Die Zeichen der Wetterdrachen - Wiebke Salzmann - E-Book

Die Zeichen der Wetterdrachen E-Book

Wiebke Salzmann

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Beschreibung

Hunar, Brimill, Aksja und Svala steigen mit dem Schmetterling auf den Hamra und müssen sich den Drachen stellen. Bylgja und Isjaki versuchen, einen Krieg zu verhindern. Drafnar verlässt seine Höhle und die Drachen setzen Hamarborg in Brand. Hrisla und Hikandi retten ein Buch aus der brennenden Stadt, geraten aber Hrydja in die Hände. Ihre Pläne sind verraten und dann wechselt auch noch Haukur auf Hrydjas Seite. Ist alles verloren?

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Die Zeichen der Wetterdrachen

Band II: Am Berg des schwarzen Drachen

Wiebke Salzmann

Über das Buch

Hunar, Brimill, Aksja und Svala steigen mit dem Schmetterling auf den Hamra und müssen sich den Drachen stellen. Bylgja und Isjaki versuchen, einen Krieg zu verhindern. Drafnar verlässt seine Höhle und die Drachen setzen Hamarborg in Brand. Hrisla und Hikandi retten ein Buch aus der brennenden Stadt, geraten aber Hrydja in die Hände. Ihre Pläne sind verraten und dann wechselt auch noch Haukur auf Hrydjas Seite. Ist alles verloren?

„Die Zeichen der Wetterdrachen“ besteht aus zwei Bänden und ist Teil einer Reihe. Mehr Informationen zum 1. Band „Im Drachenwetter“ und zu den anderen Romanen des Zyklus gibt es unter www.wetterdrachen.net.

Unter www.wetterdrachen.net/karte.html gibt es außerdem eine Karte der beschriebenen Landschaften.

Für die Drachenzeichnung auf dem Cover danke ich Stefanie Zill.

Die Geschichte begann in

Band I: Im Drachenwetter

Das Heer

Das Heulen des Schneesturms veränderte sich – ein unheimlicher, falscher Ton schlich sich ein, tief und dröhnend ließ er den Boden vibrieren. Eir blinzelte nach oben in die jagenden Wolken. Sein Bruder barg den verhüllten Kopf in den Armen, um ihn vor dem beißenden Schnee zu schützen. Sie lagen aneinandergedrückt auf dem Sandboden der Steppe und umklammerten die Zügel ihrer nervösen Pferde mit kältestarren Fingern. Der Wind riss Eir die Kapuze vom Kopf, zerrte an seinen kastanienroten Haaren und trieb ihm nadelspitze Graupel ins Gesicht. Nie war Eir so dankbar für seinen Vollbart gewesen, der die schlimmsten Eisflocken abhielt. Der Sturm fegte durch die dünnen Leinengewänder, fuhr eisig über die Haut. Aber all das beachtete Eir nicht. Er schrie auf und deutete nach oben. Mühsam durch das Schneetreiben blinzelnd folgte Gloi seiner Hand mit den Augen. Dann schrie auch er. Mit den zerfetzten Wolken jagte ein Wesen dahin, riesengroß und weiß wie der tobende Schnee. Mit gewaltigen Schwingen fegte es die Flocken vor sich her, der lange Schwanz peitschte die Luft, wirbelte Sturmböen und Schneewehen auf. Als das Ungeheuer über sie hinwegflog, krochen die Hestir zusammen und klammerten sich aneinander. Rote und grüne Schlangen aus Licht schwangen über den Himmel und ließen die Landschaft aufleuchten, als färbte das Blut des Wesens den Schnee. Eine Bö drückte die Brüder zu Boden, sie pressten die Gesichter an die Erde. Aber das flackernde Licht drang noch durch die geschlossenen Augenlider. Dann hörte es auf, das Licht wurde ruhig, das eisige Prasseln verebbte, und auch der Wind ließ nach. Zögernd standen sie auf, rieben sich fröstelnd die Arme und blickten sich vorsichtig und misstrauisch um. Die Sonne zeigte sich wieder und ließ den Schnee bereits wässrig werden. Vor ihnen dehnte sich im klaren Sonnenlicht die weite, weiße Fläche, nur von wenigen flachen Hügeln und einzelnen Akazien mit ihren merkwürdig flachen Kronen unterbrochen. In der schmelzenden Schneedecke zeigten sich schon Flecken dürren Grases. Es war – außer dem schmelzenden Schnee – weit und breit nichts zu sehen, was nicht in die weiten, trockenen Ebenen von Ljossandur gehörte. Buchstäblich nichts. „Beim Sand des Drachen! Die Fitjungir sind weg!“, rief Gloi schließlich verblüfft aus, strich sich die windzerzausten, feuerroten Haare aus der Stirn und wischte die Tropfen aus dem Bart. Tatsächlich, das Heer, das gegen die Hestir losgezogen war und das die beiden heimlich beobachten sollten, war nicht mehr zu entdecken. Die Brüder hatten sich ihrem Lager vor dem Schneesturm soweit genähert, dass sie ihrerseits zwar die Zelte sehen, aber einzelne Reiter von dort aus nicht bemerkt werden konnten. Und nun lag der Platz in der Ferne leer vor ihnen. „Sie müssen in dem Schneesturm aufgebrochen sein. Und wir haben es nicht gemerkt.“ Aber wohin waren die Soldaten gezogen? Unsicher sahen Eir und Gloi sich an. Waren die Fitjungir auf dem Weg zurück nach Hamarborg? Oder suchten sie ein Versteck für einen Hinterhalt? „Wir müssen sie suchen.“ Finster ließ Eir seine braunen Augen über die Steppe im Norden schweifen. Dann schwang er sich auf seinen Rappen, Gloi tat es ihm nach. Vorsichtig umherspähend machten sie sich langsam auf den Weg zum Lagerplatz der Fitjungir. Sie erreichten ihn, ohne einem der Feinde aus Hamarborg zu begegnen oder auch nur ein Zeichen von ihnen zu entdecken. Dort angekommen, sahen sie zu ihrer Überraschung, dass die Spur der Fitjungir geradewegs durch den nassen Schnee nach Nordosten, nach Hamarborg, führte. Den ganzen Tag lang verfolgten die Brüder die Spur, immer aufmerksam die Umgebung mit den Augen absuchend. Aber die Fährte bog nicht von ihrer schnurgeraden Linie nach Hamarborg ab. Die Fitjungir mussten es sehr eilig haben, denn die Brüder kamen nicht auf Sichtweite an sie heran, obwohl man in der vom Schnee rein gewaschenen Luft sehr weit sehen konnte. Schließlich zügelte Eir sein Pferd. Gloi hielt neben ihm und zog sein weißes Baumwollgewand um sich. Jeder von ihnen trug mehrere davon übereinander, waren sie doch für die heiße Sonne von Ljossandur und nicht für Schneestürme gewebt worden. Auch die Pferde trugen Decken. Ihr dünnes, seidiges Fell schützte sie nicht vor dem scharfen Wind. Dampfwolken standen vor ihren Nüstern. „Sie sind abgezogen! Sie sind besiegt!“, rief Gloi aus. „Aber nicht von uns“, erwiderte Eir spöttisch. „Sondern von der Kälte, von dem Sturm und von ...“ Er schauderte bei dem Gedanken an das weiße Ungeheuer und die unheimlichen Lichter. Seit Tagen war es kalt und stürmisch in Ljossandur, Schnee und Hagelschauer setzten den Menschen, die nicht an solche Kälte gewöhnt waren, zu. Auch wenn die Sonne schien, reichte ihre Kraft nur gerade so aus, um den Schnee zu schmelzen. Und jetzt schienen zu allem Überfluss auch noch Ungeheuer alter Sagen aufzuerstehen. Auch Gloi schwieg bei dem Gedanken an das geflügelte Untier. Solange es keiner der Brüder erwähnte, konnte sich jeder für sich an den Glauben klammern, unter Einbildungen gelitten zu haben. „In Ordnung“, sagte Eir schließlich leise und grimmig, „wenn die Fitjungir also weg sind, kann Vater uns nicht mehr davon abhalten, nach Svala zu suchen.“ „Und nach diesem schwarzhaarigen Verräter, der uns die Fitjungir auf den Hals gehetzt hat. Dafür wird er bezahlen! Und für alles, was er ihr angetan hat“, fügte Gloi hinzu. Eirs Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass Farandi für jedes gekrümmte Haar Svalas eines zehnfachen Todes sterben würde.

*

Isjaki drehte sich hastig zu den kämpfenden Milanen um. Vor seinen Augen erschien der Goldmilan nicht nur als Vogel. Schemenhaft sah Isjaki die Gestalt einer schlanken Frau dann und wann um den Milan herumlodern, einer Frau mit goldbraunen und weißen Haaren und den kalten, gelben Augen des Vogels. Die Narbe in seinem Gesicht durchzuckte ein scharfer Schmerz, als er sie erkannte. Was wollte sie hier? Dann bemerkte er dieselben Erscheinungen bei dem schwarzen Milan – auch er nahm zuweilen eine undeutliche menschliche Gestalt an, ein hagerer Mann mit langen, schwarzen Haaren. Sein dunkles Gesicht mit der fliehenden Stirn kam Isjaki seltsam bekannt vor, aber es war zu verschwommen, er konnte es im Dunkeln nicht erkennen. Sein Blick hing wie festgezurrt an den hackenden, schlagenden Vögeln. Seine Gedanken dagegen jagten sich. Hrydja war seinetwegen hier, sie war hinter ihm her, auch wenn er nicht wusste, warum. Aber was wollte der schwarze Milan? Unerwartet ließen die Vögel plötzlich voneinander ab und standen rüttelnd in der Luft. Sie starrten nach Süden. Isjaki folgte den Blicken und taumelte zurück. Er bemerkte nicht mehr, dass Svalas Pferd beim Auftauchen des Drachens mit ihr den Hang hinunterraste. Bevor er ganz begriff, was da auf ihn zu kam, hatte der goldene Drache den Pass bereits erreicht, erschien über der Mulde und wuchs ins Riesenhafte – ein goldschuppiger, Verderben bringender Berg. Er spie Blitze und Feuer, der vom Blitz getroffene Granit zersprang unter der Hitze. Feuerlohen schossen auf den Platz hinunter, Büsche und Gras fingen Feuer. Die Flammen schlugen hoch hinauf, jubelten ihrem Schöpfer zu, streichelten seinen unerträglich gleißenden Leib. Die Milane schrien auf und flohen. Als der goldene Drache über Isjaki auftauchte, traf ihn die aus den Schuppen strömende Hitze wie eine Faust. Er schlug die Arme über den Kopf und kauerte sich zusammen. Der glühende Schwanz wirbelte mit einem Knall Funken und Rauch auf. Der Drache hing über der Mulde, verströmte Licht und Hitze, Blitz um Blitz fuhr aus seinen Flügeln und krachte in die Felsen. Isjaki bebte bei jedem Blitzschlag, die Hitze verbrannte seinen Rücken, aber er regte und rührte sich nicht, wie gelähmt unter dem Blick der obsidianschwarzen Drachenaugen. Wieder ein Blitz und ein Strauch neben ihm zerbarst in Flammen. Funken schossen hoch, Qualm drang Isjaki in die Lungen. Doch der Husten brachte ihn endlich wieder zu sich. Er musste hier weg. Langsam richtete er sich auf, blieb geduckt stehen. Die heiße Luft drang in seine Lungen, er hielt den Atem an. Er spürte, dass die Hitze leicht nachließ, blinzelte nach oben und sah, dass der Drache sich nordwärts in Bewegung setzte, langsam, mit schweren Flügelschlägen, deren jeder einen Blitz zur Erde fahren ließ. Wenn das Ungeheuer verschwand, hatte er vielleicht noch eine Chance – gehetzt sah Isjaki sich um, kniff die Augen zusammen, als die Hitze der Flammen sie auszutrocknen drohte. Die Mulde brannte. Überall Feuer, Flammen, Rauch. Selbst der Himmel schien zu glühen. Der Abstieg hinter ihm war schon durch eine Feuerwand versperrt. Mit einem Satz rettete er sich auf einen Felsvorsprung, gerade als neben ihm ein letzter Blitz krachend einschlug. Der Rauch nahm Isjaki den Atem, biss ihm in die Augen, Funken versengten ihm Gesicht und Hände. Dann hörte er einen entsetzlichen Schrei – es war sein Pferd, und sein Anblick ließ Isjaki trotz der mörderischen Hitze das Blut in den Adern gefrieren: Das Tier stand lichterloh in Flammen. Er konnte nichts für es tun. Er konnte nicht einmal sich selbst retten. Rings um ihn undurchdringliche Feuerwände, haushohe Flammen und beißender Qualm. Er müsste fliegen können. Wie die beiden Vögel. Nein. Nur das nicht. Seit Jahren hatte er sich verboten, daran zu denken. Aber er hatte keine Wahl, sonst würde er im Feuer umkommen. Schon leckten die Flammen nach ihm, fassten nach seinen Kleidern und Haaren. Er ballte die Fäuste, presste die Augenlider zusammen und versuchte, sich trotz seiner Angst nur auf eines zu konzentrieren – auf das Bild eines schwarzen Milans. Als die Spitzen seiner Haare Feuer fingen, geschah es: Die Welt um ihn versank im Nebel.

Auf dem Felsen saß jetzt ein schwarzer Milan, der sich in die Luft schwang und wie gehetzt über die Flammenwand hinweg nach Nordosten den Hang hinunterflog.

Als Isjaki sich in der Luft halbwegs sicher vor dem Feuer fühlte, sah er sich um. Er hielt sich östlich der nach Norden jagenden Flammenwand. Am Himmel sah er den goldenen Fleck, zu dem der Drache geworden war. Unter ihm loderte die Erde. Isjaki wandte die Augen ab. Svala – wo war sie? Durch den Rauch blinzelnd suchte er den Boden ab. Wenn die Flammen sie eingeholt hatten ... Dann hörte er sie, vernahm ihre Gedanken. Sein Herz stand einen Moment still, Furcht, es könnte nur Einbildung gewesen sein, durchfuhr ihn. Aber da war es wieder. Vor Furcht und Trauer erstarrte Gedanken. Seinetwegen. Svala hielt ihn für tot. Es zerschnitt ihm das Herz. Er raste auf sie zu, folgte ihren Gedanken – er war nicht tot! Unten, auf einem Geröllfeld, fand er sie endlich. Sie wirkte klein und verloren in dem tobenden Inferno, aber sie lebte. Und dann begriff er, dass er sie nicht trösten konnte. Nicht so, nicht als Vogel. Erst musste er wieder Mensch werden. Und dann ... Wie sollte er ihr sein Entkommen erklären? Wie sollte er ihr das jemals erklären? Sein Inneres krampfte sich zusammen. Nichts war gelöst. Die Jahre auf der Flucht vollkommen umsonst. Er flog hinunter und zog einige Kreise um sie. Als er sich überzeugt hatte, dass sie unverletzt war und dass das Feuer sie auf dem Geröllfeld nicht erreichen würde, stieg er wieder auf und bog dann nach Osten ab. Mitten im Flug stockte er keuchend. Von Osten kam ein weiterer Drachen auf ihn zu, grün schillernd wie eine Frühlingswiese im Morgentau. Vor neuerlichem Schrecken wäre Isjaki beinahe abgestürzt, er befürchtete, zwischen die beiden Drachen zu geraten. Isjaki wich der Bahn des großen, grünen Wesens aus und sah ihm nach. Dieser Drache wirkte so anders als sein goldener Feuerbruder. Isjaki fühlte sich an einen stillen Frühlingsmorgen im Wald erinnert, er glaubte, Vogelgezwitscher zu hören und goldene Sonnenstrahlen im Morgendunst zu sehen. Aus den Flügeln des grünen Drachens floss grau und gleichmäßig ein sanfter Regen. Wo er auf den heißen Boden fiel, erloschen die Feuer und weißer Dampf stieg auf. Nebel hüllte die eben noch lodernden Wälder ein. Svala war gerettet. Dann flog Isjaki durch den Regen zu einem Berg westlich des Hamra. Er landete auf einem Ast einer großen Buche, kauerte sich eng zusammen und versuchte, sich zu beruhigen. Er musste wieder ein Mensch werden – musste als Mensch zurück zu Svala. Aber wie? Wie sollte er das schaffen? Wie hatte er es das letzte Mal geschafft? Er konzentrierte sich, sammelte alle seine Gedanken auf dieses Ziel. Aber nichts geschah. Er spannte sich, bis schwarze Punkte vor seinen Augen tanzten, presste die Augen zusammen, murmelte vor sich hin – vergeblich. Er blieb ein Vogel. Er öffnete die Augen, starrte in die graue Landschaft. Wahrscheinlich war er einfach zu müde. Er musste sich ausruhen. Nach einem ausgiebigen Schlaf würde es sicher klappen. Es musste einfach. Erschöpft steckte er den Kopf unter einen Flügel und schlief ein, während um ihn herum sanft der Regen zur Erde rauschte.

Isjaki gab auf. Seine Flügel zitterten, seine Gedanken waren ein einziger, tobender Wirbel. Er schaffte es nicht. Er würde es nie schaffen. Dies war schon sein vierter Versuch. Und er war so erfolglos wie die anderen verlaufen. Damals, vor sechs Jahren, als er sich das erste Mal in einen Milan verwandelt hatte, war es ihm nach einiger Zeit gelungen, sich wieder zurückzuverwandeln. Aber er hatte sich konzentrieren müssen, seine Gedanken nur auf diesen Punkt richten dürfen. Diesmal schaffte er das nicht. Zu viel war geschehen. Gestern hatte er seinen Bruder Hunar gefunden. Aber der hatte ihn natürlich nicht erkannt. Isjaki hatte nicht den Mut gehabt, mit Hunar zu sprechen, obwohl er als Vogel die Fähigkeit zu sprechen nicht eingebüßt hatte. Das hatte er ausprobiert. Aber ein Milan, der anfing, unglaubliche Geschichten zu erzählen? Hunar hätte wohl eher angenommen, selbst den Verstand zu verlieren, als dass er Isjakis Erlebnisse geglaubt hätte. Isjaki seufzte niedergeschlagen. Nur der Wolf hatte ihn erkannt. Wehmütig dachte Isjaki an das Wolfsjunge, das er vor zwei Jahren vor den Fitjungir gerettet hatte. An der weißen Schwanzspitze hatte er das Tier wiedererkannt. Er hatte es nach der Trennung von Hikandi und seiner Großmutter noch fast ein Jahr in Ljossandur bei sich gehabt, bis der Wolf alt genug gewesen war, seiner eigenen Wege zu gehen. Aber das Vertrauen zu Menschen hatte er offenbar nicht verloren. Wie er wohl zu Hunar geraten war? Was trieb sein Bruder bloß hier unten, allein mit zwei Fjallnir? Außerdem musste Isjaki ständig an die merkwürdige Erscheinung von Hrydja und dem schwarzen Milan denken, wie ihre Gestalten zwischen Vogel und Mensch hin und her schwankten. Was waren das für Wesen? Er dachte an die alten Geschichten von den Verwandlern, die er als Kind so verabscheut hatte. Sollten sie am Ende wahr sein? Und er selbst – was war mit ihm? Er saß hier in Vogelgestalt ... Er spürte, wie ihm die Tränen kommen wollten. Als er die Fäuste ballen wollte, und merkte, dass er keine hatte, ergriff ihn die Wut. Gut, er wusste nicht, was los war. Aber dieser andere schwarze Milan – Isjaki war sicher, dass der ihm so einiges verraten konnte. Er würde ihn finden und zu einer Erklärung zwingen. Und jetzt würde er sich verwandeln. Wie auch immer. „Zunächst einmal solltest du auf die Erde fliegen. Es sei denn, du bist als Mensch ein guter Kletterer.“ Isjaki fuhr aus seinen Gedanken und sah sich nach dem Sprecher um. Er entdeckte über sich in der Baumkrone einen großen, grauen Adler, der ihn sorgfältig, aber freundlich musterte. Dann erklärte der Adler Isjaki ausführlich, wie er es anstellen konnte, sich jederzeit von einem Vogel in einen Menschen und wieder zurück zu verwandeln. „Wenn man ein paar Tricks kennt“, sagte der Adler augenzwinkernd, „klappt es auch, wenn man seine Gedanken sonstwo hat!“ Isjaki brauchte noch einen Moment, bis er das Erscheinen des sprechenden Adlers verdaut hatte, dann flog er auf die Erde, probierte die Verwandlung ein paar Mal und hatte Erfolg. Zum Schluss behielt er seine gewohnte Menschengestalt und setzte sich erschöpft, aber erleichtert ins Gras. „Aber –“ wandte er sich etwas hilflos an den Adler, der sich neben ihm niedergelassen hatte, „nun verrat mir auch noch, ich meine – Schneesturm und Hageleis! Was soll das alles? Woher weißt du das? Woher wusstest du, was mein Problem war? Und was die Lösung ist? Wieso kannst du überhaupt sprechen? Kannst du dich auch in einen Menschen verwandeln? Oder warte – das ist alles Unsinn, oder? Ich habe bei dem Feuer den Verstand verloren und bilde mir alles nur ein.“ Er hätte sonst etwas dafür gegeben, dass es wirklich so wäre. Der Adler lächelte, soweit ein Adler lächeln kann, dann reckte er seine Flügel und strich sein Gefieder glatt. „Du weißt, dass es kein – eh – Unsinn ist. Hast du nie von den Verwandlern gehört? Wahrscheinlich hältst du sie für Märchengestalten. Sind sie aber nicht. Es sei denn, du hältst dich selbst für eine. Euer alter Freund Hugur, nein, Haukur nennt ihr ihn ja, ist einer von ihnen. Und du bist sein Enkel. Zu einem Viertel ein Verwandler. Offenbar reicht das, um dich in einen Vogel verwandeln zu können. Bei mir ist es umgekehrt. Mein Vater war ein Verwandler, meine Mutter ein Adler. Ich könnte Menschengestalt annehmen, wenn ich wollte. Aber ich will eigentlich nie, es gefällt mir nicht besonders. Ich heiße übrigens Grafjödur.“ Isjaki hatte das Gefühl, sein Kopf sei leer gefegt. Er starrte den grauen Vogel an. „Du – du willst mir allen Ernstes erklären, ich sei – ein Verwandler? Beim Drachenfeuer, die gibt es nicht!“ Noch während er sprach, begann die Leere in seinem Kopf, sich mit Eis zu füllen. Er war also nicht verrückt. Aber statt dessen ... Grafjödur legte den Kopf schief. „Es war nicht gut, dass Hugur und deine Tante dir nie etwas erzählt haben. Das habe ich von Anfang an befürchtet.“ Er seufzte. „Aber Hugur war der festen Überzeugung, du hättest nichts von dem Verwandlerblut geerbt, und deine Tante wollte um keinen Preis, dass du davon erfährst ... Und ich dachte, in Hugurs Angelegenheiten sollte ich mich besser nicht einmischen. Normalerweise ist eine gute Idee, sich nicht in seine Angelegenheiten zu mischen, aber diesmal ...Vielleicht hätte ich weniger denken und mich mehr einmischen sollen ...“ „Hugur – Haukur – er ist was? Ein Verwandler? Mein Großvater? Und ich bin – beim Drachenschnee! Das ist nicht wahr!“ Mühsam versuchte Isjaki die Herrschaft über seinen Verstand zu behalten. Das Eis drohte jeden Moment in tausend Stücke zu splittern. Dann sah er den Adler scharf an. „Was für einer? Auch ein Vogel? Was für ein Vogel ist Haukur?“ „Wie? Ach so – ein schwarzer Milan, wie du.“ Isjaki stützte den Kopf in die Hände. Die anderen schwarzen Milane – es war immer Haukur gewesen. Hieß das, dass Haukur wusste, was mit ihm los war? Ein Keim dunklen Zorns ging auf, aber noch konnte er das Eis in Isjakis Verstand nicht schmelzen. Der Adler behielt Isjaki im Auge, als ahnte er, was in ihm vorging, redete aber in leichtem Plauderton weiter. „Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst – ich habe dich schon dreimal gesehen. Vor etwa zwei Jahren. Die ersten beiden Male in wenig angenehmer Lage, als Gefangener der Fitjungir. Ich hatte schon befürchtet, du würdest vor Staunen über die Drachen die Gelegenheit zur Flucht verpassen, wenn ich dir den Gedanken daran nicht ins Hirn werfen würde. Tut mir leid, normalerweise mache ich so was nicht, anderen meine Gedanken einzupflanzen. Schon deshalb nicht, weil ich nicht besonders stark bin, so was bringt mich jedes Mal an den Rand meiner Kräfte. Bei Menschen schaffe ich es gar nicht. Zum Glück war es bei dir leichter als bei Menschen. Eigentlich hätte ich da schon merken müssen, dass mit dir was nicht stimmt, aber ich hatte so viel anderes im Kopf. Du hättest es allerdings verhindern können, Verwandler können andere aus ihren Gedanken bewusst aussperren, du musst nur lernen, wie. Das wiederum können Menschen nicht. Das dritte Mal warst du in möglicherweise noch unangenehmerer Situation, als ich dich vor dem Ertrinken retten musste. Du bist ganz schön schwer.“ Isjaki nickte halb abwesend. „Und die beiden Milane da oben ...“ „Das waren Haukur und seine Tochter Hrydja. Du hast sie doch erkannt?“ „Ja. Dieses merkwürdige Verschwimmen von Vogel- und Menschengestalt ineinander ... Warum habe ich das früher nie bei Haukur gesehen?“ Grafjödur nickte. „Das ist der Preis, den ein Verwandler zahlt, wenn er sich häufig hin und her verwandelt. Die Gestalten vermischen sich immer mehr. Und wenn es so weit ist, dass die Trennung völlig aufgehoben ist, das kann allerdings Hunderte oder Tausende von Jahren dauern, dann bedeutet das den Tod des Verwandlers. Er verliert beide Gestalten und löst sich auf in Staub. Menschen sehen zu Beginn nichts von der doppelten Gestalt, erst wenn der Verwandler kurz vor seiner Auflösung steht, und deine Verwandlereigenschaften haben sich ja offenbar erst vor ein paar Jahren entwickelt. So wie bei den Fjallnir der Bartwuchs. Oder so. Deswegen konntest du es früher nicht sehen. Denke ich.“ Die braunen Augen des grauen Vogels waren ernst. „Also je seltener du dich verwandelst, desto länger lebst du. Auch ein Grund, weshalb ich lieber darauf verzichte.“ Isjaki fand keine Antwort. Er blinzelte. Tatsächlich, wenn er sich Mühe gab, konnte er auch um Grafjödurs Gefieder schwach die Gestalt eines grauhaarigen Mannes erkennen. „Hugur sucht seit Jahren nach dir. Es würde ihn hart getroffen haben, dich, nachdem er dich endlich gefunden hatte, durch das Drachenfeuer wieder zu verlieren. Ich sollte ihm bald erzählen, dass du dieses Inferno überstanden hast. Ihm liegt einiges an dir.“ „So? Warum?“ Isjaki schüttelte den Kopf. „Selbst wenn er mein Großvater ist – er kennt mich doch kaum.“ Isjaki zog die Augenbrauen zusammen, als das Begreifen endlich durch das Eis sickerte und dem Zorneskeim Nahrung verschaffte. „Von ihm hab ich das also alles geerbt? Ihm habe das alles zu verdanken? Dann muss er doch die ganze Zeit gewusst haben, was mit mir los war! Und hat nie ein Wort darüber verloren?“ Urplötzlich schwoll der Zorn an. Isjaki war durch die ganze Welt gezogen, um der Angst über die seltsamen Dinge, die ihm ständig passierten, zu entkommen. Und in der Nähe seines Heimatdorfes hatte die ganze Zeit einer gewohnt, der die Antwort zu seinen Fragen gewusst hatte. Isjaki verdrängte die Erinnerung, dass er selbst es gewesen war, der dem Einsiedler in den letzten Jahren vor seinem Verschwinden nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen war. „Und warum hat er mich auf dem Pass in dem Feuer zurückgelassen? Er hätte mir doch bloß zu erklären brauchen ...“ „Ich habe dir doch schon gesagt, dass Hugur gar nicht gewusst hat, dass du dich verwandeln kannst!“ „Du meinst, er hat es lieber gar nicht wissen wollen!“ Die Erklärungen des Adlers hatten sich so klar angehört, aber das bedeutete ... dass er ein Fabelwesen war. Er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer. Aber noch wurde das Gewicht des Grauens von seinem Zorn in Schach gehalten. „Wenn ich es sehen kann – ich meine, die Verwandler gleichzeitig in beiden Gestalten sehen kann –, muss er das doch auch können! Das hätte ihm doch bei mir mal auffallen müssen!“ Der Adler schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn er dich nach deiner ersten Verwandlung nicht mehr gesehen hat! Und vor der ersten Verwandlung ist nichts zu sehen – ich sehe es jetzt noch nicht mal! Aber das heißt nichts, ich bin weder besonders schlau, noch besonders mächtig. Bin zu viel echter Adler. – Aber du ... Ich glaube, wenn du dich wirklich entschließen solltest, auf Hugur sauer zu sein, könnte der ein ernstes Problem haben ...“ Der Adler musterte ihn von oben bis unten. „Du wirst Hugur bald treffen. Dann kannst du dich mit ihm streiten. Normalerweise gewinnt er – bin neugierig, ob er es diesmal auch schafft.“ Der Adler sah ihn nachdenklich an. „Aber warum Hugur dich so dringend gesucht hat, kann ich dir erzählen.“ Widerwillig hörte Isjaki die Geschichte von dem Schmetterling und der geplanten Expedition auf den Hamra, er hatte im Moment wirklich andere Probleme. Erst als er von Hunars und Svalas Rolle dabei hörte, wurde er aufmerksam. „Also dafür braucht Svala den Stein ...“ Er dachte kurz an den anderen, Myslas Stein. „Es ist derselbe Stein“, unterbrach der Adler ihn, bevor er danach fragen konnte. „Ich brachte ihn Mysla und gab ihr den Auftrag, ihn aufzubewahren und wenn die Zeit gekommen war, ihn zurück nach Ljossandur zu bringen. In Ljossandur selbst hatten wir niemanden, dem wir vertrauen konnten. Und Mysla stammt von dort. Ihr ist es dann ja auch gelungen, in Svala eine geeignete Person für die Aufgabe zu finden, die jetzt erledigt werden muss.“ „Wie ...“ Misstrauisch sah Isjaki den Adler an. Dann lächelte er müde. „Ach so, ja. Gedankenlesen ist auch so eine Verwandlereigenschaft. – Und deshalb ist Hunar hier? Wo ist er jetzt? Und Svala?“ „Unterwegs zum Hamra. Auf dem Bergrücken hinter Hrimuglas Hütte wirst du sie finden. Und ich werde jetzt Hugur suchen und ihm erzählen, dass du lebst.“ Der große Vogel zwinkerte ihm zu, erhob sich und segelte langsam davon. Er überließ Isjaki dem Kampf zwischen dem Grauen, das sich wie eine Decke aus Stein auf ihn legen wollte, und dem Zorn, der diese Decke immer wieder fauchend wegblies.

*

Nachdenklich ließ Hikandi das Buch sinken und starrte auf die vergilbten Seiten. Es hatte keinen Sinn. Was ihn interessierte, war nicht die Geschichte Hamarborgs, sondern das Leben der Menschen in den fernen Ländern jenseits der Stadtmauern. Vor einigen Tagen erst war er aus Soley, wo er wie jeden Sommer seine Großmutter und seinen Onkel besucht hatte, zurückgekehrt. Das Erlebnis, das er dort mit den beiden Waldmädchen gehabt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Ihn verwunderte und erschreckte die scheinbar grundlose Feindseligkeit der Grünhaarigen immer noch. Sie hatte ihn überhaupt nicht gekannt und doch schien sie ihn abgrundtief zu hassen, obwohl er nun wirklich nicht absichtlich vom Pferd gefallen war! Dazu fiel ihm immer wieder der junge Mann aus dem Norden ein, den er zwei Jahre zuvor aus dem Fluss gezogen und vor dem Ertrinken gerettet hatte. Auch der war zunächst misstrauisch gewesen. Was hatte er noch gesagt? – „Die Fitjungir sind nicht gerade beliebt.“ Ganz langsam dämmerte in Hikandi die Erkenntnis, dass er in seinem bisherigen Leben von der Wirklichkeit um ihn herum nicht viel mitbekommen hatte. Er war ein Träumer, las viel und war am liebsten allein. Bisher war er damit auch rundum zufrieden gewesen, aber jetzt fühlte er sich wie jemand, der hundert Jahre geschlafen hat, während das Leben um ihn herum weiterlief, der plötzlich aufwacht und nicht versteht, was in der Welt geschieht. Sein Blick fiel wieder auf das Buch vor ihm. Es war vielleicht doch sinnvoll, sich mit der Geschichte seines Volkes zu beschäftigen. Dort musste es ja auch Hinweise auf die anderen Völker geben und auf den Grund für die Feindseligkeiten. Irgendwo musste er ja anfangen, wenn er die Ereignisse um sich herum verstehen wollte. Aber es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Heute morgen hatte ihn die Wirklichkeit schlagartig eingeholt, in Form eines Einberufungsbefehls zur Armee. Er hatte lange mit dem Brief in der Hand dagestanden und versucht zu begreifen, was das bedeutete. Monatelang hatte er sehr erfolgreich die Augen vor allen Anzeichen zugedrückt, aber auf einmal wurde ihm klar, dass die Stadt schon lange für einen Kriegszug rüstete. Verstärkung aus Havnstadir war eingetroffen, und ungewöhnlich viele Soldaten prägten das Bild in den Straßen. In der Hafenstadt im Grafjalla herrschte seit Langem Dunkelheit, die Menschen verließen die Stadt und suchten ihr Glück in Hamarborg. Und das kam den Fitjungir, die Verstärkung für ihr Heer brauchten, gerade recht. Ein Trupp war vor einigen Tagen nach Soley verlegt worden, weil die Stadt nicht alle Soldaten fasste. Es sollte nach Norden gehen. Die Fjallnir – nein, im Norden lebten doch die Hirdir? – hatten die letzten Getreidelieferungen nicht bezahlt. Aber war das gleich ein Grund für einen Krieg? Andererseits wurden die Lieferungen von getrocknetem Fisch und Ziegenfleisch in der Stadt dringend gebraucht. Die Versorgung der Bevölkerung wurde immer schwieriger und die ärmeren Bewohner hungerten bereits. Aber warum eigentlich? Die Stadt war doch immer reich gewesen? Grübelnd sah Hikandi aus seinem Fenster hinaus auf die Straße. Der Wind wirbelte Staub und Blätter auf. Fröstelnd zogen die vorbeihastenden Menschen ihre Mäntel um sich. Es war kalt wie im Dezember, obwohl es erst Ende August war, und die Getreideernte war fast vollständig erfroren. Tagelang hatte ein Schneesturm in den südlichen Steppen getobt. Das Heer der Fitjungir hatte wegen des harten und kalten Wetters vorzeitig und unverrichteterdinge Ljossandur wieder verlassen müssen. Was hatten sie dort eigentlich gewollt? Hikandi seufzte. Die Ereignisse bildeten eine unendliche Kette. Aus jeder Antwort ergab sich eine neue Frage. Im Erdgeschoss des Hauses schlug eine Tür. Das musste sein Vater sein, der von einem Spaziergang zurückkehrte. Hikandi stieg die Treppe hinab. Vielleicht konnte Alvitur ihm weiterhelfen. Im Flur war er bereits nicht mehr zu sehen, also klopfte Hikandi an die Tür zum Arbeitszimmer und trat dann ohne Aufforderung ein. Zu oft kam es vor, dass Alvitur vor lauter Geschäftigkeit das Klopfen nicht hörte. Und in letzter Zeit war Hikandi aufgefallen, dass sein Vater noch rastloser arbeitete als zuvor, manchmal fast verzweifelt wirkte. Als Hikandi das Zimmer betrat, saß Alvitur an seinem riesigen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Grübelnd starrte er auf den Tisch, oder vielmehr auf eine unglaubliche Menge von Büchern, Pergamentrollen und Landkarten, die sich über den Tisch verteilten. Das vom Wind zerzauste graue Haar stand ihm noch wirr vom Kopf ab, den er jetzt überrascht hob. „Oh, Hikandi. Komm herein.“ Vorsichtig wollte Hikandi über eine Zeichnung steigen, die vor ihm auf dem Boden lag. Da er die Skizze dabei betrachtete, hätte er um Haaresbreite einen fast mannshohen Bücherstapel übersehen und umgeworfen. Gerade noch konnte er den schwankenden Turm davon abhalten, sich über das ganze Zimmer zu verteilen. Dann betrachtete er erneut fasziniert die Zeichnung auf dem Boden. Sie zeigte einen hohen Berg, unter dem sich eine Höhle befand. In dieser Höhle schlief eine schwarze Gestalt mit Flügeln und schuppiger Haut. „Was ist das?“ „Hm? Ach so, das ist der Hamra. Und Drafnar.“ Mehr schien sein Vater zu dem Bild nicht sagen zu wollen. Er sah wieder geistesabwesend vor sich hin. Auf der Suche nach einem Sitzplatz arbeitete Hikandi sich durch das Durcheinander von Büchern und Papier auf dem Fußboden bis zum Fenster vor. Dort räumte er einige Pergamentrollen beiseite und setzte sich auf die Fensterbank. Da er nicht genau wusste, wie er die Unterhaltung mit seinem zerstreuten Vater beginnen sollte, fiel er mit der Tür ins Haus. „Morgen soll ich mich beim Heer melden. In zwei Tagen ziehen sie nach Norden.“ Sein Vater hob langsam den Kopf und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. „In zwei Tagen schon?“ Dann ließ er den Kopf wieder sinken und raufte sich die Haare. „So bald schon. Ich brauche mehr Zeit. Ich bin noch nicht soweit. Oh, diese engstirnigen, selbstzufriedenen, arroganten, blinden Esel!“ Hikandi begriff, dass sein Vater über den baldigen Aufbruch der Armee nicht etwa entsetzt war, weil sein eigener Sohn mitziehen sollte, sondern weil ihm das einen Strich durch irgendeine seiner Arbeiten machte. Er schluckte das aufkommende Gefühl des Verletztseins hinunter. Er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass der noch gar nicht mitbekommen hatte, was der Kriegszug für ihn persönlich bedeutete. „Wozu brauchst du denn die Zeit?“ Hikandi fragte mehr aus Höflichkeit. Sein Vater sprach so gut wie nie über seine Arbeit, deshalb erwartete Hikandi auch keine Antwort und zupfte gelangweilt an einer verstaubten Pflanze herum, die in einem Topf auf der Fensterbank mühsam dahinvegetierte. „Wenn die ach so wichtigen Herren im Stadtrat und dieser neunmalkluge Gambri mir nur einmal richtig zuhören würden, wäre dieser ganze Krieg gar nicht notwendig!“ Alvitur ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Überrascht ließ Hikandi die Pflanze los. Als diese zurückschnellte, wackelte der Topf bedrohlich und rasch streckte er die Hand aus, um ihn wieder auf die Fensterbank zu schieben. „Soll das heißen – du kennst einen Ausweg – du kannst den Krieg verhindern? Aber wie? Woran arbeitest du die ganze Zeit?“ „Wie ich den Krieg verhindern will? Oder besser wollte. In zwei Tagen schaffe ich es nicht. Seit vielen Jahren beobachte ich das Wetter, um dahinter zu kommen, warum es sich so verändert. Ich studiere alte Aufzeichnungen, alte Geschichten, um hinter seine Geheimnisse zu kommen. In dem Sommer vor zwei Jahren, als die große Flutwelle den Hringida hinauflief, da habe ich es dann begriffen. Mit eigenen Augen habe ich ihn über die Stadt fliegen sehen. Den roten Drachen Hvinur. Ich habe einige Zeit gebraucht, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass die Geschichten wahr sind. Dass das Wetter tatsächlich von den Wetterdrachen gemacht wird. Vier Stück gibt es, vier Drachen, die dafür sorgen, dass Sonne, Regen und Wind im richtigen Maß für die Fruchtbarkeit der Erde sorgen. Anfangs versuchte ich, meine Erkenntnisse zu verbreiten, aber natürlich stieß ich auf taube Ohren, wurde verspottet und beschimpft. Obwohl inzwischen auch der Dümmste gemerkt haben sollte, dass was nicht stimmt. Schnee im August! So behielt ich es für mich und versuchte, mehr in Erfahrung zu bringen. Meine Theorie ist die: Es muss ein Wesen geben, noch größer und mächtiger als die Wetterdrachen, das diese beherrscht und lenkt. Und mit diesem Wesen ist ganz offensichtlich etwas nicht in Ordnung, denn seine Kontrolle funktioniert nicht mehr. Also muss ich zunächst herausfinden, was und wo dieses Wesen ist. Denn diese alte Geschichte vom Schmetterling – das ist Unsinn! Wie will ein kleines Insekt vier Drachen – ausgewachsene Drachen! – beherrschen! Und dann muss ich in Erfahrung bringen, was ihm fehlt, wie man ihm helfen kann. Aber ich komme nicht weiter. Nur noch zwei Tage! Das schaffe ich nicht.“ Seufzend stützte er den Kopf auf die Hände. Plötzlich erbleichte Alvitur und beugte sich vor: „Du sollst mit? Sie haben dich in die Armee geholt?“ Hikandi nickte stumm und spielte mit einem Blatt Papier, das unter dem Blumentopf hervorsah. Er wollte gerade antworten, als ihm auf dem Papier das Wort „Drafnar“ entgegen sprang. Diesen Namen hatte doch sein Vater vorhin erwähnt. Neugierig zog er an der Ecke, die natürlich abriss. Er hob den Topf an und zog auch den Rest hervor. „Tut mir leid, ich hoffe, es war nicht wichtig.“ Zerknirscht hielt er seinem Vater die beiden Stücke hin. Der nahm sie achtlos entgegen und glättete sie zerstreut mit fahrigen Fingern. „Wäre ich doch nur etwas schneller gewesen. Hätte ich doch nur ...“ Seine Augenbrauen hoben sich langsam, sein Mund öffnete sich, er erstarrte in seinem Stuhl. Hikandi betrachtete ihn verwundert, wagte aber nicht, die atemlose Stille zu unterbrechen. Urplötzlich kam Leben in seinen Vater. Hastig murmelte er vor sich hin. Offenbar las er den Text auf den Papierfetzen. „... Drafnar ... Drafnar ... Verdammt! Das ist es! ...“ Er atmete keuchend „So einfach! Wo habe ich nur ...“ Er sprang auf, wobei Bücher und Papiere vom Tisch flogen, lief eilig in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers, riss Bücher und Schriftrollen aus einem Regal, ließ sie ärgerlich fallen, bis er gefunden hatte, wonach er suchte – ein uraltes Buch, stark beschädigt durch ein Feuer. Die roten und grünen Prägungen des Einbandes waren unter den Brandspuren kaum noch zu erkennen. Hastig schlug er das Buch auf, fuhr mit dem Finger die versengten, teilweise unvollständigen Seiten entlang und las aufgeregt. Hikandi beobachtete ihn eine Weile, dann verließ er achselzuckend den Raum. In dieser Stimmung würde sein Vater nicht besonders gesprächig sein. Hikandi würde ihn abends noch einmal aufsuchen. Aber als er abends von einigen Besorgungen wieder nach Hause kam, war sein Vater verschwunden. Sein Schlafzimmer wies Anzeichen eines überstürzten Aufbruchs auf – aufgerissene Schränke, offene Schubladen, herumliegende Kleidungsstücke. Als Hikandi verwirrt in sein eigenes Zimmer kam, lag auf seinem Bett ein Brief.

*

„Svala?“ Bylgja und Askja drehten sich gleichzeitig um und riefen nach dem Hestir-Mädchen. Dann hielten sie inne und lachten über die Gleichzeitigkeit. Sie waren schon den ganzen Tag gewandert. Es wurde nicht viel geredet, zum einen war der Weg unter den Tannen und Buchen schwer zu finden und erforderte viel Konzentration, zum anderen kannten sie sich ja erst einen Tag. So kam es, dass sie sich zunächst in zwei Gruppen aufspalteten – die Fjallnir und Hunar auf der einen und die Smarir-Mädchen auf der anderen Seite. Svala blieb ganz für sich. Abwesend marschierte sie hinter den anderen her und beteiligte sich noch nicht einmal an den kurzen Wortwechseln, in denen es um den besten Weg ging. Den ersten Tag ihrer gemeinsamen Wanderung hatten sie fast hinter sich und noch immer befanden sie sich auf dem langgestreckten, langsam ansteigenden Hügelrücken, der an seiner Südseite an den Hamra stieß. Svala war so in Gedanken versunken, dass sie weit zurückgeblieben war. Bylgja und Askja sahen sie dastehen und auf den Stamm einer Weißtanne starren, als hätte der Baum sie hypnotisiert. Askja kaute auf einem Zweig und beobachtete sie eine Weile: „Sie muss restlos erschöpft sein. Ich finde, sie wird immer apathischer. Wir sollten sie holen, sonst verlieren wir sie noch ganz.“ „Ja, du hast recht.“ Die beiden Mädchen machten sich auf den Weg zu Svala. „Ich frage mich ...“, begann Askja. „Hm?“ „Naja, wie viel Isjaki ihr bedeutet hat. Ich meine, sie ist den ganzen, weiten Weg mit ihm allein gewandert. Auf so eine Unternehmung geht man doch nicht mit irgendjemandem.“ Bylgja antwortete nicht, sie hatten Svala inzwischen erreicht. Die sah nur kurz auf, reagierte aber sonst nicht. Sie starrte weiter stumm vor sich hin und über ihre Wangen rollten Tränen. Bylgja und Askja sahen sich an, dann nahmen sie Svala zwischen sich und zwangen sie mit sanfter Gewalt, mit ihnen zu den anderen zu gehen. Svala ließ alles willenlos geschehen, schob noch nicht einmal die Äste zur Seite. Askja erwischte einen Zweig, bevor er Svala ins Gesicht schlug, hielt ihn fest und warf Bylgja einen besorgten Blick zu. Es war nicht schwer, die andern einzuholen. Sie standen in eine heftige Diskussion, fast schon einen Streit, vertieft, am Fuß eines steilen Geröllhanges. Zerklüftete Felsen stiegen steil empor, in einer Rinne zwischen ihnen dehnte sich eine Schutthalde nach unten. An deren Fuß standen sie nun und mussten irgendwie hinaufgelangen. Halb umgerissene und schiefe Tannen mit zerfetzten Kronen fristeten ihr Dasein auf den Steinen. Als die Mädchen dazu kamen, warf Hunar ihnen einen verzweifelten Blick zu. „Du glaubst also, weil ich im Wald aufgewachsen bin, schaffe ich es nicht, diesen lächerlichen Hang hinauf zu klettern?“, zischte Hrisla gerade. Brimills Gesicht zeigte bereits eine verdächtige Röte, aber bevor er antworten konnte, warf Hunar ein: „Also ich kann es jedenfalls nicht, deshalb wäre ich euch schon dankbar, wenn wir den längeren Weg außen herum nehmen könnten!“ Er deutete auf den Hang neben den Felsen, wo der Boden zwar steil, aber ohne Hindernisse anstieg, bedeckt von Buchenlaub und Tannennadeln. Mit einem flehenden Blick bat Hunar Askja und Bylgja stumm um Unterstützung bei der Schlichtung des Streites. „Kann er das wirklich nicht?“, flüsterte Askja Bylgja zu. „Ach was“, raunte die. „Er will bloß verhindern, dass deine Schwester und mein Bruder sich gegenseitig erwürgen! Ich weiß bloß nicht, ob das die richtige Lösung ist.“ „Hm. Du meinst also, es wäre besser, wenn sie sich erwürgen?“ Askja runzelt ernsthaft die Stirn, dann grinste sie und stieß Bylgja in die Seite. „Guck nicht so! Ich weiß, was du meinst – und es ist sicher nicht die beste Lösung!“ Entschlossen drückte Askja Svala auf einen umgestürzten Baumstamm, setzte sich seelenruhig daneben und winkte den beiden Streithähnen zu. „Na los, fangt schon an. Je eher ihr fertig seid, desto eher kommen wir weiter.“ Alle bis auf Svala sahen sie verwirrt an. Allerdings hielt die Verwirrung unterschiedlich lange an. Am schnellsten erholte sich Bylgja, setzte sich neben Askja und begann angelegentlich, den Inhalt ihres Rucksackes zu sortieren, als hätte sie alle Zeit der Welt. Als nächstes kam Hrisla zu sich, knurrte ihre unschuldig lächelnde Schwester mit funkelnden Augen an und fauchte dann Brimill zu: „Also gut – wer als erster oben ist, Fjallni!“ Brimill hielt sich nicht lange mit einer Antwort auf, und beide begannen verbissen, den Geröllhang hinauf zu klettern. Hunar brauchte am längsten, um seiner Verwunderung Herr zu werden. Schließlich kratzte er sich am Kopf und ging zu Askja und Bylgja hinüber, die sich in aller Ruhe über irgendwelche Belanglosigkeiten unterhielten. „Sagt mal, was ... ?“ Ratlos hob er die Hände. Askja sah auf. „Die hätten doch sowieso keine Ruhe gegeben. Du hast es bisher wunderbar geschafft, für Frieden zwischen den beiden zu sorgen, das ist wirklich bewundernswert – nein, ehrlich! –, aber es ist auf Dauer völlig wirkungslos. Erfahrungsgemäß muss es erst zum Knall kommen, bevor Hrisla verträglich wird.“ „Aha.“ Hunar ließ sich neben sie fallen. „Also lass sie sich hier austoben“, fuhr Bylgja fort. „Besser wir warten hier ein bisschen auf unser Abendessen, als dass sie uns den ganzen Weg verderben. Hier, willst du ein paar Nüsse?“ Gedankenverloren nahm Hunar die Nüsse. Dann schüttelte er lachend den Kopf. „Himmel, könnt ihr gemein sein!“ „Nicht gemein – nur realistisch!“ Askja grinste über das ganze Gesicht. Ein Siegesruf unterbrach sie. Hrisla hatte es tatsächlich geschafft, sie war als erste oben angekommen. Sie stand auf einem Felsen, neben sich eine Buche, Brimill einen halben Meter unter sich. Stolz reckte sie die Arme, ihre grünen Haare standen zu allen Seiten ab, als sie Brimill einen triumphierenden Blick zuwarf, den dieser abgrundtief finster erwiderte. Schweigend machten sie sich wieder an den Abstieg. Hrisla kam jedoch nicht weit. Im Hochgefühl ihres Triumphes wurde sie unvorsichtig. Beim zweiten Schritt rutschte sie ab, und sie wäre den ganzen Hang hinuntergestürzt, wenn Brimill, der ein Stück unter ihr war, nicht geistesgegenwärtig ihren Arm gepackt und sie festgehalten hätte. Hrisla war blass geworden und es dauerte eine Weile, bis ihre Füße und Hände wieder richtig Halt hatten. Dann ließ Brimill sie ohne Kommentar los und kletterte weiter. Hrisla folgte ihm genauso schweigend. Nur ihre Schritte und das gelegentliche leise Klackern von Steinen war zu hören. „Kein Wort zu all dem!“, murmelte Askja zwischen den Zähnen, während sie angelegentlich das Gras zwischen ihren Füßen musterte. „Wir haben nichts von ihrem Sturz bemerkt! Und auch nichts von ihrem Sieg!“ „Wenn du meinst ...“ Stirnrunzelnd sah Hunar sie an. „Aber warum sind sie überhaupt wieder heruntergekommen? Wir müssen doch auf jeden Fall rauf!“ Askja hob einen Zeigefinder, setzte ein ernstes Gesicht auf und dozierte weise: „Hunar – bei der ganzen Sache ging es einzig und allein darum, Dickschädel durchzusetzen – nicht um Erwägungen praktischer Art!“ Bylgja stand auf und zog Svala mit sich. „Gut, dann können wir ja jetzt einen Lagerplatz suchen!“ Wortlos folgten ihr die anderen. Hunar hörte noch, wie Hrisla „Danke!“ sagte, was Brimill aber nur mit einem Knurren zur Kenntnis nahm. Sie wählten jetzt den weiteren, aber bequemeren Weg um den Felsen herum. „Lasst uns hier bleiben.“ Hunar sah sich um, als sie oben angekommen waren. „Diese Lichtung ist gut – Wasser, Brennholz, Platz zum Schlafen, alles da, was man braucht!“ Er wartete die Kommentare der anderen nicht erst ab, sondern warf seinen Rucksack auf den Boden und sortierte Bogen und Pfeile. „Es wird nämlich bald dunkel, und ich wollte vorher noch ein Abendessen finden.“ „Ich komme mit“, sagte Askja und kam damit Hrisla zuvor, die statt dessen losmarschierte, um die Umgebung nach eventuellen Gefahren abzusuchen. Brimill suchte Feuerholz, und Bylgja bereitete das Lager vor. Hunar wollte etwas zu Svala sagen, die mit hängendem Kopf zwischen den Büschen verschwand, aber Askja schüttelte stumm den Kopf und zog Hunar mit sich fort. „Lass sie in Ruhe. Sie hatte noch nicht viel Zeit, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.“ Askja brach ab und sah Hunar von der Seite an, als sie durch einen schmalen Waldstreifen gingen. Es dämmerte bereits, rechts über ihnen schimmerte der Himmel rotgolden durch die Wipfel der Tannen, die die Buchen inzwischen fast ganz abgelöst hatten. „War Isjaki nur ein Reisebegleiter für sie? Oder bedeutete er ihr mehr?“, fragte Askja schließlich vorsichtig. Hunar zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht genau. Gesagt hat sie nichts. Aber er ... hat ihr Sachen erzählt, die er nicht irgendwem erzählen würde.“ Askja nickte. „Dann wird es vermutlich noch lange dauern, bis sie sich erholt.“ Sie brach wieder ab. Hunar hockte sich hin und musterte den von Nadeln übersäten Boden. Ein Wildwechsel führte schnurgerade zwischen die Bäume. Im letzten Licht des Tages ließen sich Spuren eines Paarhufers erkennen „Könnten Ziegen sein“, murmelte Hunar vor sich hin. Askja ließ sich neben ihm nieder, war aber mit ihren Gedanken woanders. „Hunar?“ „Hm?“ „Wie geht es dir? Ich meine – Isjaki war dein Bruder, oder?“ „Ja, war er. Und?“ Hunar ließ sich auf den Boden fallen und sah Askja an. Dann vergrub er den Kopf in den Händen und murmelte: „Er ist nicht tot.“ Askja holte Luft um etwas zu sagen, aber Hunar hob den Kopf und kam ihr zuvor: „Nein, das rede ich mir nicht ein. Ich weiß es. Und ich weiß auch, wie und wieso. Aber ich will es nicht wissen, ich will nicht, dass es wahr ist, und deshalb will ich auch nicht darüber reden! Verstanden?“ „Ist gut – entschuldige.“ Askja erhob sich. „Lass uns dieses Tier verfolgen, was immer es ist. Ich höre Hrisla sich schon aufregen, dass wir bei soviel Gequassel nie was erlegen.“ Dankbar ging Hunar auf den flapsigen Gesprächston ein. „Ja, weißt du, wir Hirdir sind eben so gut, wir können gleichzeitig quasseln und jagen.“ „Oder euer Wild ist taub.“ „Stocktaub.“ Kichernd folgten beide der Spur bergauf, bis sie den Rand des Waldes erreichten. Dann hielt Hunar Askja zurück. Vor ihnen stiegen Granitfelsen auf, die sich in der Ferne auf dem Hamra verloren. Oben auf den Felsen standen einige Bergziegen. Sofort verhielten sich beide mucksmäuschenstill. Mit ruhigen Bewegungen legte Hunar einen Pfeil auf die Sehne. Die Ziegen musterten ihn neugierig, aber ohne Misstrauen. Erst als eine von ihnen mit dem Pfeil in der Seite hinabstürzte, stoben die anderen davon. „Jetzt haben sie gelernt, was Menschen sind“, stellte Askja fest, dann gingen sie zu dem toten Tier. Als sie es aufheben wollten, zögerte Hunar. Dann sagte er leise: „Ihr wusstet schon länger von den Verwandlern?“ „Ja.“ Abwartend sah Askja ihn an. „Und du ... findest sie nicht unheimlich?“ „Nein. Ich meine – man muss sich schon daran gewöhnen, wenn sich plötzlich jemand in einen Vogel verwandelt. Aber unheimlich – nein.“ Sie sah Hunar forschend ins Gesicht, aber er ging nicht weiter darauf ein. Er sah stumm auf die tote Ziege. Dann hob er sie auf und ging voran. Askja folgte ihm in Gedanken versunken.

Askja zog der Ziege das Fell ab, während Bylgja Spieße zurecht schnitzte. Um sie herum sanken die Schatten zwischen die Tannen, aber in der Lichtung gab es noch genug Licht. Brimill hatte ein Feuer entfacht. „Sag mal“, begann Bylgja vorsichtig, „habt ihr auf eurer Wanderung was von unseren Leuten gesehen? Hunar hat mir erzählt, dass ihr auf die Hirdir getroffen seid, und ...“ „Und da dachtest du, da ihr ja den Hirdir ihr Land rauben wollt, müssten wir eigentlich auch auf euch getroffen sein? Wie?“ Askja seufzte, hob den Kopf und sah ihre Schwester stirnrunzelnd an. Hrisla war unbemerkt hinter sie getreten und stand nun breitbeinig mit verschränkten Armen da. Bylgja zwang sich, ruhig zu antworten: „Ja, das dachte ich.“ „Oh ja“, fuhr Hrisla höhnisch fort, Askjas warnendes Mienenspiel ignorierend, „wir haben sie gesehen, ein ziemlich heruntergekommener Haufen, wenn du mich fragst. Sie ...“ Brimills Kopf fuhr herum. „Hrisla!“ Askja sprang auf, ihre braunen Locken zitterten. „Es reicht!“ „Ist schon gut, lassen wir das einfach“, versuchte Bylgja zu beschwichtigen, aber es war zu spät. Brimill baute sich vor Hrisla auf, das Funkeln in seinen Augen hätte gereicht, sie in Flammen aufgehen zu lassen. Hrisla trat drohend einen Schritt auf Brimill zu. Hunar kam herbei und schob sich zwischen die beiden. „Hrisla, hör auf, das geht nur die Fjallnir und uns was an. Und ich weiß nicht, ob ihr euch die Verzweiflung vorstellen könnt, die die Kälte und der Hunger auslösen. Wenn ...“ Brimill unterbrach ihn fauchend. „Ja, ihr hockt da gemütlich im Wald, und lasst es euch gutgehen – und wir ...“ „Ach ja? Immerhin wart ihr Hirdir ganz dankbar, dass wir euch in unseren gemütlichen Wald hineingelassen haben! Statt ein bisschen Mumm aufzubringen und euch gegen die Fjallnir zu verteidigen!“ Hunar fuhr zurück, einen Moment war er sprachlos bei diesem boshaften Angriff. Nicht so Brimill. „Und ihr? Wer ist denn vor den Fitjungir in den Wald gelaufen? Heh?“ Zur Antwort bekam er einen Fausthieb von Hrisla auf die Nase, das Blut schoss hervor. Er taumelte überrascht zurück, dann zogen sich seine Brauen zusammen, und mit einem Wutgebrüll sprang er auf Hrisla zu. Um mitten im Sprung anzuhalten. Alle standen still wie versteinert. Wie aus dem Nichts war aus dem Dunkel zwischen den Stämmen eine Frau erschienen, eine Frau mit goldblonden Haaren, die lang über ihren Mantel fielen, nur die oberen Haare waren weiß wie Schnee. Ihr Mantel. Wie gebannt hingen die Augen aller an dem Mantel, der sich ständig aufzulösen und wieder zu verfestigen schien und wie ein fließender, goldener Nebel vor den Schatten der Bäume schwebte. Askja starrte die Frau an und wich zwei Schritte zurück. Sie starrte auf die fliehende Stirn unter den weißen Haaren, die weiter unten durch goldene abgelöst wurden, sah die weißen, geraden Augenbrauen, die wie ein Schnabel vorspringende Nase, sah die Ähnlichkeit mit Haukurs Gesichtszügen und begriff, wen sie vor sich hatten. „Hrydja“, hauchte sie, als ihre Schwester auch schon einen Bogen schnappte und auf Hrydja anlegte. Eine knappe Handbewegung von Hrydja, der Bogen fiel Hrisla aus der Hand. Sie schrie auf vor Schmerz und krümmte sich über ihren Arm. Brimill erwachte zum Leben, riss Hrisla hinter sich, und pflanzte sich mit der Axt in der Hand vor Hrydja auf. Seine Brauen hatten sich drohend zusammengezogen, aber die gleichzeitig aufgerissenen Augen und die zusammengebissenen Kiefer sprachen eine andere Sprache. Hrydja hob leicht eine Augenbraue, fixierte Brimill mit ihren kalten, gelben Augen. Brimills Atem wurde keuchend, er begann zu schwitzen, seine Hände zitterten. Die Axt fiel ihm aus der Hand, das Zittern griff auf seinen Körper, seine Beine über. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Ein leichtes Zusammenziehen von Hrydjas Augen, und das Blut wich Brimill aus dem Gesicht. Grau und verzerrt war es, die Augen quollen hervor. Bylgja schrie auf, sprang neben ihren Bruder. Mit einem spöttischen Blick hob Hrydja die Hand – da fiel ihr Blick auf Hunar. Sie ließ die Hand sinken, und Brimill fiel reglos zu Boden. Bylgja kauerte sich neben ihn. „Sieh an, Hugurs jüngster Enkel.“ Es war, als würde die Luft gefrieren. Hunar spürte das Eis in Hrydjas Stimme in sein Hirn stürzen. Seine Gedanken, sein Wille, sein Ich erstickten unter der weißgoldenen Kälte. Er stand da und starrte sie an, sah in die steinernen Augen, die ihn festhielten, ohne zu blinzeln. Komm her. Er hörte den Befehl nicht, sie sprach ihn nicht aus, ihr Gesicht blieb unbewegt wie Stein. Aber die Worte waren in seinem Hirn, in seinen Muskeln, zwangen sie, sich in Bewegung zu setzen. Hunars Geist rührte sich unter der erstickenden Kälte, er wollte nicht zu ihr – überall hin, aber nicht zu ihr. Er kämpfte gegen die Eisesstarre seiner Gedanken an, versuchte, Herr seiner Glieder zu werden, seine Beine zu hindern, sich zu heben und zu senken, die Füße davon abzuhalten, sich auf den Boden zu setzen, Schritt für Schritt auf Hrydja zu. Ein schwaches Lächeln glomm in den gelben Augen auf, ein Lächeln wie ein Winterblitz. Dann war Hunars Geist klar, er war wieder Herr über seine Gedanken, sah Askjas Arm im Augenwinkel, den sie nach ihm ausstreckte, hörte sie rufen: „Geh nicht – nicht zu ihr!“ Aber er hatte keine Macht über seine Glieder. Er konnte nicht stehenbleiben. Er spürte die Bewegung, die ihn unaufhaltsam auf die gelben Augen zutrieb, und er konnte nichts dagegen tun. Er spürte kalten Schweiß auf der Stirn, die Leere der Angst breitete sich in seinem Inneren aus, presste den Magen zusammen, stieg ihm in die Kehle und sackte in die Knie. Seine Beine begannen zu zittern, sie waren nicht mehr in der Lage, ihn zu tragen. Einzig Hrydjas Wille hielt ihn aufrecht, zwang seine Beine, ihn weiter zu tragen, weiter zu ihr hin. Schritt für Schritt. Noch drei, vier Schritte, und nichts würde ihn mehr von diesen Augen trennen. Ihr Blick hielt seine Augen fest, bis sie sein Gesichtsfeld ausfüllten. Alles was er sah, waren diese Augen, gelb und kalt wie Stein. Ein Gelb, das immer näher kam. Schatten drangen von außen in sein Gesichtsfeld ein, nur das Gelb brannte weiter in den Schatten, alles andere versank in Dunkelheit. Ein rotes Leuchten fiel plötzlich in die Schatten, Feuerrot blendete das Gelb aus. Hunar merkte noch, wie er fiel, dann schlugen die Schatten über ihm zusammen. Askja lief zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Stirn, fühlte seinen Puls, ließ aber kein Auge von der roten Gestalt, die in den tiefer werdenden Schatten der Dämmerung leuchtete. Das Rot war zu einer Wölfin geworden, einer großen Wölfin mit einem Fell so rot wie Feuer. Sie stand stumm vor Hrydja, den Kopf gesenkt, die Lefzen hochgezogen. Ihre Augen waren dunkel, dunkel wie die tiefe Erde. Aber als Hrydjas Brauen sich zusammenzogen und sie mit einem wütenden Fauchen beide Hände gegen die Wölfin erhob, glomm in den Tiefen der Wolfsaugen eine Flamme auf, rot wie Blut. Nichts sonst rührte sich an dem Tier. Aber Hrydja wich zurück. Mit einem leisen, ungläubigen Schrei erkannte sie ihre Niederlage, drehte sich mit einem letzten zornigen Blick um und verschwand in einer goldenen Nebelschwade. Ein goldgefiederter Milan verschwand im Dunkel der Tannen. Brimill kam wieder zu sich, setzte sich stöhnend auf und schüttelte die fürsorgliche Hand seiner Schwester brummend ab. Hunar erholte sich ebenfalls, sobald der goldene Milan verschwunden war, blinzelte verwirrt umher und rappelte sich dann auf. Auf der Unterlippe kauend stand er da und betrachtete die Wölfin. Das Glühen in den Wolfsaugen erlosch, während das Tier seinen Blick ruhig erwiderte. Askja erlangte als erste die Fassung wieder, sah sich um und erschrak. „Wo – wo ist Svala?“ Noch während sie rief, sprang Askja auf, lief zum Waldrand, verschwand nach Svala rufend zwischen den Bäumen. „Beim Drachenstein – sie hat den Korb!“ Bylgja rannte hinter Askja her. Die Wölfin ging zu Hrisla hinüber und näherte sich ihr. Hrisla zuckte zurück, Brimills Hand fuhr zu seiner Axt, gerade noch konnte Hunar ihn zurückhalten. „Bist du verrückt? Lass sie!“ Atemlos beobachteten alle drei, wie die Wölfin sacht mit der Schnauze über Hrislas verletzten Arm fuhr. Dann warf sie Hunar noch einen Blick zu und schritt hinüber zu den Bäumen, zwischen denen Askja und Bylgja verschwunden waren. „Und?“ fuhr Brimill Hrisla an, um seiner Aufregung Herr zu werden, und packte ihren Arm. Hrisla nickte. „Ist schon gut, tut nicht mehr weh. Sie hat die Schmerzen ... beim Drachenlicht – was für ein Wolf kann Schmerzen verschwinden lassen?“ „Die Frage ist wohl eher, was für ein Wolf kann Hrydja vertreiben“, erwiderte Hunar und fuhr dann fort: „Ihr bleibt hier – ich seh mal, wo die anderen sind.“ Langsam ging er hinüber zum Rand der Lichtung und trat vorsichtig zwischen die Tannen. Es war nicht ganz so dunkel hier, wie er befürchtet hatte. Die Spuren der Mädchen waren nicht zu übersehen. Wolfsspuren sah er dagegen keine einzige. Er folgte der Spur der von Bylgjas Füßen aufgewirbelten Tannennadeln. Dass Askja sehr viel vorsichtiger auftrat, hatte er schon früher beobachtet. Unvermittelt tat sich zwischen den Bäumen ein Krater auf, vielleicht zwanzig Schritt im Durchmesser und eine Manneslänge tief. Der Boden im Krater war kahl, nur wenige dürre Kräuter fristeten hier ihr Leben. Hunar runzelte die Stirn, als er verkohlte Reste von Bäumen entdeckte. Aber nur auf dem Boden im Krater, die Bäume ringsum und selbst die Kräuter waren unversehrt. Dann sah er den Felsen. Er war schwarz, so schwarz und glanzlos, als hätte jemand ein Loch in die Wirklichkeit geschnitten und den Blick freigelegt auf das endlose Nichts hinter dieser Wirklichkeit. Kein Riss, keine Spalte war in ihm zu sehen, glatt wie ein Tierrücken wölbte sich der schwarze Stein. Kein Gras, kein Moos, nicht einmal Flechten hatten Halt auf ihm gefunden. Hunars Blick wurde abgelenkt, am Rand des Kraters entdeckte er Svala, neben ihr stand der Korb. Erleichtert öffnete er den Mund, um Askja und Bylgja zu rufen, da sagte Svala ganz ruhig: „Ich kenne dich.“ Hunar hielt erstaunt inne, dann merkte er, dass Svala nicht mit ihm sprach. Vor ihr saß die Wölfin. Ihr Fell schimmerte im Dunkel, sanft wie glimmendes Holz. Sie nickte zu Svalas Worten. „Ja, wir sind uns schon begegnet.“ Hunar fuhr zurück bis an den Fels. Eine sprechende Wölfin? Dann begriff er, dass nicht nur Vögel sich in Menschen verwandeln konnten. Und er begriff, wieso diese Wölfin Hrydja hatte vertreiben können. „Danke“, brachte er stammelnd hervor. „Du – du bist ...“ Die Augen der Wölfin wandten sich ihm zu. Lange sah sie ihn an. „Hugurs Enkel. Du hast keinen Anlass, mir zu danken, ich habe es nicht euretwegen getan. Ich habe wenig Grund, euch zu lieben. Niemand von uns hat einen Grund, Menschen zu lieben. Und warum Hugur deine Großmutter geliebt hat ... werde ich nie verstehen. Nein, ich half euch, weil – ich eine Schuld wiedergutzumachen habe. Und ich werde über euch wachen, bis ihr den Hamra betreten habt. Danach kann Hrydja euch nichts mehr anhaben. Und ...“ Der Rest ihrer Worte verschwamm für Hunar. Er hatte die Hände hinter sich auf den schwarzen Fels gelegt und unvermittelt verblasste seine Umgebung, machte Platz für andere Büsche, auch Bäume. Laubbäume, die locker standen und das Sonnenlicht ungehindert zwischen sich ließen. Die frischen, grünen Blätter reichten bis an den Rand des Kraters – aber nicht weiter. In der Mitte des Kraters lag der schwarze Fels unverändert. Um ihn herum waren Gras und Kräuter schwarz verbrannt. Asche bedeckte den Boden, verkohlte, noch rauchende Stümpfe erhoben sich, zersplitterte Bäume sahen unter dem Fels hervor, als wäre er gerade auf sie gestürzt. Eine aufgebrachte Menschenmenge hielt sich unter den unversehrten Laubbäumen, als hüteten sie sich, den verbrannten Boden zu betreten, aber sie waren zu substanzlos, um echt zu sein. Sie redeten und schimpften – doch Hunar sah nur die Bewegungen ihrer Münder und Hände. Die Szene war vollkommen lautlos. Dann erkannte er Haukur vor dem Felsen, neben ihm stand eine Frau mit schwarzem Haar und schneeweißer Haut. Sie war so schön, wie Hunar noch nie eine Frau gesehen hatte. Sie lächelte, versuchte augenscheinlich, zu vermitteln bei dem Streit zwischen den Menschen und Haukur. Da bückte sich einer der Menschen, ein blondbärtiger Riese, ergriff einen schwarzen, länglichen Steinsplitter, so absolut und vollkommen schwarz wie dieser Felsen hier, und warf ihn nach der schönen Frau. Der Splitter fuhr ihr in die Brust und sie brach tot zusammen. Einen Moment sah Hunar Haukurs fassungsloses Gesicht, dann brach sich der Schmerz Bahn, und Haukurs Schmerz beim Anblick der Toten war für Hunar so plötzlich und so unerträglich, dass er auf die Knie fiel und sich auf dem Boden krümmte. Kaum hatten sich seine Hände von dem Felsen gelöst, verschwand das Trugbild, der Platz lag dunkel um ihn, schwarz hoben sich die Tannen vom Nachthimmel ab. Askja und Bylgja waren inzwischen eingetroffen und redeten leise auf Svala ein. Hunar sah auf und sein Blick traf den der Wölfin. „Ja“, raunte sie leise, „und das war nur der Anfang.“ „Aber, was – wieso ...“ „Das ist Drachenstein und du hast Verwandlerblut in den Adern“, erwiderte die Wölfin, als sei damit alles erklärt. „Nein, frag mich nicht. Und – frag auch Hugur nicht. Frag niemals Hugur nach dem, was hier geschah.“ Benommen sah Hunar zu, wie die Wölfin zwischen den Büschen verschwand. Bevor Svala aufstand, um Askja zu folgen, hob sie einen Stein auf und betrachtete ihn. Dann steckte sie ihn in ihren Beutel. Er war schwarz. So schwarz wie das Nichts.