Die Zellers – Wanderer in Raum und Zeit (1480–2014), Band I - Friedrich Regius - E-Book

Die Zellers – Wanderer in Raum und Zeit (1480–2014), Band I E-Book

Friedrich Regius

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Beschreibung

Verfügen nur Familien des Adels und des gehobenen Bürgertums über weit zurückreichende Stammbäume? Nicht immer! Der seltene Fund eines über ein halbes Jahrtausend umfassenden Stammbaums einer Familie ehemals kleiner Leute entzündet die Phantasie des Erzählers Erwin Zeller. Bei all dem seichten Neuen, das täglich auf ihn einströmt, greift er sehnsüchtig, ja fast gierig nach etwas Altem, längst Vergangenem. Obwohl zunächst nur Außenseiter – selbst erst durch Adoption zu einem Zeller geworden – versucht er deren Geschichte zu "rekonstruieren", z. T. auch zu erfinden. So begleitet er in dichter, den historischen Kontext beachtenden Erzählung Mitglieder der Familie Zeller auf deren Wegen und auf deren Fluchten: Vom Steinmetz Michael, der auf seiner Wanderschaft durch Italien seit Ende des 15. Jahrhunderts in Rom Bramante und in Florenz Michelangelo begegnet, bis hin zum Studenten Andreas, der im Deutschland der 1830-er Jahre, von der Reaktion verfolgt, auf dem Umweg über die französische Fremdenlegion in die Vereinigten Staaten gerät und dort später mit seinem Sohn Antony im Bürgerkrieg auf der Seite des Nordens gegen die Sklaverei kämpft. Wohin es die Zellers auch treibt: Sie bleiben sich ihrer Wurzeln bewusst, ohne Blut- und Bodenmythen zu hegen. Im zweiten Teil führt Zeller den Leser über seinen eigenen kurvenreichen Lebensweg als Student in Straßburg und Heidelberg, als Soldat im Ersten Weltkrieg, als Alkoholschmuggler und Kunsthändler in den "goldenen" zwanziger Jahren der USA wie danach in Deutschland als Helfer rassisch Verfolgter in den Zeiten von Diktatur und Krieg

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Seitenzahl: 1575

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Friedrich Regius

Die Zellers – Wandererin Zeit und Raum

(1480–2014)

BAND I

Roman

Die handelnden Personen des Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit und Namensgleichheit mit lebenden Personen wäre unbeabsichtigt und rein zufällig. Frei gestaltet sind auch die Beziehungen zu Persönlichkeiten des jeweiligen Zeitgeschehens, deren Namen im Personenverzeichnis kursiv gedruckt sind.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 by edition fischer GmbHOrber Str. 30, D-60386 Frankfurt/MainAlle Rechte vorbehaltenSchriftart: Minion 10 ptHerstellung: ef/bf/2BISBN 978-3-86455-186-4 EPUB

Inhalt

Prolog

Michael Zeller und seine Nachkommen

Erster Teil: Der Steinmetz

Ein verhinderter Anschlag

Familie, Kindheit, Jugend

Auf dem Weg nach Rom – Mönche, Kirchen, Kunst und Räuber

Rom im Heiligen Jahr

Ein Entführungsversuch

Die Pazzis und ihre Kapelle

Als Modell für Michelangelos »David«

Marmor für die Brügger Madonna

Kostbares Gut auf dem Weg nach Norden

In Brügge: Barbara Moerbeke

Am Niederhein: Nächtliche Versuchungen

Christian – der verschollene Sohn

Michaels Nachkommen

Jakob – der Pfeifer

Unter Hexenverdacht

Josef – der Forstmann

Als Badener in Napoleons Grande Armée

Magdalena und Fränzi

Zweiter Teil: Andreas Zeller – Der Deutsch-Amerikaner

Flucht vor politischer Verfolgung

Als Fremdenlegionär in Algerien

Auf dem »Falken von Louisiana«

Von Louisiana nach Texas

Expedition in den Westen

Auf dem Mississippi nordwärts

Ein mutiges Mädchen in gefährlicher Umgebung

Auf Goldsuche in Kolumbien

Tückische Anschläge

Mit Isabella und Antony in Boston und St. Louis

Isabellas Tod

Im mexikanischen Krieg

Juan Azaña und seine Tochter Laura

Der »Dreimännerbund« im Osten

Mit Antony in der alten Heimat – Am Ende der deutschen Revolution

Vetter Kaspar in politischen Nöten

Exkurs

Laura Azaña

Antony im Bürgerkrieg

Lebensglück durch den »ungebärdigen« Sohn

Macht, List und Recht: Aus den Erfahrungen eines jungen Anwalts im Mittleren Westen

Erwin Zeller – Erzähler und Zeuge des 20. Jahrhunderts

Erster Teil: Herkunft, Kindheit und Jugend

Die Mutter Ottilie Werner

Wie ich ins Leben kam

Der Stiefvater Johannes

In der Schule der Benediktiner

Gabriel Darberg

Der Bruch mit der Schule und verspätete Dankbarbeit

Preußen und Badener beim Manöver im Elsass

Zwischen Patriotismus und Wissenschaftsfreiheit: Student an der Universität Straßburg

Der Freund Mirkò Kladič

»Gotik« als Thema der Heidelberger Doktorarbeit

Am Monte Rosa: Noch frei von Kriegsstimmungen

Zweiter Teil: Im Ersten Weltkrieg

Kriegsfreiwilliger: Vom Überschwang mitgerissen?

Exkurs: Der Schlieffen-Plan – Vorgeschichte und Scheitern

An der Front im Oberelsass

Gabriel Darberg und Renate Posener

Kampf um den Hartmannsweilerkopf

Im Heidelberger Lazarett – Sinngebung des Sinnlosen?

Beschützer der Braut des Freundes

Im Luft-Boden-Krieg

In Russland und am Isonzo

Humpelnd ins letzte Kriegsjahr

Die jüdischen Freunde und die Judenzählung im Heer

Verfehlte Spekulation auf einen Siegfrieden

Im letzten Aufgebot

Der bewegliche Wandteppich oder: Ist Liebe im Feindesland möglich?

Eine unwahrscheinliche Begegnung

Der Dolchstoß von oben

Dritter Teil: Zwischenkriegszeit

Nach dem Krieg: Neuorientierung wie und wohin?

Als Alkoholschmuggler in Nordamerika

Kunstimporteur in Chicago

Deborah J. – ein Stich, der blieb

Kunsthändler in New York

Rückkehr: Der »Kaschten« in Tübingen

Der »Offiziersstammtisch« und seine Folgen

Der Amateur-Astronom

Politisches Überwintern

Die Kehrseite von »Heim ins Reich«: Hilfe für Verfolgte

Vierter Teil: Zweiter Weltkrieg und Nachkriegsjahre

»Krieg« im Krieg

Der Flüchtling aus Chelmno

Provokateure, Gestapo und andere Deutsche

»Volkssturm«

Schwieriger Neustart

Eine fehlgeschlagene Beziehung

Glossar

Personenregister

Stammbaum

Prolog

Bevor Christoph Zeller (s. Band II) sich mit seinem jemenitischen Studienfreund in Dubai traf, machte er nach seinem Bachelorexamen an einer katholischen Universität im Mittleren Westen der USA für knapp zwei Wochen Station im Tübinger Elternhaus, dem Haus unter dem Philosophenweg.

Die fürsorgliche Zuwendung der Mutter, der frohe Sinn seiner aufgeweckten Schwester, die Angebereien seines stark pubertierenden Bruders und das Interesse des Vaters am Studienerfolg seines Sohnes hoben ihn ein Stück weit aus der niedergedrückten Stimmung heraus, in die er durch das plötzliche Verschwinden von Melanie Dole geraten war.

Neben der Teilnahme am Familienleben widmete er sich dem geistigen Erbe, das ihm Onkel Erwin – sein langjähriger Mentor – neben gedruckten und in Maschinenschrift abgefassten Materialien sowie von Briefen, die zu kleinen Bündeln verschnürt worden waren, in Form einer Reihe von eng in Sütterlin voll geschriebenen Wachstuchheften hinterlassen hatte. Sie befanden sich im Depot einer lokalen Bank, die auch die Alltagsgeschäfte des Onkels verwaltet hatte. Die Sichtung dieses Teils des Erbes – die Verfügung über deren materielle Teile sollte er stufenweise in den nächsten Jahren erhalten – hatte er im vergangenen Jahr immer wieder hinausgeschoben.

Zu sehr schmerzte die Erinnerung an den Onkel, vor allem der Selbstvorwurf, dass er ihn damals durch seine Bummelei bei der Buchung des Fluges nach Deutschland nicht mehr lebend angetroffen hatte. Diesmal hatte er schon am Tag nach seiner Ankunft die Hefte sowie das übrige Material aus dem Depot geholt und sie im Safe des Onkels verwahrt. Dieser befand sich in dessen ehemaliger Bibliothek im Turm, die jetzt zu seinem »Wigwam« geworden war, hinter dem altersfleckigen Bild einer amerikanischen Brigg in voller Takelage.

Als er am Abend die ersten Hefte und ein umfangreiches vom Onkel mit der Maschine getipptes Manuskript aus dem Safe nahm und sich etwas zögernd in dessen Sessel hinter dem alten Schreibtisch niederließ, schien alles um ihn herum noch dessen Anwesenheit zu bezeugen: Ganz so, als hätte er nur für kurze Zeit das Turmzimmer verlassen, um sogleich zurückzukehren und dem wissbegierigen Neffen, der es sich im Sessel gegenüber mit hochgezogenen Knien bequem gemacht hatte, Rede und Antwort zu stehen.

Lebenslang würde er den Zauber nicht vergessen, von dem er ergriffen wurde, als er zum ersten Mal vor mehr als einem Jahrzehnt diese Bibliothek betrat und der Onkel ihn trotz seiner altklugen Rederei umstandslos für voll nahm.

Diese Atmosphäre wurde noch dichter und lebendiger, als er das erste Heft öffnete und auf der linken Umschlagseite ein an ihn gerichteten Brief des Onkels eingeheftet fand. »Lieber Christoph«, so hieß es da, »die notgedrungen unvollständig bleibenden Materialien zur Familiengeschichte der Zellers sowie die Aufzeichnungen über mein Leben habe ich bewusst Dir anvertraut. Manches darin wird Dir aus unseren Gesprächen bekannt vorkommen, Neues aber auch nicht völlig fremd sein. Viele Begebenheiten aus den Geschichten der Vorfahren, wie aus meinen Leben lassen sich mit dem Dir bekannten Motto »Flüchten oder Standhalten« umschreiben. Dabei bin ich nicht so verwegen, mich an deren sehr viel schwierigeren Lebenswegen messen zu wollen. Bei ihnen sind es noch häufiger Situationen gewesen, die sich nicht auf diese Alternative reduzieren ließen. Dann waren Kompromisse notwendig oder einfach bloßes Wegducken. So bleibt jeder Mensch auf seine eigenen Erfahrungen verwiesen. Dabei ist nicht alles so bedeutungsschwer zu nehmen, sondern öfter auch mit Augenzwinkern zu lesen. Deshalb taugen meine Notizen nicht als Ratgeber, sondern da und dort vielleicht als Fingerzeige – auch wie man sich nicht verhalten sollte. Du wirst diesen Unterschied bald ausmachen und vielleicht auf Deine Weise nutzen können. Herzlichst Dein Onkel Erwin.«

Christoph brauchte einige Zeit, um sich von dem Brief zu lösen, schon weil ihm dabei das Wasser in die Augen gestiegen war. So nüchtern die Sätze klangen – sie enthielten das Vertrauen, die Zuneigung, ja die versteckte Liebe, kurzum das ganze Universum der Gefühle, die der Onkel ihm entgegengebracht hatte. Er konnte sie seinerzeit nicht in gleichem Maße erwidern, sondern hatte sie zu oft als etwas Selbstverständliches betrachtet.

Beim Durchblättern der Hefte fiel ihm auf, dass die Texte, die des Onkels Erlebnisse vor dem Ersten Weltkrieg, in den Kriegsjahren sowie aus der Zwischenkriegszeit wiedergaben, am ausführlichsten waren. Es waren die Grunderfahrungen seiner Generation, die als die »verlorene Generation« galt. Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg und aus den Jahren danach hatten mehr fragmentarischen Charakter.

Aus der Scheu heraus, sogleich mit dem Leben des Onkels in den Schrecken der jüngeren Vergangenheit konfrontiert zu werden, griff er nach dessen Manuskript über die Zellersche Familiengeschichte seit dem ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert. Was er las, schlug ihn sogleich in deren Bann.

Michael Zellerund seine Nachkommen

Erster Teil: Der Steinmetz

Ein verhinderter Anschlag

Der junge Wanderer träumte einen wunderlichen Traum: An des Vaters Hand war er – wieder zum Kind geworden – am Schneeberg im Ridnauntal in ein Unwetter geraten. Sie flohen ins Tal, um eine Zuflucht zu finden. Plötzlich ging eine Mure ab, die ihnen den Weg abzuschneiden drohte. Der Vater wurde schon durch springende Felsbrocken getroffen. Bevor er von der Mure vollends verschlungen wurde, rief er ihm noch zu: »Bub, renn um dein Leben!« Er rannte, sprang – und fand sich auf einer blühenden Wiese im Sonnenschein. Seine Mutter, jung und schön, nicht auf den Tod krank, wie er sie drei Jahre zuvor erlebt hatte, saß neben ihm und flocht an einem Kranz von Wiesenblumen, den sie ihm dann mit ihrem fröhlichen Lachen aufsetzte.

Was konnte sie nicht alles erzählen: Von ihrer Kindheit im Schnalstal, vom Übertrieb der Schafe im Frühsommer über den Similaungletscher ins Nordtiroler Ötztal und im September wieder zurück. Oder von der Art, an den Tannenspitzen sowie am Kriechen der Schnecken und am eiligen Laufen der schwarzen Waldameise zu erkennen, ob es bald Regen geben würde.

Dabei erwachte er. Er wusste hernach nicht mehr, ob dies geschah, weil eine Ameise in seine Nase gekrochen war und ihn zum Niesen zwang. Oder ob es der Waffenlärm und das Geschrei von Kämpfenden gewesen waren, die vom nahen Weg herübertönten, die ihn aus Schlaf und Traum gerissen hatten. Er verstaute Ranzen und Lodenrock im Gebüsch, griff nach seinem Bergstock und schlich an den Rand des Wäldchens, in dessen Schatten er eingeschlafen war.

Einige Meter vor ihm auf dem Weg kniete ein Mann mit einer gespannten Armbrust im Anschlag. Obwohl er ihm den Rücken zuwandte, erkannte er ihn wie seinen Begleiter sofort wieder. Am Tag zuvor war er ihnen in einer Trientiner Osteria begegnet. Sie saßen an einem Tisch in einer kleinen Nische – aber ihm doch nahe genug, damit er einen Teil der halblaut geführten und mit Flüchen begleiteten Unterhaltung mitbekam. Denn ihr Ärger war groß, dass ihnen der »Ulmer« jetzt vor Pergine – wie zuvor schon in der Nähe von Churburg bei Matsch im Obervinzgau und später hinter Bozen – »entwischt« war. Jetzt müssten sie ihn vor Rovereto unbedingt abfangen, sonst könnten sie die dafür versprochenen zweihundert Gulden in den Wind schreiben! Den Knappen, der den »Ulmer« begleitete, schienen sie nicht zu fürchten. Den würden sie im Nu »abtun«. Aber vor dessen Herrn hatten sie mehr Respekt und tranken sich deshalb gehörig Mut an. Als sie mit stierem Blick und schwerem Schritt die Osteria verließen, atmeten nicht nur die Gäste, sondern auch Wirt und Wirtin auf. Denn mit ihren brutalen Mienen, ihren Schwertern, Dolchen und Armbrüsten sowie ihren Sturmhauben und Brustharnischen, die unter dem halboffenen Wams sichtbar wurden, boten sie ein bedrohliches Bild.

Der junge Wanderer verließ wenig später die Osteria und sah noch, wie die Beiden hoch zu Ross aus der Stadt ritten. Als er just einen Tag später aus dem Wäldchen bei Besenello trat, schien der Kampf schon fast entschieden zu sein. Der Knappe war schon »abgetan«. Denn er lag mit einem Bolzen im Rücken bäuchlings und leblos am Wegrand. Sein Herr stand noch aufrecht und verteidigte sich zwar geschickt gegen den riesigen Angreifer, der mit berserkerhafter Wucht immer wieder auf ihn eindrang und ihn schon an Armen und Beinen verwundet hatte. Aber es war absehbar, dass er spätestens dann trotz besserer Rüstung als sein Knappe unterliegen würde, wenn der zweite, der Armbrustschütze zum Schuss kommen oder mit seinem Schwert in den Kampf eingreifen würde. Durch Zuruf hatte dieser gerade seinen Spießgesellen dazu gebracht, ihm freies Schussfeld zu geben.

Im Augenblick, in dem er abzog, schlug der von ihm unbemerkt im Rücken herbeigeeilte Wanderer mit seinem Stock so auf den rechten Arm, dass er verriss. Der Bolzen traf nicht den »Ulmer«, sondern den Kumpan des Schützen am rechten Oberarm so tief und schmerzhaft, dass er sein Schwert fallen ließ. Der »Ulmer« nutzte sofort seinen Vorteil und stieß ihm das Schwert in die ungeschützte Halsbeuge.

Der Schütze hatte die Armbrust ins Gras geworfen. Weil er die Winde zum Spannen der Armbrust beim Pferd gelassen hatte, blieb ihm keine Chance zum zweiten Schuss. Deshalb griff er nach seinem Katzbalger, wie das Kurzschwert deutscher Landsknechte genannt wurde. Das heißt, er versuchte es, kam aber nicht dazu, weil die Stockschläge des Wanderers hageldicht auf seine ungeschützten Hände prasselten. Dies war dessen einzige Chance. Denn einem Schwertangriff hätte er, der nur ein Messer besaß, nicht standhalten können.

Als der »Ulmer«, der sich seines Angreifers vollends entledigt hatte, dem Wanderer hinkend zu Hilfe kam, rannte der zweite Mordgeselle schnell zu den Pferden am Waldrand, sprang in den Sattel, ergriff die Zügel auch des Pferdes seines »abgetanen« Komplizen und ritt unter Flüchen und Drohungen im Galopp davon. Der »Ulmer« kniete inzwischen an der Seite seines toten Knappen und betete ein stilles Vaterunser. Erst danach wandte er sich dem Wanderer zu, der ebenfalls die Hände gefaltet hatte und im stummen Gebet verharrte.

»Das war Hilfe in höchster Not. Das werden meine Braut Beatrix und ich Euch unser Leben lang nicht vergessen. Mein Name ist Ludwig von O.« Soviel Überschwang war der Wanderer nicht gewohnt. Er tat ihn mit einer Handbewegung ab: »Fast hätte ich alles verschlafen und verträumt. Ich heiße Michael Zeller und bin Steinmetz auf Wanderschaft.« Keine devote Geste, nicht einmal eine Neigung des Kopfes! Kurz angebunden wies er zum Himmel, an dem sich Gewitterwolken türmten: »Wir müssen uns sputen, damit wir in eine Herberge kommen. Vielleicht sind noch andere Mordbuben unterwegs, die uns mit den Entflohenen verfolgen, der mit seinem Kumpan schon seit vielen Tagen hinter Euch her war. Drüben, auf der Höhe über der Etsch wohnt ein Klausner, den ich kenne. Er wird uns für eine Nacht eine Bleibe geben. Dort ist auch ein kleiner Friedhof in der Nähe, auf dem man die Toten begraben kann. Der Klausner kann auch Wunden behandeln.« Luitpold wunderte sich nicht wenig über diesen Hinweis auf seine Verfolger sowie über die bestimmte Weise, in der der Jüngere auftrat. Aber da er stark geschwächt war, war er auch für diese Hilfe dankbar. Er wandte lediglich ein, dass Friedel als Gefährte seiner Kindheit, der auch schon seinen Eltern gedient habe, ein würdiges Grab auf dem Friedhof von Verwandten in Arco finden werde. Michael nickte. Er hatte inzwischen Ranzen und Jacke geholt, die zurückgelassene Armbrust – ein wertvolles Stück, dessen Schaft mit Elfenbein ausgelegt war – aufgehoben und half Luitpold die Leiche des Knappen auf das zweite Pferd zu schnallen. Den zweiten Toten bedeckte er mit Zweigen. »Der Klausner wird morgen dafür sorgen, dass dieser hier unten im Tal beerdigt wird.« Nach diesem Bescheid ergriff er die Zügel des Pferdes mit dem toten Knappen und schritt voran. Sie querten die Etsch an einer ihm bekannten Furt und stiegen dann steil bergan. Nach etwa einer halben Stunde, kurz bevor das Gewitter losbrach, erreichten sie die Klause.

Der Klausner, der im kleinen Garten nebenan gearbeitet hatte, begrüßte sie freundlich, denn er hatte Michael von weitem erkannt. Dieser hatte ihm von Trient aus mehrfach geholfen, Frontseite und Eingang der benachbarten Kapelle zu erneuern, sowie die romanischen Fresken im kleinen Chor mit frischen Farben zu versehen.

Er nahm sich sogleich Luitpolds Wunden an. Für die Pferde hatte er Heu; den Unterstand mussten diese mit einem Esel teilen, der ihm half, Produkte seines Gartens auf den Markt im Tal zu bringen. Nach dem einfachen Mahl bot der Klausner ihnen seine Kammer zum Schlafen. Ihm machte es nichts aus, vor dem Altar in der Kapelle – unweit des dort liegenden toten Knappen – zu ruhen. So könne er die Bitte um dessen Seelenheil in sein Nachtgebet einschließen.

Luitpold war über das Aussehen des Klausners erstaunt, der mit Narben im Gesicht und seiner Statur einem Kriegsmann eher gleiche als einem Einsiedlermönch. Michael erwiderte leise, der Klausner habe lange Jahre als Führer eines Landsknechtsfähnleins gedient. Aus Versehen – vielleicht auch im Suff – habe er seinen besten Freund getötet. Darauf habe er zur Sühne seinem blutigen Handwerk abgeschworen und sein Vermögen dem Orden des Heiligen Benedikt vermacht. Der habe ihm erlaubt, die Klause neben der alten Kapelle zu bauen und einen Garten anzulegen. Er sei kein geweihter Priester, sei aber rundum – bei Hirten und Bauern – hochangesehen, weil er nicht nur gelernt habe, Wunden zu schlagen, sondern davor an der Hohen Schule zu Salerno Wunden zu heilen.

Als Michael den getöteten Freund erwähnte, hatte Luitpold kurz die Augen niedergeschlagen. Auch nach dem Ende des Berichts hinterließ er bei Michael den Eindruck, er wolle etwas loswerden. Weil beide sterbensmüde waren, befanden sie sich beide aber bald in Morpheus’ Armen.

Am nächsten Morgen empfing sie strahlender Sonnenschein und frische Kühle. Die spätsommerliche Schwüle hatten die Gewitter der Nacht fortgeblasen. Heiße Ziegenmilch und eingebrocktes Brot reichte den Beiden, um völlig wach zu werden. Der Klausner versprach, sich sogleich um die Beerdigung des Toten im Tal zu kümmern. Das Geld, das der junge Adelige ihm für diesen Dienst anbot, wollte er nicht annehmen. Das sei Christenpflicht. Als Michael aber erwähnte, manch’ Handwerksbursche, der bei ihm nächtigte, sei froh über einen Zehrpfennig, nahm er das Geld brummend an und empfahl beide Gottes Segen. Michael hatte darauf gedrungen, weiter den beschwerlichen, weil steileren Weg durch die Berge nach Arco zu nehmen, weil der vor weiteren Nachstellungen sicherer sei. Erst am späten Nachmittag hielten sie am Rande eines kleinen Arvenwäldchens an, wo ein vorspringender Fels Raum für die Übernachtung bot. Ihr abendliches Mahl bestand aus Ziegenkäse und Brot, das sie dem Klausner verdankten. Michael konnte noch ein Stück Speck sowie eine Flasche Tiroler Roten beisteuern, die er in Trient erstanden hatte. Wasser, um die Pferde zu tränken, hatten sie in einer nahen Quelle gefunden.

Der Wein hatte die Zunge gelockert, besonders die Luitpolds. Während des anstrengenden Rittes bergan, hatte er sich mehrmals gefragt, woher sein Führer und Helfer wusste, dass er verfolgt würde. Da er aber erlebt hatte, wie kurz angebunden dieser zu reagieren pflegte, war er klug genug, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Er fragte ihn deshalb zuerst, aus welchem Holz der Bergstock, der keine sichtbaren Spuren des Kampfes mit einem geharnischten Kriegsmann aufweise, geschnitzt sei und woher er gelernt habe, diesen so geschickt zu gebrauchen.

Zunächst antwortete Michael recht einsilbig: Der Stock sei von ihm aus der Eibe geschnitten und nach bewährter Weise gehärtet worden. Das Stockfechten sei unter den Buben von Sterzing, dem Ort, in dem er aufgewachsen sei, früh geübt worden, weil die Bauernbuben in den Dörfern ringsum sich mit denen aus der Stadt nur zu gern geschlagen hätten. Danach verstummte er wieder.

Erst auf die weitere Frage, weshalb er sich mit Waffen, besonders mit der Wirkung der Armbrust so gut auskenne, wurde er gesprächiger. Ein Diener seines Vaters, der früher Landsknecht gewesen sei, habe ihm und seinen Freunden gezeigt, wie man mit einer Armbrust umgehe und wie auch das Schwert zu gebrauchen sei. Die Armbrust – er wies dabei auf die Waffe, die er an den Sattelknopf des von ihm geführten Pferdes gehängt hatte – sei eine ideale Waffe für den Hinterhalt gedungener Mörder. Nicht umsonst sei ihr Gebrauch in früheren Jahrhunderten von einem Papst gebannt worden, wie ihnen von den Patres in der Klosterschule von Neustift bei Brixen beigebracht worden sei. Aber jetzt werde sie wieder von Kriegsleuten ungehemmt benutzt, während sie Bürgern und Bauern ebenso verboten sei, wie das Tragen von Schwertern. Der letzte Satz enthielt einen rebellischen Unterton. Luitpold ging darauf nicht ein. Das Wort von den »gedungenen Mördern« war ein zu guter Anknüpfungspunkt für die Frage nach Michaels Wissen über seine, Luitpolds, Verfolger. Michael berichtete von dem Gespräch der beiden Mordgesellen in der Trientiner Osteria, die er belauscht habe. Die Geldsumme, die gezahlt werden sollte, habe auf vermögende Auftraggeber verwiesen, die nicht genannt worden seien. Da der Eine entkommen sei und diesen über den Ausgang des Kampfes vermutlich berichten müsse, könne auch er in deren Visier geraten. Deshalb sei es für ihn wichtig, zu hören, in welchen Händel er geraten sei und wie die Gegner hießen, von denen er sich gegebenenfalls vorsehen müsse. Luitpold stutzte nicht wenig. Denn von dieser Seite hatte er den Vorfall bisher gar nicht betrachtet. Auch war es nicht üblich, dass ein Handwerkerbursche von einem Adeligen Aufklärung heischte. Dann begriff er, dass Michaels Forderung nur recht und billig war. Es geschah nicht nur aus Dankbarkeit, sondern aus stiller Achtung gegenüber diesem jungen Burschen, dessen Mut, Umsicht und kräftige Gestalt vielen seiner Adelsgenossen Ehre angetan hätte.

Er erklärte ihm zunächst, was es mit dem »Ulmer« auf sich hatte: Er sei der jüngere Sohn eines schwäbischen Freiherrengeschlechts, dessen Mutter einer Ulmer Patrizierfamilie entstammte. Da der ältere Bruder das Stammschloss sowie Äcker, Wiesen und Wälder geerbt habe, sei er darauf verwiesen worden, sich mit dem von den Verwandten seiner Mutter betriebenen Handel zu beschäftigen. Da diese auch Geschäfte in Italien tätigten, habe er nach dem Studium der Rechte in Tübingen an der Universität Bologona ein Jahr verbracht, um neben dem Römischen Recht auch die italienische Sprache zu lernen. Deren Kenntnisse seien im Verkehr mit den Handelshäusern in Venedig, Florenz und Prato unentbehrlich, sonst gerate man dort schnell ins Schlingern.

Ein älterer Bruder seiner Mutter habe – wie andere vermögende Handelsherren auch – Grundbesitz im südöstlichen Schwaben. Mit einem adligen Nachbarn gebe es seit Jahren einen Streit um Weide- und Wasserrechte, der vor allem auf dem Rücken der Bauern ausgetragen werde. Deren Existenz sei auf die Nutzung dieser Rechte angewiesen, da sie sonst dem Onkel die ihm von altersher zustehenden Abgaben nicht entrichten könnten.

Die Dienstleute der Nachbarn hätten mehrfach das Vieh von Bauern weggetrieben und Ernten noch auf dem Halm zerstört. Der Prior eines dortigen Klosters habe zu vermitteln versucht. Das sei ihm nicht gelungen. Man sei lediglich übereingekommen, den Streit vor das Memminger Gericht zu tragen, dessen Zuständigkeit auch vom Nachbarn anerkannt worden sei.

Da es auch dort nicht zu einem Ausgleich gekommen sei, habe das Gericht ein Ordal vorgeschlagen, das von beiden Seiten angenommen worden sei.

Michaels fragende Miene verriet Luitpold, dass dieser mit dem Wort »Ordal« wenig anfangen konnte. Deshalb erklärte er: »Früher war der Ordal ein Gottesgericht: Der Beschuldigte eines Kapitalverbrechens musste eine Feuer- oder Wasserprobe bestehen, was nur wenigen gelang. Adelige führten bei ihrem Streit einen Zweikampf, der meist für einen der Beteiligten mit dem Tod endete. Heute werden solche Kämpfe meist durch die Aufgabe des Schwächeren oder stärker Verwundeten entschieden.«

Luitpold hielt etwas inne, als wolle er andeuten, es gebe noch ein anderes Ende. Aber er ermahnte sich. Nachdem er einmal angefangen, sollte alles der Reihe nach berichtet werden.

»Wenn es nicht um die Ehre« – so fuhr er deshalb fort – »sondern um Grenzstreitigkeiten und dergleichen geht, können statt der unmittelbar Beteiligten auch Beauftragte der beiden Seiten den Kampf austragen. Das ist auch üblich, wenn die Ersteren schon ein Alter erreicht hatten, in dem das Kämpfen sich verbietet. Das galt in diesem Fall nicht nur für meinen Onkel, sondern auch für seinen Gegner, einen Herrn von A. Der benannte sogleich seinen Neffen Siegwart aus dem gleichen Geschlecht. Dieser hatte sich in Turnieren schon als Zweikämpfer zu Pferd wie zu Fuß hervorgetan. Da die Herren von A. aus einem armen aber adelsstolzen Geschlecht stammten, forderten sie von der Gegenseite einen Kämpfer von ähnlichem Adel. In den Jahrhunderten davor hatten Standes- und Turnierordnungen der großen Rittergesellschaften Kämpfer aus den Reihen der Patrizierfamilien der Städte von ihren Turnieren ausgeschlossen. Dies war eine der Antworten des ritterblütigen Adels auf den wirtschaftlichen Erfolg der Stadtbürger. Andere Antworten bestanden in der Geiselnahme von Kaufleuten und der nachfolgenden Erpressung von Lösegeld.

Auch die Herren von A. waren diesem räuberischen Gewerbe zeitweise nachgegangen. Dies alles war meinem Onkel bekannt. Und in einer ruhigen Stunde verwünschte er sich wohl, dass er auf den Ordal eingegangen war, zumal die Zeit drängte. Der Kampf sollte nach dem Vorschlag des Gerichts in acht Wochen stattfinden. Zwei Wochen davon waren schon durch die vergebliche Suche nach einem Kämpfer verflossen. In dieser Not verfiel er auf mich. Er hätte mir einen solchen Auftrag gern erspart. Da er selbst kinderlos war, betrachtete er mich als seinen Erben. Zu Lebzeiten meiner Mutter hätte er einen solchen Vorschlag nie gewagt. Als dieser durch Eilboten an mich kam, war ich gerade in Nürnberg auf der Rückreise von Handelsgeschäften in Böhmen, die ich in seinem Auftrag tätigte

Es kostete mich wenig Nachdenken, dem Onkel aus seiner Not zu helfen – nicht nur seinetwegen, sondern weil ich in meiner Sorg- und Ahnungslosigkeit den Ehrgeiz besaß, dieser wilden und räuberischen Sippe eine Lektion zu erteilen. Als mein Name ins Spiel kam, stimmten die Herren von A. überraschend schnell zu. Ich rechnete dies meiner Herkunft aus dem Geschlecht der Freiherrn von O. an. Die wahren Gründe wurden mir erst später offenbar. In den erlaubten Waffen für den Fußkampf – langes Schwert, Kurzwehr, Dolch und Hakenschild – war ich nicht ungeübt. Sowohl auf dem heimischen Schloß wie später in Tübingen und Bologna hatte ich, angeleitet von Fechtmeistern und im Kampf mit Gleichaltrigen, einige Erfahrung gesammelt. Der Onkel war dennoch voller Sorge. Er verpflichtete einen Schirmmeister, der schon zahlreiche Kämpfer auf Turniere wie zum Ordal vorbereitet hatte. Aus eigener Anschauung kannte er die Kampfweise meines Gegners. Diese – so dessen kurzer Befund zu Beginn – sei von schnellen Wechseln zwischen plötzlichem Angriff und Verteidigung geprägt. Sie lasse kaum Zeit für das Erkennen seiner Blößen und einen nachfolgenden Gegenangriff zu. Da seine Art des Kämpfens kräftezehrend sei, gebe die Dauer des Kampfes den Ausschlag. Seine Überlegenheit an Kraft könne durch hinhaltendes Kämpfen, hohe Beweglichkeit und scharfes Auge für Blößen, die sich auch aus dem Verrutschen von Teilen des Harnisches ergeben könnten, gebrochen werden.

Er lehrte mich in den folgenden Wochen eine Reihe von Kampfstellungen (Hut/Huot) und deren flüssiger Übergang zwischen Angriffs- und Verteidigungsstellungen. Hinzu kamen Techniken der Abwehr der speziellen Haue mit dem Langschwert sowie des Windens, d. h. durch eine Drehbewegung mit der eigenen Waffe das gegnerische Schwert so zur Seite zu drehen, dass sich während der Klingenbindung eine Blöße eröffnet.

Besonders schärfte er mir ein, mich trotz des Kräftesparens nicht auf die Verteidigung zu beschränken, sondern den Gegner durch eine Mischung von echten und Scheingriffen immer wieder zu reizen. Durch dessen Schmähungen durfte ich mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Diese und andere Lehren – etwa über verschiedene Finten mit Hakenschild, Kurzschwert und Dolch – gaben mir die Zuversicht, den Kampf gut zu bestehen.

Als der Tag herankam, begleitete mich der Onkel mit seiner Dienerschaft zum Kampfplatz in Memmingen. Die Herren von A. waren mit einer noch größeren Anhängerschaft vertreten. Die Männer des Hochgerichts und eine erkleckliche Zahl von Stadtwächtern waren zwischen den Parteien so platziert, dass sie im Falle eines Streits sofort eingreifen konnten.

Die Regeln des Kampfes waren einfach: Zuerst wurde eine halbe Stunde mit dem Langschwert gefochten; danach ohne Zeitbeschränkung mit den anderen Waffen – bis einer der Kämpfer unfähig war, den Kampf fortzusetzen. Das Kampfgericht bestand aus drei Männern. Jede der Parteien konnte einen davon benennen. Der dritte Kampfrichter, der Fechtmeister der Stadt, besaß die entscheidende dritte Stimme.

Für mich bedeutete dies: Ich musste den Kampf mit dem Langschwert ohne größere Verletzung überstehen. Danach kam meine Stunde. Auf meine Waffen und meinen Harnisch konnte ich vertrauen. Der Onkel hatte dabei keine Kosten und Mühen gescheut. Der Harnisch stammte aus einer Waffenschmiede aus Nürnberg. Angefertigt hatte ihn vor Jahren ein Plattnermeister, der für seine leichten und dennoch stabilen Rüstungen bekannt war. Später diente er als Rüstmeister dem Heidelberger Kurfürsten.

Schon zu Beginn des Kampfes machte mir mein Gegner, Siegwart von A., klar, dass es für ihn nicht um das gute Bestehen eines Kampfes, sondern um einen solchen auf Leben und Tod ging. Seine überfallartigen Angriffe mit dem Langschwert, das er durch seine große Kraft überlegen führte, trieben mich von Anfang an so in die Verteidigung, dass es nur zu wenigen Gegenangriffen zum Schein und ohne erkennbare Wirkung reichte. Der Spott der Partei des Gegners schwoll gewaltig an, während die Beklommenheit auf Seiten meines Onkels und seines Anhangs wuchs. Die stark zerhackten Ränder meines Schildes unterstrichen meine Unterlegenheit. Zum Ende des Kampfes mit dem Langschwert gewann ich meine Zuversicht zurück, weil Siegwarts Angriffe nicht mehr mit der bisherigen Schnelligkeit geführt wurden.

Dennoch wurde ich zu Beginn des Kampfes mit dem Kurzschwert erneut überrascht, weil es ihm gelang, mir meinen arg zerhauenen Schild zu entreißen. Die Blöße, die zwischen meinem Brustharnisch und dem Rüstteil am Oberschenkel im Lauf des Kampfes entstanden war, hatte er sogleich erkannt und mir dort eine Wunde beigebracht. Obwohl diese blutete, war meine Fähigkeit weiter zu kämpfen, kaum beeinträchtigt. Denn der Verlust des Schildes erlaubte mir, mit Kurzschwert und Dolch gleichzeitig in Verteidigung und Angriff zu fechten. Da ich beide Waffen mit der rechten und der linken Hand zu gebrauchen gelernt hatte und diese so zwischen beiden Händen wandern ließ, konnte er nie gewiss sein, mit welcher Waffe ich den Hauptangriff jeweils führen würde.

Voller Wut warf er mir darauf seinen Schild entgegen – was gegen die Regel war – und versuchte bei mir zugleich mit einem mächtigen Schwertstreich auf den Bart – den Halsreifen mit Kinnteil – eine Blöße zu öffnen. Der Harnischteil hielt den Schlag aus. Bevor er erneut zum Schlagen kam, hatte ich den bei ihm gelockerten Halsreifen, der nur vorne aus Eisen war, erspäht und stieß meinem Dolch mit voller Kraft in diese Blöße.

Dies alles hatte sich im Nahkampf so schnell abgespielt, dass Kampfrichter und Zuschauer dessen Ergebnis erst wahrnahmen, als mein Gegner mit einem röchelnden Laut zu Boden sank und – da die Schlagader getroffen war – nach kurzer Zeit sein Leben aushauchte.

Sogleich ertönte in den Reihen der Anhänger des Siegwarts von A. Rufe wie »Mord« und Schreie nach Vergeltung. Nur mit Mühe konnten die bewaffneten Büttel des Gerichts und die Männer der Stadtwache die Dienstleute des Herren von A. daran hindern, auf mich und meinen Onkel loszugehen. Dessen Bedienstete hatten sofort um uns einen Schutzkreis gebildet.

Das Hochgericht entschied, Siegwart habe die Regel verletzt und meine Reaktion sei aus Not erfolgt. Obwohl das Ordal mithin zugunsten meines Onkels entschieden wurde, bot er Herrn von A. einen Ausgleich des Streits um die Wege- und Weiderechte sowie eine nicht unerhebliche Summe Geldes für den Tod seines Neffen an. Dieser schlug beides aus.

Woher die tiefe Sucht nach Rache dieser wilden Sippe kam, erfuhr ich erst jetzt. Siegwart hatte drei Jahre zuvor stürmisch aber vergeblich um die Hand der siebzehnjährigen Beatrix v. R. geworben. Er war dabei nicht nur von deren Eltern, sondern auch von ihr selbst abgewiesen worden. Das erklärte immerhin Siegwarts persönlichen Drang, mit mir, dem Glücklicheren, der inzwischen deren Hand errungen hatte, abzurechnen. Der tiefere Grund für das Bedürfnis nach Rache lag aber darin, dass Herr von A. viele Jahre zuvor bei einem großen Turnier der Vier Lande – der Ritterschaften Frankens, Bayerns, Schwabens und vom Rheinstrom – wegen unehrenhaften Verhaltens gegenüber einer Dame und wegen Kirchenraub von meinem Vater aus dem Sattel gezerrt und unter Beteiligung anderer Ritter zur Strafe auf die Schranken (des Turniers) gesetzt worden war.

Da meine Eltern früh verstorben waren, hatte ich davon nie etwas erfahren. So geriet ich in einen Kampf, der durch meine Benennung als Kämpfer der Gegenpartei dem Herrn von A. dazu diente, den ihm durch meinen Vater angetanen Schimpf durch Blut abzuwaschen. Je ärmer viele Ritter durch den Wandel der Verhältnisse geworden waren, umso höher versuchten sie die Ehre zu hängen.

Während meine Braut mir Siegwarts Antrag verschwieg, weil sie fürchtete, meine Gefühle könnten mich dazu bringen, die gebotene Vorsicht zu missachten, hatte mein Onkel – in Sachen der Ehre der nüchterne Kaufmann – keine Ahnung von diesem Vorfall auf dem Turnier zwei Jahrzehnte zuvor. Da er aber nach der Weigerung des Herrn von A., den Ausgleich anzunehmen, Schlimmes befürchtete, kam er meiner Bitte nach, mich für einige Monate nach Italien zu schicken.

Ich mied die sonst üblichen Wege über den Reschen- oder den Brennerpaß. Bis zum Bodensee begleiteten mich Dienstleute meines Onkels. Nach der Überquerung des Sees folgte ich mit meinem Knappen Friedel dem Weg nach Chur und wechselte von da in den oberen Vinschgau, wo wir bei Freunden nächtigen konnten. Es war nicht nur unserer Vorsicht bei Tag und Nacht zu verdanken, dass wir mutmaßlichen Nachstellungen entkamen. Es muss uns auch ein guter Schutzengel vor den drei Orten bewahrt haben, an denen wie Ihr, Michael, berichtet habt, uns die beiden Mordsgesellen auflauerten«. Danach schwieg er – im stillen Nachvollzug des Erlebten – deutlich erschöpft. Der so Angesprochene, der der Erzählung mit großer Spannung gefolgt war, nickte bestätigend. Dann sagte er nur: »Zeit zum Schlafen, sonst brauchen wir noch einen ganzen Tag bis Arco.«

Am anderen Morgen wachten sie rechtzeitig auf, tränkten und fütterten die Pferde, aßen die übriggebliebenen Reste des abendlichen Mahls und erreichten kurz vor Mittag die Burg Arco. Luitpold lud Michael ein, bei seinen Verwandten auf der Burg zu nächtigen. Dieser überlegte kurz, zog aber der Gesindestube der Burg eine Bleibe in einer ihm bekannten Herberge im Städtchen Arco vor. Auch wenn Luitpold – etwas missgestimmt – darauf verzichten musste, den Verwandten seinen Retter vorzustellen, war ihm aus bestimmten Gründen an einem schnellen Abschied nicht gelegen. Er lud deshalb Michael zu einem gemeinsamen Mahl am Abend des folgenden Tages in eine Taverne ein. Da dieser nicht in großer Eile war, stimmte er zu.

Nachdem sie am besagten Abend das Mahl genossen hatten, das naturgemäß weitaus üppiger ausfiel als alles, was sie in den zwei Tagen ihrer beschwerlichen Wanderung über die Berge hatten zu sich nehmen können, bestellte Luitpold noch einmal einen Krug des Teroldego, der auch gern am Hof König Maximilians getrunken wurde. Er war nicht nur in guter Stimmung, weil seine kräftige Natur ihn die Wunden, die er im Kampf drei Tage zuvor erlitten hatte, immer weniger spüren ließ. Er verband damit auch eine Absicht, die er hinter seinen einleitenden Sätzen nur mühsam verbergen konnte. Seine Verwandten in der Burg, so berichtete er, hätten kaum glauben wollen, dass ein Ungewappneter nur mit Hilfe eines Stockes einen gefährlichen Kämpfer in die Flucht geschlagen habe. Zur Anerkennung seines Mutes und als Entgelt für die Armbrust, die Michael ihm und dessen Gastgebern überlassen habe, biete er ihm zwanzig Goldgulden an. Um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen, schob er Michael ein Ledersäckchen zu. Diese Bewegung brachte die darin enthaltenen Münzen leise zum Klingen.

Michael hatte dem Wein zwar gut zugesprochen, schob aber das Säckchen sofort zurück. Er war nicht nur menschlich enttäuscht. Wenn Geld, das von hart arbeitenden Leuten im Lande mühsam genug aufgebracht werden musste, so üppig von deren Herren verteilt wurde, dann war Vorsicht geboten. Luitpold war aber so in Fahrt geraten, dass er Michaels ablehnende Geste missachtete. Er bot ihm an, er solle ihn auf seiner Pilgerfahrt nach Rom als Knappe begleiten. Vom Papst wolle er Absolution für seine Tat erbitten. Die Notlage, in der die Tat geschehen sei, verhindere nicht, dass sie schwer auf seiner Seele laste.

Die Seelennot fand Michael verständlich. Aber was hatte diese mit ihm zu tun? War er doch durch Zufall in ein Geschehen geraten, das er so schnell wie möglich hinter sich lassen wollte: Je mehr Luitpold in ihn drang und seine Rolle als Knappe und danach in glühenden Farben schilderte – eigenes Pferd, eigener Harnisch, eigene Waffen, guter Sold, ansehnliche Kleidung, nach der Romfahrt die Möglichkeit Ulmer Bürger zu werden und im Handelshaus seines Onkels, später bei ihm, aufzusteigen –, umso abwehrender wurde er.

Schließlich fiel er ihm ins Wort. Erst stockend, dann immer beredter schilderte er Luitpold, was ihn bewegte. Dieser, in der Sicht seines Standes befangen und deshalb erstaunt, dass Handwerker wie Michael – kleine Leute eben – ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Beweggründe hatten, bezwang sich aber und hörte ihm zu.

Familie, Kindheit, Jugend

Er begann mit der Geschichte seines Vaters Wolfgang Zeller. Er sei als junger Mann aus Bayern ins Tiroler Land eingewandert. Weniger aus Gründen der schönen Landschaft, sondern wegen des »Berggeschreis«, d. h. der Anwerbung von Bergleuten durch die Besitzer der Gewerke für die Aufschließung neuer Gruben zur Gewinnung von Silber. Der Tiroler Landesherr, Herzog Sigmund, der nicht umsonst der »Münzreiche« genannt wurde, hatte durch großzügige Verleihung von Gerechtsamen die Ausweitung des Bergbaus in Nord- und Südtirol schon aus eigenem Interesse begünstigt. Später hatte Herzog Sigmund es mit seiner Verschwendungssucht übertrieben, die Landstände setzten ihn ab. An seine Stelle trat Maximilian, später deutscher König. Der Vater begann zunächst im Nordtiroler Schwaz zu arbeiten. Durch Fleiß und Zielstrebigkeit brachte er es dort nach einigen Jahren zum Hutmann, der die Aufsicht im Bergwerk führte.

Als er etwas gespart habe, sei er über den Brenner gewandert, um sich im Süden – vor allem im Pflerschtal bei Gossensaß und im Ridnauntal südwestlich von Sterzing – an der Aufschließung neuer Gruben zu beteiligen. Bei der Suche nach weiteren Möglichkeiten jenseits des dortigen Schneebergs, sei er auch nach Meran gekommen. Dort habe er seine spätere Frau Ursula kennengelernt. Sie war eine Tochter von Bergbauern aus dem Schnalstal. Um nicht das Schicksal ihrer Geschwister zu erleiden, die oft dazu verdammt waren, dem Erstgeborenen und Hoferben als Knecht oder Magd zu dienen, hatte sie bei Verwandten in Meran, die dort eine Herberge betrieben, eine Arbeit gesucht. Auf diese Weise habe sie seinen Vater kennengelernt, der sie wenig später geheiratet habe. Ihre Armut wurde durch ihre Schönheit und durch ihr Geschick bei der Arbeit mehr als nur ausgeglichen. Sie konnte spinnen, weben und schneidern, den Haushalt besorgen sowie Lesen, Schreiben und Rechnen. Fast alles habe sie sich selbst beigebracht.

Die ersten Sätze über seine Mutter hatte er in einem Ton gesprochen, der Luitpold deutlich machte, dass Michaels Mutter in dessen Herzen einen sehr viel größeren Platz einnahm als sein Vater.

In jener Zeit, so berichtete er weiter, hätten die Bauerntöchter die Bergknappen schon wegen deren gutem Verdienst so bevorzugt, dass die Bauernsöhne beim Heiraten oft ins Hintertreffen geraten seien. Bei seinen Eltern sei das so nicht der Fall gewesen. Denn die Mutter habe ihren späteren Mann zunächst in abgerissener Kleidung sowie bei recht sparsamem Gebaren getroffen und ihn trotzdem sofort liebgewonnen. Als Bub habe er das mehrfach mitbekommen, wenn sich beide an ihrem Hochzeitstag an diese erste Begegnung erinnerten. Selbst nachdem sie einigen Wohlstand erreichten, hätten beide ihr Geld zusammengehalten. Ihm sei so früh beigebracht worden, wie schwer es verdient worden sei. Dabei hätten sie bei anderen – Verwandten wie selbst Freunden –, wenn diese in Not geraten seien, mit Hilfe nie gegeizt. Ihr Haus in Sterzing sei gastfreundlich gewesen. So habe er als Kind schon früh Umgang mit fremden Menschen gehabt und aus deren Erzählungen manches über die Welt drunten und draußen erfahren können. Mit entsprechenden Gesten nach Süden und Norden zeigte er an, was er darunter verstand.

Die Mutter habe ihm viel über die Natur ihrer Heimat, über das bäuerliche Leben, die leuchtenden Sommer und die strengen Winter in den Hochtälern beiderseits der Etsch beigebracht. Da sie selbst keine Schule besuchen konnte, habe sie sehr darauf gedrungen, dass er früh auf die Sterzinger Schule gehe und fleißig lerne. Als er zehn Jahre alt geworden sei, habe der Pfarrer den Eltern geraten, ihn in die Klosterschule der Augustiner in Neustift bei Brixen zu schicken. Dort könne er neben Geometrie und Latein sich auch beim Zeichnen und Schnitzen weiter fortbilden. Mit den Zeugnissen einer noch sehr rohen »Kunst« habe er Mutter und Vater öfter bei deren Geburtstagen bedacht. Der Letztere habe ihm als Achtjährigen ein scharfes Messer geschenkt, hielt aber von den Ergebnissen der Schnitzerei – meist Tiergestalten – weniger als die Mutter, die den Vater zuerst dafür gescholten habe, dem Buben in diesem Alter schon so ein gefährliches Instrument anzuvertrauen.

Zum Zeichnen habe ihn der Vater aber ermuntert. Öfter habe er ihn zu seinen Begehungen der Gruben mitgenommen. Manchmal habe er vor Ort gezeichnet oder in ein Büchlein skizziert und danach zu Hause ein größeres Bild gemalt – von den Landschaften, von der Arbeit in den Gruben, manchmal auch von Bergknappen. Diese seien ihm aber meist missraten.

Die Eltern hätten darüber gestritten, ob er auf die Klosterschule gehen solle. Die Mutter hielt ihn noch für zu zart, weil er als Kind öfter krank gewesen sei. Schließlich habe sie sich durch einen Besuch im Neustift und durch Gespräche mit den Patres davon überzeugt, dass dort seiner Gesundheit nicht geschadet würde. Er habe die Sorgen der Mutter zuerst für übertrieben gehalten, später dann gemerkt, wie sehr sie darunter litt, ihr einziges Kind weggegeben zu haben. Deshalb sei er so oft es außerhalb der Ferien möglich gewesen sei, nach Sterzing gewandert. Öfter hätten ihn auch Kaufleute auf ihren Wagen mitgenommen.

In der Klosterschule sei es ihm anfangs schlecht gegangen, weniger wegen der Patres und deren strengem Regiment. Vielmehr hätten die Schüler aus Brixen diejenigen aus dem Norden, vor allem die jüngeren als ihre Knechte behandelt. Das habe er wie andere auch sich die erste Zeit gefallen lassen müssen. Dann habe er zusammen mit anderen Schülern aus Sterzing und dem ganzen oberen Eisacktal gegen die Schüler aus Brixen und dem Pustertal mehrfach gekämpft. Es habe viele blaue Flecke gegeben, aber auch zum Ende der Knechtschaft geführt.

Von den Patres hätten ihm zwei besonders gefallen. Der Eine hieß Laurentius und kam aus dem Süden. Er war dunkelhaarig und von schmalem Wuchs. Er lehrte Latein und Mathematik. Der Andere hieß Paul. Er war ehemals blond gewesen, von deutlich größerer und zugleich rundlicher Gestalt. Er unterwies die Schüler in religiösen Dingen. Sie hätten oft als Ministranten dienen müssen. Er brachte ihnen auch Deutsch als Schriftsprache bei und machte sie mit der Welt außerhalb der Tiroler Heimat vertraut.

Beide Patres unterschieden sich nicht nur in Gestalt und Verhalten: Laurentius war mehr der Askese, Paul mehr dem Genießen ergeben. Auch ihr Verständnis von Kunst war ein anderes. Laurentius schwärmte von den Giottofresken in Padua und von Mantegnas Deckengemälde in Mantua. (Bis Florenz und Rom war er nicht gekommen). Er betonte, wie sehr Giotto die Malerei Bozener Künstler beeinflusst habe.

Paul hingegen war ein glühender Verteidiger von Tiroler Künstlern, die wie Michael Pachter aus Bruneck vor allem Formen und Techniken der niederländischen und der süddeutschen Malerei aufgenommen hätten. Allerdings räumte er nebenbei ein, dass Pachter auch in Italien gelernt hätte, die Perspektive zu beherrschen. Aus flachen Altarbildern sei eine Bühne geworden, auf der die Heilsgeschichte in Szenen dargestellt wurde. Paul konnte am Beispiel der ersten Drucke, mit denen Albrecht Dürer seine Zeichenkunst verbreitete, weitere Einflüsse geltend machen. Auch der Ulmer Künstler Hans Multscher zeugte davon mit seinem großartigen Schnitzaltar in der Sterzinger Pfarrkirche. Den an Kunst interessierten Schülern wurde an solchen Beispielen eine Beziehung zwischen ihrer engeren Heimat und der Welt außerhalb hergestellt.

Den Kindern wohlhabender Bergleute – es waren nur wenige – wurde es in der Klosterschule nicht leicht gemacht. Aus beiläufigen Bemerkungen der Patres ließen sich die Gründe entnehmen. Die Besitzer von Gruben galten als Günstlinge der weltlichen Herren des Landes. Einige Jahrzehnte zuvor war Nikolaus Cusanus, ein bekannter Kirchenlehrer, Kardinal und zeitweise Bischof von Brixen im erneut aufflammenden Streit über die Herrschaft des Landes unterlegen. Aus Sicht der Patres seien daran auch die Bergleute schuld. Durch das Silber, das sie aus den Bergen des Bistums scharrten, vergrößerten sie nicht nur die Macht des Herzogs, sondern trügen auch zu dessen üppiger Hofhaltung bei, die schon vor Generationen zum Schaden Südtirols von Meran nach Innsbruck verlegt worden war. Aus Michaels Sicht verhielt es sich anders:

Für Bergleute, die wie sein Vater kleinere Gewerke betrieben, sei dies nicht einmal die halbe Wahrheit. Vielmehr seien es reiche süddeutsche Kaufleute wie die Fugger aus Augsburg, die dem Herzog umfangreiche Kredite gewährt und dafür die besten Gruben Tirols erhalten hätten. Selbst mit Bestechung versuchten Großgewerke ergiebig scheinende kleinere Gewerke in ihrer Umgebung aufzukaufen und von anderen Gewerken durch höhere Anfangslöhne die Bergknappen wegzulocken.

Michael hatte sich in diesem Punkt in eine Art Wut geredet. Galt sie seinem Zuhörer, der als Erbe eines Ulmer Handelshauses solche Geschäfte kannte, obschon er sie nicht selbst betrieb? Luitpold hatte diesen Eindruck jedoch nicht und begnügte sich mit einem Nicken, das zumindest Verständnis für Michaels Ärger andeutete.

Nach vier Jahren, so nahm Michael den Faden der Erzählung wieder auf, hätte der Vater darauf gedrungen, ihn als Bergjungen mit allen wichtigen Arbeiten für den Betrieb der Grube vertraut zu machen. Obwohl er gern auf der Schule gelernt hätte und die Patres ihn auch beim Zeichnen weitergebracht hätte, sei er seiner Forderung gefolgt. Auf diese Weise habe er auch mehr nach seiner Mutter schauen können. Sie sei inzwischen kränklich geworden, ohne dass die Ärzte wüssten weshalb. Obwohl sie froh gewesen sei, ihn wieder öfter zu sehen, habe sie dem Vater widerraten, ihn von der Schule zu nehmen.

Außer an den Sonntagen, sei er von da an täglich in den Gruben gewesen. Von den Hauern habe er gelernt mit ihrem Gezähe – Schlägel und Eisen – im Vortrieb wie beim Abbau zu arbeiten. Die Schmiede hätten ihm beigebracht, wie die Werkzeuge in Stand zu halten seien. Auch mit der Wasserkunst sei er vertraut gemacht worden. Da die kleineren Gruben seines Vaters meist nur einen einzigen Stollen für Zugang, Förderung, Bewetterung und Entwässerung aufwiesen, sei deren Lage und Gefälle von ebenso großer Bedeutung gewesen wie deren Ausbau durch mächtige Holzstempel gegen allfällige Bewegung des Berges und hölzerne Fahrten (Leitern), um Arbeitsbühnen zum Abbau der steil stehenden Erzgänge zu erhalten.

Außer in diesen Aufgaben der Zimmerleute sei er auch in die der Holzmeister unterwiesen worden, die darüber entschieden, welche Bäume geschlagen werden konnten, um nicht durch Raubbau Lawinen und Muren auszulösen.

Derweilen habe er sich nicht nur im Zeichnen weiter geübt, sondern aus geeignetem Gestein, Gestalten oder Köpfe zu hauen. Sie blieben meist ziemlich grob, weil ihm zur Feinarbeit die notwendigen Werkzeuge und die Fertigkeiten fehlten. Während sich die Mutter an diesen Arbeiten erfreut habe, sei der Vater geteilter Meinung gewesen. Während er das Zeichnen schätzte, weil es auch dazu genutzt werden konnte, seine Gewerke – Lage, Querschnitt und Länge der Grubengänge – genau aufzuzeichnen, hielt er die Bildhauerei für unnütz. Sie bringe den Sohn nur auf Abwege.

Sie habe dem Vater auch vorgeworfen, er werde die Gesundheit des Buben ebenso wie seinerzeit die ihrige ruinieren, wenn er ihn noch mehr auf Dauer in den Gruben arbeiten lasse. Zum ersten Mal habe er auf diese Weise erfahren, dass die Mutter in früheren Jahren oft habe einspringen müssen, wenn beim Klauben – dem Aussondern des Erzes aus dem gehauenen Gestein – zu wenige Kräfte, darunter Frauen und Kinder, vorhanden gewesen seien. Wie zum leibhaftigen Nachweis ihres Vorwurfs habe sie in der Aufregung über den Streit einen Blutsturz erlitten. Es war nicht der Erste. Sie hatte die Beschleunigung ihrer Lungenkrankheit dem Vater und mir verschwiegen.

Der Wechsel in die Ich-Form zeigt die anhaltende Betroffenheit.

»Vier Wochen später war sie tot – noch nicht einmal 38 Jahre alt! Für mich war sie alles – Gefährtin der Kindheit mit ihrem frohen Gesang, mit ihren Märchen und Geschichten, später Freundin mit ihren Ratschlägen und Erklärungen der Welt rings um uns, schließlich Verteidigerin gegenüber Zumutungen des Vaters! Was die Mutter diesem gewesen, konnte ich nur dem Maß und Dauer der Verstörung entnehmen, die über ihn gekommen war. Um Jahre gealtert, tappte er stumm wie ein Greis wochenlang im Haus herum. Obwohl Wichtiges zu entscheiden gewesen wäre, schickte er die Hutmänner der verschiedenen Gewerke nach kurzen Weisungen wieder fort oder benutzte mich als Boten dazu.

Als er wieder stärker zu sich kam, bot er mir an, eine Lehre als Steinmetz und Bildhauer anzutreten. Pater Laurentius habe auf Bitten der Mutter eine Stelle bei Meister Pietro Forlani in Trient für mich ausfindig gemacht. So befand ich mich auch künftig in der segnenden Sorge meiner Mutter. Ich arbeitete in Forlanis Werkstatt drei Jahre hart und lernte viel. Es ging dabei meist nicht um große Kunst, sondern um Restaurierung und Ausbau von Kirchen, Kapellen, Schlössern und Häusern – gelegentlich auch um die Ausbesserung alter Fresken wie in der Kapelle des Klausners. Vor einigen Wochen habe ich die Lehre beendet. Um vor der Wanderschaft in den Süden meinen Vater zu besuchen, brauchte ich nicht mehr weit nach Norden zu reiten. Er hatte inzwischen seine Gewerke dort oben verkauft und ein Haus, sowie Garten und Weinberg in Neumarkt – ein Ort im Trienter Gerichtsbezirk – gekauft. Warum er das getan hatte, erfuhr ich erst einige Tage später, als ich weiter nach Norden ritt, um das Grab meiner Mutter in Sterzing zu besuchen. Zuerst dachte ich, der Verkauf seiner Gewerke und der Umzug hing mit seiner Heirat zusammen. Im vorigen Jahr kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag hatte er eine Witwe geheiratet. Sie war mehr als zwanzig Jahre jünger und kinderlos.

Da ich den Besuch nicht angekündigt hatte, traf ich die neue Frau in dessen Haus an. Der Vater schien etwas in Sorge zu sein, dass ich seine Wiederheirat nicht gutheißen würde. Aber nichts lag mir ferner. Als er heiratete, waren seit dem Tod der Mutter mehr als zwei Jahre vergangen. Aber in meinem überraschenden Erscheinen – ich hatte ihn seit seinem Umzug und der Heirat nicht mehr besucht – sah er doch so etwas wie den Vorwurf, er vernachlässige das Andenken meiner Mutter. Deshalb sprach er gleich zu Beginn davon, dass das mir zustehende Erbe meiner Mutter auf jeden Fall gesichert sei. Es bestehe wesentlich aus Anteilen süddeutscher Gesellschaften und Banken. Fast zu eilfertig zeigte er mir die Aufstellung. Ich wunderte mich nicht so sehr über deren Umfang, sondern über die Beteiligung an Handelsgesellschaften, die er früher als Erpresser und Ausbeuter beschimpft hatte.

Als ich darauf verwies, murmelte er etwas von geänderten Zeiten, in denen das Geschäft für Leute wie ihn schlechter geworden sei. Nach einigen Stunden eines guten Gesprächs, in dem er Verständnis für meine Absichten bekundete, weiter im Süden meine Fertigkeiten fortzubilden, verließ ich ihn. Auf dem Weg nach Norden und von dort zurück nach Trient übernachtete ich meist bei Freunden, mit denen ich einst die Schulbank in Neustift gedrückt hatte.

In Sterzing besuchte ich zuerst das Grab meiner Mutter, sprach die Gebete, die sie mich gelehrt hatte und erneuerte das Versprechen, das ich ihr auf dem Totenbett gegeben hatte: Der Kunst im Sinne des Glaubens zu dienen.

Das Grab wurde gut gepflegt. Dafür sorgte der alte Dienstmann meines Vaters, der am Ort geblieben und im Ausgedinghäuschen auf dem Hof eines Neffen wohnte. Von ihm erfuhr ich, weshalb der Vater das Haus in Sterzing sowie alle Gewerke verkauft und danach gewissermaßen die Seite gewechselt hatte: Das sehr wichtige und angesehene Amt des Bergrichters für den Bezirk von Gossensaß-Sterzing, das er seit Jahren angestrebt hatte, war ihm erneut vorenthalten worden. Die Ursache lag nicht zuletzt darin, dass die Besitzer vieler der kleineren Gewerke, deren Interessen er lange mitvertreten hatte, ihm ihre Unterstützung versagt hatten. Über die Gründe wurde gemunkelt. Aber offenkundig seien einige davon gekauft worden. Andere stießen sich an Vaters Strenge gegen den Raubbau. Diese Auskunft ließ mich den jähen Wechsel meines Vaters besser verstehen.«

Michael hielt inne und rieb sich verlegen die Stirn. Als wolle er sich entschuldigen, dass er so lange gebraucht hatte, um seinem Gegenüber zu erklären, weshalb er nicht als dessen Knappe dienen könne.

Luitpold von O. war der Erzählung aufmerksam und in den Teilen, in denen Michael mit spürbar warmen Ton in der Stimme von seiner Mutter sprach, nicht ohne innere Bewegung gefolgt, hatte er doch seine eigene Mutter in noch jüngeren Jahren verloren. Er wunderte sich, dass dieser anfangs so wortkarge Handwerksbursche auf einmal so sprachmächtig die Geschichte seiner Eltern wie die der eigenen Kindheit und Jugend darstellen konnte. Jetzt begriff er zum ersten Mal richtig, wie selbst einfache Bürger, auf die sonst von ihm und Seinesgleichen herabgeschaut wurde, ihre Ehre darin sahen, ein gegebenes Versprechen zu halten und sich auch vom Klang des Goldes nicht verlocken ließen, davon abzugehen.

Er zögerte etwas, streifte dann entschlossen vom Ringfinger seiner Rechten einen breiten Silberreif und bot diesen Michael an – als Zeichen ihrer Verbundenheit. Jetzt war es an diesem, sich zu wundern. Obwohl in ritterlichen Dingen ungeübt – woher auch! – begriff er immerhin, dass ihm eine große Ehre zuteil wurde, auch wenn die eingravierten Zeichen dies noch nicht verrieten.

In der Deckenplatte des Rings war ein weit geschwungenes »S« sichtbar, das sich um die Gestalt eines Esels wand. Auf Michaels fragenden Blick hin, erklärte Luitpold lächelnd: »Dies ist nicht das Wappen unseres Geschlechts. Aber der Esel ist nicht zum Scherz eingraviert, sondern weil es als treues Tier im Leben Jesu und der Jungfrau Maria zum Symbol einer Rittergesellschaft an Rhein, Neckar und Main gewählt wurde, der früher Hunderte von Geschlechtern, darunter auch das eines Onkels meiner Mutter, angehörten. Heutzutage ist deren Bedeutung geschwunden. Aber sie reicht oft noch aus, Trägern des Rings Rat, auch Hilfe angedeihen zu lassen, wenn sie diese benötigen. Auch ist den Dienstleuten meines Onkels, die öfter in Handelsgeschäften in Italien unterwegs sind, der Ring bekannt. Bewahre ihn gut. Aber scheue auch nicht davor zurück, von ihm Gebrauch zu machen.« Michaels versprachs. Dann verabschiedeten sie sich – nicht ohne Bedauern. Über die Rührung half ein fester Händedruck hinweg. Luitpold spürte den des jungen Steinmetz noch etliche Stunden.

Auf dem Weg nach Rom – Mönche, Kirchen, Kunst und Räuber

Für Michael war es eine kurze Nacht. Er stand früh auf, um in Torbole am Gardasee das erste Schiff nach Süden zu erreichen. Das gelang ihm auch. Er war nicht zum ersten Mal auf dem See. Eine Arbeit in Riva an der Nordwestspitze des Sees im vergangenen Jahr hatte ihm zum ersten Mal die Gelegenheit verschafft, sich im Rudern und Segeln zu üben. Aber dabei handelte es sich um kleine Boote.

Jetzt befand er sich auf einem großen Schiff mit einer Schar von Weinhändlern, Marktfrauen, einigen Pilgern sowie dem Schiffsführer und seinen Matrosen, die die Segel setzten und bei Flaute auch die Ruder bedienten.

Das Schiff kam dank des Südwestwinds gut voran. Die Aufmerksamkeit der müßig herumsitzenden Matrosen wie der Pilger wandte sich einem Maulesel zu, dessen Zügel nur locker über dem Arm seines auf einer Bank schlafenden Besitzers hingen. Anfangs knabberte das Grautier friedlich an dem kleinen Bündel Heu, mit dem ihn sein Herr versorgt hatte. Nachdem er das aufgefressen hatte, hielt er nach mehr und Besserem Ausschau. Sein begehrlicher Blick fiel sogleich auf die Körbe mit Tomaten, Karotten, Salaten und Trauben. Die Marktfrauen hatten diese in einer Entfernung von ihm aufgereiht. Sie ließen sie von einem sehr jungen Mädchen bewachen, um sich ungestört ihrem verspäteten Frühstück widmen und miteinander schwatzen zu können.

Der Maulesel zerrte solange an seinen Zügeln, bis sie endlich dem Arm seines Herrn entglitten, ohne dass dieser aufwachte. Er war wohl darin geübt. Dann trottete er gemächlich zu einem der Körbe mit Karotten. Das kaum zwölf Lenze zählende Mädchen versuchte ihn mit blitzenden Augen, dem Ruf: »Weg da« und schließlich mit Stockhieben von seinem Ziel abzuhalten.

Michael hatte – noch etwas vor sich hin dösend – der Szene einige Minuten zugeschaut. Dann erhob er sich, ergriff die Zügel des Maulesels, führte ihn an die Seite seines schlafenden Herrn und band ihn an dessen von der Bank hängenden linken Fuß. Die Tat wurde von dem Mädchen mit dankbaren Blicken, von den Matrosen und Pilgern mit beifälligem Gemurmel quittiert. Der Esel warf vor Ärger den Kopf zurück und stapfte mit den vorderen Hufen auf. Deshalb beließ Michael es nicht dabei. Er wandte sich den Körben zu und einigte sich mit dem Mädchen über den Preis einiger Bündel Karotten. Die Kleine barg die Münzen freudestrahlend im Gürtel.

Er ging zur Bank zurück und verfütterte die Karotten Stück für Stück dem Grautier. Sein Lächeln dabei wurde wohl kaum von den Zuschauern das Schauspiels richtig gedeutet. Wer könnte denn vermuten, dass er auf diese kuriose Weise zum Ritter »vom Esel« geworden war. Als der Esel die letzte Karotte gefressen hatte und seine Schnauze zum Dank an Michaels Arm rieb, erhoben sich ringsum Bravorufe. Davon wurde endlich auch sein Herr wach. Er richtete sich auf – erstaunt und etwas blöde im Gesicht. Den Bravorufen gesellte sich allseits Gelächter hinzu. Anfangs unmutig, weil er den Grund der Erheiterung nicht begriff, erkundigte er sich beim Schiffsführer. Dieser berichtete ihm kurz über den Drang seines Esels und Michaels helfende Hand.

Diesem dankte der Mönch – denn als solcher erwies er sich unter seinem langen Pilgermantel – nicht etwa mit kurzem »Vergelt’s Gott«, sondern fügte als Erklärung hinzu: »Das Tier war sehr hungrig, weil es schon gestern kaum etwas zu fressen bekam. Wir mussten noch in der Nacht aufbrechen, um das Schiff zu erreichen.« Der Mönch wollte die kleine Summe Geldes ersetzen, die Michael zum Wohl des Esels aufgewandt hatte. Dieser verwehrte ihm das. Schließlich hatte ihn der Vater genug mit Bernern, den Südtiroler und Veroneser Silberpfennigen, versehen, um leicht auf die paar Kupfermünzen verzichten zu können.

Aber so kamen sie ins Gespräch. Der Mönch aus dem Orden der Augustiner war auf dem Weg nach Rom. Zugunsten seines am oberen Rhein gelegenen Klosters wollte er in Rom Aufträge besorgen. Der Ordensprovinzial würde später mit seinem Gefolge nachkommen. Er tat dabei arg geheimnisvoll. Dennoch erschien er Michael nicht als bloßer Wichtigtuer. Von der Statur her ähnelte er Pater Paul von der Schule in Neustift. Er war nur noch rundlicher. Sein Name war Bonifatius. Als Michael diesen nickend zur Kenntnis nahm, fragte der Mönch ihn erstaunt, woher ihm der Name bekannt sei. Michael verwies auf die Schule. Dort sei ihnen Bonifatius als großer Missionar, als Apostel der Deutschen, der vor vielen Jahrhunderten gelebt und als Märtyrer gestorben sei, nahegebracht worden.

Mittlerweile war das Schiff an der Lände des am Südwestufer des Sees gelegenen Städtchens Salo angekommen. Das junge Mädchen verabschiedete sich mit einem Knicks vor Michael. Auch aus der Schar der aussteigenden Marktfrauen wurden ihm Grüße und begehrliche Blicke zuteil. Bonifatius bemerkte spöttisch: »Wer so einen Schlag bei den Weibern hat, der hat nahe der Hölle gebaut.«

Michael, dem tiefe Röte ins Gesicht geschossen war, antworte voller Ärger: »Der liebe Gott hat mir die Statur des Vaters und das Gesicht der Mutter gegeben. Vielleicht wird er sich dabei etwas gedacht haben. Mein Verdienst ist es jedenfalls nicht.« Bonifatius erwiderte beschwichtigend: »Ich hab’s nicht bös gemeint.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Auch die Männer der Kirche sind dem Begehren des Fleisches ausgesetzt. Selbst in den Reihen der höchsten Würdenträger erliegen ihnen viele.«

Michael blieb verstimmt und ließ sich auf weitere Gespräche nicht ein. Bei der Ankunft in Peschiera am Südostende des Sees, wo sich ihre Wege ohnehin trennten, schritt er grußlos an ihm vorbei. Der Mönch hatte einen wunden Punkt getroffen. Natürlich hatte sich beim Anblick junger Mädchen und Frauen schon öfter sein Gemächt geregt und er hatte des Nachts dieser Lust Tribut zollen müssen. Dennoch war er bisher nicht dem Brauch seiner Gesellen in Trient gefolgt, sich im Hurenhaus abzureagieren.

Seine Mutter hatte ihm den Unterschied zwischen gebender und nehmender Liebe begreiflich gemacht. Meist sei die erstere auf der Seite der Frau stärker als beim Mann. Schlimmer als sich der bloßen Lust hinzugeben, sei aber die Gier nach Geld und nach der Macht über Andere. Besonders das Letztere hatte sich ihm tief eingeprägt, weil es mit seinen ersten Erfahrungen in der Welt der Bergleute wie in der meist vom Wohlwollen der geistlichen Herrn abhängigen Arbeit der Steinmetze übereinstimmte. Und war nicht auch die so mörderisch verteidigte Ritterehre, wie er sie im Falle Luitpolds erlebt hatte, ein Mittel, um verlorene Macht wiederzugewinnen?

Von solchen Gedanken geplagt, schlug er den Weg nach Osten ein, um über Verona und Vicenza nach Padua zu kommen. Die kleine Schar der Pilger auf dem Schiff hatte sich sogleich nach Süden gewandt, um über das Tal des Minicio Mantua zu erreichen und von da aus über Modena Bologna zu gewinnen. Auch der Mönch mit seinem Maulesel schien diesen direkten Weg nach Süden genommen zu haben.