Wohin geht Frankreich? - Leo Trotzki - E-Book

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Leo Trotzki

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Beschreibung

Die Artikel Leo Trotzkis über Frankreich, die in diesem Band gesammelt sind, entstanden in den Jahren 1934 bis 1938. Es waren entscheidende Jahre für das Schicksal Frankreichs und Europas. Unter dem Druck der Großen Depression, die weltweit zu Massenarbeitslosigkeit, weitverbreiteter Armut und heftigen Klassenkämpfen führte, zerbrach die bürgerliche Demokratie. In einem europäischen Land nach dem anderen stützte sich die Bourgeoisie auf den Faschismus, dessen historische Bedeutung laut Trotzki darin besteht, »die Arbeiterklasse niederzuwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen, die politische Freiheit zu erwürgen, und zwar dann, wenn die Kapitalisten nicht mehr imstande sind, mithilfe der demokratischen Mechanismen zu regieren und zu herrschen«. In Italien war bereits 1922 Benito Mussolini an die Macht gelangt und hatte eine faschistische Diktatur errichtet, die als Vorbild für viele andere dienen sollte. In Polen herrschten Józef Piłsudski und in Ungarn Miklós Horthy mit autoritären Methoden. In Deutschland hatte Reichspräsident von Hindenburg 1933 Adolf Hitler zum Kanzler ernannt. In Frankreich – und auch in Spanien – war die Lage dagegen noch nicht entschieden. »Zurück zur friedlichen Demokratie gibt es schon keinen Weg mehr«, stellte Trotzki 1934 fest. »Die Entwicklung führt unabänderlich und unabwendbar zum Zusammenprall von Proletariat und Faschismus.« Die allgemeine Tendenz treibe Frankreich »unabweislich zu der Alternative: Entweder muss das Proletariat die durch und durch verfaulte bürgerliche Ordnung stürzen, oder der Kapitalismus muss im Interesse seiner Selbsterhaltung die Demokratie durch den Faschismus ersetzen.« Eine siegreiche sozialistische Revolution in Frankreich oder Spanien war damals durchaus möglich. In Frankreich erschütterte 1936 ein mehrmonatiger Generalstreik die bürgerliche Herrschaft und rückte die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse in greifbare Nähe. In Spanien entwickelte sich der Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten zu einem Machtkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie. Ein Sieg der Arbeiterklasse in diesen Ländern hätte den Verlauf der Geschichte geändert. Die Arbeiter Deutschlands, die Hitler ablehnten, hätten neuen Mut geschöpft, das Nazi-Regime wäre ins Wanken geraten. Auch die Arbeiter der Sowjetunion wären ermutigt worden, sich gegen Stalin aufzulehnen, der mit der katastrophalen Fehlorientierung der Kommunistischen Parteien und mit dem Großen Terror von 1937/1938, der die revolutionäre Avantgarde in der Sowjetunion und die Rote Armee enthauptete, Hitlers Überfall auf die Sowjetunion erst möglich machte. Doch die Revolution scheiterte – nicht am Unvermögen der Arbeiterklasse, sondern am Versagen und Verrat ihrer Parteien. Leo Trotzkis hier wiedergegebene Schriften bilden den Schlüssel zum Verständnis der damaligen Ereignisse und der Lehren daraus, die heute – angesichts eskalierender Kriege, heftiger Klassenkämpfe und des Wiederauflebens faschistischer Parteien – von brennender Aktualität sind. Trotzki schrieb nicht als passiver Beobachter, sondern als revolutionärer Marxist. Er kämpfte gegen die Politik der Stalinisten, die die Arbeiterklasse lähmte und politisch entwaffnete, und entwickelte – in enger Zusammenarbeit mit seinen französischen Gesinnungsgenossen – Perspektiven und Initiativen, mit denen die Arbeiterklasse diese Lähmung durchbrechen und die politische Macht erobern konnte.

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Leo TrotzkiWohin geht Frankreich?

Trotzki-Bibliothek

Leo Trotzki

Wohin geht Frankreich?

Mehring Verlag

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Vorwort

Wohin geht Frankreich?

Noch einmal: Wohin geht Frankreich?

Für Aktionskomitees – keine Volksfront

Frankreich am Wendepunkt

Die entscheidende Etappe

Die französische Revolution hat begonnen

Vor der neuen Etappe

Die Stunde der Entscheidung naht

Ein Aktionsprogramm für Frankreich

Brief an die französischen Arbeiter

Bonapartismus und Faschismus

Zu den Texten

Zeittafel

Verzeichnis der Organisationen und Publikationen

Verzeichnis der Personen

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des HerausgebersVorwort des Herausgebers

Die Artikel Leo Trotzkis über Frankreich, die in diesem Band gesammelt sind, entstanden in den Jahren 1934 bis 1938. Es waren entscheidende Jahre für das Schicksal Frankreichs und Europas.

Unter dem Druck der Großen Depression, die weltweit zu Massenarbeitslosigkeit, weitverbreiteter Armut und heftigen Klassenkämpfen führte, zerbrach die bürgerliche Demokratie. In einem europäischen Land nach dem anderen stützte sich die Bourgeoisie auf den Faschismus, dessen historische Bedeutung laut Trotzki darin besteht, »die Arbeiterklasse niederzuwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen, die politische Freiheit zu erwürgen, und zwar dann, wenn die Kapitalisten nicht mehr imstande sind, mithilfe der demokratischen Mechanismen zu regieren und zu herrschen«.1

In Italien war bereits 1922 Benito Mussolini an die Macht gelangt und hatte eine faschistische Diktatur errichtet, die als Vorbild für viele andere dienen sollte. In Polen herrschten Józef Piłsudski und in Ungarn Miklós Horthy mit autoritären Methoden. In Deutschland hatte Reichspräsident von Hindenburg 1933 Adolf Hitler zum Kanzler ernannt.

In Frankreich – und auch in Spanien – war die Lage dagegen noch nicht entschieden. »Zurück zur friedlichen Demokratie gibt es schon keinen Weg mehr«, stellte Trotzki 1934 fest. »Die Entwicklung führt unabänderlich und unabwendbar zum Zusammenprall von Proletariat und Faschismus.« Die allgemeine Tendenz treibe Frankreich »unabweislich zu der Alternative: Entweder muss das Proletariat die durch und durch verfaulte bürgerliche Ordnung stürzen, oder der Kapitalismus muss im Interesse seiner Selbsterhaltung die Demokratie durch den Faschismus ersetzen.«2

Eine siegreiche sozialistische Revolution in Frankreich oder Spanien war damals durchaus möglich. In Frankreich erschütterte 1936 ein mehrmonatiger Generalstreik die bürgerliche Herrschaft und rückte die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse in greifbare Nähe. In Spanien entwickelte sich der Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten zu einem Machtkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie.

Ein Sieg der Arbeiterklasse in diesen Ländern hätte den Verlauf der Geschichte geändert. Die Arbeiter Deutschlands, die Hitler ablehnten, hätten neuen Mut geschöpft, das Nazi-Regime wäre ins Wanken geraten. Auch die Arbeiter der Sowjetunion wären ermutigt worden, sich gegen Stalin aufzulehnen, der mit der katastrophalen Fehlorientierung der Kommunistischen Parteien und mit dem Großen Terror von 1937/1938, der die revolutionäre Avantgarde in der Sowjetunion und die Rote Armee enthauptete, Hitlers Überfall auf die Sowjetunion erst möglich machte. Doch die Revolution scheiterte – nicht am Unvermögen der Arbeiterklasse, sondern am Versagen und Verrat ihrer Parteien.

Leo Trotzkis hier wiedergegebene Schriften bilden den Schlüssel zum Verständnis der damaligen Ereignisse und der Lehren daraus, die heute – angesichts eskalierender Kriege, heftiger Klassenkämpfe und des Wiederauflebens faschistischer Parteien – von brennender Aktualität sind. Trotzki schrieb nicht als passiver Beobachter, sondern als revolutionärer Marxist. Er kämpfte gegen die Politik der Stalinisten, die die Arbeiterklasse lähmte und politisch entwaffnete, und entwickelte – in enger Zusammenarbeit mit seinen französischen Gesinnungsgenossen – Perspektiven und Initiativen, mit denen die Arbeiterklasse diese Lähmung durchbrechen und die politische Macht erobern konnte.

Er tat dies gestützt auf ein präzises, materialistisches Verständnis der objektiven Dynamik des Klassenkampfs, der Rolle des Faschismus und der Psychologie der Massen, über das Trotzki wie kein anderer verfügte. Er war der herausragendste, noch lebende Vertreter einer Generation revolutionärer Marxisten, die sich die Lehren von Marx und Engels gründlich angeeignet hatten und – anders als ihre Lehrmeister in der Zweiten Internationale – als Anleitung zum revolutionären Handeln verstanden.

In der ersten Russischen Revolution 1905 hatte der 26-jährige Trotzki an der Spitze des Petersburger Sowjets der Arbeiterdeputierten gestanden. 1917 hatte er an der Seite Lenins die Oktoberrevolution zum Sieg geführt, die er mit der Theorie der permanenten Revolution vorbereitet hatte. Er spielte eine führende Rolle auf den ersten vier Kongressen der Kommunistischen Internationale und organisierte und kommandierte die Rote Armee, die in einem erbitterten Bürgerkrieg die Sowjetmacht gegen die weiße Konterrevolution und mehrere imperialistische Interventionsarmeen verteidigte. Sein tiefes Verständnis der Psychologie der Massen befähigte Trotzki, der nie eine militärische Ausbildung genossen hatte, aus fünf Millionen Arbeitern und Bauern eine schlagkräftige, motivierte Armee zu formen.

Der wichtigste Teil von Trotzkis politischem Wirken begann 1923/1924 mit der Krankheit und dem Tod Lenins. Erschöpft durch Jahre des Kriegs und des Bürgerkriegs und isoliert aufgrund des Scheiterns der Revolution in Deutschland und anderen fortgeschrittenen Ländern flutete die Welle der Revolution in der Sowjetunion zurück. Konservative bürokratische Elemente, die in Stalin ihren Führer fanden, machten sich breit und rissen die Kontrolle über Partei und Staat an sich. Trotzki übernahm die Führung der Linken Opposition, die gegen die bürokratische Degeneration des Sowjetregimes kämpfte und das politische und theoretische Erbe der Oktoberrevolution verteidigte. Er wurde von der Stalin-Fraktion erst verleumdet, dann seiner Ämter enthoben, aus der Kommunistischen Internationale und der Partei ausgeschlossen, nach Asien und 1929 schließlich in die Türkei verbannt, wo ihn Stalin zum Schweigen zu bringen hoffte.

Doch Trotzki ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Unterstützt von Zehntausenden linken Oppositionellen in der Sowjetunion und auf der ganzen Welt führte er den Kampf gegen den Stalinismus aus seinem abgelegenen türkischen Exil weiter. Im Sommer 1933 gewährte ihm die Regierung des Radikalen Édouard Daladier schließlich Asyl in Frankreich, das allerdings neun Monate später widerrufen wurde. Da kein anderes demokratisches Land bereit war, den sozialistischen Gegner Stalins aufzunehmen, blieb Trotzki bis zu seiner Weiterreise nach Norwegen im Juni 1935 in Frankreich – überwacht von der Polizei und unter ständiger Verfolgung durch faschistische und stalinistische Gegner. So konnte er die Ereignisse aus nächster Nähe verfolgen.

Die deutsche Katastrophe

Inzwischen ging es längst nicht mehr nur um das Regime in der Sowjetunion. Bereits 1924 hatte Stalin, unterstützt von Bucharin, die internationalistische Perspektive der permanenten Revolution, auf der die Oktoberrevolution beruhte, durch das nationalistische Programm des »Aufbaus des Sozialismus in einem Land« ersetzt. Demnach konnte Russland den Sozialismus aus eigener Kraft, ohne Unterstützung durch erfolgreiche proletarische Revolutionen in anderen Ländern, aufbauen.

Das hatte weitreichende Folgen. Die Kommunistische Internationale verwandelte sich aus einer Partei der sozialistischen Weltrevolution in ein Instrument der sowjetischen Außenpolitik und ordnete die Interessen des Weltproletariats den kurzsichtigen Bedürfnissen der stalinistischen Bürokratie unter. Die Komintern wurde zur Quelle von Desorientierung und proletarischen Niederlagen.

Bis 1933 verfolgten Trotzki und die Linke Opposition das Ziel, die Kommunistische Internationale und die Kommunistischen Parteien zu reformieren und auf den Kurs des proletarischen Internationalismus zurückzuführen. Das änderte sich nach der deutschen Katastrophe von 1933, für die der Stalinismus die Hauptverantwortung trug. Obwohl die Nazis rasch wuchsen und 1932 mit der SA über nahezu eine halbe Million bewaffnete Männer verfügten, lehnte es die Kommunistische Partei Deutschlands strikt ab, mit der SPD ein Verteidigungsbündnis zu vereinbaren. Gestützt auf die ultralinke Linie der »Dritten Periode«, die die Komintern 1928 beschlossen hatte, denunzierte sie die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten« und ging in einigen Fällen so weit, gemeinsame Sache mit den Nazis gegen die SPD zu machen.

Diese ultralinke Politik, hinter der sich eine defätistische Haltung verbarg, lähmte die Arbeiterklasse und ebnete Hitler den Weg an die Macht. Obwohl die beiden Arbeiterparteien ungleich stärker waren als die Nazis – bei der letzten halbwegs regulären Reichstagswahl im November 1932 hatten sie 1,5 Millionen Stimmen mehr erzielt als die NSDAP –, konnte Hitler im Januar 1933 ohne Gegenwehr die Macht ergreifen.

Leo Trotzki kämpfte unermüdlich gegen diese verheerende Politik und setzte sich für eine Politik der Einheitsfront ein.Seine Artikel und Broschüren wurden zu Zehntausenden verbreitet und fanden unter KPD-Mitgliedern großen Widerhall, während die KPD-Führung um Ernst Thälmann mit hysterischer Feindschaft reagierte.3

Trotzki machte sich keinerlei Illusionen über den Charakter der sozialdemokratischen Führung, die die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Faschismus ablehnte, sich hinter dem bürgerlichen Staat verschanzte, Brünings Notverordnungen unterstützte, Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten wählte und sich selbst dann nicht zur Wehr setzte, als ihr im Juli 1932 ihre wichtigste Bastion, die preußische Landesregierung, entrissen wurde. Er schlug keine Vermischung der politischen Programme von KPD und SPD vor, sondern die gemeinsame Verteidigung von Versammlungen, Parteieinrichtungen und Mitgliedern gegen gewaltsame Angriffe der Nazis. Sie hätte die sozialdemokratischen Arbeiter, für die die Nazis eine tödliche Gefahr darstellten, überzeugt, dass es die Kommunisten mit dem Kampf gegen die Nazis ernst meinten. Die Sozialfaschismuspolitik der KPD stieß die sozialdemokratischen Arbeiter dagegen in die Arme der SPD-Führer zurück.

Selbst als die deutsche Katastrophe nicht mehr zu leugnen war und zahlreiche KPD- und SPD-Mitglieder in Hitlers Konzentrationslagern saßen, hielt die Kommunistische Internationale an der Richtigkeit der Politik der KPD fest. Nicht eine einzige Sektion äußerte Kritik. Trotzki schloss daraus, dass die Komintern nicht mehr reformiert werden konnte und der Aufbau einer neuen, Vierten Internationale unerlässlich sei. Die Ereignisse in Frankreich fallen in die Zeit, in der die Gründung der Vierten Internationale vorbereitet wurde, die im September 1938 stattfand.

Die Volksfront

1934 vollzog die Komintern dann in Frankreich einen scheinbaren Schwenk um 180 Grad. Nachdem am 6. Februar mehrere Tausend Faschisten und Royalisten versucht hatten, gewaltsam die französische Nationalversammlung zu stürmen, und das erschrockene Parlament darauf reagierte, indem es die neun Tage zuvor gewählte Regierung des Radikalen Édouard Daladier durch das halbautoritäre Regime von Gaston Doumergue ersetzte, näherten sich Sozialisten und Kommunisten an. Sie bildeten eine Einheitsfront, die später auf Drängen von KP-Führer Maurice Thorez zu einer Volksfront erweitert wurde, die auch die Radikalen, die wichtigste bürgerliche Partei im damaligen Frankreich, miteinschloss.

Die Volksfront war das Gegenteil der Einheitsfront, für die Trotzki eintrat. »Das historische Problem besteht nicht darin, mechanisch alle Organisationen, die immer noch aus den verschiedenen Etappen des Klassenkampfes existieren, zu vereinigen, sondern das Proletariat im Kampf und für den Kampf zu sammeln«, schreibt er. »Dies sind zwei grundverschiedene und sogar entgegengesetzte Probleme.«4

Die Volksfront der Sozialisten und Kommunisten mit den Radikalen war kein Bündnis der Arbeiterklasse mit dem Kleinbürgertum, der Wählerbasis der Radikalen, wie die Stalinisten behaupteten. Sie war ein Bündnis der Parteiapparate gegen die Arbeiterklasse und die unteren Schichten des Kleinbürgertums. Im Namen der Einheit mit den Radikalen passte sich die Kommunistische Partei an deren politische Interessen an, verzichtete auf die Perspektive der sozialistischen Revolution und unterdrückte alle Kämpfe, die das kapitalistische Eigentum und den bürgerlichen Staat in Frage stellten.

Damit lähmte sie die Arbeiterklasse und trieb verzweifelte, von der Wirtschaftskrise ruinierte Teile des Kleinbürgertums in die Arme der Faschisten, denn »die wachsende Empörung der unteren Schichten des Kleinbürgertums gegen seine eigenen oberen ›gebildeten‹ Schichten in Gemeinde, Kanton und Parlament … ist die soziale und politische Hauptquelle des Faschismus«, wie Trotzki deutlich macht.5

Trotzki bestreitet nicht die Notwendigkeit, die unteren Schichten des Kleinbürgertums auf die Seite der Arbeiterklasse zu gewinnen: »Sich dem Bauern und dem kleinen Mann der Stadt nähern, sie auf unsere Seite zu ziehen, ist unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus, von der Machteroberung gar nicht zu reden.«6 Doch das konnte nur gelingen, wenn die Arbeiterklasse bewies, dass sie zum Kampf entschlossen war: »Das Kleinbürgertum wird die Demagogie des Faschismus nur in dem Falle von sich weisen, wenn es an die Wirklichkeit des anderen Weges glaubt. Der andere Weg aber, das ist der Weg der proletarischen Revolution.«7

Es sei »falsch, dreimal falsch, zu behaupten, das heutige Kleinbürgertum gehe nicht mit den Arbeiterparteien, weil es ›extreme Maßnahmen‹ scheue«, betont Trotzki. Im Gegenteil. Die unteren Schichten des Kleinbürgertums sähen in den Arbeiterparteien nur Parlamentsmaschinen und trauten ihnen nicht zu, »diesmal den Kampf bis ans Ende zu führen«. Das wirkliche Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen sei »nicht eine Frage der parlamentarischen Statik, sondern der revolutionären Dynamik. Dieses Bündnis gilt es zu schaffen, im Kampf zu schmieden.«8

Eine revolutionäre Situation

Trotzki geißelt unermüdlich die Selbstzufriedenheit der Stalinisten, die »die Theorie der revolutionären Aktion durch die Religion des Fatalismus«9 ersetzen und ihre Ablehnung jeder revolutionären Initiative mit der Behauptung bemänteln, die Situation sei »nicht revolutionär« und die »Endkrise des kapitalistischen Systems« habe noch nicht begonnen.

Trotzki antwortet: »Die Diagnose der Kommunistischen Internationale ist grundfalsch. Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nichtrevolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Genauer: Die Situation ist vorrevolutionär. Um diese Situation zur Reife zu bringen, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobilisierung der Massen unter den Losungen der Machteroberung im Namen des Sozialismus notwendig. Dies ist der einzige Weg, auf dem dievorrevolutionäre Situation in eine revolutionäre verwandelt werden kann. Im entgegengesetzten Fall, d. h. wenn man weiter auf der Stelle tritt, wird sich die vorrevolutionäre Situation unausweichlich in eine konterrevolutionäre verwandeln und den Sieg des Faschismus herbeiführen.«10

Auf diese Frage kommt er immer wieder zurück. An anderer Stelle betont er die entscheidende Rolle der politischen Vorbereitung für den Verlauf der Revolution, die er als Bürgerkrieg bezeichnet. Dessen Ergebnis hänge »zu einem Viertel, wenn nicht einem Zehntel, vom Verlauf des Bürgerkrieges selbst ab, von seinen technischen Mitteln, der rein militärischen Leitung; zu drei Vierteln, wenn nicht neun Zehnteln, von der politischen Vorbereitung.«

»Worin besteht aber die politische Vorbereitung?«, fragt Trotzki. »Im revolutionären Zusammenschweißen der Massen, in ihrer Befreiung von der Sklavenhoffnung auf die Gnade, Großmut, Loyalität der ›demokratischen‹ Sklavenhalter, in der Erziehung revolutionärer Kader, imstande, die offizielle öffentliche Meinung gering zu achten und der Bourgeoisie auch nur den zehnten Teil jener Unerbittlichkeit entgegenzubringen, die die Bourgeoisie den Werktätigen gegenüber an den Tag legt.«11

Zur Spekulation darüber, ob die »Endkrise des kapitalistischen Systems« begonnen habe, schreibt Trotzki: »Der proletarische Revolutionär muss vor allem begreifen, dass der Marxismus, die einzige wissenschaftliche Theorie von der proletarischen Revolution, nichts gemein hat mit dem fatalistischen Hoffen auf die ›letzte‹ Krise. Der Marxismus besteht seinem Wesen nach aus einer Anleitung zu revolutionärem Handeln. Der Marxismus ignoriert nicht Willen und Mut, sondern hilft ihnen auf den richtigen Weg.«

Es gebe »keine Krise, dievon selber für den Kapitalismus ›tödlich‹ werden könnte. Die Konjunkturschwankungen schaffen lediglich Situationen, in denen es dem Proletariat leichter oder schwerer fällt, den Kapitalismus zu stürzen. Der Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft setzt das Handeln lebendiger Menschen voraus, die ihre eigene Geschichte gestalten. Dabei gehorchen sie nicht dem Zufall oder ihrer Lust, sondern dem Einfluss bestimmter objektiver Ursachen. Ihre eigenen Handlungen aber – ihre Initiative, Kühnheit, Aufopferung oder umgekehrt Dummheit und Feigheit – bilden notwendige Glieder in der Kette der historischen Entwicklung.«12

Aktionsprogramm für Frankreich

Trotzki beschränkte sich nicht darauf, die Stalinisten zu kritisieren. Gemeinsam mit seinen französischen Gesinnungsgenossen entwickelte er politische Initiativen und ein »Aktionsprogramm für Frankreich«13, um den Würgegriff der bürokratischen Apparate zu durchbrechen. 1934 traten die französischen Anhänger Trotzkis auf sein Anraten als Fraktion in die Sozialistische Partei ein, um Zugang zu radikalisierten Arbeitern und Jugendlichen zu finden, die sich – abgestoßen von der Politik der Stalinisten – den Sozialisten zuwandten. Als die Trotzkisten nach einem Jahr von der alarmierten Führung ausgeschlossen wurden, hatten sie viele wertvolle Kader gewonnen.

Auch hier betont Trotzki die Notwendigkeit, die Arbeiter offen mit ihren revolutionären Aufgaben zu konfrontieren. »Die Massen begreifen oder fühlen, dass unter den Bedingungen der Krise und der Arbeitslosigkeit ökonomische Teilkonflikte unerhörte Opfer erfordern, die in keinem Fall durch die erreichten Resultate gerechtfertigt werden«, schreibt er. »Die Massen erwarten und fordern andere, wirksamere Methoden.«14

Um »den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen«, tritt Trotzki für den Aufbau von Aktionskomitees ein. »Es handelt sich hier nicht um dieformell-demokratische Vertretung aller und irgendwelcher Massen, sondern um dierevolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen«, betont er. »Das Aktionskomitee ist das Instrument des Kampfs.«15

1936 erreichte der revolutionäre Aufschwung in Frankreich seinen Höhepunkt. Die wachsende Radikalisierung verhalf der Volksfront zum Wahlsieg. Der Sozialist Léon Blum bildete eine Regierung mit den Radikalen, die von den Stalinisten unterstützt wurde. Wie Trotzki vorausgesehen hatte, brandete die revolutionäre Welle sofort über die Köpfe der Volksfront hinweg. Es entwickelte sich eine breite Streikbewegung mit Fabrikbesetzungen, an der sich fast 2,5 Millionen Arbeiter beteiligten. Es bedurfte der geballten Anstrengung der Volksfront und der Stalinisten, um diese mächtige revolutionäre Bewegung zu bremsen und nach vier Monaten zum Stillstand zu bringen. Dabei mussten sie erhebliche Zugeständnisse machen – wie die Einführung der gesetzlichen 40-Stunden-Woche und des bezahlten Urlaubs –, die später alle wieder zurückgenommen wurden.

Zur selben Zeit begann mit General Francos Putsch der Spanische Bürgerkrieg. Hier zeigten die Volksfront und die Stalinisten ihre konterrevolutionäre Fratze weit offener als in Frankreich. In Frankreich lehnte die Volksfrontregierung von Léon Blum aus Rücksicht auf das verbündete Großbritannien und auf Franco-Sympathien in der französischen Bourgeoisie jede Unterstützung der republikanischen Seite ab. In Spanien wüteten die Stalinisten hinter der Front gegen revolutionäre Arbeiter, die sich dem bürgerlichen Programm der Volksfront nicht unterordnen wollten. Sie verhafteten, folterten und ermordeten Tausende Trotzkisten, Anarchisten und Mitglieder der zentristischen POUM und ebneten Franco so den Weg zum Sieg.

Mit der Volksfrontpolitik hatte Stalin zu erkennen gegeben, dass er nicht mehr auf die internationale Arbeiterklasse setzte, um die Sowjetunion gegen Angriffe imperialistischer Mächte zu verteidigen. Sie kam in »demokratischen« Ländern zum Einsatz, mit denen der Kreml ein Bündnis anstrebte, und sollte die Bourgeoisie überzeugen, dass von der Sowjetunion keine revolutionäre Gefahr mehr ausging. Im August 1939 vollzog Stalin dann einen abrupten Schwenk, der die französischen Kommunisten vollends demoralisierte. Als es ihm nach dem Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien nicht gelang, sein Bündnis mit Frankreich und Großbritannien zu erneuern, schloss er einen Pakt mit Hitler. Die kommunistischen Arbeiter, die im Namen der Volksfront gegen die Faschisten auf revolutionäre Forderungen verzichtet hatten, fanden sich ohne Vorwarnung in einem Bündnis mit den Nazis wieder.

Ein knappes Jahr später wurde auch in Frankreich die bürgerliche Republik formell zu Grabe getragen. Die Nationalversammlung ernannte mit 569 zu 80 Stimmen Marschall Pétain zum Diktator, der ein autoritäres Regime errichtete und bis zum Ende des Kriegs eng mit den Nazis zusammenarbeitete. Seiner Ernennung war die militärische Niederlage Frankreichs vorausgegangen. Diese war weniger das Ergebnis deutscher militärischer Überlegenheit als der defätistischen Haltung des französischen Generalstabs. Bereits 1936, auf dem Höhepunkt des Generalstreiks, hatten konservative Kreise die Parole ausgegeben: »Lieber Hitler als Blum« –, wobei sie mit Blum nicht den sozialdemokratischen Regierungschef, sondern die sozialistische Revolution meinten.

Ein hochaktuelles Buch

Berücksichtigt man die politischen Unterschiede, sind die Fragen, die Trotzki in »Wohin geht Frankreich?« herausarbeitet, auch heute von brennender Aktualität. Erneut befindet sich der globale Kapitalismus in einer Sackgasse, aus der es keinen demokratischen Ausweg gibt. Der NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland erweist sich immer deutlicher als erstes Stadium eines dritten Weltkriegs, bei dem es um nichts weniger als um die Verteidigung der amerikanischen Hegemonie und um die gewaltsame Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten geht. Die Eskalation des Kriegs, die Kosten des Militarismus, die extreme soziale Ungleichheit und der Profithunger der aufgeblähten Finanzmärkte lassen sich nicht mit demokratischen Verhältnissen vereinbaren.

Das ist der Grund für das Anwachsen faschistischer Parteien auf der ganzen Welt. Sie werden wieder gebraucht, um »die Arbeiterklasse niederzuwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen, die politische Freiheit zu erwürgen«.16 Deshalb lobt US-Präsident Joe Biden ständig seine »republikanischen Freunde«, obwohl sich die Republikaner unter aller Augen in eine faschistische Partei verwandeln. Deshalb bahnen alle deutschen Parteien der AfD den Weg. Deshalb ist die Mussolini-Verehrerin Giorgia Meloni italienische Regierungschefin und willkommener Gast auf internationalen Treffen.

Die rechte Politik der Sozialdemokraten, Poststalinisten und anderer angeblich linker Parteien, die für Sozialabbau, Staatsaufrüstung und Militarismus eintreten, hat zur Folge, dass empörte Kleinbürger und teilweise auch Arbeiter eine radikale Lösung auf der Rechten suchen. Sie treibt verbitterte Wähler in die Arme faschistischer Demagogen, die ihnen eine bessere Zukunft versprechen und auf die liberalen Eliten schimpfen. Darauf beruhen die Wahlerfolge von Donald Trump, der Fratelli d’Italia und der deutschen AfD. Noch handelt es sich nicht um faschistische Massenbewegungen, aber es besteht die Gefahr, dass sie sich zu solchen entwickeln.

Diese Gefahr kann nur durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse gestoppt werden, die den Kampf gegen soziale Ungleichheit und Krieg mit einem sozialistischen Programm zum Sturz des Kapitalismus verbindet. Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt kämpfen bereits gegen die Folgen der Inflation, gegen Rentenkürzungen und Sozialabbau. Wie in den 1930er Jahren in Frankreich entwickelt sich eine vorrevolutionäre Situation. Und wie damals erfordert ihre Verwandlung in eine revolutionäre die »aktive Beteiligung der revolutionären Klasse und ihrer Partei«.17

Diese Partei ist heute die Vierte Internationale, die vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale und ihren Sektionen, den Sozialistischen Gleichheitsparteien, verkörpert wird. »Nur die Partei hat Recht auf eine historische Existenz, die an ihr Programm glaubt und danach strebt, das ganze Volk um ihr Banner zu scharen«, schreibt Trotzki. »Sonst ist sie keine historische Partei, sondern eine Parlamentssippschaft, eine Karrieristenclique.«18

Peter Schwarz20. Juni 2023

1 In diesem Buch S. 22.

2 S. 24 und 138.

3 Siehe dazu: Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, das der Mehring Verlag zeitgleich mit diesem Buch in einer erweiterten Ausgabe neu herausgegeben hat.

4 In diesem Buch S. 117.

5 S. 30.

6 S. 28.

7 S. 31.

8 S. 32 und 34.

9 S. 67.

10 S. 62.

11 S. 51.

12 S. 65.

13 Siehe Anhang S. 187.

14 S. 75.

15 S. 130, 129.

16 S. 22.

17 S. 40.

18 S. 34.

Fußnoten von Leo Trotzki sind mit L. T. gekennzeichnet, die übrigen stammen vom Verlag.

Vorwort

VorwortVorwort

Diese Broschüre besteht aus mehreren im Verlauf der letzten zweieinhalb Jahre zu verschiedenen Zeiten geschriebenen Artikeln. Genauer gesagt, ­geschrieben seit der Entstehung der faschistisch-bonapartistisch-royalistischen Koalition am 6. Februar 1934 bis zum großen Massenstreik Ende Mai/Anfang Juni 1936. Was für ein weiter Ausschlag des politischen Pendels! Die Führer der Volksfront möchten natürlich das Verdienst für den Linksruck, der stattgefunden hat, der Voraussicht und Weisheit ihrer Politik zuschreiben. Aber das stimmt nicht. Das Dreiparteienkartell stellte sich bei der Entwicklung der politischen Krise als drittrangiger Faktor heraus. Kommunisten, Sozialisten und Radikale haben nichts vorausgesehen und nichts gelenkt. Die Ereignisse schlugen über ihren Köpfen zusammen. Der (für sie) unerwartete Schlag vom 6. Februar 1934 zwang sie, ihre vorherigen Losungen und Doktrinen über Bord zu werfen und ihr Heil in einem Bündnis miteinander zu suchen. Genauso unerwartet hat der Streik von Mai/Juni 1936 diesem parlamentarischen Block einen Schlag versetzt, von dem er sich nicht erholen kann. Was oberflächlich betrachtet wie der Höhepunkt der Volksfront erscheinen könnte, ist in Wirklichkeit ihr Todeskampf.

Angesichts der Tatsache, dass die einzelnen Teile dieser Broschüre getrennt erschienen sind und verschiedene Etappen der französischen Krise widerspiegeln, wird der Leser auf diesen Seiten auf unvermeidliche Wiederholungen stoßen. Sie ausmerzen, hieße, die Teile aus der Gesamtstruktur zu lösen, und, was viel wichtiger ist, der ganzen Arbeit ihre Dynamik zu rauben, in der sich die Dynamik der Ereignisse selbst spiegelt. Der Verfasser hat es vorgezogen, die Wiederholungen beizubehalten. Sie könnten sich für den Leser als gar nicht so unnütz herausstellen. Wir leben in einer Epoche der weltweiten Liquidierung des Marxismus in den herrschenden Kreisen der Arbeiterbewegung. Die gewöhnlichsten Vorurteile dienen heute den politischen Führern und den Gewerkschaftsführern der französischen Arbeiterklasse als offizielle Lehre. Im Gegensatz dazu klingt die Stimme des revolutionären Realismus in dieser künstlichen Akustik wie die Stimme des »Sektierertums«. Umso dringlicher ist es, die grundlegenden Wahrheiten der marxistischen Politik vor Zuhörerkreisen fortgeschrittener Arbeiter immer und immer wieder zu wiederholen.

In diesen oder anderen gelegentlichen Äußerungen des Verfassers wird der Leser vielleicht vereinzelte Widersprüche finden. Wir beseitigen auch diese nicht. Tatsächlich spiegeln diese scheinbaren »Widersprüche« nur die Betonung wider, die auf verschiedene Etappen des Prozesses gelegt wurde. Insgesamt, glauben wir, hat die Broschüre die Prüfung durch die Ereignisse bestanden und wird vielleicht in der Lage sein, deren Verständnis zu erleichtern.

Die Tage des großen Streiks werden zweifellos auch das Verdienst haben, dass sie die muffige, abgestandene Atmosphäre der Arbeiterorganisationen lüften und sie von den Bazillen des Reformismus und des Patriotismus, »sozialistischer«, »kommunistischer« oder gewerkschaftlicher Prägung, reinigen. Selbstredend geschieht das nicht mit einem Schlag und nicht von selbst. Es steht ein zäher ideologischer Kampf bevor auf der Grundlage des rauen Klassenkampfes. Doch der weitere Gang der Krise wird zeigen, dass nur der Marxismus erlaubt, sich rechtzeitig im Wirrwarr der Ereignisse zurechtzufinden und ihre weitere Entwicklung vorherzusehen.

Die Februartage 1934 bezeichneten den ersten ernsten Vorstoß der geeinten Konterrevolution. Die Mai-/Junitage 1936 kennzeichnen die erste mächtige Welle der proletarischen Revolution. Diese zwei Marksteine weisen zwei mögliche Wege: den italienischen und den russischen. Die parlamentarische Demokratie, in deren Namen die Regierung Blum auftritt, wird zwischen den zwei gewaltigen Mühlsteinen zu Staub zermahlen werden. Welche Teiletappen, Übergangskombinationen und -gruppierungen, Teilangriffe, taktische Episoden bevorstehen mögen, zu wählen ist nunmehr nur noch zwischen Faschismus und proletarischer Revolution. Das ist der Sinn der vorliegenden Arbeit.

Leo Trotzki

10. Juni 1936

Wohin geht Frankreich?

Wohin geht Frankreich?Wohin geht Frankreich?

9. November 1934

Auf diesen Seiten wollen wir den fortgeschrittenen Arbeitern darlegen, welches Schicksal Frankreich in den nächsten Jahren erwartet. Mit Frankreich meinen wir nicht die Börse, nicht die Banken, nicht die Trusts, nicht die Regierung, nicht die Generäle, nicht die Geistlichkeit – das alles sind Frankreichs Unterdrücker –, sondern die Arbeiterklasse und die ausgebeutete Bauernschaft.

Der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie
1. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie

Nach dem Krieg setzte eine ganze Reihe von Revolutionen ein, die in Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn, später in Spanien, glänzende Siege errangen. Doch nur in Russland hat das Proletariat die Macht ganz in die Hand genommen, seine Ausbeuter enteignet und damit einen Arbeiterstaat zu schaffen und zu erhalten verstanden. In allen anderen Ländern blieb das Proletariat trotz des Sieges durch Verschulden seiner Führung auf halbem Wege stehen. Infolgedessen entglitt die Macht seinen Händen und verschob sich immer weiter von links nach rechts, bis sie dem Faschismus zur Beute wurde. In mehreren anderen Ländern geriet sie einer Militärdiktatur in die Hände. Auch nicht in einem einzigen zeigte sich das Parlament imstande, die Klassengegensätze zu überbrücken und einen friedlichen Gang der Entwicklung zu gewährleisten. Der Streit wurde mit der Waffe in der Hand entschieden.

Zwar hat man in Frankreich lange geglaubt, hier könne der Faschismus niemals Anklang finden. Ist es doch eine Republik, alle Fragen entscheidet das souveräne Volk mit dem allgemeinen Stimmrecht. Aber am 6. Februar 1934 zwangen einige Tausend mit Revolvern, Gummiknüppeln und Rasiermessern ausgerüstete Faschisten und Royalisten dem Lande die reaktionäre Doumergue-Regierung auf, in deren Schutz die faschistischen Banden weiter wachsen und rüsten. Was wird uns der morgige Tag bescheren?

Zwar bestehen in Frankreich, wie in einigen anderen Ländern Europas (England, Belgien, Holland, Schweiz, skandinavische Staaten), noch Parlamente, Wahlen, demokratische Freiheiten oder deren Überreste. Aber in all diesen Ländern spitzt sich der Klassenkampf in derselben Richtung zu wie früher in Italien und in Deutschland. Wer sich mit den Worten tröstet »Frankreich ist nicht Deutschland«, an dem ist Hopfen und Malz verloren. In allen Ländern herrschen heute die gleichen historischen Gesetze: die Gesetze des kapitalistischen Verfalls. Bei weiterem Verbleib der Produktionsmittel in den Händen eines Häufleins von Kapitalisten gibt es für die Gesellschaft keinen Ausweg. Sie ist verurteilt, aus einer Krise in die andere zu taumeln, aus Not ins Elend. In den verschiedenen Ländern treten Altersschwäche und Verfall des Kapitalismus in verschiedener Form und in ungleichem Tempo in Erscheinung. Doch das Wesen des Prozesses ist überall dasselbe. Die Bourgeoisie hat ihre Gesellschaft in den vollständigen Bankrott hineingetrieben. Sie vermag dem Volke weder Brot noch Frieden zu sichern. Eben darum kann sie die demokratische Ordnung nicht länger ertragen. Sie ist gezwungen, die Arbeiter mit physischer Gewalt niederzuhalten. Doch mit der Polizei allein ist der Unzufriedenheit der Arbeiter und Bauern unmöglich Herr zu werden. Das Heer gegen das Volk marschieren lassen, ist nur zu oft nicht möglich: Es beginnt sich zu zersetzen und am Ende schlägt sich gar ein großer Teil der Soldaten auf die Seite des Volkes. Das Großkapital ist darum genötigt, bewaffnete Banden zu schaffen, speziell gegen die Arbeiter abgerichtet, wie man gewisse Hunderassen auf Wild dressiert. Die historische Bedeutung des Faschismus besteht darin, die Arbeiterklasse niederzuwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen, die politische Freiheit zu erwürgen, und zwar dann, wenn die Kapitalisten nicht mehr imstande sind, mithilfe der demokratischen Mechanismen zu regieren und zu herrschen.

Das Menschenmaterial finden die Faschisten zur Hauptsache im Kleinbürgertum. Das Großkapital hat dieses gründlich ruiniert. Die heutige Gesellschaftsordnung gewährt ihm keine Rettung. Aber einen anderen Ausweg kennt es eben nicht. Seine Unzufriedenheit, Empörung, Verzweiflung wird durch die Faschisten vom Großkapital abgelenkt und auf die Arbeiter gerichtet. Man kann sagen: Faschismus, das ist der Vorgang der Gehirnverrenkung des Kleinbürgertums im Interesse seiner schlimmsten Feinde. So ruiniert das Großkapital die Mittelklassen zuerst, um sie dann mithilfe einer Söldneragentur faschistischer Demagogen auf das Proletariat zu hetzen. Nur mit solchen Gangstermethoden eben vermag sich das bürgerliche Regime noch zu halten. Wie lange? Solange die proletarische Revolution es nicht stürzt.

Der Beginn des Bonapartismus in Frankreich
2. Der Beginn des Bonapartismus in Frankreich

In Frankreich befindet sich die Bewegung von der Demokratie zum Faschismus erst in ihrer ersten Phase. Das Parlament besteht noch, aber die Macht von ehedem hat es nicht mehr und wird es nie wieder bekommen. Auf den Tod erschrocken, rief nach dem 6. Februar 1934 die Parlamentsmehrheit Doumergue, den Retter, den Schiedsrichter ans Ruder. Seine Regierung wie die seines Nachfolgers Flandin steht über dem Parlament. Sie stützt sich nicht auf die »demokratisch« gewählte Mehrheit, sondern direkt und unmittelbar auf den bürokratischen Apparat, auf Polizei und Heer. Eben darum kann Doumergue irgendwelche Freiheit für die Beamten und Staatsangestellten überhaupt nicht dulden. Er braucht einen gehorsamen und disziplinierten bürokratischen Apparat, an dessen Spitze er stehen kann, ohne die Gefahr zu stürzen. In ihrer Angst vor den Faschisten und vor der »gemeinsamen Front« ist die Parlamentsmehrheit gezwungen, sich Doumergue zu beugen.

Man schreibt jetzt viel von einer bevorstehenden »Verfassungs­reform«, vom Recht zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und so weiter. All diese Fragen sind nur von rechtlichem Interesse. Im politischen Sinn ist die Frage bereits entschieden. Die Reform wurde vollzogen ohne Fahrt nach Versailles.1 Das Erscheinen bewaffneter faschistischer Banden auf offener Bühne ermöglichte den Agenten des Großkapitals, sich über das Parlament zu erheben. Das eben macht heute das Wesen der französischen Verfassung aus. Alles Übrige ist nur Illusion, Phrase oder bewusster Betrug.

Die heutige Rolle Doumergues (wie seiner möglichen Nachfolger vom Schlage Marschall Pétains oder Tardieus) ist nicht neu. Eine analoge Rolle spielten unter anderen Umständen Napoleon I. und Napoleon III. Das Wesen des Bonapartismus besteht in Folgendem: Gestützt auf den Kampf zweier Lager »rettet« er mithilfe einer bürokratisch-militärischen Diktatur die »Nation«. Napoleon I. verkörperte den Bonapartismus der stürmischen Jugend der bürgerlichen Gesellschaft. Der Bonapartismus Napoleons III. fiel in die Zeit, wo auf dem Schädel des Bürgertums bereits eine Glatze entstand. In der Person Doumergues begegnen wir dem senilen Bonapartismus des kapitalistischen Niedergangs.

Die Doumergue-Regierung ist die erste Stufe des Übergangs vom Parlamentarismus zum Bonapartismus. Um sich im Gleichgewicht zu halten, braucht Doumergue an seiner rechten Seite die faschistischen und anderen Banden, die ihm zur Macht verhalfen. Von ihm verlangen, dass er – nicht auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit – die Jeunesses patriotes, Croix de feu, Camelots du roi usw. auflöse, heißt verlangen, er möge den Ast absägen, auf dem er sitzt.

Zeitweilige Schwankungen nach der einen oder anderen Seite sind selbstverständlich möglich. So könnte ein vorzeitiger Angriff des Faschismus bei den Regierungsspitzen so etwas wie eine Bewegung nach »links« hervorrufen. Doumergue hat Flandin Platz gemacht, das ist ein Betriebsunfall. Flandin wiederum kann vorübergehend nicht durch Tardieu, sondern durch Herriot ersetzt werden. Aber erstens ist nirgends gesagt, dass die Faschisten einen vorzeitigen Staatsstreich machen werden. Zweitens würde eine vorübergehende Linkswende an der Spitze an der allgemeinen Entwicklungsrichtung nichts ändern, sondern bestenfalls die Entscheidungsschlacht nur ein wenig hinausschieben.

Zurück zur friedlichen Demokratie gibt es schon keinen Weg mehr. Die Entwicklung führt unabänderlich und unabwendbar zum Zusammenprall von Proletariat und Faschismus.

Wird der Bonapartismus sich lange halten?
3. Wird der Bonapartismus sich lange halten?

Wie lange wird das heutige bonapartistische Übergangsregime durchhalten können? Oder anders ausgedrückt: Wie viel Zeit bleibt dem Proletariat noch zur Vorbereitung auf die Entscheidungsschlacht? Auf diese Frage kann man natürlich nicht genau antworten. Doch einige Anhaltspunkte zur Beurteilung der Geschwindigkeit des Gesamtprozesses kann man immerhin schon bestimmen. Das wichtigste Element zu dieser Beurteilung ist die Frage: Was wird aus der Radikalen Partei?

Durch die Umstände seiner Entstehung ist der gegenwärtige Bonapartismus, wie bereits gesagt, mit dem beginnenden Bürgerkrieg zwischen den extremen politischen Lagern verbunden. Seine Hauptstütze findet er in Polizei und Heer. Aber er hat auch eine politische Stütze auf der Linken: die Partei der Radikalen. Die Basis dieser Massenpartei bildet das Kleinbürgertum von Stadt und Land. Die Spitze der Partei setzt sich zusammen aus »demokratischen« Agenten der Großbourgeoisie, die das Volk dann und wann mit kleinen Reformen, meistens aber mit demokratischen Phrasen fütterten, es täglich (in Worten) vor der Reaktion und dem Klerikalismus retteten, in allen wichtigen Fragen aber die Politik des Großkapitals durchführten.

Bedroht vom Faschismus und mehr noch vom Proletariat, sahen sich die Radikalen gezwungen, aus dem Lager der parlamentarischen Demokratie ins Lager des Bonapartismus zu schwenken. Wie das Kamel unter der Peitsche des Treibers, ging der Radikalismus auf seine vier Knie nieder, um die kapitalistische Reaktion zwischen seinen Höckern Platz nehmen zu lassen. Ohne die politische Unterstützung durch die Radikalen wäre die Doumergue-Regierung zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht möglich.

Vergleicht man die politische Entwicklung Frankreichs mit der Deutschlands, so entspricht die Doumergue-Regierung (und ihre möglichen Nachfolger) den Regierungen Brüning, von Papen und Schleicher, die den Zwischenraum zwischen der Weimarer Demokratie und Hitler ausfüllten. Es gibt indessen auch einen Unterschied, der politisch sehr große Bedeutung gewinnen kann. Der deutsche Bonapartismus betrat die Bildfläche, als die demokratischen Parteien dahin geschmolzen waren und die Nazis bereits mit kolossaler Wucht wuchsen. Die drei »bonapartistischen« Regierungen in Deutschland, deren eigene politische Stütze sehr schwach war, balancierten auf einem Seil über dem Abgrund zwischen den beiden feindlichen Lagern: Proletariat und Faschismus. Alle drei purzelten schnell herunter. Das proletarische Lager war damals gespalten, auf Kampf nicht vorbereitet, von den Führern betrogen und verraten. Die Nazis konnten die Macht fast kampflos ergreifen.

Der französische Faschismus stellt heute noch keine Massenkraft dar. Dagegen hat der Bonapartismus hier, wenn auch keine sehr zuverlässige und feste, so doch eine Massenunterstützung durch die Radikalen. Zwischen diesen beiden Tatsachen besteht ein innerer Zusammenhang. Dem sozialen Charakter seiner Unterstützung nach ist der Radikalismus eine Partei des Kleinbürgertums. Der Faschismus aber kann nur eine Massenkraft werden durch die Eroberung des Kleinbürgertums. Mit anderen Worten: In Frankreich kann die Entwicklung des Faschismus vor allem auf Kosten der Radikalen vor sich gehen. Dieser Prozess vollzieht sich heute schon, befindet sich aber noch im Anfangsstadium.

Die Rolle der Radikalen Partei
4. Die Rolle der Radikalen Partei

Die letzten Kantonalwahlen ergaben die Resultate, die man erwarten konnte und musste: Gewonnen haben die Flanken, d. h. die Reaktionäre und der Arbeiterblock, verloren hat das Zentrum, d. h. die Radikalen. Gewinne wie Verluste sind jedoch bislang unerheblich. Wären es Parlamentswahlen gewesen, so würden dieselben Erscheinungen zweifellos beträchtlicheres Ausmaß angenommen haben. Die eingetretenen Verschiebungen besitzen für uns keinerlei Bedeutung an sich, sondern nur als Symptome des Wechsels in der Massenstimmung.

Sie zeigen, dass das kleinbürgerliche Zentrum bereits zugunsten der beiden extremen Lager zu schmelzen begonnen hat. Das heißt, die Reste des parlamentarischen Regimes werden immer mehr unterhöhlt, die extremen Lager werden wachsen, ihr Zusammenprall heranrücken. Es ist unschwer zu begreifen, warum dieser Prozess völlig unabwendbar ist.

Die Radikale Partei ist die Partei, mit deren Hilfe die Großbourgeoisie die Hoffnungen des Kleinbürgertums auf eine allmähliche und friedliche Besserung seiner Lage aufrechterhielt. Diese Rolle der Radikalen war nur so lange möglich, wie die wirtschaftliche Lage des Kleinbürgertums leidlich tragbar blieb, solange es nicht dem Massenruin preisgegeben war, solange es die Hoffnung auf die Zukunft bewahrte. Zwar ist das Programm der Radikalen stets ein leeres Stück Papier geblieben. Irgendwelche ernsthaften Sozialreformen zugunsten der Werktätigen haben die Radikalen nie durchgeführt, noch durchführen können. Das hätte ihnen die Großbourgeoisie nicht erlaubt, in deren Händen alle wirklichen Hebel der Macht sind: Banken und Börse, die große Presse, die höhere Bürokratie, Diplomaten, Generäle.

Aber mit einigen kleinen Almosen, die die Radikalen, vor allem in der Provinz, von Zeit zu Zeit für ihre Kundschaft aushandelten, erhielten sie die Illusionen der Volksmassen aufrecht. So ging es bis zur letzten Krise. Jetzt wird es selbst dem rückständigsten Bauern klar, dass es sich nicht um eine jener gewöhnlichen, bald vorübergehenden Krisen handelt, wie es sie vor dem Krieg häufig gab, sondern um eine Krise der gesamten Gesellschaftsordnung. Kühne und entschiedene Maßnahmen tun not. Welche? Das weiß der Bauer nicht. Niemand hat ihm gesagt, was ihm hätte gesagt werden sollen.

Der Kapitalismus hat die Produktionsmittel bis zu einer solchen Höhe entwickelt, dass das Elend der von demselben Kapitalismus zugrunde gerichteten Volksmassen sie lahmlegt. Damit ist das gesamte System in eine Periode des Verfalls, der Zersetzung, der Fäulnis eingetreten. Der Kapitalismus kann nicht nur den Werktätigen keine neuen sozialen Reformen oder auch nur kleine Almosen mehr geben, sondern ist gezwungen, selbst die alten wieder wegzunehmen. Ganz Europa ist in eine Epoche der wirtschaftlichen und politischen Konterreformen getreten. Die Politik der Ausplünderung und Erstickung der Massen ist nicht eine böse Laune der Reaktion, sondern Folge der Zersetzung des kapitalistischen Systems. Das ist die Grundtatsache, die sich jeder Arbeiter zu eigen machen muss, wenn er nicht mit hohlen Phrasen betrogen werden will.

Genau deshalb zerfallen in ganz Europa die demokratischen reformistischen Parteien und verlieren eine nach der anderen ihre Kräfte. Dasselbe Schicksal erwartet auch die französischen Radikalen. Nur komplette Hohlköpfe können glauben, Daladiers Kapitulation oder Herriots Dienstfertigkeit vor der extremen Reaktion seien das Ergebnis zufälliger, zeitweiliger Ursachen oder des Mangels an Charakter dieser kläglichen Führer. Nein! Große politische Erscheinungen müssen stets tiefe soziale Ursachen haben. Der Verfall der demokratischen Parteien ist eine universale Erscheinung, die im Verfall des Kapitalismus selbst wurzelt. Die Großbourgeoisie spricht zu den Radikalen: »Jetzt ist Schluss mit Scherzen! Wenn ihr nicht aufhört, mit den Sozialisten zu kokettieren, mit dem Volk zu liebäugeln und ihm Wunderdinge zu versprechen, dann rufe ich die Faschisten! Und passt auf, der 6. Februar war nur eine Warnung!« Worauf das radikale Kamel sich auf alle Viere niederlässt. Etwas anderes bleibt ihm auch nicht übrig.

Aber der Radikalismus ist auf diese Weise nicht zu retten. Vor den Augen des gesamten Volkes sein Schicksal an das der Reaktion kettend, beschleunigt er unvermeidlich sein Verderben. Der Stimmen- und Mandatsverlust bei den Kantonalwahlen ist nur ein Anfang. Künftig wird sich der Prozess des Zusammenbruchs der Radikalen Partei immer rascher vollziehen. Die ganze Frage ist nur, wem dieser unaufhaltsame und unvermeidliche Zusammenbruch zugutekommen wird – der proletarischen Revolution oder dem Faschismus?

Wer wird eher, breiter, kühner den Mittelklassen das überzeugendere Programm bieten, und – das ist das Wichtigste – wer wird ihr Vertrauen erwerben, indem er ihnen mit Wort und Tat seine Fähigkeit beweist, allen Widerstand auf dem Wege zur besseren Zukunft zu brechen: der revolutionäre Sozialismus oder die faschistische Reaktion?

Von dieser Frage hängt das Schicksal Frankreichs auf Jahre hinaus ab. Nicht nur Frankreichs, sondern ganz Europas. Nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt.

Die »Mittelklassen«, die Radikale Partei und der Faschismus
5. Die »Mittelklassen«, die Radikale Partei und der Faschismus

Seit dem Sieg der Nazis in Deutschland hat man in den Parteien und Gruppen der französischen »Linken« viel über die Notwendigkeit geredet, sich enger an die »Mittelklassen« zu halten, um dem Faschismus den Weg zu versperren. Die Fraktion von Renaudel & Co. trennte sich von der Sozialistischen Partei mit dem speziellen Ziel, dichter bei den Radikalen zu bleiben. Aber zur selben Stunde, als Renaudel, der von den 1848er Ideen lebt, Herriot beide Hände hinstreckte, waren diesem die seinen genommen: Die eine Hand hielt Tardieu, die andere Louis Marin.

Daraus jedoch folgt nicht im Mindesten, dass die Arbeiterklasse dem Kleinbürgertum den Rücken kehren und es seinem Schicksal überlassen dürfe. Oh nein! Sich dem Bauern und dem kleinen Mann der Stadt nähern, sie auf unsere Seite zu ziehen, ist unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus, von der Machteroberung gar nicht zu reden. Es ist nur nötig, die Aufgabe richtig zu stellen. Dazu aber heißt es klar begreifen, welches die Natur der »Mittelklassen« ist. Nichts in der Politik ist gefährlicher, vor allem in einer kritischen Periode, als allgemeine Formeln herzusagen, ohne ihren sozialen Inhalt zu untersuchen.

Die derzeitige Gesellschaft besteht aus drei Klassen: der Großbourgeoisie, dem Proletariat und den »Mittelklassen« oder dem Kleinbürgertum. Die Beziehungen zwischen diesen drei Klassen bestimmen letzten Endes auch die politische Lage des Landes. Die Grundklassen der Gesellschaft sind die Großbourgeoisie und das Proletariat. Nur diese beiden Klassen können eine klare und konsequente selbstständige Politik führen. Das Kleinbürgertum zeichnet sich durch seine wirtschaftliche Unselbstständigkeit und soziale Ungleichförmigkeit aus. Seine oberen Schichten gehen unmittelbar in die Großbourgeoisie über. Die unteren Schichten verschmelzen mit dem Proletariat und sinken selbst in den Zustand des Lumpenproletariats hinab. Seiner wirtschaftlichen Lage entsprechend, kann das Kleinbürgertum keine eigene Politik haben. Stets wird es zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern hin- und herschwanken. Seine eigene Oberschicht stößt es nach rechts; seine unteren, unterdrückten und ausgebeuteten Schichten vermögen unter gewissen Umständen schroff nach links zu schwenken. Diese widerspruchsvollen Beziehungen der verschiedenen Schichten der »Mittelklassen« bestimmen die stets konfuse und ganz und gar haltlose Politik der Radikalen: ihr Schwanken zwischen dem Kartell mit den Sozialisten, um die Basis zu beruhigen, und dem nationalen Block mit der kapitalistischen Reaktion, um die Bourgeoisie zu retten. Die endgültige Zersetzung des Radikalismus beginnt in dem Augenblick, wo die Großbourgeoisie, selber in der Sackgasse, ihm keine Schwankungen mehr gestattet.

Das Kleinbürgertum, in Gestalt der dem Ruin entgegengehenden Massen von Stadt und Land, beginnt die Geduld zu verlieren. Seine Haltung den eigenen Oberschichten gegenüber wird immer feindseliger, es überzeugt sich in der Tat von dem Unvermögen und der Treulosigkeit seiner politischen Führerschaft. Der arme Bauer, der Handwerker, der kleine Krämer überzeugen sich in der Praxis, dass ein Abgrund sie trennt von all diesen Bürgermeistern, Rechtsanwälten, politischen Geschäftemachern vom Schlage der Herriot, Daladier, Chautemps & Co., die ihrer Lebensweise und ihren Auffassungen nach Großbürger sind. Eben dieser Enttäuschung des Kleinbürgertums, seiner Ungeduld, seiner Verzweiflung bedient sich der Faschismus. Die faschistischen Agitatoren brandmarken und verfluchen die parlamentarische Demokratie, die Karrieristen und Bestechlichen hilft, dem kleinen Arbeitenden aber nichts bringt. Sie, diese Demagogen, schütteln die Faust gegen die Bankiers, Großkaufleute, Kapitalisten. Ihre Worte und Gebärden entsprechen ganz den Gefühlen des in eine ausweglose Lage geratenen Kleinbesitzers. Die Faschisten zeigen sich kühn, gehen auf die Straße, greifen die Polizei an, versuchen mit Gewalt das Parlament auseinanderzujagen. Das imponiert dem in Verzweiflung geratenen Kleinbürger. Er sagt sich: »Die Radikalen, bei denen sind zu viele Halunken, die haben sich endgültig den Bankiers verkauft; die Sozialisten versprechen seit Langem, die Ausbeutung abzuschaffen, aber nie gehen sie vom Wort zur Tat über; die Kommunisten kann man schon überhaupt nicht verstehen: heute so, morgen anders; man muss doch probieren, ob nicht vielleicht die Faschisten helfen.«

Ist der Übergang der Mittelklassen ins Lager des Faschismus unvermeidlich?
6. Ist der Übergang der Mittelklassen ins Lager des Faschismus unvermeidlich?

Renaudel, Frossard und Ähnliche wenden ein, das Kleinbürgertum sei am meisten der Demokratie zugetan und werde eben darum mit den Radikalen gehen. Welch ungeheurer Irrtum! Die Demokratie ist nur eine politische Form. Das Kleinbürgertum kümmert sich nicht um die Schale der Nuss, sondern um ihren Kern. Es sucht Rettung vor Elend und Verderben. Stellt sich die Demokratie als ohnmächtig heraus – zum Teufel mit der Demokratie! So denkt oder fühlt jeder Kleinbürger.

Die wachsende Empörung der unteren Schichten des Kleinbürgertums gegen seine eigenen oberen »gebildeten« Schichten in Gemeinde, Kanton und Parlament, das ist die soziale und politische Hauptquelle des Faschismus. Hinzu kommt der Hass der von der Krise beiseitegeschleuderten akademischen Jugend gegen die wohlsituierten Rechtsanwälte, Professoren, Abgeordneten und Minister. Auch hier lehnen sich folglich die unteren Schichten der kleinbürgerlichen Intelligenz gegen ihre Spitzen auf.

Bedeutet das, dass das Hinüberwechseln des Kleinbürgertums zum Faschismus unvermeidlich, unabwendbar ist? Nein, eine solche Schlussfolgerung wäre schmählicher Fatalismus. Was wirklich unvermeidlich, unabwendbar ist, das ist der Untergang des Radikalismus und all jener politischen Gruppierungen, die ihr Geschick an das seine heften.

Unter den Bedingungen des kapitalistischen Verfalls ist für eine Partei demokratischer Reformen und des »friedlichen« Fortschritts kein Platz mehr. Welchen Weg auch immer die zukünftige Entwicklung Frankreichs gehen wird, der Radikalismus wird jedenfalls von der Bildfläche verschwinden, verworfen und bespien vom Kleinbürgertum, das er endgültig verraten hat.

Dass unsere Voraussage der Wirklichkeit entspricht, davon wird sich jeder bewusste Arbeiter von nun ab aufgrund der Tatsachen und der Erfahrung täglich überzeugen. Neue Wahlen werden den Radikalen Niederlagen bringen. Schicht für Schicht werden die Volksmassen unten, Gruppen erschrockener Karrieristen oben wegbrechen. Austritte, Spaltungen und Verrat werden einander in ununterbrochener Reihe folgen. Keine Manöver und Blöcke werden die Radikale Partei retten. Sie wird die »Partei« der Renaudel, Déat & Co. mit sich in den Abgrund reißen. Das Ende der Radikalen Partei ist die unabwendbare Folge der Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft ihrer Schwierigkeiten mithilfe der sogenannten demokratischen Methoden nicht mehr Herr zu werden vermag. Die Spaltung zwischen den unteren Schichten des Kleinbürgertums und den Spitzen ist unabwendbar.

Aber das bedeutet keineswegs, dass die dem Radikalismus folgenden Massen ihre Hoffnungen unfehlbar auf den Faschismus übertragen müssten. Zwar hat der verkommenste, deklassierteste und gierigste Teil der Mittelklassejugend seine Wahl bereits in dieser Richtung getroffen. Vornehmlich aus diesem Reservoir formieren sich die faschistischen Banden. Aber die breiten Kleinbürgermassen von Stadt und Land stehen noch vor der Wahl. Sie schwanken vor der großen Entscheidung. Eben weil sie schwanken, fahren sie bisher noch fort, doch bereits ohne Zutrauen, für die Radikalen zu stimmen. Dieser Zustand des Schwankens, des Sich-Bedenkens wird indessen nicht Jahre, sondern Monate dauern.

Die politische Entwicklung wird in der kommenden Periode fieberhaftes Tempo annehmen. Das Kleinbürgertum wird die Demagogie des Faschismus nur in dem Falle von sich weisen, wenn es an die Wirklichkeit des anderen Weges glaubt. Der andere Weg aber, das ist der Weg der proletarischen Revolution.

Ist es wahr, dass das Kleinbürgertum die Revolution fürchtet?
7. Ist es wahr, dass das Kleinbürgertum die Revolution fürchtet?

Parlamentarische Routiniers, die sich für Kenner des Volkes halten, pflegen immer wieder zu sagen: »Man darf die Mittelklassen nicht mit der Revolution schrecken, sie lieben das Extreme nicht.« In solch allgemeiner Form ist diese Behauptung vollkommen falsch. Natürlich ist der Kleineigentümer für die Ordnung, solange seine Geschäfte leidlich gehen und solange er hofft, dass sie morgen besser gehen werden.

Ist aber diese Hoffnung dahin, so gerät er leicht in Wut und ist bereit, auf die extremsten Maßnahmen einzugehen. Wie hätte er sonst in Italien und Deutschland den demokratischen Staat stürzen und dem Faschismus zum Sieg verhelfen können? Der verzweifelnde Kleinbürger sieht im Faschismus vor allem eine Kampfkraft gegen das Großkapital und glaubt, zum Unterschied von den Arbeiterparteien, die sich nur mit dem Mundwerk betätigen, werde der Faschismus die Faust in Bewegung setzen, um mehr »Gerechtigkeit« zu schaffen. Und der Bauer und der Handwerker sind auf ihre Art Realisten: Sie verstehen, dass man ohne die Faust mit der Sache nicht fertig werden wird.

Es ist falsch, dreimal falsch, zu behaupten, das heutige Kleinbürgertum gehe nicht mit den Arbeiterparteien, weil es »extreme Maßnahmen« scheue. Ganz im Gegenteil. Die unteren Schichten des Kleinbürgertums, seine breiten Massen, sehen in den Arbeiterparteien nur Parlaments­maschinen, trauen nicht der Kraft der Arbeiterparteien, ihrer Kampffähigkeit, ihrer Bereitschaft, diesmal den Kampf bis ans Ende zu führen. Ist dem aber so, lohnt es dann, den Radikalismus durch seine linken parla­mentarischen Spießgesellen zu ersetzen? So urteilt oder fühlt der halb enteignete, ruinierte und in Empörung versetzte Eigentümer. Ohne Verständnis für diese Psychologie der Bauern, Handwerker, Angestellten, kleinen Beamten usw. – eine Psychologie, die sich aus der sozialen Krise ergibt – ist es unmöglich, die richtige Politik auszuarbeiten.

Das Kleinbürgertum ist wirtschaftlich abhängig und politisch zerstückelt. Es kann darum nicht selbstständig Politik machen. Es braucht einen »Führer«, der ihm Vertrauen einflößt. Diesen individuellen oder kollektiven Führer, d. h. eine Person oder eine Partei, kann ihm eine der beiden Hauptklassen liefern, entweder die Großbourgeoisie oder das Proletariat. Der Faschismus eint und bewaffnet die zerstreuten Massen; aus »menschlichem Staub« schafft er Kampfabteilungen. Damit gibt er dem Kleinbürgertum die Illusion, dass es eine selbstständige Kraft sei. Es beginnt sich einzubilden, dass es wirklich den Staat kommandieren werde. Kein Wunder, wenn ihm die Hoffnungen und Illus