Die Zeit des Erwachens - Isabell Valentin - E-Book

Die Zeit des Erwachens E-Book

Isabell Valentin

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Beschreibung

"Wer sollte dir denn helfen? Du bist ganz alleine." "Nein, bin ich nicht", entgegnete Damian schwach. "Dann sieh dich doch um, Damian. Wer ist denn da, um dir zu helfen? Du bist ganz allein." Der Insolvenzverwalter Richard Roth liegt erschlagen in seinem Haus. Wurde ihm die Macht über das Schicksal seiner Mandanten zum Verhängnis oder wurde er das Opfer der rumänischen Einbrecherbande, die in dieser Gegend gerade agiert? Damian Johannsson, Aaron Breuer und sein Team begeben sich auf die Suche nach dem Mörder. Doch schon bald stellt sich die Frage, wer hier wen jagt.

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Alle Personen und Ereignisse

sind frei erfunden.

Über die Autorin:

Isabell Valentin wurde 1978 in Frankfurt am Main geboren. Sie wuchs in Hessen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland auf und studierte Grafik-Design in Freiburg, Baden-Württemberg.

Heute lebt die Grafik-Designerin, Illustratorin, Dozentin für Malerei und für kreatives Schreiben, Autorin und Mutter von drei Kindern im beschaulichen Saarland.

Damian Johannsson und Aaron Breuer.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 1

Krachende Schüsse hallten durch die düsteren Gänge des leer stehenden Gebäudes. Die ganze Szenerie schien in kalten Blau- und Grüntönen zu versinken. Mit einem Hechtsprung brachten sich die zwei Polizisten hinter einem großen Betonpfeiler in Sicherheit. Schwer atmend wagten sie einen Blick zu beiden Seiten ihres Schutzwalls hinaus. Sofort hagelte es wieder Schüsse, die sie mit einem Betonsplitterregen bedeckten. „Sieht so aus, als wären wir ganz schön in der Unterzahl“, sagte der jüngere der beiden und schenkte seinem Kollegen ein schiefes Lächeln. Es sollte tapfer wirken, aber man sah die Angst, die sich dahinter verbarg. Sein älterer Kollege nickte grimmig. „Ist doch nichts Neues für uns, oder?“

„Nein, ist es nicht.“

Sie hoben ihre Waffen und gaben ein paar gezielte Schüsse auf ihre Gegner ab. Ganz fokussiert auf das, was vor ihnen geschah. Doch die schlimmste Gefahr schlich sich von hinten an sie heran. Ein Schatten erhob sich unbemerkt, hob die Waffe und schoss. Das kurze Aufblitzen aus der Mündung, als der Schuss sich löste, spiegelte sich in den Augen des Schattenmannes. Das Gesicht war zu einer triumphierenden Fratze verzogen. Der junge Polizist schrie auf und wurde von der Wucht des Projektileinschlags zu Boden geschleudert. Sein älterer Kollege drehte sich blitzschnell um. Ein Streifschuss zerriss den Stoff seines Ärmels und verletzte ihn. Sein eigener Schuss traf ins Schwarze und fällte den Gegner wie einen Baum. Schnell zog er seinen jungen Kollegen wieder hinter den schützenden Pfeiler. Eine breite Blutspur bedeckte den Boden. Das warme Rot wirkte so fremd und bedrohlich in dieser kalten Atmosphäre. Der junge Polizist sah seinen Kollegen keuchend an. Eine Hand in dessen Jacke gekrallt, die strahlend blauen Augen weit aufgerissen.

„Sag ihr ...“, er hustete. Blut floss aus seinem Mundwinkel. „Sag ihr, dass ich sie liebe.“

Der Ältere nickte nur stumm. Er wusste, von wem sein Kollege, sein Freund, sprach. Verzweifelt sah er, wie der Mann, der kaum aus einem Jungen herausgewachsen war, die Augen verdrehte und seinen letzten Atemzug nahm.

„Nein, nein, nein!“

Vom Schmerz übermannt, zog er den Toten in seine Arme und weinte. Wieder peitschten Schüsse durch die Luft. Mörtel platzte von den Wänden. Sanft legte er seinen toten Freund zurück auf den Boden, schloss die Lider über gebrochenen blauen Augen. Dann hob sich sein Blick. Wut und Entschlossenheit spiegelten sich in diesem wider. Mit einem Kampfschrei sprang er auf und stürmte nach vorne. Die um ihn herum peitschenden Schüsse ignorierend, feuerte er ohne Unterlass und lichtete nach und nach die Reihen seiner Feinde.

Damian Johannsson schnaubte missbilligend.

„Jetzt werden sie aber ganz schön unrealistisch. Hast du mal nachgezählt, wie oft der schon geschossen hat? Nachladen muss ein Held scheinbar nicht. Und plötzlich können die anderen auch nicht mehr zielen, dafür trifft bei ihm jeder Schuss.“

Sarah blinzelte den Schleier aus Tränen weg.

„Das ist ein Action-Film. Was erwartest du?“ Sie hasste, wie belegt ihre Stimme klang. Was war nur mit ihr los? Wegen eines Baller-Films brach man nicht in Tränen aus. Doch die blauen Augen des sterbenden Polizisten hatten sie mitten ins Herz getroffen. Sie waren genauso intensiv wie Damians. Ihr Freund war bei der Saarbrücker Mordkommission, genauer gesagt dem Sachgebiet für Tötungs- und Sexualdelikte, dem LPP 213. Er konnte auch in eine solche Situation geraten, am Boden liegend und sterbend.

„Würde man mich überhaupt informieren?“

Damian sah sie verwirrt an.

„Wenn dir etwas zustoßen sollte. Würde mich irgendjemand informieren?“, fragte Sarah leise. Sie traute ihrer Stimme nicht. Alleine über eine solche Möglichkeit zu sprechen, überstieg fast ihre Kräfte.

Damian überlegte eine Weile. „Als Notfall-Kontakt ist meine Schwester Lotte hinterlegt. Sie würde dich auf jeden Fall sofort informieren. Und Breuer auch. Schließlich kennt er dich und weiß, dass wir zusammen sind. Aber mach dir bitte keine Sorgen. Die Realität sieht nicht so aus. Das ist total übertrieben. Ein Hauptteil unserer Arbeit besteht aus langweiligen Befragungen und Schreibtischarbeit. Mir passiert schon nichts.“

Sarah nickte stumm. Sie konnte jetzt nicht sprechen. Angestrengt sah sie auf den Fernseher. Der Held hatte inzwischen im Alleingang all seine Feinde niedergemetzelt. Nein, das entsprach wirklich nicht der Realität. In der Realität wären jetzt beide Polizisten tot.

„Ich ändere das morgen“, drang Damians Stimme zu ihr durch. Sarah sah ihn fragend an.

„Ich werde dich als meinen Notfall-Kontakt hinterlegen“, erklärte Damian.

Sarah kullerten die ersten Tränen über die Wangen. Sie wischte sie hastig weg und senkte den Kopf, sodass ein Schleier aus weiß-blonden Locken ihr Gesicht verbarg.

Das war ein großer Schritt. Im Sommer waren sie zusammengekommen. Sie, die Tänzerin mit eigenem Studio und er, der Kriminalpolizist. Sie liebte einfach alles an ihm. Seine schwarzen Haare, die er immer locker aus dem Gesicht gekämmt hatte, sein Faible für schicke Anzüge und vor allem seine unvergleichlichen Augen. Sie verbrachten immer mehr Zeit miteinander und lebten schon fast zusammen. Damians kleines Häuschen lag Garten an Garten zu ihrem, aber die meiste Zeit hielten sie sich bei ihr auf. Schon wegen Sarahs kleiner Tochter Kathy. Aber dass er sie jetzt als seinen Notfall-Kontakt angeben wollte, zeigte, wie ernst Damian ihre Beziehung war.

„Warum weinst du, Sarah? Machen dir die Risiken meines Berufs denn so viel zu schaffen?“

„Ach, nein. Ich weiß nicht. Mir geht es heute nicht so gut. Da bin ich etwas empfindlich.“

Ihr ging es schon seit Wochen nicht so gut. Sie fühlte sich kraftlos und wahnsinnig müde. Da ihr Kreislauf ständig im Keller war, war ihr auch immerzu schlecht. Sie wollte nur noch schlafen. Aber das wollte sie Damian jetzt nicht sagen. Sie sollte endlich zu einem Arzt gehen und sich untersuchen lassen. So konnte es nicht weitergehen.

„Soll ich das ausmachen?“, fragte er und nickte Richtung Fernseher.

„Nein, Quatsch. Jetzt will ich auch wissen, wie der Film ausgeht.“

Eigentlich war ihr der Film inzwischen ganz egal, aber er bot eine gute Entschuldigung, dieses Gespräch zu beenden.

Kapitel 2

Bukarest, Rumänien

Der Parkettboden bebte unter den synchronen Schritten der Tänzer. Tap – Tap – Taptaptap, tap – Tap – Taptaptap. Dann eine komplizierte Schrittfolge, die jeder beherrschte. Die Tradition war. Bredas Blicke klebten an Gabriela. Ihre schwarzen, ungezähmten Haare, die Wangen gerötet von endlosen Tänzen. Liana mochte die Braut sein. Doch so chic zurechtgemacht sie auch sein sollte, Gabriela war eindeutig die schönste Frau auf diesem Fest. Die schönste Frau, die er kannte. Sie blickte ihn aus dunklen, feurigen Augen an, lächelte glücklich. Ach, könnte er nur ihre Hand halten. Leider stand er zu weit weg von ihr, als der Sirba angestimmt wurde und sich die Gäste an den Händen fassten, um nach rumänischer Folklore zu tanzen. Es war fünf Uhr morgens, als Breda sah, wie Gabriela die Hochzeitsgesellschaft verlies.

„Gabriela. Gabriela! Du gehst?“ Er rannte hinter ihr her. Gabriela nickte. „Ich habe noch eine Verabredung mit dem Informanten.“

„Um diese Uhrzeit?“

„Du kennst ja das rumänische Sprichwort: A trecut baba cu colacii. Die Omi mit dem Kuchen ist schon vorbeigegangen. Der Informant hat noch weitere Interessenten an der Hand. Wenn wir zu spät sind, war’s das.“

Breda nickte. „Ich komme mit. Du solltest dich als Frau nicht alleine mit so zwielichtigen Personen treffen und schon gar nicht um diese Uhrzeit.“

Gabriela lachte schallend und warf ihr langes Haar zurück. „Wir sind selbst ziemlich zwielichtig, Breda.

Und danke, ich kann ganz gut alleine auf mich aufpassen.“

Breda schüttelte den Kopf. „Dennoch. Ich komme mit!“

Sie stiegen in Gabrielas Wagen ein. Ein alter Mustang.

Schwarz und glänzend. Breda beneidete Gabriela um dieses Prachtstück. Das Ächzen der Karosserie beim Einsteigen verriet, dass der Mustang seine besten Zeiten schon weit hinter sich gelassen hatte und der schöne Schein mehr versprach, als dahintersteckte.

„Wo fahren wir hin?“, fragte Breda.

„Ferentari.“

„Ferentari? War ja klar.“ Breda schauderte es.

Bukarest war in sechs administrative Sektoren unterteilt, die je ein eigenes Rathaus und einen eigenen Bürgermeister hatten. Zum Sektor fünf gehörte Ferentari. Der Stadtteil mit dem schlechtesten Ruf und bekannt für seine Kriminalität. Prostitution und Drogendelikte gehörten hier zur Tagesordnung. Breda war schon einmal dort gewesen. Ferentari war grau. Graue Wohnblöcke ohne Putz und im schlechten Zustand.

Grau vor Unrat, grau vor Hoffnungslosigkeit. Klar, gab es hier auch die besseren Straßen. Links an der Ecke Cale Rahovei und der Straße Ferentari begannen die neuen Wohnblocks. Doch der Großteil von Ferentari war grau und verdreckt. Ein Slum. Im Schein der wenigen Straßenlaternen sah er die Müllberge, die sich überall türmten. An den Häuserfronten, an der Bushaltestelle, am Laternenpfahl. Jede Stelle schien recht zu sein, um Unrat anzuhäufen. Breda verzog angeekelt das Gesicht.

Gabriela bog ab und parkte den Wagen.

„Stada Livezilor. Von dieser Straße sollte man sich fernhalten. Muss das denn sein?“, flüsterte Breda heiser.

„Du wolltest ja unbedingt mitkommen“, erwiderte Gabriela. Sie öffnete die Motorhaube ihres Wagens und den Deckel des Sicherungskastens und entnahm die weiße Plastikzange, mit der sie die Hauptsicherung herauszog und in ein kleines Kästchen verstaute.

„Die einfachste Diebstahlsicherung“, sagte sie, schloss wieder den Sicherungsdeckel und die Motorhaube und sperrte zusätzlich das Auto ab.

„Was ist?“, spottete Breda. „Traust du deinen zwielichtigen Freunden nicht?“

„Wohl kaum. Komm mit und sei leise. Das Sprechen überlässt du mir.“

Die Luft stank erbärmlich. Breda versuchte, möglichst flach zu atmen. Aus den Augenwinkeln sah er kleine Geschöpfe durch den Unrat huschen. Ratten! Er hasste Ratten. Als Kind war er von so einem Vieh gebissen worden und hatte durch die Entzündung und die einsetzende Blutvergiftung beinahe seine Hand verloren.

Plötzlich rannte ihm etwas über die Füße. Erschrocken schrie Breda auf. Gabriela blieb ruckartig stehen und blickte sich wütend zu ihm um.

Breda zog den Kopf ein. „Entschuldige. Mir ist so ein Rattenvieh direkt über die Füße gelaufen.“

Aus einer Häuserschlucht ertönte das Gelächter mehrerer Männer. Gabriela fuhr herum und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Ein Mann trat in den Lichtkegel einer Laterne.

„Hallo, Gabriela. Pünktlich, wie immer.“

„Hallo, Cosmin.“

Cosmin sah mit finsterer Miene zu Breda. „Wer ist das?“, fragte er und griff nach etwas in seiner Jacke.

Breda stockte der Atem. Zog der Kerl jetzt eine Waffe, nur weil er Gabriela begleitete?

„Namen spielen keine Rolle. Er ist ein Freund und vertrauenswürdig“, sagte Gabriela.

Cosmin schaute noch immer skeptisch.

„Du verbürgst dich für ihn?“

„Ja, das tue ich“, sagte Gabriela.

Cosmin zog die Hand wieder aus seiner Jacke und entspannte sich ein wenig.

„Also gut. Auf deine Verantwortung. Hast du das Geld?“

„Vierhundertfünfzig Leu, wie vereinbart. Hast du die Informationen?“

Sie hielt ihm ein Bündel Geld hin. Er griff mit gierigem Blick danach, doch Gabriela hielt das Bündel fest in ihrer Hand. Sie kniff leicht die Augen zusammen.

Ein gefährlicher Ausdruck, und Cosmin wusste ihn richtig einzuschätzen. Er seufzte übertrieben und winkte in die Dunkelheit. Eine schattenhafte Gestalt trat heraus und reichte Cosmin einen dicken Umschlag.

„Ausdrucke. Keine elektronischen Dateien. Wie gewünscht“, sagte er.

„Und diese Informationen sind zuverlässig?“, fragte Gabriela.

„Wie lange arbeite ich schon mit deinem Clan zusammen?“, fragte Cosmin beleidigt. „Ich habe nur die besten Quellen. Direkt aus Deutschland.“

„Von wo in Deutschland?“

„Direkt aus dem Saarland. Wie gewünscht. Auch wenn ich erst einmal recherchieren musste, wo das überhaupt liegt. Warum wolltest du gerade Informationen aus dieser Gegend?“

„Das spielt keine Rolle“, sagte Gabriela.

Cosmin seufzte theatralisch und fuhr dann fort: „Die Objekte wurden schon markiert. In den Unterlagen befinden sich die Einzelheiten.“

„Gut.“ Gabriela griff mit der einen Hand nach dem Umschlag und ließ mit der anderen Hand das Bündel Geldscheine los. Cosmin nahm es sogleich an sich und begann hastig, mit leuchtenden Augen, zu zählen.

Er nickte kurz. „Wie immer schön, mit dir Geschäfte zu machen, Gabriela. Denk an mich, wenn du wieder mal was planst und grüße deinen Clan von mir!“

Damit war er in der Dunkelheit verschwunden.

Breda atmete trotz des Gestanks tief durch. „Ich kenne deine Gründe, warum du unbedingt im Saarland arbeiten möchtest.“

„Ja, man ist ruck-zuck über die Grenze nach Frankreich oder Luxemburg. Die Lage ist ideal“, sagte Gabriela.

„Und deine Schwester Luana lebt dort, nicht wahr?“

Gabriela lächelte Breda an. „Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen“, gestand sie ein.

Hinter ihnen ertönte ein tiefes, kehliges Knurren.

Sie drehten sich langsam um. Versuchten in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein Auto fuhr vorbei und kurz sahen sie in die reflektierenden Augen eines dürren Straßenhundes, der sich ihnen mit gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen langsam näherte.

„Immer mit der Ruhe, Großer“, sprach Breda beruhigend auf den Hund ein.

„Wir verschwinden schon aus deinem Revier. Siehst du?“

Rückwärtsgehend, ohne den Hund aus den Augen zu lassen, versuchten sie den Abstand zu dem Tier zu vergrößern. Doch dieses dachte gar nicht daran, sich so leicht abschütteln zu lassen und kam weiter auf sie zu.

„Wir müssen so schnell wie möglich hier weg, Gabriela.

Ich zähle bis drei und dann rennen wir los“, sagte Breda.

„Nein! Wenn wir fliehen, weckt das erst recht den Jagdinstinkt des Hundes. Wir sind nicht schneller als dieses Tier, Breda. Wir müssen ihm zeigen, wer der Boss ist. Das ist unsere einzige Chance“, beschwor ihn Gabriela.

„Ach, und wie willst du ihm das beibringen?“

„Such dir eine Waffe!“

Breda sah sich um. Auf einem der Müllberge lag eine verrostete Eisenstange. Langsam beugte er sich hinunter, um sie aufzuheben. Der Hund deutete das als Zeichen von Schwäche und stürmte mit einem wütenden Kläffen nach vorne, um anzugreifen. Gabriela stieß einen Kampfschrei aus und schlug dem heranstürmenden Tier den dicken Umschlag mit den Unterlagen des Informanten um die Ohren. Erschrocken winselte der Hund auf und schüttelte sich. Breda ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen. Er stürmte ebenfalls laut brüllend auf das Tier zu und schlug mit der Eisenstange nach ihm, traf ihn an der Schulter. Der Köter jaulte auf und flüchtete um die nächste Häuserecke.

„Wir müssen sofort hier weg, bevor sich das Vieh von seinem Schrecken erholt und ernsthaft zum Angriff übergeht“, sagte Gabriela.

„Können wir jetzt rennen?“

„So schnell du kannst, Breda. So schnell du kannst.“

Kapitel 3

Das dröhnende Rauschen seines Blutes brachte ihn fast um den Verstand. Das Adrenalin ließ selbst seine Haarspitzen kribbeln. Immer wieder schlug er mit dem kostbaren Jadefuß der kleinen Tischlampe zu.

Auf und nieder. Wie ein Schmied bei seiner Arbeit.

Endlich kam ihm in den Sinn, dass der Mann zu seinen Füßen schon lange tot war. Er hielt keuchend inne, wischte sich mit seinem blutigen Handrücken das schweißnasse Gesicht ab. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er in den Spiegel, der über dem Sideboard hing, von welchem er die Tischlampe genommen hatte. Er hatte sich das Blut seines Opfers durch das ganze Gesicht geschmiert. Eine grausige Kriegsbemalung. Archaisch. Wild. Ungewohnt.

Mit kalten Augen betrachtete er die Leiche des Mannes vor sich. Das war nicht geplant gewesen, doch jetzt nicht mehr zu ändern. Er bedauerte es nicht. Er hatte sich im Rausch des Tötens gehen lassen. Wie ein Tier. Doch nun war es an der Zeit, dass sein Verstand wieder die Kontrolle übernahm. Die nächsten Schritte mussten gut durchdacht werden. Er stellte die bluttriefende Lampe auf das Sideboard zurück und warf eine Wolldecke von der Couch über den zertrümmerten Schädel seines Opfers. Es gab keinen Grund, diesen grausigen Anblick noch länger zu ertragen. Er schlenderte zu der Vitrine mit den ausgestellten Whiskyflaschen, griff sich eine, betrachtete sie nachdenklich, bevor er ein Glas aus dem benachbarten Fach nahm und sich eine großzügige Portion einschenkte. Er setzte sich in einen antiken Ohrensessel und schlug die Beine übereinander. Ein erster, großer Schluck nahm ihm beinahe den Atem. Der rauchige Whisky brannte in seiner Kehle. Das restliche Glas leerte er mit kleinen, bedächtigen Schlucken, während seine emotionslosen Augen den Raum scannten. Alleine hier lagerten eine Menge Wertgegenstände. Er bezweifelte, dass er sich selbst auch nur den Whisky leisten konnte, den er gerade trank.

Er verzog das Gesicht und prostete dem Toten zu.

„Das gehört jetzt alles mir, mein Lieber. Alles mir.“

Kapitel 4

Vor der Absperrung des Tatorts zogen Kriminalhauptkommissar Aaron Breuer und sein Team die weißen Einwegoveralls mit Kapuzen sowie die entsprechenden Handschuhe, Fußüberzieher und den Mundschutz an.

„Ich hasse diese Ganzkörperkondome“, murmelte Kathrin Momsen, als sie damit kämpfte, ihren braunen lockigen Bob unter die Haube zu bringen.

Manni gluckste. „Das sagst du jedes Mal, Momo.

Aber du weißt ja: Eine schöne Frau kann nichts entstellen. Sieh dagegen mich an: Das Michelin Männchen ist schlank neben mir. Ich sehe in diesen Dingern eher aus wie ein Heißluftballon.“

Momo schaute zu ihm hinüber und kicherte.

Breuer wartete mit Damian Johannsson schon am Absperrband. „Seid ihr endlich fertig?“

„Klar, Chef. Wir sind startklar“, sagte Momo und eilte an Breuers Seite. Damian hob das Absperrband hoch, sodass alle passieren konnten. Auf der anderen Seite wartete schon Engel, der chronisch schlecht gelaunte Chef der Spurensicherung. Man konnte ihn unter all den weiß gekleideten Menschen leicht an seinem hünenhaften Körperbau erkennen.

„Auf dem Trampelpfad bleiben! Wir sind noch nicht ganz durch“, bellte er die Kommissare wie Neulinge an.

Der sogenannte Trampelpfad war eine mit einem Absperrband markierte Strecke, über die man gehen konnte. Die anderen Bereiche durften erst betreten werden, nachdem die Spurensicherung mit ihrer Arbeit am Tatort fertig war. So verhinderte man, dass durch die Polizei selbst versehentlich Spuren vernichtet oder unbrauchbar gemacht wurden.

Der Pfad führte in ein modern eingerichtetes Wohnzimmer. Die Einrichtung sah teuer aus und war mit Blutspritzern übersät. Der ganze Raum schien rot gesprenkelt. In seiner Mitte lag bäuchlings die Leiche.

Eine blutdurchtränkte Decke bedeckte den Kopf.

Breuer zeigte darauf.

„Hat die jemand nachträglich hingelegt?“

„Nein, der Tatort ist unverändert“, sagte eine junge Frau und kam auf sie zu. Ihr Gang wirkte selbstsicher, ihre Haut dagegen ein wenig bleich.

„Hallo, Anna“, begrüßte Breuer seine Kollegin vom Kriminaldauerdienst. „Wie ist die Lage?“

„Die Spusi hat sich bereits bis zur Leiche vorgearbeitet. Ich denke, ihr könnt gleich einen Blick unter die Decke werfen. Das Haus gehört Richard Roth, einem Anwalt, vierundfünfzig Jahre. Er wurde noch gestern, gegen 17:00 Uhr, lebend von einem Nachbarn gesehen. Die Putzfrau fand ihn heute Morgen um 8:30 Uhr. Folglich muss der Tod zwischen 17:00 Uhr gestern Abend und 8:30 Uhr heute Morgen eingetreten sein. Da die Leichenstarre vollständig ausgeprägt ist, liegt der Zeitpunkt grob geschätzt zwischen 17:00 und 02:30 Uhr. In der Rechtsmedizin kann bei der Obduktion der Zeitpunkt gewiss noch genauer eingegrenzt werden.“

„Wo befindet sich die Putzfrau?“, fragte Breuer.

„Im Krankenhaus. Sie stand vollkommen unter Schock und konnte nicht viele Angaben machen“, sagte Anna.

„Das kann ich gut verstehen“, meinte Damian mit seiner ruhigen Stimme. „Schaut euch diesen Tatort an.

Sieht ganz nach einem Overkill aus.“

„Ja, scheint so“, erwiderte Breuer und betrachtete die mit Blutspritzern übersäten Wände.

„Der Rest des Hauses schreit allerdings Einbruch“, schaltete sich Manni ein.

Breuers Blick schweifte über das Chaos. Der Inhalt der Schubladen lag auf dem Boden verstreut, Schranktüren standen offen, Porzellan lag zertrümmert herum.

„Vielleicht hat der Täter etwas Bestimmtes gesucht“, mutmaßte Damian.

„Dafür hat er aber eine Menge mitgehen lassen. Ich bezweifle, dass diese Vitrinenfächer alle leer standen“, hielt Manni dagegen.

„Ja, du hast recht. Andererseits ...“ Damian sah zu einem Gemälde, welches an der Wand ihnen gegenüber hing.

Momo folgte seinem Blick und verzog das Gesicht.

„Der Kerl hatte einen fürchterlichen Kunstgeschmack.“

„Hmm, das scheint eine Lithographie von Otto Dix zu sein. Dieses Bild ist unglaublich wertvoll“, sagte Damian.

„Das macht es aber auch nicht schöner. Seht euch diesen grotesken Kopf an“, erwiderte Momo.

„Es könnte sich allerdings auch um eine sehr gute Kopie handeln. Das lässt sich so schnell nicht bestimmen“, fuhr Damian unbeirrt fort. Er sah Breuer ins Gesicht. „Da stellt sich mir die Frage, wieso der oder die Einbrecher so etwas hängen lassen.“

„Vielleicht, weil sie einen besseren Geschmack als unser Opfer haben“, stichelte Momo weiter.

„Was sollen die mit dem Bild? Das hinterlässt eine riesige Spur, die zu ihnen zurück führt. Das Risiko ist viel zu groß“, meinte Breuer.

„Ja, aber bei den anderen Gegenständen hat sie das auch nicht gestört“, überlegte Manni.

„Eine echte Lithographie von einem namenhaften Künstler ist etwas anderes. So etwas ist zu einzigartig, um es unbemerkt zu verkaufen“, beharrte Breuer.

„Seht euch das an.“ Damian zeigte auf einen blutigen, quadratischen Umriss auf einer Kommode direkt unter dem Bild. Undefinierbare Klumpen mit anhaftenden Haaren klebten an dem Möbelstück.

„Der Abdruck stammt wahrscheinlich von der Mordwaffe. Die Klumpen sind Schädelfragmente und Hirnmasse“, erklärte Engel.

„Wurde die Mordwaffe gefunden?“, fragte Breuer.

Engel schüttelte den Kopf. „Wenn sie nicht unter der Decke liegt, sieht es schlecht aus. Wir suchen im Anschluss auch noch außerhalb des Hauses, aber wenn sie erst mal aus dem Haus verschleppt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie entsorgt worden ist.“

„Auf der anderen Seite der Kommode steht eine Tischleuchte. Der Fuß aus Jade scheint zum Abdruck zu passen“, bemerkte Damian.

„Ja, tut er. Sogar ganz genau“, sagte Engel. „Aber das ist nicht die Mordwaffe. Der Lampenschirm und auch der Fuß der Tischleuchte haben nur einige wenige Blutspritzer abbekommen. Die Tatwaffe müsste blutgetränkt sein. Man sieht ja, was da alles noch dran gehangen hat.“

„Wenn das nicht die Tatwaffe ist, aber genau von der Form her passt, könnte es sich um das Gegenstück handeln. Dann haben da zwei gleiche Tischlampen gestanden. Die eine wurde zur Tatwaffe und man hat sie wahrscheinlich entsorgt, aber durch die andere wissen wir, wie sie aussah. Das hilft bei der Suche“, sagte Damian.

Engel nickte. „Die wäre Gold wert. An der können wir bestimmt Spuren finden. Wenn keine Fingerabdrücke, dann zumindest DNA. Und wenn wir auch nur eine Hautschuppe über einem Blutstropfen finden, ist das so gut wie ein Geständnis. Habt ihr bei den Blutspuren hier im Raum die Menge an Schleuderspuren an der rechten Wand und der Zimmerdecke bemerkt? Der Täter muss immer wieder auf den schon blutenden Kopf geschlagen haben. Das Blut, welches sich an dem Fuß der Lampe befand, wurde beim raschen Ausholen durch die Fliehkraft von der Tatwaffe weggeschleudert. Die sehen anders aus als die Spritzspuren.“

„Demnach müsste der Täter direkt über dem Opfer gestanden haben. Und er war Rechtshänder. Ansonsten müssten sich diese Spritzer an der linken Zimmerwand wiederfinden“, folgerte Damian.

Engel nickte. „Die Blutspurenanalytiker dokumentieren alles, auch für spätere Analysen. Die können sich hier richtig austoben.“

Ein Mitarbeiter der Spurensicherung gab Engel ein Zeichen. Dieser nickte und erklärte: „Wir können jetzt die Decke wegnehmen.“

Der Anblick des eingeschlagenen Schädels drehte Breuer den Magen um. Damian hatte recht. Auf diesen Mann war auch nach seinem Tod weiter eingeschlagen worden. Ein Overkill.

„Keine Mordwaffe“, bemerkte Engel. Man konnte ihm die Enttäuschung anhören.

„Das wäre auch sehr unlogisch gewesen. Warum hätte der Mörder die Tatwaffe nach dem Mord wieder auf die Kommode stellen sollen und sie dann wieder neben der Leiche platzieren, um eine Decke darüber zu legen?“, meinte Damian.

Engel sah ihn an. Die Augen zu Schlitzen verengt.

„Zu theoretisieren ist Ihr Fach. Meine Leute und ich halten uns an die Fakten.“ Mit diesen Worten verschwand er, bevor Damian eine Erwiderung hervorbringen konnte.

„Als würden wir uns nicht an die Fakten halten“, murmelte Damian beleidigt.

Nach der ersten Besprechung der Sachlage, machte sich das Team konzentriert an die Arbeit. Jedes einzelne Mitglied war ein Zahnrad in der großen Maschinerie der Mordermittlung. Jeder kannte die Abläufe und seinen Platz darin. Darum achtete Breuer auch darauf, möglichst immer sein Kernteam zusammenzutrommeln, wenn es darum ging, eine neue Mordkommission zu bilden. Dazu gehörten die IT-Spezialistin Kriminalkommissarin Kathrin Momsen, auch Momo genannt, und Kriminaloberkommissar Dirk Falkner mit dem entomologischen Fachwissen. Manni, Kriminaloberkommissar Manfred Dresslau, war nicht nur die gute Seele des Teams, sondern sah auch die großen Zusammenhänge, wo andere sich im Detail verrannten. Kriminalkommissarin Johanna Schneider, kurz Jo genannt, hatte sich dem Spezialgebiet der Psychologie verschrieben und Kriminalkommissar Damian Johannsson glänzte durch sein enzyklopädisches Wissen und seine Beobachtungs- und Kombinationsgabe. Und er, Kriminalhauptkommissar Aaron Breuer, leitete die Ermittlung mit seiner jahrelangen Berufserfahrung und seiner hervorragenden Menschenkenntnis.

„Alles in Ordnung, mein Junge?“, fragte Breuer leise.

Damian sah ihn fragend an.

„Dich scheint irgendetwas zu bedrücken.“

Breuer hatte Damian kennengelernt, da war dieser gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen. Superintelligent, schmächtig, verwahrlost und heroinabhängig. Er hatte Damian mithilfe von Doktor Elfi Sommer aus der Sucht befreien können, ohne dass etwas davon in einer Akte auftauchte. Er wollte dem Jungen, den er wie einen Sohn liebte, nicht seine Zukunft verbauen.

Damian seufzte. „Entschuldige, Aaron. Ich bin mit meinen Gedanken immer noch bei meinem Gespräch mit Sarah, gestern Abend. Sie war so ... ich weiß nicht. In letzter Zeit ist sie so empfindlich und dünnhäutig. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr geht es nicht gut, aber wenn ich sie danach frage, bekomme ich nur schwammige Antworten. Sie scheint manchmal meilenweit weg von mir, obwohl sie direkt neben mir sitzt. Es gibt Momente, da fürchte ich, ... na ja, dass sie keine Lust mehr auf unsere Beziehung hat.“

Breuer seufzte. „Du musst weiter versuchen, mit ihr zu reden. Das Ende der Kommunikation ist das Ende der Beziehung. Merk dir das, Junge!“

Damian nickte.

„Chef, komm mal her“, rief Momo. Sie war den Pfad bis zur Haustür zurückgegangen und kauerte außen am Rahmen. Als Breuer und Damian näher kamen, zeigte sie auf ein paar Kratzer zu ihren Füßen.

„Für Einbruchsspuren liegen sie zu tief“, sagte Breuer.

„Nein, Chef. Sieh mal genau hin.“ Momo sprang auf und trat zur Seite.

Auf dem Türrahmen war ein Symbol zu sehen, welches wie ein auf dem Kopf stehendes T aussah. Daneben war ein weiteres Zeichen eingeritzt, das aus drei kleinen Kreisen in der oberen Reihe und zwei kleinen Kreisen in der unteren Zeile bestand.

Damian beugte sich über Breuers Schulter, um ebenfalls einen Blick darauf zu werfen. „Das sind Zeichen.

Gaunerzinken, um genau zu sein. Ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem, das schon seit dem zwölften Jahrhundert besteht und noch immer verwendet wird“, erkannte er, bevor Breuer etwas sagen konnte.

Momo verdrehte die Augen. „War ja klar, dass da gleich wieder ein Vortrag kommt.“

„Du hast uns das doch gezeigt, damit wir erkennen, was es ist“, verteidigte sich Damian.

„Ich wollte aber nicht gleich alle geschichtlichen Daten von dir wissen.“

„Kann die jemand von euch lesen?“, unterbrach Breuer die Streithähne.

„Ich nicht“, meinte Momo, bevor Damian etwas erwidern konnte. „Aber das hier schon.“ Sie zückte ihr Handy und gab „Gaunerzinken“ als Suchwort ein.

„Ah, da haben wir es schon. Also, die Kreise bedeuten: ‚Hier wohnen reiche Leute‘ und das kopfstehende T bedeutet: ‚Hier wohnt eine alleinstehende Person‘.“

„Hier wohnt eine alleinstehende, reiche Person. Die perfekte Opferbeschreibung“, fasste Breuer zusammen.

Damian, der sich mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen gegen die Hauswand gelehnt hatte, sah sich um.

„Wir sollten die Häuser in der Nachbarschaft absuchen, ob sich dort auch diese Zeichen finden lassen.“

Breuer nickte. „Manni, frag im Präsidium nach, ob hier in der Gegend irgendwelche Einbrüche gemeldet wurden.“

Sie fanden noch einige dieser Gaunerzinken in dieser und den umliegenden Straßen. Die Hausbewohner hatten die unauffälligen Zeichen gar nicht bemerkt.

Nur ein Mann hatte einen jungen Burschen erwischt, wie er sich an seiner Gartenmauer zu schaffen machte.

Er hatte den eingeritzten Strichen jedoch keine Bedeutung beigemessen und dies als blinden Vandalismus abgetan. Manni hatte inzwischen Rückmeldung vom Präsidium, dass tatsächlich vor zwei Tagen, nur wenige Meter vom Tatort entfernt, ein Einbruch stattgefunden hatte. Die Kollegen vom Einbruchsdezernat hatten eine rumänische Bande im Verdacht, da vom Vorgehen einiges darauf hindeutete. Leider wusste man nichts Genaueres über diese Bande, da sie sehr vorsichtig vorging. Die Tatorte waren immer frei von Fingerabdrücken und Fußspuren. Darum hatte diese Bande auch den Namen „Phantom“. Wie viele Brüche tatsächlich auf ihr Konto gingen, wusste man nicht.

Aber wenn man die Spuren verglich, die ihr Werkzeug beim Aufbrechen von Türen und Fenstern hinterließ, mussten es einige sein. Noch nie wurden sie dabei gesichtet. Man ahnte nur, dass sie aus Rumänien stammten, da dort zwei gestohlene Schmuckstücke gefunden worden waren.

Einem weiteren Nachbarn war auch ein junger Mann aufgefallen, der in der letzten Zeit sehr häufig durch die Straße schlenderte, scheinbar mit aller Zeit der Welt gesegnet, und den er nicht zuordnen konnte. Er hatte ihn erst für den Freund eines Mädchens aus der Straße gehalten, doch dann war dem Mann aufgefallen, dass dieser Junge alle Häuser genau betrachtete.

Dies hatte er nach dem Einbruch der Polizei gemeldet, ihn aber seitdem nicht mehr gesehen.

„Das war ein Späher“, sagte Damian. „Diese Banden sind hoch organisiert. Informanten geben lohnende Ziele weiter. Die Späher beobachten diese Ziele, also die Häuser und ihre Bewohner, und notieren sich genau, wer wann im Haus ist. Dann kommen die eigentlichen Einbrecher. Sie können mithilfe des gesammelten Wissens der Späher gezielt ihren Bruch durchführen. Darum sind oft auch mehrere Häuser in einer Gegend betroffen. Die werden von der Bande innerhalb von ein paar Tagen abgearbeitet und dann sind sie auch schon wieder über die Grenze verschwunden.“

Breuer brummte unwirsch. „Wir arbeiten mal wieder gegen die Zeit. Diese Spur hat erst einmal Vorrang.

An jedem Tag, der vergeht, können sich unsere potenziellen Täter nach Rumänien absetzen. Wenn sie sich nach dem Mord nicht schon längst von dannen gemacht haben. Manni, Momo, ihr setzt euch mit den Kollegen vom Einbruchsdezernat in Verbindung und schaut euch die Ermittlungsergebnisse aus dem Einbruch in der Nachbarschaft an. Und informiert unsere rumänischen Kollegen. Sie sollen die Augen offen halten. Gebt alle Informationen über die fehlenden Gegenstände vom Tatort weiter. Auch die vom anderen Einbruchshaus. Vielleicht erwischen wir die Täter, wenn sie versuchen, die gestohlenen Dinge zu verhökern. Jo, wenn Engel mit dem Tatort fertig ist, soll er bitte mit seinem Team zur Spurensicherung in das Haus gehen, wo ebenfalls eingebrochen wurde. Vielleicht finden sie noch Hinweise. Damian, wir befragen die Bewohner des Einbruchhauses und den Nachbarn, der unser Opfer zuletzt gesehen hat. Los, an die Arbeit!“

Er wagte nicht, die schwarze Tonne am Straßenrand aus den Augen zu lassen. Harmlos sah sie aus. Wie all die anderen, die auf dem Bürgersteig auf ihre Leerung warteten. Doch ihr Inhalt konnte sein Leben zerstören.

Endlich hörte er das tiefe Grollen des herannahenden Fahrzeugs. Schon von Weitem sah er die Warnlichter auf dem Dach des Gefährts, die die Straße in orangefarbenes, zuckendes Licht tauchten. Ganz langsam, Haus für Haus, näherte sich das stählerne Ungetüm.

Endlich hatte es seine Tonne erreicht, auch wenn sie ihm nicht gehörte. Er hatte auf dem Hinweg dieses Dorf durchfahren und die Mülltonnen am Straßenrand stehen sehen. Eine davon hatte er ausgewählt. Sie stand in einer Seitenstraße und er konnte sie unauffällig im Blick behalten. Diese Tonne beinhaltete nun sein Schicksal. Würden die Müllmänner stutzen? Kam ihnen etwas verdächtig vor? Ihm war, als müsse man es der Tonne ansehen, welch brisanten und blutigen Inhalt sie barg. Doch die Männer gingen, davon unbeeindruckt, ihrer Arbeit nach. Mit dicken Mützen und Handschuhen versuchten sie sich vor der Kälte zu schützen, die ihnen heute Morgen ihren Broterwerb so schwer machte.

Ihn störten die niedrigen Temperaturen nicht. Im Gegenteil. Er hieß sie willkommen. Die Kälte war sein Verbündeter. Niemand ging ohne Grund vor die Tür, niemand hielt sich hier länger auf als nötig.

Die Greifarme des Müllautos hievten die Tonne hoch.

Der Inhalt wurde in den Schlund des Aufbaus geschüttelt und mit einer Presse an die Rückwand gedrückt. Die Tonne senkte sich wieder zu Boden und wurde durch den Mann in Orange ausgehängt. Das Auto fuhr weiter.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über die Züge des Mannes. Wie einfach das doch gewesen war.

Kapitel 5

Die Befragung der Bewohner des Einbruchshauses hatte zu keinem Ergebnis geführt. Sie hatten den Einbruch bemerkt, als sie spät abends von ihrer wöchentlichen Kegelrunde zurückkamen. Die Täter waren jedoch bereits auf und davon. Sie hatten Schmuck und Geld gestohlen sowie ein paar Porzellan-Figuren von Hummel, die einen gewissen Wert besaßen. Sonst fehlte nichts.

Herr Schuster, der Nachbar, der Richard Roth zuletzt lebend gesehen hatte, öffnete seine Haustür nur einen Spaltbreit. Erst als Breuer und Damian ihre Dienstausweise gezeigt hatten, entfernte er die Türkette und ließ sie ein.

„Sie sagten unseren Kollegen, dass Sie Herrn Roth gestern, gegen 17:00 Uhr, noch lebend gesehen haben.

Sind Sie sich bei der Uhrzeit ganz sicher?“, fragte Breuer.

„Ja, ich wollte die heute-Nachrichten sehen. Die laufen immer um 17:00 Uhr. Als ich wieder ins Haus ging ... also, nachdem ich Richard gesehen hatte, ... da fingen sie gerade an.“

„Haben Sie sonst noch jemanden gesehen oder gehört?“, fragte Damian.

Herr Schuster schüttelte den Kopf. Dann schien ihm etwas einzufallen. „Aber er hatte Besuch! Da stand ein Auto in der Einfahrt.“

„Wie sah es aus?“, fragte Damian.

„Silbergrau oder Blau. Ich weiß nicht mehr genau. In der jetzigen Jahreszeit ist es da ja immer schon dunkel.“

„Können Sie sich an die Marke erinnern?“

„Nein. Die konnte ich nicht erkennen.“

„War es ein Lieferwagen?“, hakte Breuer nach.

„Nein, ein ganz gewöhnliches Auto.“ Der Mann zuckte hilflos mit den Achseln.

„Richard Roth hatte also noch kurz vor seinem Tod Besuch“, fasste Breuer das soeben Gehörte zusammen, nachdem sie sich von Herrn Schuster verabschiedet hatten. „Dieser unbekannte Besucher könnte durchaus auch der Mörder sein. Wir müssen herausfinden, um wen es sich dabei handelt. Es wird auch Zeit, den Bruder des Opfers über dessen Tod zu informieren. Er scheint der einzige Angehörige zu sein.“

Damian stieg nur ungern aus dem warmen Inneren des Autos aus. Er sah dem vorausgehenden Breuer hinterher. Dieser schien gänzlich unbeeindruckt von der Kälte.

„Roths Solartub System“ stand auf dem großen Firmenschild über dem einstöckigen Gebäude, das von außen den Charme einer Lagerhalle versprühte. Im hinteren Teil des Gebäudes schien sich eine Werkstatt zu befinden, aus der allerdings kein Laut nach draußen drang. Sie betraten durch die Eingangstür eine Vorhalle, an deren Ende sich ein großer Schreibtisch befand. Sofort sprang die Frau, die dahinter Platz genommen hatte, auf und eilte ihnen entgegen.

„Willkommen! Sie haben sich richtig entschieden.

Roths Solartub System ist der führende Anbieter von Solartubs. Wir vereinen Funktionalität mit Design.

Praktisch muss nicht hässlich sein“, begrüßte sie die beiden Männer.

„Das stimmt wohl“, sagte Breuer und lächelte die Frau an. „Das sieht hier wirklich sehr beeindruckend aus.“ Er wies zur Decke. In verschiedenen Segmenten waren Solartubs eingebaut, die den Eingangsbereich in helles Licht tauchten. Auf einem großformatigen Anschauungsbild sah man den Aufbau so eines Solartubs, der aus einer Prismenkugel bestand, die auf dem Dach montiert war und darunterliegende Räume durch eine hochreflektierende Lichtröhre mit Tageslicht versorgte. Zahlreiche Grünpflanzen gediehen hier prächtig und verwandelten diesen Ort in eine Oase der Erholung.

Ermutigt durch Breuers Lob, nickte die Frau begeistert. „Mein Name ist Tonja Harbrecht. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gerne unsere verschiedenen Produkte. Wir haben für jedes von ihnen einen kleinen Extraraum gebaut, damit Sie die Unterschiede besser beurteilen können. Alle Produkte haben allerdings eines gemeinsam: Sie bringen Tageslicht in Bereiche, in denen sonst Lichtmangel herrschen würde, und senken effektiv Ihren Stromverbrauch, da Sie weniger Beleuchtung benötigen. Das ist gut für die Umwelt und natürlich auch gut für Ihren Geldbeutel.“ Sie schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln, das sie jünger aussehen ließ, als die fünfundvierzig Jahre, auf die Damian sie im ersten Moment geschätzt hatte.

„Nein, danke. Wir würden gerne mit dem Eigentümer der Firma, mit Herrn Robert Roth, sprechen“, sagte Breuer.

Das Lächeln der Frau nahm einen sichtlich angestrengten Ausdruck an. „Herr Roth ist im Moment nicht im Haus. Vielleicht kann ich Ihnen ja weiterhelfen.“

„Wann kommt er denn wieder?“, fragte Damian.

Frau Harbrecht seufzte auf. „Das weiß ich nicht.

Wenn Sie möchten, kann ich ja einen Termin mit ihm ausmachen. Würde Ihnen morgen passen?“

Breuer schüttelte den Kopf und zog seinen Dienstausweis. „Ich müsste wirklich dringend mit Herrn Roth sprechen.“

Frau Harbrechts Augen wurden groß. „Kriminalpolizei. Oh, mein Gott. Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“

Breuer und Damian sahen sich an.

„Jetzt schon wieder? Wie meinen Sie das, Frau Harbrecht?“, fragte Damian.

Die Frau wurde blass und schaute hektisch von einem zum anderen. „Ach, das sagt man doch nur so.“

„Nein, sagt man nicht. Was ist passiert? Reden Sie jetzt bitte Klartext. Wir bekommen es ja doch heraus“, versuchte Breuer die Frau zum Sprechen zu bringen.

„Worum geht es denn in Ihren Ermittlungen?“, fragte die Frau vorsichtig.

„Sie wollten uns Ihren Kommentar erklären“, beharrte Breuer.

Tonja Harbrecht fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. „Also gut. Wir waren die erfolgreichste Firma im Saarland auf dem Sektor der Solartubs. Die Firma machte monatlich einen bombastischen Umsatz. Wir hatten jede Menge Angestellte. Alles lief richtig gut.“

Damian sah sich um. Außer Frau Harbrecht hatte er noch keinen Mitarbeiter der Firma gesehen und es war erstaunlich ruhig hier.

„Aber jetzt läuft es nicht mehr so toll“, warf er ein.

Frau Harbrecht seufzte. „Nein, jetzt nicht mehr.“

„Was ist passiert?“, fragte Breuer.

Die Frau schluckte. „Herr Roth hatte einen Unfall und lag einen Monat im Koma.“ Sie zögerte.

„Was für einen Unfall?“, hakte Damian nach.

„Einen Autounfall. Ein Wildschwein lief auf die Straße.

Er kam von der Fahrbahn ab und krachte mit voller Geschwindigkeit gegen einen Baum.“ Ihre Stimme war ein leises Flüstern. Ihr flehender Blick erzählte Damian, dass da noch mehr war.

„Aber das ist nicht die ganze Geschichte, oder, Frau Harbrecht?“, fragte er.

„Nein, ist es nicht.“ Sie holte noch einmal tief Luft.

„Seine Frau und seine kleine Tochter waren auch in dem Auto. Sie haben den Unfall nicht überlebt.

Robert, ich meine, Herr Roth, konnte vor lauter Schuldgefühlen kaum mehr atmen.“

„Aber es war ein Unfall. Da konnte er doch kaum etwas dafür“, warf Damian ein.

Tonja Harbrecht wandte den Blick ab. „Ja, war es, aber ... sie kamen von einer Geburtstagsfeier ...“ Sie zögerte erneut.

Damian nickte verstehend. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach unten. „Er war betrunken.“

„Nein ... ich meine, ja ... ach, was weiß ich. Er sagte, er fühlte sich nicht betrunken. Aber wenn er ganz nüchtern gewesen wäre, hätte er vielleicht schneller reagieren können. Oder anders. Vielleicht hätten sie überlebt. Diese Ungewissheit kann ihm niemand mehr nehmen.“

„Und ab da ging es mit der Firma bergab?“, fragte Breuer.

Frau Harbrecht nickte. „Er konnte sich nicht von ihren Gräbern lösen. Tag für Tag verbrachte er auf dem Friedhof. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er hat mich nur angebrüllt, war vollkommen von der Rolle. Und Robert Roth ist normalerweise kein Mensch, der laut wird. Er war immer eine Seele von Mensch. Da sieht man, wie fertig ihn die Situation gemacht hat. Er hätte sich auch bestimmt etwas angetan, aber seine Mutter holte ihn zu sich nach Hause.

Sie baute ihn wieder auf, sodass er wieder zur Arbeit kommen konnte, wieder leben konnte. Aber mit der Firma war es mittlerweile bergab gegangen. Nach Monaten der Vernachlässigung waren kaum mehr genug Aufträge da, um die Firma vor dem Untergang zu bewahren. Wir mussten fast alle Mitarbeiter entlassen. Nur ein kleiner Kern ist geblieben. Langsam ging es wieder bergauf, da geschah das nächste Unglück.

Frau Roth, die Mutter, bekam Lungenkrebs. Sie starb vor zwei Wochen. Robert hat sich aufopferungsvoll um sie gekümmert. Die Firma litt abermals darunter.

Uns steht das Wasser bis zum Hals, aber man kann dem armen Mann ja kaum einen Vorwurf machen.“

Ihre Stimme klang belegt. Sie wandte sich kurz ab, zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Blazers und schnäuzte sich die Nase.

„Wie würden Sie das Verhältnis zu seinem Bruder beschreiben?“, fragte Breuer.