Die Witwe Couderc - Georges Simenon - E-Book

Die Witwe Couderc E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Fünf Jahre lang hat Jean im Gefängnis gesessen. Nun steht er auf der Straße und weiß nicht wohin. Bis Tati Couderc sich seiner annimmt. Sie lässt ihn nicht nur in ihr Haus, sondern auch in ihr Bett. Jean, der 28-jährige Sohn aus gutem Hause, der zum Mörder geworden ist, und Tati, die verwitwete Bäuerin von 45 Jahren, werden ein Paar, ein ungleiches Paar – aber es geht ihnen gut miteinander. Viele Worte machen sie nicht und kommen sich doch immer näher. Und so könnte es ewig bleiben – wären da nicht die anderen: Tatis Familie, die ihr nichts gönnt, weder das Dach über dem Kopf noch den jungen Mann, und die schöne Félicie, blutjung, unverfroren und gierig. Und so zieht das Misstrauen ein in diese Beziehung, und es kommt zur unausweichlichen Tragödie. 1971 mit Simone Signoret und Alain Delon in den Hauptrollen verfilmt.

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Band 46

Georges Simenon

Die Witwe Couderc

Roman

Mit einem Nachwort von Paul Theroux

Aus dem Französischen von Hanns Grössel

Kampa

1

Er ging. Er war allein, und vor ihm erstreckten sich mindestens drei Kilometer Landstraße, die alle zehn Meter vom schräg laufenden Schatten eines Baumstammes unterteilt wurde. Mit großen Schritten, doch ohne sich zu beeilen, ging er von einem Schatten zum anderen. Da es kurz vor Mittag war und die Sonne sich dem Scheitelpunkt näherte, glitt ein kurzer, lächerlich gedrungener Schatten vor ihm her.

Die Landstraße stieg gerade bis zum Gipfel des Hügels an, wo sie unvermittelt aufzuhören schien. Links im Wald hörte man ein Knacken. Rechts, weiter weg in den weich wogenden Feldern, war ein Pferd zu sehen, ein Schimmel, der ein auf Räder montiertes Fass zog, und im selben Feld eine Vogelscheuche, die vielleicht ein Mensch war.

Eben fuhr der rote Bus aus Saint-Amand hinaus, wo Markttag war, bahnte sich unter Gehupe seinen Weg durch die endlos lange Dorfstraße mit den weißen Häusern hinaus auf die von Ulmen gesäumte Landstraße. Er las noch eine Bäuerin auf, die zum Schutz gegen die Sonne ihren Regenschirm aufgespannt hatte. Es war kein Sitzplatz mehr frei. Die Bäuerin dachte nicht daran, ihre beiden Körbe abzustellen, und nun stand sie schwankend und mit starren Augen zwischen den Bänken, wie eine kranke Henne.

»Jeanine, die in der Nachbarloge war, hat es mir erzählt. Es wäre regelrecht eklig gewesen, hat sie gesagt … Und bis Jeanine sich vor etwas ekelt! …«

Der Fahrer mit seiner Uniformmütze und seiner etwas schief sitzenden malvenfarbenen Krawatte saß ungerührt am Steuer, den Blick auf die dunklen Linien geheftet, welche die Landstraße in Streifen zerlegten. »Rauchen verboten«, stand auf einem kleinen Schild. Die Zigarette, die zwischen seinen Lippen klebte, war ausgegangen.

»Das kann man wohl sagen …«, meinte er beiläufig und wie ein Mann, der weiß, was er sagt.

Das dicke Mädchen, das sich eine Viertelstunde vor Abfahrt des Busses ganz vorn neben ihn gesetzt hatte, redete weiter, zwischendurch entfuhr ihr ein leises Glucksen:

»Léon war da, der Friseurgehilfe … Dann Lolotte … Dann ein Junge aus Montluçon, der in der Flugzeugfabrik arbeitet … Dann Rose …«

»Welche Rose?«

»Die müssen Sie kennen … Sie fährt jeden Tag mit dem Fahrrad die Landstraße entlang … Sie ist die Tochter des Schlachters aus Tilly … So eine Dicke mit roten Backen und Glupschaugen und zu kurzen Kleidern … Sie fährt nach Saint-Amand, um Maschineschreiben und Stenographie zu lernen … Ein richtiges Luder!«

Hühner, Enten regten sich in den Körben. Vierzig Frauen, vielleicht auch mehr, alle in Schwarz, saßen dichtgedrängt auf den Bänken und blickten stumm vor sich hin, während ihre Köpfe im Fahrtrhythmus hin und her ruckelten und ihre Oberkörper manchmal nach vorn geschleudert wurden.

Zehn, neun, acht Kilometer vor ihnen lief noch immer der Mann, und er lief wie einer, der kein Ziel hat und an nichts denkt. Er hatte kein Gepäck, keine Pakete, keinen Spazierstock, nicht einmal einen Stecken. Seine Arme schwangen frei.

»Léon hat im Dunkeln mit Lolotte rumgemacht, und die hat so laut gelacht, dass alle im Kino ›Pscht!‹ gemacht haben …«

Der dicke rote Bus wurde von einem grauen Auto überholt. Es waren keine Leute aus der Gegend. Sie kamen von weit her und hatten es noch weit. Das Auto fuhr schnell, trotz der beginnenden Steigung. Der Mann, der lief, hörte es, während er im selben Tempo weiterlief, drehte nur ein wenig den Kopf und hob ohne Überzeugung einen Arm.

Das Auto hielt nicht an. Die Frau, die neben dem Fahrer saß, fragte:

»Was wollte der?«

Sie drehte sich um, sah eine lange Silhouette, die immer noch vom Schatten des einen zum Schatten des darauffolgenden Baumes ging, dann hatte das Auto die Hügelkuppe erreicht und fuhr auf der anderen Seite hinunter.

Der Bus folgte mit laut brummendem Motor, weil der Fahrer einen niedrigeren Gang eingelegt hatte. Der Bus vibrierte heftig. Die Witwe Couderc, die hinter dem Fahrer saß, blickte besorgt zum Dach hoch, auf dem man Gepäckstücke poltern hörte.

Der Mann, der lief, hob abermals den Arm. Der Bus hielt genau auf seiner Höhe an. Ohne seinen Sitz zu verlassen, öffnete der Fahrer mit einer vertrauten Handbewegung die Wagentür.

»Wohin?«

Der Mann blickte um sich und murmelte ganz selbstverständlich:

»Ganz gleich. Wohin fahren Sie?«

»Nach Montluçon …«

»Gut …«

»Montluçon? Acht Franc …«

Der Bus fuhr wieder an. Im Stehen durchwühlte der Mann seine Taschen, holte daraus ein Fünffrancstück hervor, dazu eine Marke im Wert von zwei Franc, dann kramte er zuversichtlich in den anderen Taschen und förderte noch fünfzig Centime hervor.

»Da! Das sind sieben Franc fünfzig. Ich werde kurz vor Montluçon aussteigen …«

Die Frauen, die vom Markt zurückkamen, sahen ihn an. Die Witwe Couderc sah ihn ebenfalls an, wenn auch anders als die anderen. Das Mädchen vorn neben dem Fahrer drehte sich zu ihm um, denn Männer dieses Schlages kannte sie noch nicht.

Der Bus rumpelte mühsam die Anhöhe hinauf. Durch die offenen Fenster drang der Fahrtwind herein. Der Witwe Couderc hing eine Haarsträhne in die Stirn, ihr hochgestecktes Haar begann sich aufzulösen, und unter ihrem Kleid sah ein rosa Unterrock – in einem merkwürdig bläulichen Rosaton – hervor.

Glockengeläut, aber weit und breit keine Kirche. Es musste Mittag sein. Am Rand der Landstraße sah man ein Haus, und eine Frau stieg aus dem Autobus – direkt vor einer Türschwelle, auf der zwei Kinder saßen.

War es nicht erstaunlich, dass von den vierzig Frauen nur die Witwe Couderc den Mann mit anderen Augen ansah, als man einen x-beliebigen Mitreisenden ansieht? Die anderen waren friedlich wie Kühe auf einer Wiese, die sorglos weiterweiden, wenn zwischen ihnen plötzlich ein Wolf auftaucht.

Und doch war er ein Mann, wie sie noch keinen im Bus gesehen hatten, wenn sie samstags zum Markt fuhren. Die Couderc hatte das sofort begriffen. Sie hatte ihn den Arm heben und dem Auto zuwinken sehen, bevor er den Autobus anhielt. Ihr waren seine leeren Hände aufgefallen, denn für gewöhnlich läuft man nicht ziellos und mit leeren Händen die Landstraßen entlang.

Während sie weiterhin die Ohren spitzte und sorgenvoll zum Busdach hochblickte, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Sie registrierte alles: seine schlechtrasierten Wangen, seine hellen Augen, die nichts ansahen, seinen grauen abgetragenen und trotzdem irgendwie lässigen Anzug und seine feinen Schuhe, mit denen er sich bestimmt geräuschlos und geschmeidig wie eine Katze anschleichen konnte. Nach den sieben Franc fünfzig zu schließen, die er dem Fahrer für eine blaue Fahrkarte gegeben hatte, war er nun völlig abgebrannt.

Der Mann starrte zurück, mit zusammengekniffenen Augen, wie um sie besser sehen zu können, und einmal kräuselte sich seine Oberlippe, als lächelte er in sich hinein. War es der Knubbel der Couderc, der ihn erheiterte? Alle sagten »der Knubbel« zu dem Fünffrancstück großen Fleck auf ihrer linken Wange; er war von tausend seidigen braunen Härchen bedeckt, als hätte man ein Stück Tierfell dorthin übertragen, beispielsweise von einem Iltis.

Inzwischen hatte der Bus die Anhöhe bereits hinter sich und fuhr bergab; hinter den Bäumen nahm man bisweilen den Cher wahr, dessen schnellfließendes Wasser über die Steine sprang.

Auch die Couderc musste ein Lächeln unterdrücken. Der Mann klimperte mit den Wimpern. Ein wenig war es so, als hätten sie einander zwischen all den Marktweibern mit den ruckelnden Köpfen erkannt.

Beinahe hätte die Couderc die Stelle verpasst, wo sie aussteigen wollte. Sie merkte plötzlich, dass sie den Fuß der Anhöhe erreicht hatten. Sie beugte sich vor, tippte dem Fahrer auf den Rücken, worauf dieser bremste.

»Sie müssen mal bei meinem Brutapparat mit anpacken!«, sagte sie.

Sie war klein und breit, ziemlich mollig. Mit all ihren Körben aus dem Wagen zu steigen war keine Kleinigkeit, denn erst wollte sie selbst aussteigen, doch dann wollte sie zuerst ihre Körbe auf die Straße stellen.

Der Fahrer sprang hinaus. Die vierzig Frauen im Bus blickten ihr schweigend hinterher. Nicht weit entfernt stand ein kleines Haus, ein winziges Häuschen mit einem blaugestrichenen Zaun drum herum.

»Vorsicht, dass nichts kaputtgeht … Diese Sachen sind zerbrechlich! …«

Der Fahrer hatte sich über die eiserne Leiter am Heck des Busses aufs Dach hinaufgeschwungen und ließ nun eine riesige Kiste mit vier Füßen herunter, welche die Couderc packte und behutsam an den Straßenrand stellte.

Sie suchte ein Zweifrancstück aus einer vollen Geldbörse hervor, reichte es ihm:

»Da, mein Junge …«

Doch sie sah nicht den Fahrer an, sondern den Mann von der Straße, und zwar mit einem Anflug von Bedauern.

Der Bus fuhr wieder an. Durch die Heckscheibe sah der Mann die Couderc neben ihrem riesigen Kasten und ihren Körben am Straßenrand stehen.

»Wie ihre Nichte«, sagte das dicke Mädchen vorn neben dem Fahrer. »Kennen Sie Félicie? …«

Der Mann hätte sich hinsetzen können, denn jetzt war ein Platz frei. Doch er blieb stehen. Die Straße machte einen Knick. Die Couderc und das kleine Haus verschwanden aus dem Blickfeld. Da beugte er sich vor und berührte den Fahrer an der Schulter.

»Können Sie mich hier rauslassen?«

Alle Köpfe wandten sich um, als der Bus wieder anfuhr, alle schauten zu, wie er sich in die Gegenrichtung entfernte, und das Mädchen sagte zum Fahrer:

»Komischer Kerl!«

Er war bereits weiter weg, als er geglaubt hatte. Er musste mehrere Minuten gehen, bis er erneut das kleine Haus entdeckte, die Pakete am Straßenrand, die Couderc, die das Zauntor geöffnet hatte und an eine Haustür klopfte.

Ohne Verwunderung sah sie ihn kommen. Als er stehen blieb, kam sie an den Zaun zurück.

»Ich dachte, die Bichat wäre zu Hause und würde mir ihre Schubkarre leihen!«, sagte sie. »Und jetzt ist alles zu!«

Dennoch rief sie mit schriller Stimme nach verschiedenen Richtungen:

»Clémence! … Clémence! …«

Dann:

»Wo steckt sie bloß? Sie geht sonst nie weg. Sie hat wohl schlechte Nachrichten von ihrer Schwester bekommen …«

Sie ging ums Haus herum, fand die Hintertür ebenfalls verschlossen.

»Wenn ich bloß ihre Schubkarre finden könnte! …«

Aber es gab ein Gemüsebeet und ein paar Blumenrabatten, doch keine Schubkarre. In einem Käfig gurrte eine Turteltaube.

»Ist es weit bis zu Ihnen?«, erkundigte sich der Mann.

»Sechshundert Meter, unten beim Kanal … Ich hatte fest mit der Schubkarre von Clémence gerechnet …«

»Soll ich mit anfassen?«

Sie sagte nicht Nein. Sie hatte es erwartet.

»Glauben Sie, dass Sie den Brutapparat ganz alleine tragen können? Vorsicht, er ist zerbrechlich …«

Immer wieder warf sie ihm neugierige, zufriedene Blicke zu.

»Es war ein Sonderangebot … Ich habe ihn beim Blechschmied gesehen, der gleich vorne am Marktplatz seine Werkstatt hat … Ich habe ihm zweihundert Franc geboten … Erst ganz zuletzt, ich wollte schon in den Bus steigen, hat er ihn mir für dreihundert gelassen … Ist er nicht zu schwer?«

Er war sperrig, aber nicht schwer. In dem Kasten klapperte es.

»Vorsicht, da ist eine Lampe drin …«

Sie folgte ihm mit ihren Körben. Sie schlugen einen von Haselnusssträuchern gesäumten Seitenweg ein, mit einem weichen Bodenbelag, wie in einem Wald.

Auf die Stirn des Mannes traten Schweißtropfen.

»Sie suchen Arbeit, stimmt’s?«, fragte sie ihn und versuchte ihn mit ein paar raschen Schritten einzuholen.

Er antwortete nicht. Das Hemd klebte ihm am Leib, und wegen seiner schweißnassen Hände hatte er Angst, dass ihm der Apparat entgleiten könnte.

»Warten Sie, ich mach Ihnen die Tür auf …«

Doch die Tür stand bereits offen, und dahinter erahnte man eine geräumige Küche, wenn man auch im Halbdunkel drinnen zunächst nichts sah.

»Stellen Sie’s hier ab … Gleich werden wir …«

Eine fuchsrote Katze rieb sich an ihren Beinen. Sie stellte die Körbe auf einen weißen Holztisch. Dann öffnete sie eine zweite Tür, und die Sonne, die in den Garten schien, flutete in den Raum. Im Vorbeigehen nahm der Mann ihren Achselschweiß wahr.

»Setzen Sie sich einen Augenblick … Ich gebe Ihnen einen Schluck Wein …«

Was stimmte nicht? Sie war unruhig wie ein Tier, das in seinen Bau zurückkehrt und fremde Ausdünstungen wittert. Sie entdeckte einen winzigen Fettfleck auf der Tischplatte, hob den Blick zu den beiden Schinken, die an einem Dachbalken hingen, und plötzlich funkelten ihre Augen zornig.

»Warten Sie! … Bleiben Sie sitzen! …«

Sie eilte in den Garten hinaus, der aussah wie der Innenhof eines Bauerngutes, mit einem Misthaufen, einer Karre, die auf ihren Deichseln ruhte, mit Hühnern, Gänsen, Enten.

Er stellte sich in den Türrahmen und blickte ihr nach. Sie ging zielstrebig, und er merkte, dass jemand anderer vor ihr herlief, und zwar fluchtartig, ein mageres junges Mädchen von etwa sechzehn Jahren, das ein Kind auf dem Arm trug.

Das Mädchen ging auf einen Zaun zu, hinter dem man einen Kanal und eine Zugbrücke erahnte. Sie rannte. Die Couderc holte sie trotzdem ein, und man sah sie heftig und wütend auf das Mädchen einreden, auch wenn man sie nicht hörte.

Die eine Hand des jungen Mädchens hielt den Säugling. Die andere war unter der blaukarierten Schürze versteckt.

Diese zweite Hand holte die Couderc hervor und entriss ihr ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen.

Dann rief sie der fliehenden Halbwüchsigen etwas nach – offensichtlich Beschimpfungen! – und knallte das Zauntor zu. Mit dem Päckchen in der Hand kam sie zum Haus zurück. Sie öffnete eine Tür, die in einen Schuppen führte, und ließ einen Mann heraus, der nun vor ihr herging, der ein Bein nachzog und den Kopf gesenkt hielt.

»Dieses Miststück!«, erklärte sie, als sie in die Küche zurückkam und das Päckchen, das zwei dicke Scheiben Schinken enthielt, auf den Tisch warf. »Sie hat schon wieder meine Abwesenheit ausgenutzt, ihren Großvater besucht und mir Schinken geklaut! … Sie können das nicht verstehen … Sie ist eine Schlampe! … Ein Mädchen, das sich mit sechzehn Jahren schon ein Kind hat machen lassen …«

Sie warf dem Alten einen harten Blick zu; dieser blieb in der Küche stehen und sah zu Boden.

»Trotzdem würde dieser alte Trottel da sein letztes Hemd für sie hergeben …«

Der besagte alte Trottel rührte sich nicht vom Fleck und beäugte neugierig den in graues Papier eingeschlagenen Kasten, der mitten in der Küche auf dem Boden stand.

»Stolz ist er nicht, o nein! … Er weiß genau, dass er mir das büßen wird! … Schauen Sie, was für ein Gesicht er wieder macht …«

Sie öffnete einen braungestrichenen Wandschrank, entnahm ihm zwei Gläser, zeigte sie dem Alten und drückte ihm einen Krug in die Hand.

»Er ist stocktaub, und seit er vom Heuwagen gefallen ist, kann er auch nicht mehr sprechen … Mit anderen Worten: ein Nichtsnutz … Was nicht heißt, dass er mit der Tati nicht auch sehr lieb sein kann …«

Ein verschmitztes Leuchten war in ihre Augen getreten, und sie musterte den Mann von Kopf bis Fuß.

»Tati – so werde ich von klein auf genannt, keine Ahnung, warum … Er ist Wein abfüllen gegangen … Sie sind wohl Ausländer? …«

Man hätte glauben können, sie zögere, endgültig von ihm Besitz zu ergreifen. Sie war noch etwas misstrauisch.

»Nein … Ich bin Franzose …«

»Ach was!«

Sie war enttäuscht und machte kein Hehl daraus.

»Ich hätte schwören mögen, dass Sie Ausländer sind … Manchmal kommen welche wie Sie hier vorbei … Die Chagots aus Drevant haben jahrelang einen gehabt, einen Jugoslawen, der im Stall schlief und alles konnte …«

Jetzt brummte der Mann:

»Ach was!«

»Wie heißen Sie?«

»Jean …«

Während sie redeten, hatte sie ihre Körbe ausgepackt: zwei Schürzen, Nudeln, Sardinendosen, eine Rolle schwarzes Garn, ein Päckchen mit Aufschnitt. Der Alte kam mit einem Krug voll Weißwein zurück.

»Warum setzen Sie sich nicht? … Sie wollten nach Montluçon fahren?«

»Ist nicht so wichtig …«

»Um in der Fabrik zu arbeiten, was?«

Sie hatte im Herd Holz nachgelegt und einen Topf Wasser aufgesetzt.

»Haben Sie schon mal einen Brutapparat in Gang gebracht?«

»Ich traue es mir zu …«

»Warten Sie, ich füttere erst die Tiere … Ich denke, wir könnten miteinander einig werden …«

Sie setzte sich hin, um ihre Stiefel aufzuschnüren, und schlüpfte in schwarze Holzschuhe. Der grellrosa Unterrock mit dem bläulichen Schimmer schaute unter ihrem hochgerutschten Kleid hervor, und er starrte wie gebannt auf das Stück nackten Oberschenkel.

»Trinken Sie ruhig … Schauen Sie sich den alten Trottel an, der sich nicht einzuschenken wagt, weil ich ihn mit Félicie, diesem Miststück, erwischt habe …«

Sie schenkte ihm ein. Der Alte war groß, mager, das Gesicht voll grauer Bartstoppeln, die Augen rot gerändert.

»Trink schon, Couderc!«, schrie sie ihm ins Ohr. »Aber wart’s ab, mit dem Liebsein ist erst mal Pause …«

Wie oft hatte sie bereits den Küchentisch umrundet?

Dennoch hatte sie keine Handbewegung zu viel gemacht. Die zwei Scheiben Schinken hatten in einem Wandschrank Platz gefunden. Das neugeschürte Feuer bullerte. Alle mitgebrachten Pakete waren weggeräumt, und jetzt ging sie mit einem Korb voller Körner hinaus.

»Put, put, put …«

Er sah sie im Sonnenschein neben der Schubkarre stehen, sich auf die Deichsel stützen, inmitten von mindestens hundert ausschließlich weißen Hühnern und außerdem Enten, Gänsen, Puter.

»Put, put, put …«

Sie warf die Körner Handvoll um Handvoll, als würde sie säen, aber sie war sich bewusst, dass Jean im Türrahmen stand und zusah.

Es war heiß. Die Sonne stand so hoch, dass fast kein Schatten mehr fiel. Der Alte hatte sich an seinen Platz am Kamin verzogen und blickte zu Boden.

Hinter dem Gartenzaun entdeckte Jean einen schmalen, wie ein Spielzeug angemalten Schleppkahn, der, von einem Esel getreidelt, langsam den Kanal entlangglitt. Der Kanal lag höher als der Hof, und daher fuhr das Schiff auf Kopfhöhe an ihnen vorbei. Ein rot gekleidetes kleines Mädchen mit hellblondem Haar rannte auf dem Deck umher. Eine Frau stand strickend dabei und stemmte sich mit der Hüfte gegen das Steuerruder.

»Sie können mit uns essen … Samstags machen wir keine großen Umstände, weil Markttag ist … Schauen Sie sich bloß den alten Trottel an, und sagen Sie mir, ob es nicht ein Kreuz ist mit ihm …«

Sie deckte den Tisch. Geblümtes Steingutgeschirr, dicke Gläser ohne Fuß. Sie machte eine Dose Ölsardinen auf. Auch Sülze gab es und einige Scheiben andouille.

»Wollen Sie ein Omelett?«

»Ja …«

Sie hatte erwartet, er würde aus Höflichkeit Nein sagen, und nun wunderte sie sich und lächelte verstohlen.

Der Alte kam an den Tisch und zog sein Messer aus der Tasche. In dem verglasten Kasten der Standuhr pendelte eine große Messingscheibe hin und her. Die Katze war Jean auf den Schoß gesprungen und schnurrte schon.

»Werfen Sie sie hinunter, wenn sie Sie stört … Also, Franzose sind Sie? … Ich frage Sie nicht, woher Sie kommen … Mögen Sie das Omelett leicht durchgebacken? …«

Sie folgte seinem Blick und begriff, dass er von der Vergrößerung einer Fotografie angezogen wurde, der Fotografie eines Soldaten in der Uniform der Strafbataillone.

»Das ist René, mein Sohn …«, sagte sie.

Sie schämte sich nicht darüber, dass er im Strafbataillon war. Im Gegenteil! Sie sah Jean an, als wollte sie sagen:

›Sie sehen, ich verstehe …‹

Sie aßen. Der Alte zählte nicht. Durch ein kleines Fenster, das zum Weg hinausging, fiel nur wenig Licht herein, dafür umso mehr durch die offene Tür zum Hof hin.

»Ich hatte mich gefragt, ob Sie wirklich bis nach Montluçon fahren würden …«

»Ich auch …«

»Bitte, ich komme auch allein zurecht … Couderc …«

Sie fühlte sich verpflichtet zu erklären:

»Das ist dieser alte Nichtsnutz … Der Vater meines verstorbenen Mannes … Der Sohn taugte so wenig wie der Vater … Ich sagte immer, er ist gerade gut genug dafür, unsere beiden Kühe auf die Weide zu treiben und kleinere Reparaturen auszuführen … Auch für was anderes, das Schwein! … Gucken Sie ihn sich an! … Manche behaupten, er hört mehr, als er zu erkennen gibt, aber ich weiß, dass das nicht stimmt …«

Dann brüllte sie:

»Stimmt’s, Couderc?«

Der Alte zuckte zusammen, schien aber nicht zu verstehen, beugte den Kopf tiefer über seinen Teller.

»He, Couderc, gib zu, dass du ein Schwein bist und dass du mir im Weinkeller schon aufgelauert hast, als dein Sohn noch gelebt hat! …«

Sie hatte offenbar ein Bedürfnis, darüber zu sprechen. Ihre Lippen, ihre Augen wurden feucht.

»Mögen Sie keine Sülze? … Kommen Sie von weit her?«

»Ja, von ziemlich weit …«

»Und Sie haben keinen Sou mehr in der Tasche …«

Er durchwühlte seinen Anzug. Zufällig fand er doch noch eine kleine Münze.

»Einen Sou schon …«

»Wir werden sehen … Erst einmal werden wir versuchen, den Brutapparat in Gang zu bringen … Ich wollte schon lange einen Brutapparat haben … Stellen Sie sich vor, dass man bei dem aktuellen Preis für ein Huhn fünfundsechzig auf einmal ausschlüpfen lassen kann … Weil es ein Gelegenheitskauf war, habe ich leider die Gebrauchsanweisung nicht dazubekommen … Obendrauf ist ein Messingschild, wo etwas geschrieben steht …«

Sie stand auf, um die Kaffeekanne zu holen, und trank in kleinen Schlucken ihren Kaffee, während sie ihren Gast weiterhin musterte.

»Heute früh auf dem Markt haben sicher einige gesagt:

›Die Tati ist verrückt! Was will die jetzt mit einem Brutapparat …‹«

Sie lachte.

»Was würden sie erst tratschen, wenn …«

Sie verschlang ihn mit ihren Blicken, ergriff Besitz von ihm. Sie hatte keine Angst. Ihr lag daran, ihm zu verstehen zu geben, dass sie keine Angst vor ihm hatte.

»Ein Gläschen? … Der Alte wird keins bekommen, und darüber wird er wütend sein …«

Sie brachte eine Flasche Absinth, goss ihm einen Fingerbreit ein.

»Und jetzt werden wir versuchen, ihn in Gang zu bringen … Für den Alten wird es Zeit, dass er die Kühe hüten geht, die am Treidelpfad entlang grasen … Begreifen Sie das System? … Ich weiß, dass man die Eier hier hineintut, in diese Art Schubfach … Die Lampe wird wohl hier in der Ecke da aufgehängt … Was steht auf dem Schild?«

Konnte sie etwa nicht lesen? Gut möglich. Oder sie sah nicht mehr gut und konnte deshalb die kleine Schrift nicht lesen.

Die Temperatur auf neununddreißig Grad bringen und sie während der einundzwanzig Tage Brutzeit konstant halten …

»Wie weiß man, wann es neununddreißig Grad sind?«

»Durch das Thermometer …«

Beide hockten sie vor dem Apparat. Es war heiß. Der Schweiß trat ihnen aus allen Poren.

»Zeigen Sie mir, wo das ist, neununddreißig Grad …«

»Zum Probieren brauchte man Petroleum …«

»Ich habe welches … Warten Sie …«

Sie holte welches aus dem Schuppen, säuberte den Docht, zündete die Lampe an.

»Sind Sie sicher, dass es an diese Stelle muss?«

Der Autobus war, inzwischen fast leer, in Montluçon angekommen, nachdem er die Marktweiber – eine nach der anderen – an der Landstraße abgesetzt hatte. Der Fahrer nahm im Saal eines kleinen Restaurants einen Imbiss ein; um vier Uhr würde er wieder zurückfahren.

Auf dem kaum sechs Meter breiten Canal du Berry, der mal am Cher entlang verlief, sich mal von ihm entfernte und Montluçon mit Saint-Amand verband, fuhren Spielzeug-Schleppkähne, und manchmal versperrten Spielzeug-Brücken und Spielzeug-Zugbrücken den Kanal, die man selbst betätigen musste, indem man an einer Kette zog.

Es war Ende Mai. Die Stachelbeeren waren reif. Die Erdbeeren würden auch bald so weit sein. In einer Ecke des Gartens war ein breites Beet mit Saubohnen.

»Wenn sie sagen, man soll Wasser hineingießen, dann muss man auch welches hineingießen!«

Tati war argwöhnisch. Jean suchte. Wohin musste man dieses Wasser gießen, das den Brutapparat feucht halten sollte?

Er hatte seine Jacke ausgezogen. Sein feines blau-weiß gestreiftes Hemd war an den Manschetten und am Kragen abgetragen.

Er war mager, und doch war sein Gesicht merkwürdig gedunsen.

»Wir werden ja sehen«, sagte er. »Wenn in ein paar Minuten die Temperatur auf neununddreißig ansteigt …«

»Ich habe schon Eier bereitgelegt … Nur Leghorn … Wo wollen Sie heute Abend schlafen?«

Er lächelte, was bewies, dass er begriffen hatte. Seit dem Autobus verstanden sie einander, auch ohne Worte.

»Ich weiß nicht … Vielleicht hier? … Da! … Siebenunddreißig … Fast achtunddreißig … In ein paar Minuten …«

»Würden Sie auf dem Speicher schlafen?«

»Warum nicht?«

»Und Sie würden die Arbeit machen, die zu machen ist?«

Er ging und pflanzte sich vor dem wimmelnden Hühnerhof auf.

»Es sei denn, Sie haben Angst«, sagte er lässig und streckte sich.

»Angst wovor?«

»Sie wissen nicht, wo ich herkomme …«

»Männer haben mir noch nie Angst gemacht!«

»Und wenn doch …«

»Wenn was?«

»Wenn ich zum Beispiel aus dem Gefängnis käme?«

Man konnte glauben, sie hätte es erraten.

»Na und?«

»Was ist, wenn ich heute Nacht mit Ihren Ersparnissen abhaue?«

»Sie würden sie nicht finden …«

»Und wenn ich Sie ermorde?«

»Ich bin stärker als Sie, mein Lieber!«

»Wenn …«

»Wenn was?«

»Nichts …«

Er war jetzt nicht mehr so ausgelassen wie vorher. Er sah sie fast ernst an.

»Sie sind eine komische Frau … Sagen Sie mal! … Der Alte … Das ist Ihr Schwiegervater, haben Sie gesagt?«

»Und Sie wundern sich, dass ich mit ihm schlafe, was? … Zunächst mal ist es nicht meine Schuld, dass er ein altes Schwein ist … Und außerdem: Soll ich mich lieber vor die Tür eines Hauses setzen lassen, wo ich alles gemacht habe, damit es den anderen zugutekommt, Langfingern wie der kleinen Félicie, die Sie gesehen haben? …«

»Da! Jetzt ist es auf neununddreißig …«

»Sie glauben also, der Apparat funktioniert? Dann müsste er in den Weinkeller gebracht werden … Warten Sie … Ich helfe Ihnen …«

»Besser, wir warten mit den Eiern bis morgen …«

Sie ließ sich nur ungern dazu überreden.

»Damit geht ein Tag verloren …«

Dann, während sie den Brutapparat in das kühle Dunkel des Weinkellers stellten:

»Machen Sie, wie Sie wollen … Ich hab Ihnen ja schon gesagt, dass ich Sie erst für einen Ausländer gehalten habe, einen Jugoslawen oder etwas in der Art … Wenn Sie Kost und Logis und ab und zu ein wenig Geld wollen …«

Über den Zaun hinweg erblickte er das junge Mädchen, das mit dem Säugling im Arm auf der Kanalböschung saß. Sie gab dem Kind die Brust. Die Brücke war hochgezogen. Mit der Stake vorangetrieben, fuhr wie in Zeitlupe ein Schiff vorbei. Weiter weg, auf der anderen Kanalseite, war eine Ziegelei zu sehen. Tauben durchschnitten in schwerem Flug die ruhige Luft.

»Bitte … Ich will Sie nicht nötigen …«

Er betrachtete den Fleck, der einem Stück Tierfell ähnelte, das breite Gesicht, die schlauen Augen, den stämmigen Körper, den rosa Unterrock, der breiter denn je unter dem Kleid hervorschaute.

»Wir können’s ja mal versuchen«, sagte er. »Wenn es Ihnen keine Angst macht …«

Und während sie ihn wie eine Beute zum Haus zurückbrachte:

»Du wirst mir noch lange keine Angst machen, mein Junge!«

Auf einmal duzte sie ihn. Sie hatte von ihm Besitz ergriffen.

»Kannst du wenigstens mit einer Schrotmühle umgehen? Gut, dann wirst du mir einen Sack Hafer und einen Sack Roggen für die Tiere zerschroten … Und heute Abend wirst du sehen, was Couderc für ein Gesicht macht! …«

2

Sein Bett, eine eiserne Bettstatt, die mitten auf dem Speicher aufgestellt worden war, genau unter der Dachluke, roch nach Heu und einem Hauch von Schimmel, und das war nicht unangenehm. Was ihn noch lange wachhielt, waren die Tropfen, die er in großen Abständen ganz nah neben seinem Kopf herunterfallen hörte. Ein Wasserhahn konnte es nicht sein, denn es gab im ganzen Haus kein fließendes Wasser. Und es regnete auch nicht, sonst hätte er den Regen auf die Scheibe der Dachluke prasseln hören.

Unvermittelt war es Morgen, und das Einzige, woran er sich von dieser Nacht erinnerte, war der Geruch nach Heu und Verschimmeltem, der für ihn zum Inbegriff von Landleben wurde. Der Morgen schnitt zwei helle Rechtecke über seinem Kopf aus. In einer Ecke des Speichers stand eine Kleiderpuppe mit monströsem schwarzem Oberkörper, aufgebläht und ohne Brüste, mit einer stark betonten Taille und mit Hüften, die plötzlich aufhörten und in einen Fuß aus gedrechseltem Holz übergingen.

Es gab weder Klo noch Waschbecken, und er musste sich damit begnügen, eine Hose über sein Hemd zu ziehen, dessen Kragen er offen ließ, und sich die Haare mit den Fingern zu glätten.

Es tropfte immer noch, und jetzt entdeckte er auch, dass die Tropfen aus einem fast obszön wirkenden Beutel oder Schlauch austraten und in eine Schüssel mit gelblicher Flüssigkeit fielen: Quark.

Das und noch andere Dinge schufen mit dem Strohsack zusammen diesen spezifischen Geruch: Knoblauchzwiebeln, von einem Stück Raphiabast zusammengehalten, Zwiebeln, Schalotten, außerdem Kräuter, die er nicht kannte, wahrscheinlich Heilkräuter, die so ausgedörrt waren, dass sie zu Staub zerfielen, sobald man sie streifte.