleute, die neuen Privatkapitalisten – und schließlich die Bureaukraten–, die sich unsere Untätigkeit und unsere politischen Fehler zunutze machen und auf die Unterstützung des internationalen Kapitalismus rechnen. Zweitens auf die Tatsache, daß diese Mächte stark genug sind, unsere Regierungs- und Wirtschaftsmaschine nach der falschen Richtung zu drängen und schließlich sogar zu versuchen – zunächst in versteckter Weise – das Steuer der Maschine zu ergreifen.

Lenins Worte haben uns allen die folgenden Verpflichtungen auferlegt:

Sorgfältig das Anwachsen dieser feindlichen Mächte der Kulaks, der Nepleute und der Bureaukraten zu beobachten.

Daran zu denken, daß mit dem allgemeinen Wiederaufblühen des Landes diese Mächte danach streben werden, auch ihre eigenen Ansprüche zu vergrößern und unter einem stets wachsenden Druck auf unsere Politik ihre persönlichen Interessen durch unser System zu befriedigen.

Alle nur möglichen Maßnahmen zu ergreifen, das Anwachsen, das Zusammenarbeiten und den Druck dieser feindlichen Mächte zu schwächen und sie an der Durchführung eines unsichtbaren, aber tatsächlich vorhandenen Zweikräftesystems, auf das sie hinarbeiten, zu hindern.

Die volle Wahrheit über diese Vorgänge allen arbeitenden Massen offen mitzuteilen. Hierin nämlich liegt die Hauptaufgabe gegenüber einer thermidoristischen Gefahr und dem gegen sie gerichteten Kampf. Seit Lenin seine Warnung ausgesprochen hat, haben sich viele Dinge gebessert, viele aber auch verschlechtert. Der Einfluß des staatlichen Beamtenapparats wächst an, aber damit auch die Bedrückung der Arbeiter durch die Bureaukratie. Das absolute und relative Anwachsen des Kapitalismus auf dem Lande und sein absolutes Anwachsen in den Städten beginnen bei den bürgerlichen Elementen unseres Landes ein politisches Selbstbewußtsein hervorzurufen. Diese Elemente versuchen – nicht immer ohne Erfolg – die Kommunisten, mit denen sie bei der Arbeit oder auch gesellschaftlich in Kontakt kommen, zu zermürben. Die Parole, die Stalin auf dem vierzehnten Parteikongreß ausgegeben hat, »Gefahr von links!« kann nur die Union der rechtsstehenden Elemente in der Partei mit den bürgerlichgesinnten Elementen im Lande fördern.

Die Frage: »Wer siegt?«,wird durch einen unaufhörlichen Klassenkampf auf allen Frontabschnitten des ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens entschieden werden – durch einen Kampf um einen sozialistischen oder kapitalistischen Entwicklungsgang und eine Verteilung des nationalen Einkommens je nach dem Siege der einen oder der andern Entwicklung. In einem Lande mit kleinen und ganz kleinen Bauern und Eigentümern entwickeln sich die wichtigsten Dinge häufig in zusammenhangloser und versteckter Weise und brechen dann »unerwartet« an die Oberfläche empor.

Das Auftreten von kapitalistischen Elementen zeigt sich zunächst in der Bildung von Klassenunterschieden auf dem Lande und in einer Vermehrung der Privatkapitalisten in der Stadt. Die oberen Kreise auf dem Lande und die bürgerlichen Elemente in der Stadt verweben sich immer dichter mit den verschiedenen Zweigen unseres staatswirtschaftlichen Systems. Und dieses System ist nicht selten der neuen Bourgeoisie behilflich, unter einem statistischen Nebel ihre erfolgreichen Bemühungen um eine Vergrößerung des Anteils am Nationaleinkommen zu verschleiern.

Das staatliche, genossenschaftliche und private Handelssystem verschlingt einen enormen Teil unseres Nationaleinkommens, mehr als ein Zehntel der Gesamtproduktion. Auf der andern Seite hat das Privatkapital als Handelsvermittler in den letzten Jahren beträchtlich mehr als ein Fünftel des gesamten Handels in seinen Händen gehabt – in absoluten Zahlen, mehr als fünf Billionen im Jahr. Bis heute hat der einfache Verbraucher mehr als 50 Prozent der von ihm benötigten Produkte durch die privatkapitalistischen Vermittler bezogen. Für die Privatkapitalisten ist das eine Hauptquelle des Profits und der Akkumulation. Die Ungleichheit zwischen den Preisen für ländliche und industrielle Erzeugnisse, zwischen den Groß- und Kleinhandelspreisen, der Unterschied zwischen den Preisen in den einzelnen Zweigen der Landwirtschaft je nach den Gegenden und Jahreszeiten, und schließlich der Unterschied zwischen den einheimischen und den Weltpreisen (Schmuggel), sind ständige Quellen privater Bereicherung.

Das Privatkapital erhebt wucherische Zinsen durch Darlehen und verdient Geld an den Staatspapieren.

Die Rolle, die das private Kapital in der Industrie spielt, ist also eine recht beträchtliche. Selbst wenn es in der letzten Zeit relativ abgenommen hat, so hat es sich doch absolut vermehrt. Die eingetragene privatkapitalistische Industrie zeigt eine Gesamtproduktion von 400 Millionen im Jahr. Kleine, im Heim und mit der Hand betriebene Industrien zeigen mehr als 1800 Millionen. Im ganzen macht die Produktion der nicht staatlichen Betriebe mehr als ein Fünftel der gesamten Güterproduktion aus und liefert etwa 40 Prozent der auf den Markt kommenden Waren. Die überwiegende Menge dieser Erzeugung ist auf einem oder anderem Wege an privates Kapital gebunden. Die verschiedenartigen, offenen oder verhüllten Formen der Ausbeutung von Handarbeitern durch Handels- und Heimarbeitskapital ist ganz bedeutend und bildet, was noch wichtiger ist, eine immer stärker werdende Quelle für das Wachstum der neuen Bourgeoisie.

Steuern, Löhne, Preise und Kredit sind die Hauptmittel der Verteilung des nationalen Einkommens, für die Stärkung bestimmter Klassen und die Schwächung anderer.

Die ländliche Steuer im Dorf wird in der Regel in einer verkehrten Progression auferlegt: schwer auf die Schwachen, leichter auf die Starken und auf die Kulaks, die reichen Bauern. Nach annähernden Berechnungen haben 34 Prozent von den armen Landbesitzern der Sowjetunion (selbst unter Fortlassung von Provinzen mit hoher Entwicklung der Klassenunterschiede, wie es die Ukraine, der nördliche Kaukasus und Sibirien sind) 18 Prozent des gesamten Einkommens. Genau dasselbe Totaleinkommen, 18 Prozent, hat die höchste Gruppe, die nur aus 7,5 Prozent der Besitzer besteht. Trotzdem bezahlen beide Gruppen annähernd denselben Betrag, 20 Prozent der gesamten Steuersumme. Aus diesen Zahlen geht einleuchtend hervor, daß auf jedes einzelnen armen Mannes Eigentum die Steuer viel schwerer lastet, als auf dem des Kulaks oder des wohlhabenden Besitzers im allgemeinen. Im Gegensatz zu dem, was die Führer des vierzehnten Kongresses befürchtet haben, hat unsere Steuerpolitik durchaus nicht den Kulak »ausgeplündert«. Sie hindert ihn nicht im geringsten, unaufhörlich größere Mengen von Geld und Gütern anzusammeln.

Die Rolle, die die indirekten Steuern in unserm Budget spielen, wächst in beunruhigendem Maße auf Kosten der direkten Steuern. Dadurch allein wird die Last der Steuern automatisch von den stärkeren Schultern auf die schwächeren abgewälzt. Die Besteuerung der Arbeiter in den Jahren 1925–1926 war zweimal so hoch als in dem vorhergehenden Jahr, während sich die Besteuerung der übrigen städtischen Bevölkerung um 6 Prozent verminderte. Die Branntweinsteuer fällt mit mehr oder weniger unerträglicher Schwere ganz auf die industriellen Bezirke. Die Vermehrung des Einkommens für 1926, verglichen mit 1925, betrug pro Person nach bestimmten, annähernden Berechnungen bei den Bauern 19 Prozent, bei den Arbeitern 26 Prozent, bei den Kaufleuten und Industriellen 46 Prozent. Wenn man die Bauern in drei Hauptgruppen einteilt, wird es zweifellos klar werden, daß sich das Einkommen des wohlhabenden Bauern unverhältnismäßig mehr als daß des Arbeiters vermehrt hat. Das Einkommen der Kaufleute und Industriellen ist unzweifelhaft größer, als es nach den Steuerangaben erscheint. Aber auch diese etwas gefärbten Zahlen beweisen klar das Anwachsen von Klassenunterschieden.

Die »Scheren«, die die Ungleichheit der ländlichen und industriellen Preise darstellen, sind in den letzten anderthalb Jahren noch weiter auseinandergegangen. Der Bauer erhielt für sein Produkt nicht mehr als das Einundeinviertelfache des Vorkriegspreises, und er bezahlte für Industrieprodukte nicht weniger als zweiundzweizehntelmal soviel als vor dem Kriege. Diese Mehrbezahlung durch die Bauern, die auch wieder vorwiegend durch die untern Bauernklassen getragen wurde, ergab im vergangenen Jahr eine Summe von etwa einer Billion Rubel, und sie vermehrt nicht nur den Konflikt zwischen Landwirtschaft und Industrie, sie verschärft auch in starkem Maße die Klassenunterschiede auf dem Lande.

An den Unterschieden zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreisen verlieren sowohl die Staatsindustrie wie die Verbraucher, was das Bestehen einer dritten Partei beweist, die daran verdient. Diese gewinnende Partei ist der Privatkapitalist und damit der Kapitalismus überhaupt.

Die wirklichen Löhne standen im Jahre 1927 im besten Falle auf derselben Höhe wie im Herbst 1925. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß während der beiden dazwischen liegenden Jahre das Land reicher geworden ist, daß sich das allgemeine Nationaleinkommen vermehrt hat. Die Kulakkreise auf dem Lande haben ihre Lager mit riesiger Geschwindigkeit vergrößert. Die Bereicherung der Privatkapitalisten, der Kaufleute und Spekulanten wuchs sprunghaft. Es ist klar, daß der Anteil der arbeitenden Klasse an dem Gesamteinkommen des Landes gefallen ist, daß sich in derselben Zeit der Anteil der anderen Klassen vergrößert hat. Diese Tatsache ist von größter Wichtigkeit bei der Abschätzung unserer ganzen Lage.

Nur ein Mensch, der im Grunde seines Herzens glaubt, unsere Arbeiterklasse und unsere Partei seien überhaupt nicht fähig, die ihnen entgegenstehenden Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden, darf ein offenes Aufzeigen dieser Widersprüche in unserer Entwicklung und des Anwachsens dieser feindlichen Kräfte als »Panik« oder »Pessimismus« bezeichnen. Wir teilen diese Ansicht nicht. Es ist notwendig, den Gefahren ins Gesicht zu sehen. Wir zeigen sie so wie sie sind, um gegen sie in der richtigen Weise zu kämpfen und sie zu überwinden.

Ein gewisses Anwachsen der feindlichen Kräfte, der Kulaks, der Nepleute und der Bureaukraten, ist unvermeidlich unter der neuen Wirtschaftspolitik. Man kann diese Kräfte nicht einfach durch Verwaltungsbefehle oder durch wirtschaftlichen Druck zerstören. Indem wir die neue Privatwirtschaft, die Nep, schufen und ausbauten, ermöglichten wir einen gewissen Platz für kapitalistische Beziehungen in unserm Lande, und für eine lange, vor uns liegende Periode müssen wir diese als unvermeidlich ansehen. Lenin erinnerte uns einfach an eine nackte Wahrheit, die die Arbeiter wissen sollten, als er sagte: »Solange wir fortfahren, ein Kleinbauernland zu sein, ist in Rußland eine festere Basis für Kapitalismus als für Kommunismus. Daran müssen wir denken ... Wir haben den Kapitalismus nicht bei den Wurzeln ausgerissen und das Fundament und den Grundbau des inneren Feindes haben wir nicht unterminiert.«

Die unendlich wichtige soziale Tatsache, auf die hier Lenin hinweist, kann, wie wir schon gesagt haben, nicht einfach aus der Welt geschafft werden. Aber wir können sie überwinden, wir können sie bekämpfen durch eine richtige, wohlüberlegte und systematische Politik der Arbeiterklasse, die sich auf die Kleinbauern stützt und mit den Mittelbauern zusammengeht. Eine solche Politik ist organisch verbunden mit einer Stärkung der sozialen Positionen des Proletariats in der ganzen Welt, mit einer möglichst schnellen Höherentwicklung der führenden Zentren des Sozialismus, die an der Vorbereitung und Durchführung der proletarischen Weltrevolution arbeiten.

Eine richtige Leninistische Politik schließt auch ein gewisses geschicktes Manövrieren ein. Im Kampf gegen die kapitalistischen Kräfte wandte Lenin oftmals den Kunstgriff an, in einzelnen Teilen nachzugeben, um den Feind zu überlisten oder sich zeitweilig zurückzuziehen, um nachher um so erfolgreicher vorwärts zu schreiten. Manövrieren ist auch heute notwendig. Aber im Ausweichen und Manöverieren vor einem Feind, der nicht durch direkten Angriff überwältigt werden konnte, blieb Lenin doch immer auf der Linie der proletarischen Revolution. Unter seiner Leitung kannte die Partei die Gründe jedes Manövers, wußte seine Bedeutung, sein Ziel, die Grenze, über die es nicht hinausgehen durfte, und die Stellung, bei welcher der proletarische Vormarsch wieder beginnen sollte. In jenen Tagen unter Lenin nannte man einen Rückzug einen Rückzug – ein Nachgeben ein Nachgeben. Infolgedessen bewahrte die manöverierende proletarische Armee immer ihre Einigkeit, ihren Kampfgeist, ihr klares Erkennen des Ziels.

In der jüngsten Periode sind unsere Führer entschieden von diesem Leninistischen Verfahren abgerückt. Von der Stalingruppe wird die Partei mit verbundenen Augen geführt. Indem diese Gruppe die Kräfte des Feindes verbirgt und überall und in jeder Sache einen offiziellen Schein von Erfolg verbreitet, gibt sie dem Proletariat keine Übersicht über die Lage, oder, was noch schlimmer ist, eine falsche Übersicht. Sie bewegt sich in Zickzacklinien, paßt sich feindlichen Elementen an und schmeichelt sich sogar bei ihnen ein. Sie schwächt und verwirrt die Kräfte der proletarischen Armee, sie fördert das Anwachsen von Untätigkeit, von Mißtrauen gegen die Führerschaft und ertötet die Zuversicht auf die Macht der Revolution. Sie vertuscht, immer mit Berufung auf das Manöverieren Lenins, ihr grundloses Hin- und Herschwanken, das von niemand verstanden wird und daher nur die Kräfte der Partei schwächt. Das einzige Ergebnis ist, daß der Feind dabei Zeit gewinnt und vorwärts kommt. Die »klassischen« Beispiele dieser Art des Manöverierens haben Stalin, Bucharin und Rykow auf internationalem Gebiete in ihrer Chinesenpolitik und in ihren Verhandlungen im anglorussischen Komitee geliefert, und im Inlande in ihrem Verhalten gegenüber dem Kulak. In allen diesen Fragen fanden Partei und Arbeiterklasse die Wahrheit oder einen Teil der Wahrheit heraus, aber erst nachdem die schweren Folgen einer bis in den Grund hinein falschen Politik über ihren Köpfen zusammengeschlagen waren.

Am Ende dieser zwei Jahre, in denen die Stalingruppe wirklich die Politik unserer Partei bestimmt hat, können wir es als erwiesen erachten, daß diese Gruppe folgende Dinge nicht verhindern konnte:

Ein übermäßiges Anwachsen jener Kräfte, die die Entwicklung unseres Landes in die kapitalistischen Kanäle zu leiten suchen.

Eine Schwächung der Lage der arbeitenden Klasse und der ärmsten Bauern gegenüber der wachsenden Macht des Kulaks, des Nepmanns und des Bureaukraten.

Eine Schwächung der allgemeinen Lage des Arbeiterstaates im Kampf mit dem Weltkapitalismus, eine Herabsetzung der internationalen Position der Sowjetunion.

Der direkte Fehler der Stalingruppe ist der, daß sie, anstatt der Partei, der arbeitenden Klasse und den Bauern die volle Wahrheit über die Lage zu sagen, Tatsachen verheimlicht, das Anwachsen der feindlichen Kräfte verkleinert und denen den Mund geschlossen hat, die die Wahrheit verlangten und sie aussprechen wollten.

Die Parole, »Gefahr von links!«, zu einer Zeit, da die ganze Lage auf eine Gefahr von rechts hinweist, die grobe, mechanische Unterdrückung jeder Kritik, die doch nur ein berechtigter Weckruf an das Proletariat wegen des Schicksals der proletarischen Revolution ist, die stillschweigende, offene Duldung einer Schwenkung nach rechts, die Untergrabung des Einflusses des proletarischen und altbolschewistischen Kerns in der Partei – alles dieses schwächt und entwaffnet die Arbeiterklasse in einem Augenblick, der mehr als je Aktivität des Proletariats, Wachsamkeit und Einigkeit in der Partei und treues Festhalten an der wirklichen Erbschaft des Leninismus verlangt.

Die Parteiführer verdrehen Lenin, reden sich auf ihn heraus und geben ihm Zusätze, gerade so, wie es ihnen nötig erscheint, um ihre fortwährenden Fehler zu verstecken. Seit Lenins Tod hat man eine ganze Reihe von neuen Theorien erfunden, und zwar nur zu dem Zweck, dem Abgleiten der Stalingruppe von dem Wege der internationalen proletarischen Revolution eine theoretische Rechtfertigung zu geben. Die Menschewisten und die kapitalistische Presse, sie sehen und begrüßen in der Politik und in den neuen Theorien der Stalin, Bucharin, Martinow eine Bewegung »fort von Lenin« (Ustrialow), »staatsmännisches Denken«, »Realismus«, eine Absage an die »Utopien« des revolutionären Bolschewismus. In dem Entfernen einer Truppe von Bolschewisten – den Kampfgenossen Lenins – aus der Parteileitung sehen und begrüßen sie offen einen tatsächlichen Schritt vorwärts zu einem grundsätzlichen Wechsel im Kurs der Partei.

Inzwischen bereiten die inneren Vorgänge in der Gruppe der Nepleute, der neuen Privatkapitalisten, da sie durch keine feste Klassenpolitik zurückgehalten und geregelt werden, weitere Gefahren der gleichen Art vor.

Fünfundzwanzig Millionen kleiner Bauernbesitze bilden die Hauptquelle für die kapitalistischen Bestrebungen in Rußland. Die aus dieser Masse allmählich sich herausbildende Kulakkaste wiederholt den Prozeß einer primitiven Kapitalansammlung und untergräbt die sozialistische Position mit einem breiten Minengang. Das weitere Schicksal dieses Vorgangs hängt letzten Endes von dem Verhältnis des Anwachsens der Staatsbetriebe zu dem der privaten Betriebe ab. Die langsame Entwicklung unserer Industrien verstärkt gewaltig das Tempo der Bildung von Klassenunterschieden bei den Bauern, und daraus kommen die politischen Gefahren.

»In der Geschichte anderer Länder«, schrieb Lenin, »haben die Kulaks mehr als einmal die Macht der Landherren, der Zaren, Priester und Kapitalisten wieder hergestellt. Es ist so bei allen früheren europäischen Revolutionen gewesen, wo es infolge der Schwäche der Arbeiter den Kulaks gelang, von einer Republik zur Monarchie, von der Herrschaft der arbeitenden Massen zur Allmacht der Ausbeuter, der Reichen, der Parasiten zurückzukehren ... Man kann den Kulak mit dem Großgrundbesitzer, mit dem Zaren und dem Priester leicht genug versöhnen, selbst wenn sie miteinander einen Streit gehabt haben, aber niemals mit der Arbeiterklasse.«

Wer dies nicht versteht, wer an »die Entwicklung der Kulaks zum Sozialismus« glaubt, der taugt nur dazu, die Revolution an einem Riff zerschellen zu lassen.

Es gibt in unserem Lande zwei sich gegenseitig ausschließende, wesentliche Positionen. Die eine ist die Position des den Sozialismus aufbauenden Proletariats, die andere die Position der Bourgeoisie, die danach strebt, unsere Entwicklung auf die kapitalistischen Geleise umzurangieren.