Die Zeit mit Michael - Wolfgang Körner - E-Book

Die Zeit mit Michael E-Book

Wolfgang Körner

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Beschreibung

Wolfgang Körner nennt seinen Roman »eine Sommergeschichte«. Das ist er auch und eine Liebesgeschichte dazu. Aber wer leichte Unterhaltung erwartet, wird enttäuscht sein, denn diese Sommergeschichte hat einen dunklen Hintergrund. Die Liebe zwischen einer 34jährigen Lehrerin und einem 22jährigen Studenten ist überschattet von der Auseinandersetzung zwischen Staatsraison und Bürgerinitiativen, dem Zwiespalt, in den der Einzelne im gesellschaftspolitischen Engagement unserer Tage gerät. Die Lehrerin Christiane lebt in der idyllischen Kleinstadt im Weserbergland zufrieden und abgeschirmt von Umweltproblemen, bis sie den viel jüngeren Michael kennenlernt. Sie lieben einander einen Sommer lang. Christiane tritt heraus aus ihrem bisherigen emotionslosen Leben, schließt sich dem hitzigen Michael an in seinem Engagement in Bürgerinitiativen gegen den Bau von Atomkraftwerken. Das führt zu Schwierigkeiten in der Schule, ein Disziplinarverfahren droht. Die Liebe hält dem Druck von außen nicht stand. Christiane gibt auf. Die Zeit mit Michael ist vorbei. Oder wie es am Ende der Geschichte heißt: »Sie war vierunddreißig Jahre alt, und ihre Niederlagen hatten sie vorsichtig werden lassen, und er war zweiundzwanzig und glaubte, daß man den Bau von Atomkraftwerken verhindern kann.« (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 208

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Wolfgang Körner

Die Zeit mit Michael

Eine Sommergeschichte

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Inhalt

Laurentia, liebe Laurentia mein, [...]

Laurentia, liebe Laurentia mein, wann werden wir wieder beisammen sein? – Am Montag! – Ach, wenn es doch erst wieder Montag wär, und ich bei meiner Laurentia wär, Laurentia wär!

Sie stand vorn in der 1 b, die Kinder hatten einen großen Kreis gebildet und hielten sich an den Händen. Auch sie befand sich im Kreis, fühlte rechts und links winzige Kinderhände. Sie sang mit den Kindern und ging wie die Kinder in die Knie, jedesmal, wenn sie den Namen Laurentia oder einen Wochentag singend aussprachen.

Jetzt, am Ende der zweiten Stunde, fühlte sie sich noch frisch wie am frühen Morgen, obwohl die beiden ersten Stunden anstrengend gewesen waren und sie zudem die Wärme ihres Bettes eine Stunde früher als gewöhnlich verlassen hatte, um ihren Kleinwagen in die Werkstatt zu bringen. Sie hatte ihren Wagen auf den Werkstatthof gefahren, war hinüber zur Reparaturhalle gegangen und hatte, als sie die Tür zur Halle noch verschlossen fand, einen Zettel aus ihrem Kalender gerissen, die Wörter ›Ölwechsel‹ und ›Türschloß links‹ sorgfältig in Druckbuchstaben darauf geschrieben und den Zettel zusammen mit der Kraftfahrzeug-Zulassung und den Autoschlüsseln auf den Fahrersitz gelegt. Danach hatte sie beruhigt den Wagen zurückgelassen und war zu Fuß eine Viertelstunde lang durch die kleine Stadt gegangen, durch schmale Straßen mit alten Häusern, über den Schulhof zur Schule, in der sie seit neun Jahren unterrichtete.

»Laurentia, liebe Laurentia mein«, sangen die Kinder wieder, und sie fühlte sich von den Kinderhänden herabgezogen, ließ sich willig hinunter, spürte dann, als sie sich wieder aufrichtete, einen leichten Schmerz in den Oberschenkeln. Muskelschmerz, dachte sie einen Augenblick lang, während sie schon wieder sang, ich bin wirklich nicht mehr die Jüngste. Rodenberger fiel ihr ein, einer ihrer Kollegen, der in der Parallelklasse unterrichtete. In der großen Pause hatte sie ihm von dem Bewegungsspiel erzählt und wie sehr es die Kinder ihrer 1 b liebten, sie erinnerte sich an sein halb belustigtes, halb erschrockenes Gesicht:

»Laurentia, ich bitte Sie, Frau Schneider, haben Sie einmal die Kniebeugen gezählt? Dreiundsechzig Kniebeugen machen Sie bei diesem Bewegungsspiel, dreiundsechzig! Wir sind Pädagogen, keine Leistungssportler!«

»Aber die Kinder lieben das Spiel doch«, hatte sie entgegnet, »die Schule soll ihnen doch Spaß machen«, aber sein Lächeln war daraufhin nur noch breiter geworden und sie war froh gewesen, als sich zwei Jungen auf dem Schulhof zu schlagen begonnen und ihr einen glaubhaften Grund verschafft hatten, den Kollegen einfach stehen zu lassen.

Rodenberger, dachte sie jetzt, wir sind doch Pädagogen. Von wegen Pädagoge. Kein anständiger Mensch sagte sowas. Sie war jedenfalls keine Pädagogin, sondern Lehrerin, und sie bemühte sich weiß Gott, ihren Kindern eine gute Lehrerin zu sein.

Trotzdem war sie froh, als Laurentia den Sonntag erreicht hatte und die Kinder zurück zu ihren Plätzen rannten, sich dort unruhig zappelnd an ihren Schultaschen zu schaffen machten, bis sie der erste Ton der Pausenglocke von ihren Stühlen hochschnellen und zur Tür rennen ließ, durch den Korridor zum breiten Schultor und dann auf den Hof. Christiane sah ihnen nach, schloß dann die Tür und öffnete die Fenster. Einen Moment blieb sie neben einem Fenster stehen und atmete tief. Sehr weit entfernt sah sie die Hügel des Mittelgebirges westlich des Flusses, an dem die kleine Stadt gelegen war, eine dunkle Linie, die sich, kaum wahrnehmbar, vom hellen Blau des Himmels abhob. Man kommt viel zu selten heraus aus der Stadt, dachte sie, aber bevor dieser Gedanke sich in ihr festsetzen konnte, drehte sie sich um und ging zum Tisch, auf dem das Klassenbuch lag. ›Eigenschaften von Dingen und ihre Darstellung durch Symbole‹ schrieb sie in die Spalte Mathematik und ›Lesen: Uli bis Schule‹ in die Spalte Sprache. Sie schrieb mit ihrem Füllhalter, drückte ein Blatt Löschpapier auf die Schrift und klappte das Klassenbuch zu. Am liebsten wäre sie in der Klasse geblieben und hätte ihr Frühstücksbrot dort gegessen, aber der Gedanke an Rodenberger und die anderen Kollegen und Kolleginnen ließ sie nach ihrer Tasche greifen und zum Lehrerzimmer gehen. Sie hätte sich zwar nicht zu jenen gezählt, die sich um das Gerede der anderen sonderlich kümmerten, aber sie wollte solchem Gerede auch nicht Vorschub leisten.

 

Sie ging langsam durch den Korridor, schloß die Tür zu einem leeren Klassenzimmer, ging weiter, bis ein Kind aus der 3 b zu ihr gerannt kam: »Stellen Sie sich vor, Frau Schneider, gestern hat mir meine Mutter plötzlich eine geklatscht, ganz ohne Grund! Das ist doch ungerecht, nicht wahr, sowas ist doch ungerecht?«

Christiane nickte. Selbstverständlich sei das nicht gerecht. Aber man müsse Mütter auch verstehen. Manchmal hätten sie vielleicht Sorgen oder Probleme, über die sie mit niemandem sprechen könnten und dann gingen ihnen die Nerven schon mal durch.

»Niemals werde ich das verstehen«, sagte das Mädchen leise, »niemals!« Christiane kannte die Mutter der Schülerin, mit der sie einmal nach dem Elternabend gesprochen hatte, als die anderen Eltern die Schule schon verlassen hatten. Der Lehrerin nicht von der Seite weichend, hatte sie von ihrer Ehe erzählt, die unglücklich geworden sei, seit ihr Mann zu trinken begonnen habe. Christiane wußte damals nicht, was sie der anderen hätte antworten sollen. Jetzt empfand sie ähnlich gegenüber dem Kinde, aber hier wußte sie sich zu helfen. Sie fragte das Mädchen, ob es erkältet oder sonstwie krank sei und schickte es, als es den Kopf geschüttelt hatte, zu den anderen Kindern auf den Schulhof.

Wenig später, sie hatte das Mädchen und die grundlose Ohrfeige schon wieder vergessen, saß sie an einem der Tische im Lehrerzimmer und aß ihr Brot. Auch von diesem Platz aus sah sie durch die Fenster die Gebirgskette und auf einem Stück Mauerwerk zwischen den Fenstern ein Ölbild, das die Porta Westfalica zeigte. Damals, als sie gegen ihren Willen an die Schule versetzt worden war, hatte sie dieses Gemälde kritisiert, das sie für dilettantisch hielt, und sie hatte sich belehren lassen müssen, jedenfalls, was den Urheber der bemalten und auf einen Keilrahmen gezwungenen Leinwand betraf. Kollege Rodenberger, der unter anderem auch Zeichnen gab, hatte es in seiner Freizeit »geschaffen«, wie ihr eine wesentlich ältere Lehrerin erklärt hatte, »in seiner Freizeit geschaffen und für das Lehrerzimmer gestiftet«, und Christiane hatte sich einmal mehr entschuldigen müssen; eine von vielen Entschuldigungen, die sie nach und nach an der Schule hatten heimisch werden lassen, bis sie nicht mehr die neue Kollegin aus der Landeshauptstadt war, sondern einfach eine Lehrerin, die wie die anderen zur Schule gehörte und die sich auch der Rektor kaum noch wegdenken konnte. Inzwischen war sie so weit, daß sie das Ölbild nicht einmal mehr wahrnahm. Sie aß langsam und hörte mit halbem Ohr den Gesprächen am Nebentisch zu. Frau Nitz erzählte der jungen Lehramtsanwärterin von dem Kind, das sie erwartete, Christiane entnahm das jedenfalls den Handbewegungen der Frau und der Art, wie sie ihre Hände von Zeit zu Zeit auf ihren vorgewölbten Leib legte. Schöfer ereiferte sich über Schulpolitik: »So ein Blödsinn, dieser neue Erlaß, Kinder nur noch sitzenbleiben lassen, wenn die Eltern einverstanden sind, was soll nur aus der Schule werden?«

»Freuen Sie sich doch, Herr Schöfer«, entgegnete Rodenberger, »auf diese Weise sind wir die Verantwortung los!«

Sie faltete ihr Butterbrotpapier sorgfältig zusammen und brachte es in der Basttasche unter, als ein junger Mann ins Lehrerzimmer kam und sich unsicher umsah. Die anderen ließen sich in ihren Unterhaltungen nicht stören, schließlich stand Christiane auf. Als er sie auf sich zukommen sah, lächelte er und sie bemerkte, daß er seine blonden Haare noch nach der alten Mode trug, sie hingen lang bis über den Kragen seines Hemdes und gaben seinem Gesicht etwas Weiches.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der junge Mann, sie schätzte ihn auf zweiundzwanzig, höchstens dreiundzwanzig Jahre, nickte erleichtert, ging ein paar Schritte zu dem Tisch, an dem sie gesessen hatte, stellte seine Aktenmappe darauf ab, und als er zu sprechen anfing, wunderte sie sich, daß sie ihn hatte für hilflos halten können, denn jetzt merkte sie, daß er ganz genau wußte, was er wollte:

»Ich war als Kind kein besonders guter Schüler«, sagte er und wischte eine Haarsträhne mit einer schnellen Handbewegung aus dem Gesicht. »Vielleicht bekomme ich deswegen heute noch Schweißausbrüche, wenn ich eine Schule betrete!«

Sie hatte beschlossen, diese Bemerkung überhaupt nicht lustig zu finden, aber als sie ihn fragte, wen er suche, konnte sie nicht anders, sie merkte, daß ihre Mundwinkel zuckten und ihre Stimme anders klang als sonst.

»Ich suche niemanden«, sagte er und holte einen Schnellhefter aus seiner Aktenmappe. »Wissen Sie, wir machen eine Unterschriften-Sammlung gegen das Atomkraftwerk, das hier in der Nähe gebaut werden soll!«

»Hier in der Nähe?« fragte sie und fing an, das eng beschriebene Blatt zu lesen, das er ihr gegeben hatte. »Ich weiß nichts von einem Kernkraftwerk hier in der Nähe!«

»Nun ja«, sagte der junge Mann, »etwa hundertzwanzig Kilometer von der Stadt entfernt! Aber hundertzwanzig Kilometer sind nahe, wenn es um ein Kraftwerk geht! Glauben Sie mir, Sie können das ohne weiteres unterschreiben!«

Sie las noch immer und dachte einen Augenblick an die Zeit, in der sie auch mit Listen durch eine Stadt gezogen war, Unterschriften sammelnd. Die Notstandsgesetze, dachte sie, damals war es wohl um die Notstandsgesetze gegangen. Sie griff nach ihrem Füllhalter und wollte ihn gerade auf das Papier setzen, als Schöfer aufsprang und sich so laut einmischte, daß sie überrascht aufsah:

»Was fällt Ihnen denn ein, hier einfach hereinzukommen und Unterschriften zu sammeln? Haben Sie denn überhaupt die Genehmigung der Schulbehörde oder des Rektors? – Und Fräulein Schneider, wenigstens Ihnen müßte bekannt sein, daß jede politische Tätigkeit auf dem Schulgelände unzulässig ist!« Christiane überlegte noch, was sie antworten könnte, da hörte sie die Stimme des jungen Mannes, ruhig und im Gegensatz zu Schöfer nicht im geringsten aufgeregt:

»Aber ich bitte Sie, es geht doch hier nicht um Parteipolitik! Es geht um unser aller Sicherheit! Wenn das Kernkraftwerk gebaut wird und es passiert ein Unfall, wie wollen Sie das dann mit Ihrem Gewissen vereinbaren, daß Sie nicht einmal versucht haben, etwas dagegen zu unternehmen! Daß Ihnen die Sicherheit nicht einmal eine Unterschrift wert war!«

Einen Moment war Schöfer sprachlos, dann redete er so erregt, daß seine Stimme fast flüsternd wurde: »Mein Gewissen? Hören Sie mal, was geht Sie mein Gewissen an? Das ist ja noch schöner, kommt hier einfach in der Pause ins Lehrerzimmer und will mit mir über mein Gewissen reden! Ich will Ihnen mal was sagen, wenn Sie hier nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei! Das ist Hausfriedensbruch, wenn Ihnen das Wort etwas sagt!«

Der junge Mann nahm Christiane das Blatt aus der Hand, legte es in den Schnellhefter und verstaute ihn in der Aktenmappe.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er leise zu Christiane. »Das habe ich nicht ahnen können. Gewöhnlich sind Lehrer an unserer Arbeit sehr interessiert. Aber das muß ja nicht überall so sein!«

Er griff nach seiner Aktenmappe und ging zur Tür, öffnete sie und verließ das Lehrerzimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sekundenlang war es ganz still, danach fingen die Lehrer an, den Vorfall zu diskutieren, bis ihnen die Pausenglocke das Wort abschnitt. Sie standen auf, verließen einzeln oder in kleinen Gruppen den Raum und verteilten sich auf die Klassen, auch Christiane nahm ihre Tasche und ging langsam durch den langen Flur in die 3 b, wo sie die nächsten drei Stunden zu unterrichten hatte.

 

Gewöhnlich kümmerte sie sich wenig um Verhaltensweisen anderer, die hätten Unruhe in ihr Leben bringen können. Den anderen Lehrerinnen und Lehrern gegenüber verhielt sie sich höflich zurückhaltend. Sie ging Auseinandersetzungen so gut wie möglich aus dem Weg und vermied es sorgfältig, Partei zu ergreifen, wenn Konflikte aufbrachen und das Kollegium von Zeit zu Zeit in verschiedene Lager spalteten. Auch wenn sie es nicht immer vermeiden konnte, zum Zeugen unerfreulicher Vorfälle zu werden, so hatte sie doch trainiert, solche Vorkommnisse sofort zu vergessen, und sie wunderte sich schon während des Unterrichts in der 3 b, daß sie immer wieder an die Arroganz denken mußte, mit der sich Schöfer in ihr Gespräch mit dem jungen Mann eingemischt hatte. Als sie dann aber nach Schulschluß dieser Zwischenfall noch immer so beschäftigte, daß sie zum Parkplatz hinter dem Schulgebäude ging, obwohl sie ihren Wagen in der Werkstatt wußte, geriet sie in Erregung, und sie mußte sich auf dem Weg über den Schulhof zur Straße zwingen, langsam zu gehen. Auf der Straße kam sie schnell wieder zur Ruhe, und wenn sie später hin und wieder gegrüßt wurde von Eltern, deren Kinder sie unterrichtete, grüßte sie zurück. Langsam ging sie an den Fassaden der alten Häuser vorbei zur Autowerkstatt. Als sie ihren Wagen fertig auf dem Hof der Werkstatt stehen sah, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an Schöfer oder den jungen Mann. Sie ging ins Büro und bezahlte anstandslos die Inspektion, die man durchgeführt hatte, obgleich sie nur einen Ölwechsel hatte vornehmen lassen wollen. Als sie dann allerdings bemerkte, daß sich der Schlüssel im linken Schloß der Autotür noch immer kaum bewegen ließ, rannte sie wütend in die Montagehalle und wich einem Monteur solange nicht von der Seite, bis er nach einer Spraydose gegriffen, mit ihr zum Wagen gegangen war und das Schloß gängig gemacht hatte. Sie war gewiß nicht kleinlich, aber Nachlässigkeiten konnten sie in Rage bringen. Während sie den Wagen vom Hof fuhr, legte sie den Sicherheitsgurt an und fuhr dann zügig, bis sie den Supermarkt erreichte, in dem sie gewöhnlich nach der Schule einkaufte, was sie an Lebensmitteln brauchte. Sie stellte den Wagen auf einen der Parkplätze vor dem Geschäft, stieg aus und schloß das Fahrzeug ab, obgleich sie wußte, daß ihr Einkauf nur einige Minuten dauern würde. Es war ja nicht viel, was sie brauchte, und als sie mit dem Drahtkorb in der Hand an den langen Regalen vorbei ging, wunderte sie sich selbst darüber, wie selten sie ihre Hand zu einem der Regale hin ausstreckte. Ein Paket Schnittbrot und dann eine Packung Eier, ein Würfel Margarine und ein Schälchen Magerquark, schließlich einen Blumenkohl. An der Kasse zahlte sie knapp zehn Mark, ließ sich dann eine Plastiktragetasche geben, in der sie die Lebensmittel unterbringen konnte. Eigentlich bin ich eine sparsame Frau, dachte sie, während sie zu ihrem Wagen zurückging, kein Wunder, daß ich mir jedes Jahr in den Ferien eine Urlaubsreise leisten kann, von der andere nur träumen. Aber auch was diese Reisen betraf, war sie vorsichtig. Sie ließ in der Schule kein Wort davon verlauten, und wenn man sie gelegentlich nach Beginn eines Schuljahres neugierig auf ihre Urlaubsbräune hin ansprach, redete sie ausweichend von einer alten Großmutter in Bayern, bei der sie die Ferien verbracht hätte. Auch jetzt, wo sie der Gedanke an die vergangenen Ferien in den Rückspiegel blicken ließ, stellte sie zufrieden fest, daß sie noch immer eine leicht braune Gesichtsfarbe hatte. Wirklich, dachte sie, ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Als sie vor dem Haus, in dem sie wohnte, aus dem Wagen stieg und zur Garage ging, um das Tor aufzuschließen und hochzuklappen, hätte man sie für fünfundzwanzig halten können, obgleich sie fast zehn Jahre älter war. Jedenfalls, wenn man sie aus einiger Entfernung beobachtete und die winzigen Falten nicht bemerkte, die sich um ihre Augen und die Mundwinkel nach und nach in die Haut gegraben hatten. Sie ging zurück zum Wagen, stieg ein und fuhr in die Garage, holte ihre Basttasche und die Tragetasche mit den Lebensmitteln vom Beifahrersitz und verschloß das Garagentor. Im Briefkasten fand sie eine Rechnung ihrer Haftpflichtversicherung, sie steckte den Briefumschlag ungeöffnet in die Tasche und stieg dann langsam die Treppen zu ihrer Wohnung hoch, die im ersten Stockwerk lag.

Wie immer, wenn sie eingekauft hatte, brachte sie zuerst die Tasche mit den Lebensmitteln in die kleine Küche, verstaute Eier und Margarine im Kühlschrank, legte den Blumenkohl unten in das Gemüsefach und brachte das Brot in der Blechbüchse unter, die auf einem Regal an einer Wand des engen Raumes stand, gegenüber der Tür und neben dem Küchentisch, an dem sie gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnahm. Erst als sie die Lebensmittel gut verwahrt wußte, ging sie in den schmalen Korridor, zog ihre Popeline-Jacke aus und hängte sie an eine Garderobenleiste, an der ein brauner Cordmantel und ein Lodenmantel hingen, wusch sich wie jeden Mittag gründlich die Hände und ging dann in das Wohnzimmer. Ebenso wie die Küche und das Schlafzimmer war auch dieser Raum zwar nicht aufwendig, doch behaglich eingerichtet. Quer vor dem Fenster ein Schreibtisch, an dem sie saß, wenn sie Klassenarbeiten korrigierte oder mit anderen schriftlichen Arbeiten beschäftigt war. Von dort aus konnte sie bequem das Bücherregal erreichen. An einer der Längswände ein Sofa und zwei dazu passende Polstersessel, ein rechteckiger Couchtisch, den sie in der Höhe verstellen konnte, wenn sie, was selten genug vorkam, Gäste zu bewirten hatte. Über dem Sofa befand sich die Vergrößerung einer Fotografie, die sie selbst aufgenommen hatte. Eine Ansicht der Stadt Salzburg, mit Stühlen, Tischen und Laternen eines Biergartens im Vordergrund und Bergen und der Burg weit hinten. Im Wohnzimmerschrank schließlich, einem breiten sperrigen Möbel in Eiche, hatte sie geschickt ihren Plattenspieler, zwei Lautsprecher und vielleicht hundert Langspielplatten untergebracht, und als sie jetzt zu diesem Schrank ging und sich für das Harfenkonzert D-dur von Johannn Christian Bach entschied, als sich die mattglänzende Scheibe langsam auf dem Plattenteller zu drehen begann und die ersten Harmonien des Antiqua Musica Orchesters die Membranen der Lautsprecher vibrieren ließen, als sie in einem der Sessel saß und die erste Zigarette dieses Tages aus einem flachen Kästchen auf dem Couchtisch kramte, wäre ihr niemand eingefallen, mit dem sie hätte tauschen wollen. Sie hielt sich keinesfalls für glücklich, aber doch für zufrieden. Sie hatte sich einzurichten gewußt in ihren Verhältnissen, und sie fand, das war immerhin etwas. Sie zündete die Zigarette an, dachte an die Schadstoffe, die sie mit dem Rauch inhalieren würde, sog den Rauch dann aber trotzdem tief in die Lungen und stieß ihn durch die Nasenlöcher wieder aus. Sie rauchte wenig, höchstens fünf, sechs Zigaretten am Tag, und sie sah nicht ein, weshalb sie auf dieses Vergnügen verzichten sollte. Den Abgasen der Kraftfahrzeuge, die mindestens ebenso schädlich waren, konnte sie ja auch nicht ausweichen. Sie hörte die Platte in Ruhe, und als sie abgespielt war, schaltete sie den Plattenspieler wieder aus, ging hinüber in die Küche, band sich eine Schürze über ihre verwaschenen blauen Jeans und bereitete sich ihr Mittagessen. Sie ließ sich auch dabei Zeit, säuberte den Blumenkohl gründlich und schnitt Tomaten und eine Paprikaschote für einen Salat. Während der Blumenkohl auf dem Herd dünstete, legte sie eine kleine rechteckige Decke, die sie bei einem Ferienaufenthalt in Dänemark erstanden hatte, auf den Tisch, eine Serviette in einem Serviettenring daneben und holte dann das Eßbesteck aus einer Schublade. Nach dem Essen spülte sie sofort das Geschirr, überflog die Schlagzeilen der Tageszeitung und ging dann ins Wohnzimmer, setzte sich an ihren Schreibtisch und korrigierte einen Aufsatz, den sie hatte in der 3 b schreiben lassen. Vierzehn Tage zuvor war sie mit der Klasse in einer Kindertheateraufführung des Landestheaters gewesen. Sie hatte dieses Ereignis zum Thema des Aufsatzes gemacht und las jetzt amüsiert, welche Eindrücke das Stück in den kindlichen Köpfen hinterlassen hatte. Am besten, so schrieb eine Schülerin, habe ihr der Moment gefallen, wo der König dem fremden Ritter die Jacke aufriß und bemerkte, daß der Ritter in Wirklichkeit ein Mädchen war. Sie ließ sich auch bei der Durchsicht der Aufsätze Zeit, strich Fehler an und versäumte nicht, bei dem einen oder anderen Aufsatz eine kurze Bemerkung neben die Zensur zu schreiben. ›Petra sollte auf ihre Handschrift achten‹, schrieb sie oder auch ›Dieter sollte weniger fernsehen‹, und als das Telefon läutete, wunderte sie sich darüber, daß es schon neunzehn Uhr war. Wie sie erwartet hatte, war ein befreundeter Buchhändler am Apparat, der sie an das Kammerkonzert am Abend erinnerte und ihr anbot, sie eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung in ihrer Wohnung abzuholen, es sei doch nicht nötig, daß sie allein mit ihrem Wagen in die nahe gelegene Kurstadt fahre, es mache ihm und seiner Frau überhaupt nichts aus, sie mitzunehmen. Sie nahm das Angebot gern an. Sie mochte das Ehepaar, das sie durch den Musikverein kennengelernt hatte, und als sie den Aufsatz, den sie zu korrigieren begonnen hatte, weiter durchsah, überlegte sie, wie sie sich für die Autofahrt erkenntlich zeigen könnte. Ein Buch konnte sie kaum verschenken, aber vielleicht würde sie eine passende Schallplatte finden. Gewiß, dachte sie, als sie vor der Frisiertoilette im Schlafzimmer saß und sich für den Konzertabend zurechtmachte, eine Schallplatte wird das Richtige sein. Sie legte einen Hauch Make-up auf, zog die Konturen der Lippen nach und holte dann ein Kleid aus dem Schrank, das sie im Gegensatz zu ihrem langen Abendkleid ›das kleine Schwarze‹ nannte. Als sie das Kleid anhatte, stieg sie in ihre halbhohen Abendschuhe und betrachtete sich lange Zeit im Flurspiegel.

 

Zwei Tage später stand sie im Lehrerzimmer und las einen Anschlag am Schwarzen Brett, in dem der Rektor, aus gegebenem Anlaß, wie es hieß, darauf hinwies, daß jegliche Verkaufs- und Werbetätigkeit sowie jegliche politische Agitation in der Schule und auf dem Schulgelände ohne vorherige Zustimmung der Schulverwaltung untersagt sei. Ergänzend machte er darauf aufmerksam, daß er unverzüglich unterrichtet werden wolle, wenn solche verbotenen Aktivitäten beobachtet werden sollten.

»Eine schöne Demokratie haben wir«, sagte die junge Lehramtsanwärterin, die zufällig neben Christiane stand, aber Christiane ging auf diese Bemerkung nur mit einem kurzen Achselzucken ein und wandte sich dann an Rodenberger, mit dessen 4 a ihre 3 b ins Schwimmbad fahren sollte.

»Hoffentlich geht mit dem Bus diesmal alles klar! – Nicht, daß wir wieder eine halbe Stunde warten müssen. Wollen Sie nicht doch nochmal anrufen?«

Rodenberger schien belustigt. Nein, anzurufen, das halte er nicht für notwendig, der Bus würde schon kommen, und wenn er wirklich ein paar Minuten später käme, das mache doch nichts aus.

»Aber den Kindern macht es etwas aus«, sagte Christiane. »Das letzte Mal waren sie enttäuscht, daß sie nur eine halbe Stunde im Wasser bleiben durften!«

Rodenberger machte noch immer ein spöttisches Gesicht und schließlich ging sie zum Telefon und rief den Busunternehmer an.

»Aber ich bitte Sie«, sagte sie verärgert ins Telefon, »wir bezahlen den Bus doch genauso wie andere Kunden, wenn Sie diesmal wieder unpünktlich sind, werde ich mich dafür einsetzen, daß wir in Zukunft mit einer anderen Firma fahren!«

»Natürlich steht der Bus noch in der Garage!« sagte sie dann zu Rodenberger, aber sie sagte es ohne Zorn, eher mit leiser Stimme, die Genugtuung erkennen ließ, weil sie wieder einmal recht gehabt hatte mit ihrer Vermutung, daß man die Kinder einfach vergessen würde. Sie nahm ihren Mantel und den Beutel mit ihren Badesachen von der Garderobenleiste, griff nach ihrer Tasche, ging dann zur Tür:

»Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn der Bus da ist. Die 3 b kann man keinen Augenblick allein lassen!«

In der Klasse sprangen die Kinder auf und drängten zur Tür. Sie mußte schreien, um überhaupt gehört zu werden.

»So hört doch mal her, der Bus ist noch nicht da. Wir bleiben noch in der Klasse, bis der Bus gekommen ist!« Ein enttäuschtes Stöhnen antwortete ihr, und sie wurde ärgerlich. Wenn die Klasse nicht endlich ruhig sei, sagte sie, könne man auch auf das Schwimmen ganz verzichten und dafür eine Stunde lang rechnen. Aber da kam Rodenberger in die Klasse, nickte ihr zu, und sie ließ die Kinder aus der Klasse rennen.

»Wer nimmt denn die Nichtschwimmergruppe«, fragte sie, als sie neben Rodenberger über den Hof zum Bus ging, dann sah sie die Lehramtsanwärterin neben dem dunkelbraunen Fahrzeug warten, und Rodenberger hielt es nicht für erforderlich, auf die Frage zu antworten. Sie stiegen ein, Rodenberger schickte zwei Jungen von der Sitzbank neben dem Fahrer nach hinten, der Bus fuhr langsam vom Hof, und vier Mädchen aus Christianes 3 b fingen leise an zu singen.

 

Die Situation kam ihr absurd vor. Sie, die das Wasser liebte und den Rektor nicht wegen seines Eigenheims beneidete, wohl aber mitunter um das Schwimmbecken im Keller, von dem er manchmal erzählte, sie stand im Badeanzug am Rande des Wassers, in dem die Kinder tobten und vor Vergnügen kreischten. Sie roch das Chlor, bekam hin und wieder, wenn ein Kind, wohl absichtlich, in ihrer Nähe auf das Wasser schlug, ein paar Spritzer ab. An der gegenüberliegenden Seite des großen Beckens ging Rodenberger hin und her in seiner, wie sie fand, zu kleinen Badehose, ließ wie sie die Kinder nicht aus den Augen. Die Urangst des Lehrers. Ein Unfall während des Sportunterrichts oder ein Kind, das beim Schulschwimmen verunglückte, nicht auszudenken. Sie erinnerte sich gerade an einen Kollegen, dem in der Landeshauptstadt das kaum Vorstellbare geschehen war: ein Schüler, der, einen Moment unbeobachtet, auf das Fünfmeterbrett klettert, ungeschickt springt, mit dem Rücken auf das Einmeterbrett schlägt, querschnittsgelähmt bleibt. Sie erinnerte sich an das Bewußtsein von Schuld, mit dem der Kollege noch Jahre später den Vorfall immer wieder erzählte, als sie durch lautes Geschrei auf zwei Jungen aus ihrer Klasse aufmerksam wurde, die gerade eines von Rodenbergers Kindern unter Wasser zu drücken versuchten. Da hielt sie nichts zurück, sprang sie in das Wasser und brüllte die Jungen schon an, als sie noch weit von ihnen entfernt war, schwamm sie im Delphin-Stil, den sie aus Griechenland mitgebracht hatte, riß sie den Jungen zurück und brachte das Mädchen aufs Trockene.