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Beschreibung

Die Medizin im 21. Jahrhundert wird sich so schnell verändern wie nie zuvor – und mit ihr das Gesundheitswesen. Bahnbrechende Entwicklungen in Forschung und Digitalisierung werden die Auswertung und Nutzung riesiger Datenmengen in kurzer Zeit ermöglichen. Das wird unsere Kenntnisse über Gesundheit und gesund sein sowie über die Entstehung, Prävention und Heilung von Krankheiten vollkommen verändern. Gleichzeitig wird sich die Art und Weise, wie Medizin praktiziert wird, fundamental verändern. Das Selbstverständnis nahezu aller Akteure wird sich rasch weiterentwickeln müssen. Das Gesundheitssystem wird in allen Bereichen umgebaut und teilweise neu erfunden werden. Digitale Transformation, Personalisierung und Prävention sind die Treiber der neuen Medizin. Deutschland darf den Anschluss nicht verpassen. Im Vergleich mit anderen Ländern ist das deutsche Gesundheitswesen in vielen Punkten bedrohlich rückständig und fragmentiert. Um die Medizin und das Gesundheitswesen in Deutschland langfristig zukunftsfest zu machen, bedarf es vieler Anstrengungen – vor allem aber Offenheit gegenüber Veränderungen, sowie einen regulatorischen Rahmen, der ermöglicht, dass die medizinischen und digitalen Innovationen beim Patienten ankommen. Die Zukunft der Medizin beschreibt Entwicklungen und Technologien, die die Medizin und das Gesundheitswesen im 21. Jahrhundert prägen werden. Das Buch informiert über die zum Teil dramatischen, disruptiven Innovationen in der Forschung, die durch Big Data, Künstliche Intelligenz und Robotik möglich werden. Die Autoren sind führende Vordenker ihres Fachs und beschreiben aus langjähriger Erfahrung im In- und Ausland zukünftige Entwicklungen, die jetzt bereits greifbar sind.

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Seitenzahl: 850

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Erwin Böttinger | Jasper zu Putlitz (Hrsg.)

Die Zukunft der Medizin

Disruptive Innovationen revolutionierenMedizin und Gesundheit

Mit einem Geleitwort von Hasso Plattner

mit Beiträgen von

M. Aach | R. Averill | G. Barreto | E. Böttinger | M. BraunD. Champeaux | A. Cornejo Müller | P. Dabrock | I. de CremouxJ. Deerberg-Wittram | L. Determann | H. Estiri | T. GanslandtT. Gayvoronskaya | A. Gharabaghi | J. Graalmann | D. GrasmückeP. Haas | R. Herzog | M.C. Hirsch | J. Jacubeit | D. Jäger | C. JohnerJ.N. Kather | J.G. Klann | F. Knieps | J.C. Kvedar | M.D. MajmudarC. Meinel | A. Mühle | S. Müllauer | S.N. Murphy | M. MüschenichR. Novak | H. Pak | R. Philipp | M. Pogorzhelskiy | F. Post | J. PratschkeH.-U. Prokosch | J. zu Putlitz | M. Queisner | L. Reisman | R. RittwegerT. Rödiger | I.M. Sauer | S. von Schorlemer | S. Schürle-Finke | M. SedlmayrA. Stett | K.B. Wagholikar | L. Wamprecht | C.-C. Weiß

Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Die Herausgeber

Prof. Dr. med. Erwin Böttinger

HPI Digital Health Center Potsdam

Campus Griebnitzsee | Universität Potsdam

Prof.-Dr.-Helmert-Straße 2–3

14482 Potsdam

Dr. med. Jasper zu Putlitz

Triton

Schillerstraße 20

60313 Frankfurt/Main

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Unterbaumstraße 4

10117 Berlin

www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-480-1 (eBook: ePub)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2019

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Im vorliegenden Werk wird nur die männliche Form verwendet, gemeint sind immer alle Geschlechter, sofern nicht anders angegeben.

Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder Ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website.

Produkt-/Projektmanagement: Bernadette Schultze-Jena, Berlin

Lektorat: Bernadette Schultze-Jena, Monika Laut-Zimmermann, Berlin

Übersetzung: Nina-Maria Nahlenz (aus dem Englischen, Beiträge: I.4, I.5, II.4, IV.1, IV.2, V.2) überarbeitet von Jasper zu Putlitz

Layout & Satz: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Zuschriften und Kritik an:

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstraße 4, 10117 Berlin, [email protected]

Vorwort

Dieses Buch beschreibt wesentliche Aspekte der durch Digitalisierung und Personalisierung geprägten Zukunft der Medizin, in der Durchbrüche in Forschung und Versorgung durch Big Data, Künstliche Intelligenz und Robotik erzielt werden. In mehr als 30 Beiträgen erläutern international renommierte Autoren, wie neue Entwicklungen und Technologien die Medizin und das Gesundheitswesen im 21. Jahrhundert radikal verändern und verbessern werden. Sie entwerfen eine Welt, in der digitale und personalisierte Therapieansätze und neue Technologien im Einsatz direkt am Patienten langfristig zu mehr Gesundheit führen. In dieser Welt sind Operationen zukünftig nicht mehr nur im Körper, sondern auch im Genom möglich. Micro- und Nanoroboter helfen bei der Suche nach Krankheiten und heilen sie. Intelligente Assistenzsysteme helfen Patienten und Ärzten bei der Prävention und Heilung von Krankheiten. Tödliche Krankheiten werden chronisch und chronische Krankheiten heilbar.

Der rasante technologische Fortschritt verbessert aber nicht nur Forschung und Versorgung – er wirft auch viele grundlegende Fragen auf. Traditionelle Rollen im Gesundheitswesen werden neu justiert. In einer Zeit, in der Patienten zu informierten Konsumenten werden, die ihre Gesundheitsversorgung mit dem Smartphone buchstäblich selbst in die Hand nehmen, muss sich das Gesundheitssystem grundlegend weiterentwickeln, um die Chancen sinnstiftender Innovationen zu erschließen. Deshalb finden sich in diesem Buch auch Beiträge, die neue Denkanstöße für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems in den Dimensionen Versicherung, Datenschutz und Ethik geben.

Es mag vermessen klingen, in einem Buch die Zukunft der Medizin beschreiben zu wollen. Wir sind überzeugt, dass der Versuch unternommen werden muss. Dabei geht es um Visionen, nicht um hundertprozentige Richtigkeit der Aussagen und Vollständigkeit der Themen. Wichtig ist für uns, dass die Beschreibung der Zukunft der Medizin auf Grundlage vieler bereits heute sichtbarer und denkbarer Entwicklungen der Startpunkt für eine konstruktive Diskussion wird, an der sich alle Akteure des Gesundheitswesens – vom Patienten bis zum Gesundheitsminister – beteiligen sollten. Für sie haben wir dieses Buch gemacht.

Den internationalen Vordenkern aus allen Bereichen des Gesundheitswesens und angrenzenden Fächern danken wir herzlich für ihre Beiträge. Der Verleger der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft, Herr Dr. Hopfe, hat uns bei der Verwirklichung dieses Buches sehr unterstützt. Wir bedanken uns bei ihm für zahlreiche wertvolle Anregungen. Ganz besonderer Dank gilt Frau Bernadette Schultze-Jena, die unser gemeinsames Projekt mit vielen guten Hinweisen von Verlagsseite aus intensiv begleitet hat. Dem Hasso-Plattner-Institut danken wir für die großzügige Unterstützung.

Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Freude und vor allem einen Erkenntnisgewinn beim Lesen dieses Buches. Wir hoffen, dass Sie die eine oder andere Zukunftsfacette in Ihrem täglichen Leben erkennen werden oder nutzen können. Lassen Sie uns die Zukunft der Medizin gemeinsam gestalten!

Prof. Dr. Erwin Böttinger und Dr. Jasper zu PutlitzBerlin und Potsdam im Mai 2019

Geleitwort

Der medizinische Fortschritt schreitet unaufhaltsam voran. In den letzten Jahrzehnten sind faszinierende Entdeckungen zur Erkennung von Krankheitsursachen sowie zur Prävention und Behandlung von Krankheiten gemacht worden. In den entwickelten Ländern der westlichen Welt haben wir uns heute daran gewöhnt, gesund und ohne große Einschränkungen ein hohes Lebensalter zu erreichen. Wir haben in unserer Gesellschaft eine große Zahl von Menschen mit einem Lebensalter von über 80, 90 oder sogar 100 Jahren. Noch vor zwei Generationen war dies keineswegs so.

Medizinischen Fortschritt gibt es aber nicht umsonst. In der ganzen Welt steigen die Kosten für die medizinische Versorgung. Auch die Qualität hat an vielen Stellen noch Verbesserungspotenzial. In vielen Ländern mangelt es am Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung und Pflege. Die Medizin und die Gesundheitssysteme dieser Welt müssen dringend weiterentwickelt werden, um die drängenden Probleme zu lösen.

Die Digitalisierung und Personalisierung ergänzt und erweitert unsere Möglichkeiten in der Medizin. Ich bin überzeugt, dass wir durch den gezielten Einsatz von digitalen Technologien die medizinische Versorgung und den Zugang dazu verbessern, Qualität steigern und Kostenanstiege dämpfen können. Der Informationsaustausch zwischen verschiedenen Behandlern in Arztpraxen und Krankenhäusern kann sicherer und schneller gelingen. Weiterhin werden ärztliche Entscheidungen transparenter dokumentiert und für Patienten nachvollziehbarer. Ferner setzt sich evidenzbasierte Medizin stärker durch, Doppeluntersuchungen können vermieden werden und es gibt mehr Sicherheit bei der Arzneimittelanwendung. Schließlich wird die Kommunikation mit dem Patienten verbessert, der im heutigen Gesundheitsmarkt auch selbstbewusster Kunde ist. Erfolgsbeispiele gibt es bereits in der ganzen Welt. Die Gesundheitsdaten jedes Bürgers in Israel und bald auch in Japan werden zentral erfasst und verwaltet und ermöglichen so eine Beobachtung der medizinisch relevanten Werte über das ganze Leben. In den USA gibt es viele Beispiele dafür, wie Digital Health die Qualität und den Zugang zu medizinischer Versorgung verbessert. Und viele Länder in Europa sind bei diesem Thema ebenfalls schon weit vorangeschritten.

Deutschland muss bei der digitalen Transformation des Gesundheitswesens dringend aufholen. Dafür setze ich mich persönlich ein. Hierzulande haben wir etwas schärfere regulatorische Bedingungen als einige andere Länder, die uns teils noch hemmen, neue Möglichkeiten in der digitalen Medizin praktisch einzusetzen. Deshalb sehe ich auch vor allem die Politik in der Pflicht, neue gesetzliche Weichenstellungen sowie Reformschritte, die den internationalen Entwicklungen im Gesundheitswesen zumindest ebenbürtig sind, rasch und entschlossen festzulegen. Wir brauchen differenzierte Antworten auf viele grundlegende, neue Fragen. Bei Digitalisierung und Personalisierung der Medizin geht es nicht darum, Persönlichkeitsrechte unserer Bürger zu gefährden, sondern Möglichkeiten auszuschöpfen, die ein signifikantes Potenzial haben, die Medizin und das Gesundheitssystem zu verbessern und zukunftsfähig zu machen. Dafür lehren und forschen wir am Digital Health Center des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam.

Wie sich die Medizin in Zukunft konkret weiterentwickeln könnte, beschreibt dieses Buch mit Beiträgen namhafter Autoren aus dem In- und Ausland. Die einzelnen Kapitel enthalten viel Wissenswertes zu konkreten Anwendungen in der Medizin, die durch den Einsatz digitaler Technologien und personalisierter Ansätze ermöglicht werden. Auch grundlegende Fragen zur Zukunft und Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems werden thematisiert. Ich bin den Autoren und Herausgebern, Prof. Dr. Erwin Böttinger und Dr. Jasper zu Putlitz, sehr dankbar, dass sie in diesem Buch ambitioniert und visionär die Stoßrichtungen der zukünftigen Entwicklung in der Medizin, aber auch im Gesundheitswesen insgesamt beschreiben. Dem hier vorgelegten Werk wünsche ich eine weite Verbreitung und aufmerksame Leser.

Prof. Dr. h.c. mult. Hasso PlattnerPotsdam im Mai 2019

Inhalt

IDigital, vernetzt, personalisiert – Versorgung weiter denken

1Die Zukunft der Krebstherapie

Jakob Nikolas Kather und Dirk Jäger

2Krebsdiagnose per Atemtest

Guillermo Barreto

3Netflix, Nudging, Netzwerke – Die Zukunft der Versorgung chronisch kranker Menschen

Jasper zu Putlitz

4Vernetzte Gesundheit heute und morgen

Joseph Charles Kvedar

5Digitale Prävention

Lonny Reisman

IINano, Micro, Mega – Neue Technologien für die Medizin

1Operieren im digitalen Raum – Mixed Reality in der Chirurgie

Igor Maximilian Sauer, Moritz Queisner, Michael Pogorzhelskiy und Johann Pratschke

2Operation im Genom – CRISPR/Cas9 als Chance für die Medizin

Rodger Novak

3Nanosysteme für die personalisierte Medizin

Interview mit Simone Schürle-Finke

4Bazillen als Pillen – Die Zukunft der Mikrobiomtherapien

Isabelle de Cremoux

IIIWieder gehen, wieder sehen – Die Überwindung der Handicaps

1Der Traum vom Gehen

Mirko Aach und Dennis Grasmücke

2Das Leben wieder in die Hand nehmen

Alireza Gharabaghi

3Mit eigenen Augen sehen

Alfred Stett

IVNichts bleibt wie es ist – Wie KI unsere Gesundheit rasant verbessert

1Performance Matrix – Intelligente Systeme verbessern Gesundheit

Interview mit Hon Pak und Richard Averill

2Amelia fühlt mit – Kognitive virtuelle Assistenten im Gesundheitswesen

David Champeaux

3Künstliche Intelligenz in Anamnese und Diagnose – Ein Bericht am Beispiel von Ada

Martin Christian Hirsch

VBits & Bytes statt Stahl & Strahl – Informations- und Datentechnologien revolutionieren die Medizin

1Wendepunkt für Gesundheit

Erwin Böttinger

2Weg mit den Datensilos

Jeffrey G. Klann, Kavishwar B. Wagholikar, Hossein Estiri, Maulik D. Majmudar und Shawn N. Murphy

3Datenschätze heben – Perspektiven für die Biomedizinische Informatik

Hans-Ulrich Prokosch, Thomas Ganslandt und Martin Sedlmayr

4Das digitale Gesundheitswesen – Das Ende des Sektorendenkens

Peter Haas

5data4life – Eine nutzerkontrollierte Gesundheitsdaten-Infrastruktur

Stephan von Schorlemer und Christian-Cornelius Weiß

6Die Zukunftspotenziale der Blockchain-Technologie

Christoph Meinel, Tatiana Gayvoronskaya und Alexander Mühle

7eRezept – Eine konkrete Anwendung für die Blockchain

Johannes Jacubeit

VIRadikal anders – Neues Denken, neue Rollen, neue Systeme

1Value-based Health Care – Der Paradigmenwechsel zu einem nutzenorientierten Gesundheitswesen

Jens Deerberg-Wittram

2Muss der Mediziner der Zukunft noch Arzt sein?

Markus Müschenich und Laura Wamprecht

3Ethik und Digitalisierung – Offene Fragen und mögliche Perspektiven

Matthias Braun und Peter Dabrock

4Gesunder Datenschutz

Lothar Determann und Felix Post

5Rechtliche Rahmenbedingungen im Zeitalter von digitaler Gesundheit und personalisierter Medizin

Rainer Herzog

6Regulatorische Anforderungen an Medizinprodukte

Christian Johner

VIINeu gedacht – Vom Versicherer zum Gesundheitsgestalter

1Krankenkassen sind keine Versicherungen mehr. Was sollen sie in Zukunft leisten?

Jürgen Graalmann, Alejandro Cornejo Müller und Tim Rödiger

2Soziale Krankenversicherung 4.0

Franz Knieps

3Digitale Krankenversicherung

Roman Rittweger, Sabine Müllauer und Ruth Philipp

I

Digital, vernetzt, personalisiert – Versorgung weiter denken

1

Die Zukunft der Krebstherapie

Jakob Nikolas Kather und Dirk Jäger

Der klinische Alltag in der Onkologie

Frau Müller stand mitten im Leben: Die 43-Jährige war Mutter zweier Kinder und war erfolgreich im Beruf. Es war für sie erschütternd, als sie wegen Bauchschmerzen zu ihrem Hausarzt ging, der letztendlich zwei Lebermetastasen fand. Die nächsten Monate waren geprägt von Arztterminen, Hoffnung und Bangen: Ein metastasierter Darmkrebs, wie er bei Frau Müller vorlag, ist eine lebensbedrohliche Erkrankung – andererseits hatte die Erkrankung bislang nur in die Leber gestreut. Nach langen Diskussionen im interdisziplinären Tumorboard und vier Zyklen einer Therapie aus Zytostatika und einem Epidermal Growth Factor Receptor (EGFR)-Antikörper waren die Metastasen so deutlich geschrumpft, dass in einer großen Operation sowohl der Tumor im Darm als auch die tumorbefallenen Teile der Leber entfernt werden konnten. Zwar war auch das darauffolgende Jahr nicht einfach: Erneute acht Zyklen einer Chemotherapie, eine weitere Operation zur Stomarückverlagerung, eine Rehabilitationsbehandlung und dann die Wiedereingliederung im Beruf bedeuteten eine große Belastung für die Familie. Dennoch befindet sich die Patientin nun in der Nachsorge und hat berechtigte Hoffnung auf ein tumorfreies Leben. Was noch vor einer Generation undenkbar war, war hier geglückt: Die Heilung einer metastasierten Tumorerkrankung. In diesem Fall hatte die interdisziplinäre Zusammenarbeit, moderne Chirurgie und in zahllosen klinischen Studien erprobte medikamentöse Therapie die Chance auf Heilung gebracht.

Erfolgsgeschichten wie von Frau Müller gehören längst zum Alltag der Onkologie in Deutschland. Dies tröstet jedoch nicht darüber hinweg, dass nach wie vor für viele Patienten mit metastasierten Tumorerkrankungen nur unbefriedigende Therapieoptionen zur Verfügung stehen. Die Beschleunigung des onkologischen Fortschritts lässt erwarten, dass sich dies immer weiter verbessern wird. Doch wohin wird die Reise der Onkologie bis 2030 gehen? Und ist die Versorgungslandschaft in Deutschland hierfür bereit? Diesen Fragen werden wir im vorliegenden Beitrag nachgehen.

Onkologie heute: Erfolg der evidenzbasierten Medizin

In der Medizin ist Vorsicht geboten bei der Verallgemeinerung von Einzelfällen – aber ein Blick auf die Statistik gibt Grund zum Optimismus. In der westlichen Welt führt der Rückgang des Zigarettenrauchens zu einer niedrigeren Inzidenz vieler Tumorerkrankungen. (Underwood et al. 2015) Aber auch die Überlebenszeit von Tumorpatienten wird immer länger, selbst in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien. Mittlerweile ist es üblich, dass selbst schwere Erkrankungen, wie das metastasierte Magenkarzinom oder Pankreaskarzinom, durch mehrere Therapielinien mitunter jahrelang unter Kontrolle gehalten werden können. Woher kommt diese Entwicklung und wie weit können wir diese in der Zukunft bringen?

Wie der obige Fallbericht zeigt, sind die bisherigen Erfolge vor allem begründet in der Professionalisierung der Onkologie in chirurgisch und onkologisch ausgewiesenen Zentren sowie der Entwicklung wirksamer Medikamente in translationaler Forschung und klinischen Studien.

Die Fortschritte in der Onkologie kamen schrittweise: Dutzende klinische Studien waren nötig, um beispielsweise für das Kolonkarzinom die Effektivität der Chemotherapien zu verbessern. Jede erfolgreiche Studie der letzten Jahrzehnte verlängerte die mittlere Überlebenszeit um Wochen bis Monate, aber auch jede formell „negative“ Studie erweiterte unser Wissen über die Erkrankung. Bis heute dominieren auf den großen Krebskongressen die klassischen klinischen Studien mit schrittweiser Verlängerung des Überlebens.

Dieses Muster könnte sich jedoch in Zukunft ändern – nicht zuletzt aufgrund technologischer Fortschritte. Die Zahl der neu zugelassenen Medikamente nimmt immer schneller zu und in den klinischen Studien wird zunehmend auch über Komplettremissionen berichtet – die Heilung von Tumorerkrankungen in bislang hoffnungslosen Situationen. Einige große technologische Neuerungen sind hier besondere Hoffnungsträger: Einerseits die klassische Präzisionsonkologie mit genomischer Analyse von Tumoren, andererseits die Immuntherapie und weiterhin computergetriebene Neuerungen unter den Schlagworten Big Data und Künstliche Intelligenz. Es gibt auch einige andere Technologien, die nicht so sehr im Scheinwerferlicht stehen, aber dennoch interessantes Potenzial bergen: Dies sind beispielsweise Small Data-Ansätze und Computersimulationen, funktionelle Charakterisierung von Tumoren und adaptive Therapie. Im Folgenden möchten wir den Stand der Technik in diesen Technologien betrachten und mögliche Anwendungen für die Zukunft diskutieren.

Die Hoffnungsträger: Genomik, Immuntherapie und Big Data

Genomische Krebsmedizin: Immer noch zukunftsweisend?

Klassischerweise werden bösartige Tumoren anhand des Ursprungsorgans und der Histomorphologie kategorisiert, und basierend hierauf auch entsprechenden Chemotherapien zugeführt. Mittlerweile sind jedoch für fast alle großen Tumorentitäten genetische Subgruppen bekannt, die zielgerichtete Behandlungen nach sich ziehen. Beispiele sind

das HER2-positive Mamma- oder Magenkarzinom,

das RAS-Wildtyp kolorektale Karzinom oder

das BRAF-mutierte Melanom.

Patienten mit diesen genetischen Veränderungen profitieren zum Teil enorm von einer Therapie, die eben diese genetische Schwachstelle ihrer Tumorzellen ausnutzt. Allerdings sind dies zwar zielgerichtete Therapien, aber keine wirkliche „personalisierte“ Therapie im engeren Sinne. Denn: Diese Therapien zielen auf Patientenkollektive ab, die einen großen Teil der entsprechenden Entitäten ausmachen. Mit dem Fortschritt in Genom-Sequenzierungstechnologien stiegen die Hoffnungen auf eine kleinteiligere, echte „personalisierte“ Medizin: Statt nur große Subgruppen jeder Tumorentität zu betrachten, sollten auch genetische Veränderungen mit geringer Inzidenz in jedem Patienten „personalisiert“ nachgewiesen werden und als molekulare Therapieziele verwendet werden. Wie alle Maßnahmen in der Medizin muss sich selbstverständlich auch dieses Postulat einer Überprüfung in randomisierten Studien unterziehen. Hierbei zeigten sich bisher leider enttäuschende Ergebnisse: Die SHIVA und MOSCATO-Studien konnten keine überzeugenden Erfolge liefern (Le Tourneau u. Kurzrock 2016). Auch die groß angelegte NCI-MATCH-Studie konnte nur in einem geringen Teil der Patienten relevante genetische Veränderungen identifizieren, wovon letztendlich aber auch nur ein Bruchteil der Patienten profitierte. Mittlerweile ist klar, dass zwar genomische Analysen in immer mehr Teilbereichen der Onkologie Eingang finden, dass aber weiterhin die überwiegende Mehrheit aller Tumorpatienten keinen direkten Vorteil hieraus zieht. Eine mögliche Ursache dieser Probleme liegt darin, dass Tumoren eben nicht nur aus Tumorzellen bestehen. Die Zusammensetzung der Tumor-Mikroumgebung ist in einigen Tumorentitäten wie dem kolorektalen Karzinom der genetischen Untersuchung prognostisch und prädiktiv überlegen. Heutzutage lässt sich somit konstatieren (Kather et al. 2018a):

Es reicht nicht aus, nur auf genetische Veränderungen von Tumorzellen abzuzielen – eine Tumortherapie muss auch die Umgebung der Tumorzellen berücksichtigen.

Die Tumor-Mikroumgebung: Von der Antiangiogenese zur Immuntherapie

Maligne Tumoren bestehen zu großen Teilen aus Nicht-Tumorzellen: Fibroblasten, Endothelzellen und verschiedene Immunzellen machen bei vielen Tumoren sogar kumulativ den größten Teil der Tumormasse aus. Diese Zelltypen sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Krebsforschung gerückt. Die erste großflächige klinische Translation gelang mit der antiangiogenen Therapie: Durch Blockade von Wachstumsfaktoren für die Blutgefäßbildung sollten Tumorzellen „ausgehungert“ werden. Mittlerweile sind mehrere Hemmstoffe dieser Wachstumsfaktoren und ihrer Rezeptoren zugelassen, insbesondere die Wirkstoffe Bevacizumab, Ramucirumab, Sunitinib und Sorafenib. Allerdings zeigte sich in diesem Feld nach dem ersten Hype schnell eine Ernüchterung. Nicht nur scheint der Wirkmechanismus des „Aushungerns“ wissenschaftlich nicht haltbar – auch in klinischen Studien hatten diese Therapiestrategien bestenfalls bescheidenen Nutzen. Heutzutage hat Bevacizumab einen nicht bestreitbaren Stellenwert beim kolorektalen Karzinom und Sorafenib hat einen Nutzen beim hepatozellullären Karzinom und einigen anderen Tumoren. Bei vielen Tumorarten sind diese Wirkstoffe jedoch fast komplett aus der klinischen Praxis verschwunden, so etwa beim Glioblastom. Ein Tiefpunkt der antiangiogenen Therapie war erreicht, als die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) im Jahr 2011 die Zulassung von Bevacizumab beim Mammakarzinom wegen Wirkungslosigkeit zurücknahm. Eine ähnliche Substanz, Ramucirumab, ist mit 15.000 $ Therapiekosten pro Monat eines der teuersten Medikamente überhaupt und wird beim Magenkarzinom und dem kolorektalen Karzinom eingesetzt – verlängert das Überleben jedoch nur um wenig mehr als einen Monat im Vergleich zu einer Behandlung mit einem Placebo (Goldstein u. El-Rayes 2015).

Seit 2014 hat jedoch eine neue Therapiestrategie große Erfolge zu verzeichnen: Die Tumor-Immuntherapie. Die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren blockieren inhibitorische Signalwege von T-Lymphozyten und verstärken somit eine vorbestehende Anti-Tumor-Immunantwort. In Entitäten wie dem BRAF-Wildtyp Melanom oder dem PD-L1-positiven Lungenkarzinom sind diese Medikamente bereits die Erstlinien-Therapie der Wahl. Große medizinische und kommerzielle Hoffnungen werden in die Weiterentwicklung dieser Wirkstoffklasse gesetzt. Alle zugelassenen Checkpoint-Inhibitoren zielen auf die Oberflächenproteine PD1, PD-L1 und CTLA-4 ab, aber Inhibitoren zahlreicher funktionell ähnlicher Proteine werden bereits in klinischen Studien getestet. Vielversprechende Kandidaten sind die Proteine LAG-3, TIM-3 und TIGIT. Eine Inhibition dieser Immun-Checkpoints wird derzeit in klinischen Phase I/II-Studien getestet und hat zum Teil bereits sehr vielversprechende Ergebnisse geliefert.

Weiterhin gab es in den letzten Jahren vermehrt Erfolge von Vakzinierungsstrategien, denen das Ziel gemein ist, die körpereigene Immunantwort in Richtung der Tumorkontrolle zu lenken. Im besten Fall werden hierfür Oberflächenstrukturen der Tumorzellen identifiziert, die ausschließlich auf dem Tumor selbst, nicht aber im gesunden Gewebe vorkommen. Dieses Kriterium ist insbesondere für Neoantigene erfüllt – also Proteine, die durch Mutationen im Tumor-Erbgut eine „unnatürliche“ Aminosäurensequenz haben und so an der Zelloberfläche präsentiert werden, dass sie als Zielstruktur für die adaptive Immunantwort dienen können. Diese Antigene können dem Körper per Impfung (Vakzinierung) zugeführt werden und selbstständig oder in Anwesenheit von Adjuvanzien die natürlicherweise bestehende Anti-Tumor-Immunität verstärken (Jager et al. 2003).

Neben diesen „passiven“ Immuntherapien existieren mit den zellulären Immuntherapien „aktive“ Therapiestrategien. Hier werden lebende Zellen in den Körper eingebracht, die sich dort vermehren und aktiv Tumorzellen angreifen. Klinisch am weitesten fortgeschritten sind hier die T-Lymphozyten mit „chimären Antigen-Rezeptoren“, kurz CAR-T-Zellen. Hierbei werden patienteneigene T-Zellen extrahiert und genetisch modifiziert, sodass sie einen Rezeptor für klar definierte Tumorantigene exprimieren. Zusätzlich werden die intrazellulären Domänen dieser Rezeptoren typischerweise so optimiert, dass es einerseits unabhängig von kostimulatorischen Signalen zu einer Zellaktivierung kommt, aber andererseits nicht zur überschießenden Immunantwort. Seit Sommer 2018 sind CAR-T-Zellen auch in Europa zugelassen, in Deutschland jedoch nur in einzelnen Zentren verfügbar. Der komplexe Herstellungsprozess dieser Zellen macht den Einsatz auch für große Zentren zu einer logistischen Herausforderung. Zum Einsatz kommen diese CAR-T-Zellen bei bestimmten seltenen B-Zell-Neoplasien. In Einzelfällen wurde jedoch auch bei häufigeren Tumorentitäten wie dem Mammakarzinom von überzeugenden Erfolgen mit zellulären Immuntherapien berichtet (Zacharakis et al. 2018).

Mit zunehmender klinischer Reife der Immuntherapien kommt eine wesentliche Fragestellung zum Tragen: Wie kann vor Therapiestart oder zumindest kurz danach vorhergesagt werden, ob der Patient auf die Immuntherapie ansprechen wird? Bei den Tumorzell-gerichteten genetisch definierten Therapien scheint dies fast trivial: Ein HER2-Inhibitor wird nur bei Patienten wirken, die HER2 überexprimieren. Ein ALK-Inhibitor wird nur bei Patienten wirken, die eine ALK-Genfusion aufweisen. Zu Beginn der Immuntherapie-Ära bestanden große Hoffnungen auf einen ähnlichen Zusammenhang: So schien klar zu sein, dass eine anti-PD-1/PDL-1-gerichtete Checkpoint-Inhibition nur bei Patienten Wirkung zeigen sollte, die eine starke Expression von PDL-1 aufwiesen. Zahlreiche klinische Studien bei verschiedenen Tumorentitäten zeigten aber, dass ein solcher Zusammenhang nur sehr eingeschränkt gilt. Die prädiktive Aussagekraft der PDL-1-Expression im Tumorgewebe ist generell sehr gering und Checkpoint-Inhibition kann auch bei einem Teil der PDL-1-negativen Patienten wirken. Andere Biomarker sind hier deutlich zuverlässiger, wie beispielsweise DNA-Reparaturdefekte und die Mutationslast in Tumorzellen. Die Mutationslast – auf Englisch „Tumor Mutational Burden“ (TMB), bezeichnet die Anzahl von Mutationen im Tumorgewebe eines bestimmten Patienten. Obwohl hierbei nicht die Immunogenität einer Mutation berücksichtigt wird, sondern genetische Veränderungen nur abgezählt werden, hat sich gezeigt, dass TMB eine gute Prädiktion des Ansprechens auf Immuntherapie erlaubt. DNA-Reparaturdefekte wie die „Mismatch Repair Deficiency“ (MMRd) sind sogar so gut prädiktiv, dass die FDA Checkpoint-Inhibitoren für alle Patienten mit diesem Merkmal zugelassen hat – unabhängig von der Histologie des Tumors. Auch die Mutationslast ist sehr vielversprechend, insbesondere, da sie vermutlich auch aus dem peripheren Blut bestimmbar ist (Gandara et al. 2018). Insgesamt sind diese beiden Biomarker zwar sehr sensitiv, aber momentan noch wenig spezifisch: Auch Patienten ohne diese Merkmale können prinzipiell auf Immuntherapie ansprechen. Da die Immuntherapie nicht direkt die Tumorzellen modifiziert, sondern die körpereigenen Immunzellen, ist es nicht verwunderlich, dass auch deren Eigenschaften einen Therapieerfolg vorhersagen können. Selbst routinemäßig erhobene Messwerte wie die Zahl der Lymphozyten im peripheren Blut können zur Prädiktion des Erfolgs von Immuntherapien beitragen (Hopkins et al. 2017).

Auch im Zeitalter der Immuntherapie gilt somit, dass eine möglichst detaillierte Analyse einzelner Patienten notwendig ist, um jedem Patienten die optimale Therapie zuzuführen. Durch die zahlreichen in den letzten Jahren zugelassenen Medikamente – insbesondere auch Immuntherapeutika – ist das Problem der optimalen Therapiestrategie noch deutlich komplexer geworden als zuvor – denn nun ist klar, dass nicht nur Eigenschaften der Tumorzellen analysiert werden müssen, sondern auch die Eigenschaften des körpereigenen Immunsystems. Die Anzahl der Parameter, die man in Zusammenschau hierfür ansehen kann, ist für eine einzelne Ärztin nicht zu bewältigen. Wir werden uns im Folgenden deshalb technischen Lösungen zuwenden, die das Potenzial bergen, Tumoren genauer zu klassifizieren und individuell optimale Therapiestrategien vorherzusagen.

Big Data: Woher kommen diese Datenmengen und können wir sie nutzbar machen?

Onkologen müssen schon seit vielen Jahren eine große Menge von Daten verarbeiten. Um beispielsweise für eine Mammakarzinom-Patientin eine Therapieempfehlung auszusprechen, müssen zumindest Alter, Vorerkrankungen, Patientenpräferenzen, T-, N- und M-Stadium, Tumor-Grading, Proliferationsfraktion, Hormonrezeptorstatus für Östrogen und Progesteron, sowie HER2-Status bedacht werden. Setzt man vereinfachend für jedes dieser Merkmale nur drei Ausprägungen fest (etwa hoch/ mittel/niedrig), ergeben sich etwa 177.000 mögliche Kombinationen.

Mit dem Stichwort „Big Data“ werden in der Onkologie jedoch typischerweise zwei Technologien assoziiert, die noch einmal um viele Größenordnungen mehr Daten produzieren: Genomische Daten und Bilddaten.

Genomische Daten sind beispielsweise Einzelnukleotidvariationen oder Translokationen, unter denen zusammen dutzende potenziell therapierelevante Veränderungen bekannt sind, die beispielsweise in Gen-Panels wie dem MSK-IMPACT-Panel zusammengefasst sind. Im weiteren Sinne fallen hierunter auch transkriptomische Daten, also Expressionsniveaus von mRNAs in Tumorgewebe. Klinisch anerkannte Genexpressions-Panels wie das 70-Gen-Panel MammaPrint® werden beispielsweise beim Mammakarzinom eingesetzt. Auch epigenetische Veränderungen, wie beispielsweise DNA-Methylierungen, können aus Tumorproben ausgelesen werden. Schon dieser kleine Ausschnitt des menschlichen Nukleinsäure-Repertoires lässt also unvorstellbar viele denkbare Kombinationen zu, die sinnvoll in therapeutische Entscheidungsbäume implementiert werden müssen. Dies geschieht aktuell auf drei Arten:

Erstens können in genomischen Daten einzelne, zumeist seltene Veränderungen festgestellt werden, die auf Proteinebene eine direkt pharmakologisch hemmbare Veränderung hervorrufen. Ein Beispiel sind BRAF-V600E-Mutationen, die beim Melanom häufig, bei anderen Tumorentitäten selten auftreten und eine gelegentlich wirksame Therapie mit einem entsprechenden Inhibitor ermöglichen.

Zweitens können mehrere Messungen von Genexpressionsniveaus zu Risiko-Scores zusammengefasst werden, die beispielsweise das Rückfallrisiko nach einer kurativen Therapie vorhersagen. Beim Mammakarzinom werden solche Scores eingesetzt, um Hochrisikopatientinnen zu identifizieren, die trotz geringer Tumorausbreitung und erfolgreicher operativer Entfernung von einer adjuvanten Chemotherapie profitieren (Sparano et al. 2018).

Drittens können molekulargenetische Daten genutzt werden, um Tumorgruppen feiner zu klassifizieren und somit sowohl das individuelle Risiko als auch den Nutzen von Therapien vorherzusagen. Ein Beispiel ist die kürzlich veröffentlichte Klassifikation von Hirntumoren anhand der DNA-Methylierungsmuster (Capper et al. 2018). Im Falle dieser Klassifikation kamen zudem Techniken des maschinellen Lernens zum Einsatz, die es überhaupt erlaubten, in komplexen molekulargenetischen Datensätzen Gruppen von Patienten mit ähnlichen Mustern zu finden.

Bei medizinischen Bilddaten findet sich eine ähnliche Situation: Auch hier können heutzutage relativ kostengünstig enorme Datenmengen generiert werden, die aktuell nur stark abstrahiert in Therapieentscheidungen eingehen. Beispielsweise wird ein kompletter CT-Datensatz mit dutzenden Schichten mit jeweils hunderttausenden Bildpixeln durch die radiologische Befundung stark reduziert: Im Extremfall auf nur drei Zahlenwerte im TNM-Stadium. Versuche, aus den verfügbaren Daten mehr quantitative Werte zu extrahieren, werden hier als „Radiomics“ bezeichnet. Diese Techniken sind freilich nicht nur bei radiologischen Bilddaten einsetzbar, sondern prinzipiell auch für andere Bilder: Fotos von Hauttumoren, histologische Bilder oder Ultraschallbilder. Diese Ansätze werden auch als Histomics, Pathomics oder allgemein „Image-omics“ bezeichnet.

Somit sind schon heute für viele Tumorpatienten prinzipiell große Datenmengen relativ einfach verfügbar. Sie finden jedoch nur stark abstrahiert und bruchstückhaft Eingang in klinische Entscheidungen. Ob molekulargenetische Messungen oder Bilddaten – viele Studien haben gezeigt, dass diese Daten große Mengen an bislang ungenutzten – teilweise für die menschliche Wahrnehmung nicht zugänglichen – Informationen beinhalten. Der Weg, um dieses Potenzial zu bergen, ist vorgezeichnet: Große, gut charakterisierte Patientenkohorten müssen mit standardisierten Messmethoden und mit den bereits verfügbaren Technologien untersucht werden. Nach Erfahrung der Autoren ist der limitierende Faktor für derartige Studien am ehesten der personelle und logistische Aufwand, um unter Wahrung ethischer und datenschutzrechtlicher Prinzipien ausreichend große Patientenkollektive mit homogen erhobenen Messdaten zu etablieren.

Nicht zu vergessen ist zudem, dass vor dem Eingang neuer Ergebnisse in klinische Entscheidungsbäume obligat eine prospektive, möglichst randomisierte und verblindete Überprüfung der abgeleiteten Handlungsempfehlungen in klinischen Studien passieren muss. Zudem gilt es, hier weitere Fallstricke zu beachten.

Dieses Beispiel des Machine Learning-Algorithmus zeigt auf, dass Datensätze für Machine Learning-Techniken oft mit unerwünschten Signalen kontaminiert sind und entsprechend große Vorsicht beim Benutzen dieser Datensätze erforderlich ist.

Beispiel eines Machine Learning-Algorithmus

In einem nicht-onkologischen Setting wurde kürzlich ein Machine Learning-Algorithmus auf klinische Daten, insbesondere Laborwerte, trainiert, um hieraus das Überleben von hospitalisierten Patienten vorherzusagen. Überraschenderweise zeigte sich jedoch, dass ein Großteil der Vorhersagekraft dieses Algorithmus auf dem Vorhandensein und dem Zeitpunkt der Laboranforderung beruhte (Agniel et al. 2018). Auf die Onkologie übertragen könnte man somit erwarten, dass sich Hochrisikopatienten geradezu dadurch auszeichnen, dass die Behandler umfangreiche molekulare Testungen anfordern, wohingegen für Patienten mit a priori niedrigem Risiko auf diese genaueren Messungen verzichtet wird.

Small Data statt Big Data? Mechanistische Simulationen

Computergestützte Datenauswertung muss jedoch nicht immer bedeuten, dass immer größere Datenmengen benötigt werden. Einige Ansätze, die derzeit noch weniger im Rampenlicht stehen, benutzen vergleichsweise kleine klinische Datenmengen, um versteckte Informationen für die klinische Praxis nutzbar zu machen.

Ein Beispiel sind mechanistische Computermodelle oder Simulationen der Tumor-Mikroumgebung. Mechanistische Simulationen sind in vielen Bereichen weit verbreitet, beispielsweise in der Wettervorhersage: Aus dem Wissen um mechanistische Zusammenhänge zwischen Lufttemperatur, Meerestemperatur, Luftdruck etc. lassen sich mit vergleichsweise wenigen Messungen tropische Stürme vorhersagen. Die hierfür nötigen Modelle werden mit Echtzeitdaten gespeist, laufend aktualisiert und geben Wahrscheinlichkeiten für den Verlauf eines Tropensturms zurück, aus denen Entscheidungen wie beispielsweise die Evakuierung vom Sturm bedrohter Küstenabschnitte abgeleitet werden können. Analog hierzu können mechanistische Modelle der Tumor-Mikroumgebung basierend auf theoretischen Überlegungen und relativ wenigen Messwerten Wahrscheinlichkeiten für den Verlauf einer Tumorerkankung liefern. Dazu kommt, dass solche Modelle erlauben, „Was-wäre-wenn“-Fragen zu stellen. Hier sind mechanistische Modelle der Klimaerwärmung ein Vorbild, die Fragen beantworten wie: „Welche Menge an Treibhausgasen dürfen wir noch ausstoßen, um mit 95% Wahrscheinlichkeit die Erde nicht über 2°C zu erwärmen?“ Analog hierzu können computerbasierte Simulationen von Tumoren wiederum Fragen beantworten wie: „Welche Dosis der Chemotherapie muss mit welcher Dosis der Immuntherapie kombiniert werden, um die beste Chance auf eine Krankheitskontrolle zu erreichen?“ (Kather et al. 2018b). Für solche mechanistischen Modelle sind oft wenige Messwerte ausreichend. Während typische Machine Learning-Ansätze für einzelne Patienten tausende Parameter heranziehen (wie beispielsweise Genexpressionsniveaus), reichen für mechanistische Modelle oft nur ein Dutzend Messwerte pro Patient aus. Zeitaufgelöste Daten spielen hier eine besondere Rolle, um wie bei der Vorhersage von Tropenstürmen die Wahrscheinlichkeiten laufend an Beobachtungen anzupassen. Leider finden viele Messungen in der Onkologie oft nur zu einem Zeitpunkt statt, insbesondere Untersuchungen am Tumorgewebe. In klinischen Entscheidungsbäumen sind beispielsweise fast nie wiederholte Biopsien von Tumorgewebe vorgesehen. Nichtinvasive Verfahren wie die radiologische Bildgebung oder auch Liquid Biopsy-Verfahren sind somit für mechanistische Simulationen eine naheliegende Datenquelle. Dazu kommt jedoch auch, dass die Daten relativ robust und gut standardisiert sein müssen. Viele Messwerte in der Onkologie unterliegen relevanten Schwankungen, beispielsweise je nach Hersteller eines MRT-Gerätes oder je nach Lokalisation einer Biopsie in einer Metastase.

Eine Untergruppe der mechanistischen Simulationen sind die sogenannten adaptiven Therapieverfahren, die an Überlegungen aus der Ökologie angelegt sind. Das größte Problem der Bekämpfung von Tumorzellen mit zytotoxischen Substanzen ist die Vermehrung von präexistenten resistenten Zellpopulationen. Im Falle von fortgeschrittenen Tumorerkrankungen führt dies fast unweigerlich zur Entwicklung von Resistenzen und somit zum klinischen Rezidiv nach initialem Therapieansprechen. Dieses Problem ist aus der Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft bekannt. Neben vielen anderen unerwünschten Nebeneffekten einer Giftapplikation in der Landwirtschaft kommt es auch hier fast unweigerlich im Verlauf zur Verbreitung resistenter Spezies. Zur Zulassung neuer pestizider Substanzen ist somit ein sogenannter „Pest Control-Plan“ notwendig, der vorbeugende Schritte gegen eine solche Resistenzentwicklung aufzeigen soll. Beispiele sind der sparsame Einsatz von Pestiziden oder der Wechsel auf andere Substanzen. Dieser Strategie folgend, hat eine kleine Studie beim Prostatakarzinom gezeigt, dass eine intermittierende Therapie möglicherweise einer kontinuierlichen Therapie mit antiandrogenen Substanzen überlegen ist. (Gatenby et al. 2009) Auch beim kolorektalen Karzinom zeigen erste Daten, dass eine Reexposition mit Anti-EGFR-Antikörpern nach initialer Progression auf diese Medikamente wieder sehr wirksam sein könnte (Parseghian 2018). Solche intermittierenden Therapieschemata lassen sich jedoch schwerlich intuitiv entwickeln, da es zahllose Möglichkeiten der Dosisanpassung und Taktung gibt. Auch hier spielen deshalb mechanistische Modelle eine große Rolle: Mit solchen Modellen können die verschiedenen Taktungen der Therapiephasen und Therapiepausen optimiert werden, bevor sie am Patienten zum Einsatz kommen.

Mechanistischen Computersimulationen und mathematische Modelle für die adaptive Therapie sind also potenzielle Small Data-Ansätze, um mit Computerunterstützung die Therapiestrategien für solide Tumoren zu optimieren. Auch hier gilt selbstverständlich, dass ultimativ ein Wirkungsnachweis in prospektiven, randomisierten, verblindeten klinischen Studien erfolgen muss, bevor diese Methoden routinemäßig eingesetzt werden.

Krebsmedizin in Deutschland in der Zukunft

Digitalisierung und Zentrumsbildung in Deutschland

Ob Big Data oder Small Data – die Onkologie der Zukunft benötigt quantitativ und standardisiert erhobene Daten, da die klinische Intuition allein für onkologische Therapieempfehlungen nicht mehr ausreichen wird. Für eine automatisierte Auswertung in jedweder Form müssen diese Daten in einheitlichen Formaten digital vorliegen. Schon diese Grundvoraussetzung ist in Deutschland aktuell bei weitem nicht gegeben. Eine gerade erst beginnende Zentrumsbildung in der onkologischen Behandlung bedingt, dass viele Krebspatienten in kleineren Einrichtungen behandelt werden, in denen der Zugang zu innovativen Therapiestudien schlecht ist. Darüber hinaus ist aber selbst in großen onkologischen Zentren ein substanzieller Teil der medizinischen Dokumentation noch nicht digitalisiert. Selbst der digitalisierte Teil der Dokumentation ist vielerorts noch weitgehend unstrukturiert oder in improvisierter Form – beispielsweise in fortlaufend geführten Textdokumenten statt in strukturierten Datenbanken. Aber auch dem Ruf nach strukturierter Dateneingabe und -aufbewahrung ist nicht einfach nachzukommen. Schon die strukturierte Befundung diagnostischer Datensätze wie radiologischer Bilder ist mit einem zeitlichen Mehraufwand für den Befunder verbunden und muss vorsichtig in klinische Abläufe eingebunden werden. Eine strukturierte Erfassung von Therapieschemata inklusive Nebenwirkungen und Dosisanpassungen sowie aller Befunde im Laufe einer Tumorerkrankung ist aktuell noch eine Utopie.

Zur Lösung dieser Problematik kommen verschiedene politische und technologische Optionen in Betracht. Eine zunehmende Zentrumsbildung in der Onkologie führt nicht nur zum besseren Zugang zu klinischen Studien, sondern auch zu einer effizienteren Personalallokation in der spezialisierten Versorgung insbesondere von Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen. Digitale Technologien wie die computerbasierte Auswertung von als Freitext geschriebenen Befunden können ebenfalls helfen, technologisch wieder aufzuholen. Im internationalen Vergleich ist dies aus Sicht der Autoren auch dringend nötig: Länder wie die Niederlande mit einer etablierten Zentrumsversorgung haben deutlich höhere Raten an Studieneinschlüssen für onkologische Patienten zu verzeichnen als Deutschland. Und in den Vereinigten Staaten sind „Electronic Health Records“ viel flächendeckender implementiert als hierzulande.

Was sind die Stärken des Standorts Deutschland?

In einigen Aspekten der onkologischen Versorgung kann Deutschland jedoch sehr wohl auf internationalem Vergleich mithalten: Gerade im heutigen Zeitalter bewährt sich unser Sozialstaat. Mit Immuntherapie und zielgerichteten Therapien stehen für einige klar definierte Tumorarten sehr effektive Medikamente zur Verfügung. Meist handelt es sich um eher seltene Erkrankungen wie der chronischen myeloischen Leukämie (CML), dem Mikrosatelliten-instabilen Kolonkarzinom (MSI) oder dem metastasierten Melanom. Die gesetzliche Krankenversicherung ermöglicht es uns in den meisten Fällen, diese Patienten mit den international anerkannten Standardtherapien zu behandeln – ohne nennenswerte direkte Kosten für die Patienten. Der Blick in die USA zeigt hier ein völlig anderes Bild: Ein nennenswerter Teil der Bevölkerung verfügt nicht über eine Krankenversicherung, die ohne weiteres zielgerichtete Krebstherapien bezahlt. Ein fehlender Kündigungsschutz bedeutet für viele chronisch Krebskranke den Verlust des Arbeitsplatzes und der Lebensgrundlage ohne hinreichendes soziales Sicherungsnetz. Es ist nicht verwunderlich, dass Themen wie die „finanzielle Toxizität“ von Krebsbehandlungen mittlerweile auf amerikanischen Kongressen eine große Rolle spielen, wohingegen das Thema in Deutschland erst entdeckt wird. Dies darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Krebserkrankung auch für eine Familie in Deutschland eine erhebliche Belastung mit psychosozialem Beratungsbedarf darstellt. Dennoch kommt gerade in Grenzsituationen wie einer Krebsdiagnose der Vorteil des Sozialstaats zum Vorschein.

Nach wie vor genießt die Medizin in Deutschland international ein großes Ansehen. In unserer klinischen Praxis erhalten wir viele Anfragen für Zweitmeinungen aus anderen Ländern und ein nicht unerheblicher Teil unserer Patienten ist nur für die Behandlung bei uns aus dem Ausland angereist.

Wie wird Spitzenonkologie in Zukunft aussehen? Und welche Strukturen müssen hierfür in Deutschland geschaffen werden? Unsere Vorschläge hierzu fassen wir im folgenden Abschnitt zusammen.

Wie wird die Spitzenonkologie in Deutschland 2030 aussehen?

Vor zehn Jahren schien klar, dass die Zukunft der Onkologie eine möglichst umfangreiche genetische Sequenzierung von Tumorgewebe sein würde. Schon dies brachte enorme logistische Probleme mit sich, denn die technologischen Voraussetzungen hierfür konnten nur mit viel Aufwand in einigen wenigen Zentren geschaffen werden. Die bisherigen Erfolge der Immuntherapie haben aber klar gezeigt, dass hochindividualisierte Immuntherapien diese genomische Medizin ergänzen müssen. Dies betrifft sowohl die Diagnostik als auch die Therapie von Tumorerkrankungen:

Zur Tumordiagnostik werden die zwei Standbeine invasive Diagnostik am Gewebe mit nichtinvasiver Diagnostik im Blut oder per Bildgebung notwendig sein, jeweils bezogen auf den Tumorzellanteil und das körpereigene Immunsystem (s. Tab. 1). Die hierfür notwendigen Technologien sind prinzipiell schon entwickelt, jedoch ist noch völlig unklar, wie diese verschiedenen diagnostischen Modalitäten in der Breite der Krebspatienten erhoben werden und in der Praxis kombiniert werden sollen. Die von uns diskutierten Methoden des maschinellen Lernens werden unverzichtbar sein, um aus heterogenen und großen Datensätzen die klinisch relevanten Teile herauszusieben und der klinischen Entscheidungsfindung zur Verfügung zu stellen. Um den Standort Deutschland hier in den nächsten Jahren zu positionieren, schlagen wir die Einrichtung von interdisziplinären Diagnostik-Einheiten vor, die mit Methoden des maschinellen Lernens ausgestattet sind, um heterogene hochdimensionale Datensätze nah am klinischen Geschehen zusammenzuführen.

Zur Tumortherapie werden die beiden Standbeine Basistherapie und angepasste Therapie notwendig sein – auch hier bezogen auf den Tumorzellanteil und das Immunsystem (s. Tab. 1). Die Basistherapie mit Chemotherapie, zielgerichteter Therapie einzelner genetischer Veränderungen sowie Immun-Checkpoint-Blockade existiert bereits heute. Jedoch kommt es oft auch nach initialem Ansprechen zu einem Therapieversagen im Verlauf. Um dies zu vermeiden oder zu verzögern, ist aus unserer Sicht eine hochindividualisierte Therapie vonnöten. Bezogen auf den Tumorzellanteil bedeutet dies, dass im Therapieverlauf das Mutationsprofil wiederholt gemessen wird und zielgerichtete Therapien laufend angepasst werden. Auch die Taktung und Dosierung der Chemotherapie kann theoretisch durch mathematische Simulation optimiert werden, wie einige vielversprechende Studien aus dem Feld der adaptiven Therapie zeigen (Zhang et al. 2017). Bezogen auf das Immunsystem bedeutet die Individualisierung, dass ausgehend von der initialen immunologischen Ausstattung eines Patienten immunmodulierende Substanzen, zelluläre Immuntherapien oder gezielte Vakzinierung eingesetzt werden, um gezielt dem sogenannten „Immune Escape“ der Tumorzellen entgegenzuwirken. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die Methoden zur Immunmodulation und die verschiedenen Formen der Immuntherapien technisch weiter zu entwickeln, besser verträglich und kostengünstiger zu gestalten. Diese technischen Entwicklungen allein werden jedoch nicht ausreichen, um die Frage nach optimalen Therapiestrategien und -kombinationen zu beantworten. Hierfür zeichnet sich das computergestützte Therapiedesign, die Simulation von Kombinationstherapien bis hin zur Simulation des „virtuellen Patienten“, als vielversprechende Lösung ab. Auch hierfür besteht jedoch gerade in Deutschland viel struktureller Nachholbedarf. Wir schlagen auch hier vor, die Zentrumsbildung voranzutreiben und insbesondere Anreize für interdisziplinäre Gruppen zu setzen. Auch diese müssen nahe an der klinischen Realität etabliert werden, um die Vision des virtuellen Tumorpatienten zu ermöglichen.

Die infrastrukturellen Grundlagen für diese Entwicklungen sind in Deutschland gegeben: Es existiert eine breite Basis an großen Kliniken, an denen akademische Forschung mit klinischer Versorgung eng verzahnt ist. Allerdings bedarf die Sammlung von Kompetenzen in überregionalen Zentren sowie die Integration moderner Technologien (insbesondere Computertechnologien) noch signifikanter Bemühungen und Investitionen, um 2030 weiterhin eine Spitzenonkologie in Deutschland anbieten zu können.

Tab. 1Die Standbeine der Tumordiagnostik und -therapie im Jahr 2030

Literatur

Agniel D et al. (2018) Biases in electronic health record data due to processes within the healthcare system: retrospective observational study. BMJ 361, k1479

Capper D et al. (2018) DNA methylation-based classification of central nervous system tumours. Nature 555, 469–74

Gandara DR et al. (2018) Blood-based tumor mutational burden as a predictor of clinical benefit in non-small-cell lung cancer patients treated with atezolizumab. Nat Med 24, 1441–48

Gatenby RA et al. (2009) Adaptive therapy. Cancer Res 69, 4894–903

Goldstein DA, El-Rayes BF (2015) Considering Efficacy and Cost, Where Does Ramucirumab Fit in the Management of Metastatic Colorectal Cancer? Oncologist 20, 981–2

Hopkins AM et al. (2017) Predicting response and toxicity to immune checkpoint inhibitors using routinely available blood and clinical markers. Br J Cancer 117, 913–20

Jager E et al. (2003) Antigen-specific immunotherapy and cancer vaccines. Int J Cancer 106, 817–20

Kather JN et al. (2018a) Genomics and emerging biomarkers for immunotherapy of colorectal cancer. Semin Cancer Biol. 52(2), 189–197

Kather JN et al. (2018b) High-Throughput Screening of Combinatorial Immunotherapies with Patient-Specific In Silico Models of Metastatic Colorectal Cancer Cancer Res 78, 5155–63

Le Tourneau C, Kurzrock R (2016) Targeted therapies: What have we learned from SHIVA? Nat Rev Clin Oncol 13, 719–20

Parseghian C et al. (2018) Anti-EGFR Resistant Clones Decay Exponentially After Progression: Implications for Anti-EGFR Re-challenge. Journal of Clinical Oncology 36(15), 3511–3511

Sparano, JA et al. (2018) Adjuvant chemotherapy guided by a 21-gene expression assay in breast cancer. N Engl J Med 379, 111–121

Underwood JM et al. (2015) Decreasing trend in tobacco-related cancer incidence, United States 2005–2009, J Community Health 40, 414–8

Zacharakis N et al. (2018) Immune recognition of somatic mutations leading to complete durable regression in metastatic breast cancer, Nature Medicine 24, 724–30

Zhang et al. (2017) Integrating evolutionary dynamics into treatment of metastatic castrate-resistant prostate cancer. Nature Communications 8, 1816

Prof. Dr. med. Dirk Jäger

Dirk Jäger leitet seit 1. Juli 2005 die Abteilung Medizinische Onkologie im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg und verantwortet den gesamten klinischen Bereich im NCT. Alle onkologischen Fachabteilungen des Universitätsklinikums sind in die interdisziplinäre Ambulanzstruktur des NCT integriert. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Abteilung ist die Translation von innovativen Behandlungsansätzen in frühe klinische Studien. Hierbei spielen Strategien, die das eigene Immunsystem für die Behandlung von Tumoren einsetzen, eine bedeutende Rolle.

Dr. med. Jakob Nikolas Kather, MSc

Jakob Nikolas Kather ist Arzt in Weiterbildung mit klinischem Schwerpunkt in der gastrointestinalen Onkologie. Neben dem Medizinstudium studierte er Medizinphysik an der Universität Heidelberg. Als Mitarbeiter bei Prof. Jäger im NCT und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) kombiniert er computerbasierte Simulationen, Maschinelles Lernen mittels neuronalen Netzen und Hochdurchsatz-Untersuchung von Tumorgewebe. Mit diesen neuen Technologien können neue Biomarker gefunden werden und Therapiestrategien für einzelne Patienten optimiert werden.

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Krebsdiagnose per Atemtest

Guillermo Barreto

Lungentumore werden häufig erst in einem fortgeschrittenen Stadium erkannt. Lungenkrebs ist daher die weltweit häufigste krebsbedingte Todesursache.

Lungenkrebs beginnt meist harmlos, mit Husten, Heiserkeit oder Kurzatmigkeit – daher bleibt er in vielen Fällen lange unerkannt. Wenn schließlich bildgebende Verfahren und Gewebeproben die Diagnose liefern, ist es für eine Heilung oft zu spät. Mit jährlich weltweit rund 1,6 Millionen Menschen ist Lungenkrebs die häufigste Krebsart, 86 Prozent der Patienten sterben innerhalb von fünf Jahren nach der Diagnose (The Globocan Project 2012). Beginnt man eine Behandlung dagegen bereits im Frühstadium, steigt die 5-Jahres-Überlebensrate dramatisch: Anstelle von 20 Prozent überleben rund 70 Prozent der Patienten (Horvát et al. 2009). Lungenkrebs früher nachweisen zu können, ist daher ein Anliegen vieler Forschergruppen weltweit.

Chemische Spürnase gesucht

Tatsächlich macht er sich bereits früher bemerkbar, als man denkt, nämlich in der exhalierten Atemluft des Patienten. Bereits vor 30 Jahren fand man heraus, dass Hunde mit ihren feinen Riechorganen flüchtige Substanzen in der Atemluft von Krebspatienten mit erstaunlich hohen Trefferquoten erschnuppern können.

Die Leistung eines solchen tierischen Assistenten hängt unter anderem von seiner Tagesform ab. Klinische Diagnostik muss jedoch zu jeder Sekunde höchsten Anforderungen an Reproduzierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Zuverlässigkeit genügen. Bei Krebsverdacht fürchten Ärzte auch die falsch-positiven Befunde: Sie bedeuten immense psychische Belastungen, unnötige Bestrahlungen und riskante operative Eingriffe für den Patienten sowie überflüssige Kosten für das Gesundheitssystem. Während daher in den USA Frühtests mit Atemluft bereits routinemäßig bei Risikogruppen zur Anwendung kommen, sind sie in Europa jedoch aufgrund der hohen Rate falsch-positiver Befunde und ihrer relativ geringen Spezifität noch nicht in die klinischen Leitlinien aufgenommen worden (Horvát et al. 2009).

Vom Atemtest zum „Lungenabdruck“

Die Ausatemluft des Menschen ist zunächst ein stark verdünntes Gemisch aus flüchtigen und nicht-flüchtigen Substanzen. Das Bier vom Vorabend, körperliche Anstrengung, hormonelle Schwankungen, Infektionen – das alles kann sich in ihr niederschlagen. Welche Biomarker sind also dazu geeignet, den hohen wissenschaftlichen Anforderungen an eine verlässliche Diagnose zu genügen? Zahlreiche Studien haben sich bereits mit den flüchtigen Substanzen beschäftigt mit dem Ziel, einen Fingerabdruck – einen „Lungenabdruck“ – flüchtiger Substanzen zu erstellen, der sich zwischen Gesunden und Krebspatienten unterscheidet. Diese Methoden sind sehr empfindlich, haben aber auch Schwächen in Robustheit und Anwendbarkeit. Die Übertragbarkeit in den klinischen Alltag war eine Hürde, die es noch zu überwinden galt (Horvát et al. 2009).

In unserer Forschungsgruppe „Epigenetik des Lungenkrebs“, am MPI in Bad Nauheim, wurde ein anderer Weg verfolgt: die Analyse nicht-flüchtiger Substanzen. Diese finden sich im Atemluftkondensat. Dieses entsteht, wenn Probanden mehrere Minuten lang in eine gekühlte Kammer hineinatmen, in der die Luft und damit auch darin befindliche Moleküle kondensieren und gesammelt werden. Das Atemluftkondensat enthält zahlreiche Moleküle wie ATP, Botenstoffe, Peptide und sogar Gene. Wie diese Substanzen aus den Zellen in die Atemluft gelangen, ist noch unklar. Doch sie ergeben einen „Lungenabdruck“, der zum Teil direkt aus dem Stoffwechsel der Zelle stammt.

RNA-Moleküle als Biomarker

Unsere Überlegung zu Beginn war, dass Gene, die für die Embryonalentwicklung wichtig sind, auch in den Anfangsstadien von Lungentumoren eine Rolle spielen könnten (Mehta et al. 2016). Wir entschieden uns für zwei Gene: GATA6 and NKX2-1, Schlüsselregulatoren der Lungenentwicklung in der Maus. Diese Gene sind bei Maus und Mensch sehr ähnlich.

Untersuchungen an Gewebeproben aus der Lunge haben ergeben, dass Lungenkrebspatienten die Genprodukte von GATA6 und NKX2-1 anreichern, während diese in den Lungen gesunder erwachsener Menschen nicht aktiv sind. Als Nächstes haben wir die Genprodukte auch im Atemluftkondensat nachgewiesen.

Um unsere Ergebnisse abzusichern, haben wir die Daten aus der Atemluft mit denen aus dem Lungengewebe derselben Patienten verglichen und herausgefunden, dass sie weitgehend übereinstimmen. Was noch wichtiger war: Bei positiven Befunden klassischer Diagnosemethoden zum Nachweis von Lungenkrebs waren in allen untersuchten Fällen auch die Genprodukte von GATA6 and NKX2-1 erhöht.

Insgesamt betrug die Sensitivität des Tests 98,3 Prozent. Auch die Spezifität war mit einem Wert von 89,7 Prozent außerordentlich gut (Horváth et al. 2009). Das bedeutet eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit falsch-positiver Ergebnisse. Im Vergleich zu vorhergehenden Arbeiten, die auf der Analyse von Atemluftkondensat beruhten, finden sich oft Diskrepanzen. Ein Grund dürfte die hohe Verdünnung unserer Ausatemluft sein: Sie besteht zu 99 Prozent aus Wasser. Umso wichtiger sind genaueste und standardisierte Vorgehensweisen (Horváth et al. 2009). Deshalb haben wir die Standardprozedur von der Nahrungsaufnahme vor der Probenentnahme über die Dauer des Ausatmens, die Temperatur im Auffanggerät und die Probenlagerung bis hin zur eigentlichen Auswertung optimiert.

Der Weg zur klinischen Anwendung

Noch sind die Daten nicht ausreichend, um die Zuverlässigkeit unter klinischen Bedingungen sicher vorherzusagen. 2018 wurde eine klinische Studie unter Beteiligung von fünf Kohorten im Rahmen des Deutschen Zentrums für Lungenforschung gestartet. Zwei weitere klinische Studien in Deutschland und im Ausland werden zurzeit geplant. Die Ergebnisse sind vielversprechend – vor allem, weil mit dieser Untersuchung Lungenkrebs im frühen Stadium nachgewiesen werden konnte. Es liegt daher nahe, den Atemtest als zusätzliche Diagnosemaßnahme einzusetzen, zum Beispiel für das Screening von Risikopatienten (etwa Rauchern, bei erblicher Vorbelastung oder bereits bestehenden Lungenerkrankungen). Auch wäre der Test eine Alternative für Patienten, bei denen eine invasive Probenentnahme nicht möglich ist.

Unser Atemtest könnte in Zukunft eine wertvolle Ergänzung der herkömmlichen Diagnoseverfahren zur Erkennung von Lungentumoren sein: nicht-invasiv, zuverlässig, genau und kostengünstig. Mit seiner Hilfe wäre vor allem eine frühere Diagnose von Lungenkrebs möglich – und damit eine wesentlich höhere Überlebensrate.

Modifizierte Version eines unter dem Titel „Atemtest ermöglicht frühe Diagnose von Lungenkrebs“ im Jahrbuch 2018 der Max-Planck-Gesellschaft erstveröffentlichten Beitrags.

Literatur

Horváth I, Lázár Z, Gyulai N et al. (2009) Exhaled biomarkers in lung cancer. European Respiratory Journal 34, 261–275. DOI: 10.1183/09031936.00142508

Mehta A, Cordero J, Dobersch S et al. (2016) Non-invasive lung cancer diagnosis by detection of GATA6 and NKX2-1 isoforms in exhaled breath condensate. EMBO Molecular Medicine 8, 1380–1389. DOI: 10.15252/emmm.201606382

The Globocan Project (2012) URL: http://globocan.iarc.fr/Default.aspx (abgerufen am 18.03.2019)

PD Dr. rer. nat. Guillermo Barreto

Guillermo Barreto ist Molekularbiologe und derzeit Gruppenleiter der Arbeitsgruppe „Lung Cancer Epigenetic“ am Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung. Er interessiert sich für die Prozesse der Chromatin-vermittelten Transkriptionsregulation. Seine Forschungsaktivitäten konzentrieren sich auf epigenetische Mechanismen während der embryonalen Lungenentwicklung, die bei verschiedenen Lungenerkrankungen wie Lungenkrebs und Lungenfibrose rekapituliert werden. Er arbeitet basierend auf der Hypothese, dass Erkenntnisse über die Prozesse während der Embryonalentwicklung implementiert werden können, um die für diese Lungenerkrankungen verantwortlichen molekularen Mechanismen aufzuklären. Seine Arbeit führte zu neuartigen wissenschaftlichen Konzepten, die sich in mehreren wegweisenden Publikationen widerspiegeln. Guillermo Barreto hat auch Erfahrung in der Integration grundlegender Forschungsergebnisse zur epigenetischen Deregulierung in die Entwicklung von Diagnose- und Therapiestrategien, wie drei lizenzierte Patente mit umfassender klinischer Relevanz belegen. Als Mitglied des Deutschen Zentrums für Lungenforschung (DZL) und als Fakultätsmitglied des Exzellenzclusters Cardio Pulmonary System (ECCPS) und des Universitätsklinikums Universitäten Gießen und Marburg (UGMLC) engagiert er sich in deren Forschungsnetzwerken und trägt aktiv zu ihrer Weiterentwicklung bei.

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Netflix, Nudging, Netzwerke – Die Zukunft der Versorgung chronisch kranker Menschen

Jasper zu Putlitz

Chronische Erkrankungen fordern unser Gesundheitssystem

Chronische Erkrankungen sind eine der größten Herausforderungen für das Gesundheitssystem. Sie entziehen sich einer Behandlung, die unmittelbar auf Heilung und nachhaltige Beseitigung der Beschwerden abzielt. Gleichzeitig führen sie zu Folgeerkrankungen, an denen viele Patienten versterben. Die Kosten für das Gesundheitssystem sind immens.

Nach Expertenschätzungen werden heute 75 bis 80 Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen durch chronische Erkrankungen verursacht.

Viele chronische Erkrankungen sind hinsichtlich ihrer genauen Ursachen bis heute noch nicht vollständig erforscht, beispielsweise Alzheimer, Parkinson, Lupus Erythematodes, Morbus Crohn, Osteoarthritis, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Asthma und Multiple Sklerose. Für diese Erkrankungen existieren bisher keine auf die Beseitigung der Ursachen abzielende Therapien, lediglich Symptome oder das Voranschreiten können gemildert oder beseitigt werden. Eine Erwartung an die Zukunft ist, dass die Ursachen, die zu diesen komplexen Krankheitsbildern führen, aufgeklärt werden. Durch Einfluss genetischer Faktoren und Umweltfaktoren wird die Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen sehr komplex sein. Ein multidisziplinärer Therapieansatz ist erforderlich (Christensen et al. 2008). Das heißt: Ärzte und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen und Subspezialitäten müssen intensiv zusammenarbeiten, um den besten Diagnoseansatz und die bestgeeignete Therapie und Versorgung für den jeweiligen Patienten zu finden und umzusetzen.

Manche chronischen Erkrankungen sind hinsichtlich ihrer Ursachen besser (wenn auch noch nicht vollständig) erforscht. Dazu gehören Stoffwechsel-Erkrankungen wie Typ-1- und Typ-2-Diabetes, Hypercholesterinämie oder Hyperlipidämie, Infektionskrankheiten wie HIV/ AIDS (früher tödlich, heute oft chronisch) oder chronische Hepatitis B und Organerkrankungen wie die koronare Herzkrankheit oder Herzrhythmusstörungen. Für diese Erkrankungen existieren Therapiestandards. Manche dieser Erkrankungen sind inzwischen heilbar.

Dennoch stehen wir bei vielen chronischen Erkrankungen vor erheblichen Herausforderungen. Denn gerade die nicht übertragbaren Erkrankungen wie Diabetes mit Folgeerkrankungen, chronische Herzinsuffizienz und chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), auf die sich dieser Beitrag fokussiert, nehmen stark zu und haben sich zu einem wesentlichen Kostentreiber im Gesundheitswesen entwickelt. Fehlernährung, Übergewicht, Rauchen und übermäßiger Alkoholgenuss sind die Hauptrisikofaktoren. Bei den genannten Erkrankungen bestehen zwei besondere Herausforderungen:

Erstens treten Krankheitsfolgen meist erst mit erheblicher zeitlicher Latenz auf.

Zweitens ist der Verlauf sehr stark vom Verhalten des Patienten und seinem Umgang mit der Erkrankung und ihrer Therapie abhängig.

Dieser Beitrag will zeigen, wie sich die Versorgung von Menschen mit chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten in Zukunft verbessern kann. Dabei geht es hier nicht nur um Patienten, ihre Leiden und ihre dadurch eingeschränkte Lebenserwartung. Eine deutliche Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Menschen ist ein Imperativ für die Medizin im 21. Jahrhundert, denn die finanzielle Belastung für Gesundheitssysteme in der westlichen Welt (beispielsweise Europa, USA), zunehmend aber auch für die Versorgung in Ländern wie China und Indien (The Economist 2018), ist immens. Wenn die Versorgung chronisch kranker Menschen in Zukunft nicht fundamental verbessert wird, gerät die Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitssysteme an ihre Grenzen – schneller als wir denken.

Chronisch Kranke werden mit ihren Problemen heute oft alleingelassen

Bei Martin S., einem 57-jährigen Familienvater und Buchhalter eines kommunalen Entsorgungsunternehmens wird im Rahmen einer Routineuntersuchung ein erhöhter Blutzuckerwert festgestellt. Die weitere Abklärung bestätigt die Diagnose eines manifesten Typ-2-Diabetes. Zudem fallen erhöhte Blutdruckwerte auf. Wie lange Diabetes und Hypertonie schon bestehen, ist nicht bekannt. Vor 4 Jahren hatte Martin S. mit dem Rauchen aufgehört, vorher hatte er seit seinem 18. Lebensjahr 1–2 Packungen pro Tag geraucht. Der aktuell bestimmte HbA1c-Wert, ein Marker für chronisch erhöhte Blutzuckerwerte, ergibt einen deutlich erhöhten Wert, was auf eine länger andauernde diabetische Stoffwechsellage hindeutet. Martin S. hatte über die letzten Jahre hinweg kontinuierlich Gewicht zugenommen, bei einer Größe von 1,78 m wiegt er aktuell 89 kg und weist damit einen Body-Mass-Index von 28 auf. Sein Hausarzt verordnet ihm ein orales Antidiabetikum und einen Blutdrucksenker und empfiehlt mehr Bewegung und eine Ernährungsberatung. In 3 Monaten soll Martin S. sich wieder zur Kontrolle vorstellen. Beschwerden hat Martin S. nicht. Die Medikamente nimmt er ein, zur Ernährungsberatung geht er, aber die dort vermittelten Vorschläge für die Umstellung der Ernährung findet er nicht besonders praktikabel, sie scheinen nicht zu seinem von ihm als „stressig“ empfundenen Berufsalltag zu passen. Er stellt seine Ernährung folglich nicht um. Seiner Frau erzählt er nur von der Diagnose, praktische Implikationen jenseits der neu einzunehmenden Medikamente und „dass man bei der Ernährung ein bisschen aufpassen müsse“ werden nicht besprochen. Mehr Bewegung im Alltag setzt er ebenfalls kaum um, ab und zu nimmt er jetzt an seinem Arbeitsplatz im Bürogebäude die Treppe. Im Wesentlichen geht alles weiter wie bisher. Nach 3 Monaten wird der HbA1c-Wert kontrolliert, er ist weiterhin zu hoch. Der Hausarzt steigert die Dosis des oralen Antidiabetikums. Als nach weiteren 3 Monaten immer noch keine Verbesserung eintritt, verordnet der Hausarzt zusätzlich Insulin. Damit verbessern sich die Blutzuckerwerte vorübergehend etwas. Martin S. führt die medikamentöse Therapie fort.

7 Jahre später: Martin S., jetzt 64 Jahre alt, hat das Angebot seines Arbeitgebers, sich vorzeitig pensionieren zu lassen, angenommen. Er hat weiterhin starkes Übergewicht. In letzter Zeit empfindet er Kurzatmigkeit. Sein Hausarzt untersucht ihn und überweist ihn zum Kardiologen. Der stellt eine Herzinsuffizienz fest und beginnt eine medikamentöse Therapie. Damit geht es Martin S. besser. Vor kurzem hatte er nachts große Atemnot, seine Frau fuhr ihn in die Notaufnahme des nahegelegenen Krankenhauses, wo er medikamentös stabilisiert und zur Beobachtung stationär aufgenommen wurde. Seine Diabetes-Medikation wurde im Rahmen des stationären Aufenthaltes umgestellt, da die Blutzuckerwerte auffallend hoch waren. Nach mehreren Tagen Krankenhausaufenthalt wird Martin S. entlassen, versehen mit dem Hinweis, dass er sein Gewicht täglich messen und nachts mit erhöhtem Oberkörper schlafen solle. Martin S. schreibt fortan seine Gewichtswerte in sein Diabetiker-Tagebuch neben die Blutzuckerwerte – das Buch zeigt er seinem Hausarzt alle drei bis vier Wochen beim Arztbesuch. Dieser wirft einen kurzen Blick auf die Werte, untersucht ihn körperlich, misst die relevanten Laborwerte und trägt sie in sein Praxisverwaltungssystem ein.

Zukünftig starke Zunahme chronischer Erkrankungen – Eine Kostenwelle rollt auf uns zu

Martin S. ist kein Einzelfall. In Deutschland und weltweit gibt es Millionen von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zudem steigen die Zahl der Erkrankten und die Kosten seit Jahren stark an, wie am Beispiel von drei wichtigen chronischen Erkrankungen verdeutlicht wird:

Chronische Herzinsuffizienz (CHF): In Deutschland leben geschätzt mindestens 3,5 Millionen Menschen mit CHF (Tiller et al. 2013; Stork et al. 2017), davon sind ca. 2,6 Millionen diagnostiziert. Jedes Jahr kommen schätzungsweise 275.000 Personen hinzu (Nationale Versorgungsleitlinie Chronische Herzinsuffizienz 2017). Die Erkrankungshäufigkeit der Herzinsuffizienz nimmt seit Jahren zu, sie ist die inzwischen häufigste Einzeldiagnose von vollstationär behandelten Patienten (Deutscher Herzbericht 2017). 2016 wurden knapp 430.000 Patienten in Deutschland mit Hauptdiagnose Herzinsuffizienz stationär versorgt. Knapp 50.000 Patienten verstarben (Deutscher Herzbericht 2017). CHF und Folgeerkrankungen verursachen in Deutschland direkte Kosten von mindestens 5 Mrd. EUR im Jahr1. Weltweit sind mindestens 26 Millionen Menschen von Herzinsuffizienz betroffen (Savarese u. Lund 2017). Die weltweiten jährlichen Gesamtkosten werden auf knapp 110 Mrd. US-Dollar geschätzt (Cook et al. 2014).

Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD): In Deutschland leben mindestens 7 Millionen Menschen mit COPD, davon sind ca. 4 Millionen diagnostiziert. Jährlich kommen etwa 50.000 Menschen hinzu. Für 2030 wird mit ca. 8 Millionen Personen gerechnet, die an einer COPD leiden. Weltweit leben schätzungsweise 250–400 Millionen Menschen mit COPD. 3,2 Millionen Menschen starben 2015 weltweit an den Folgen. Achtmal mehr Menschen sterben an COPD im Vergleich zu Asthma (GBD Chronic Respiratory Disease Collaborators 2017). Der Großteil der COPD-Fälle ist durch Rauchen verursacht. COPD und Folgeerkrankungen verursachen in Deutschland direkte Kosten von mindestens 14 Mrd. EUR im Jahr (Aumann u. Prenzler 2013; Wacker et al. 2016). Nach aktuellen Schätzungen der WHO wird die COPD bis zum Jahr 2050 zur weltweit dritthäufigsten erkrankungsbedingten Todesursache.

Diabetes mellitus: In Deutschland leben mindestens 6,5 Millionen Menschen mit einem diagnostizierten Diabetes mellitus. Jährlich werden im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) etwa 500.000 Menschen neu diagnostiziert (Deutsche Diabetes Gesellschaft 2018). Etwa 95 Prozent der Patienten sind an Typ-2-Diabetes erkrankt, der oft viele Jahre zu spät diagnostiziert und durch Fehlernährung, Bewegungsmangel und genetische Prädisposition begünstigt wird. Diabetes und seine Begleit- und Folgekrankheiten verursachen jährlich Kosten von rund 35 Mrd. EUR für Behandlung, Pflege, Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung (Deutsche Diabetes Gesellschaft 2017) – Tendenz steigend. Etwa 80 Prozent dieser Kosten entstehen jedoch nicht durch die Diabetestherapie selbst, sondern durch die Folgen eines schlecht eingestellten Diabetes und der daraus resultierenden Begleit- und Folgeerkrankungen. Übergewicht (Body-Mass-Index [BMI] ˃ 25) und Fettleibigkeit (BMI ˃ 30) als wesentlicher Diabetes-Risikofaktor nehmen stark zu. Laut WHO waren 2016 in Deutschland 65 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen übergewichtig. Diabetes ist ein globales Gesundheitsproblem. Nach aktuellen Schätzungen lebten 2017 weltweit ca. 450 Millionen erwachsene Menschen mit Diabetes, 2045 sollen es knapp 700 Millionen sein. Hinzu kommen ca. 380 Millionen Personen mit gestörter Glukosetoleranz. Die globalen Kosten für die Versorgung von Diabeteskranken wurden für das Jahr 2017 auf 850 Mrd. US-Dollar geschätzt (Cho et al. 2018).

Bedeutsam werden die Zahlen, wenn man sich vor Augen hält, dass viele Menschen – so wie Martin S. – von mehr als einer chronischen Erkrankung betroffen sind (Ward et al. 2014). Komorbiditäten erhöhen das Risiko von Komplikationen. Auf der Welt gibt es mehr als eine Milliarde Menschen mit schlecht eingestelltem Bluthochdruck (NCD Risk Factor Collaboration 2017), viele davon wissen nicht von ihrem Zustand. Kommen manifeste Erkrankungen hinzu, sind Krankenhausaufenthalte und eine verkürzte Lebenserwartung die häufige Folge. Besonders schwerwiegend ist die Kombination somatischer chronischer Erkrankungen mit psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen (Maske et al. 2013). Hier erschwert oder verhindert der psychische Zustand des Patienten oft die zielgerichtete Therapie bzw. Prävention. Aus Studien ist bekannt, dass Patienten mit psychischen Erkrankungen ein erhöhtes Risiko haben, Komplikationen ihrer chronischen Erkrankungen zu entwickeln. Folglich sind die spezifischen Krankheits- und Versorgungskosten dieser Patientengruppe deutlich höher als bei psychisch gesunden Chronikern (Egede et al. 2014; Egede et al. 2015; Hutter et al. 2010).

Bisherige Lösungsansätze für die Versorgung chronisch kranker Patienten reichen nicht aus

Das Beispiel Martin S. zeigt: Für die Versorgung von Patienten mit chronischen Erkrankungen bestehen heute mehrere wesentliche Herausforderungen:

Krankheitsfolgen entstehen mit großer zeitlicher Latenz: Chronische Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Chronische Herzinsuffizienz, COPD, Hypertonie, Asthma und Depression entwickeln ihre oft die Lebenszeit und Lebensqualität reduzierenden Folgen und Komplikationen mit großer zeitlicher Latenz. Dies verhindert eine frühzeitige Entdeckung sowie die klare Bewusstseinsbildung beim Patienten und seinem Umfeld im Hinblick auf einen konsequenten und stringenten Umgang mit Risikofaktoren und später mit der Erkrankung. Die Menschen haben bereits in dieser Phase zu wenig Wissen und kaum einen Anreiz, potenziell gesundheitsschädliches Verhalten abzustellen. Auch später fehlen oft zielgerichtete Anreize, Patienten für das Selbstmanagement ihrer Erkrankung zu motivieren.

Späte oder fehlende Diagnose: Die meisten Patienten werden zu spät oder gar nicht diagnostiziert – Konsequenz der großen zeitlichen Latenz. Risikofaktoren werden nicht systematisch erfasst und sind oft noch nicht ausreichend deutbar. Das gilt zumal für die mehr als 5.000 seltenen chronischen Erkrankungen, die oft unheilbar sind (ACHSE-Broschüre 2014). In einer retrospektiven Studie mit knapp 40.000 COPD-Patienten in England wurde bei 85 Prozent der Patienten im 5-Jahres-Intervall unmittelbar vor der COPD-Diagnose eine Chance auf die Diagnose verpasst (Jones et al. 2014). Allerdings fehlt oft auch das Bewusstsein für die Risiken. Bei einer Befragung von 1.000 Personen in Dänemark waren 28 Prozent der untersuchten knapp 200 Raucher der Auffassung, dass COPD keine tödliche Erkrankung ist (Sikjaer et al. 2018). In Deutschland wird für Typ-2-Diabetes eine „Dunkelziffer“ von 2 Millionen Personen angenommen (Deutsche Diabetes Gesellschaft 2018; Tamayo et al. 2014).

Diagnose und Therapieverordnung reicht für effektive Behandlung nicht aus: Für chronisch Erkrankte ist die Diagnose und die Verordnung einer Therapie nur der Anfang. Dauerhafte Therapieadhärenz und oft als unangenehm empfundene Verhaltensänderungen sind die großen, permanenten Herausforderungen, denen sie sich tagtäglich bis an das Ende ihres Lebens stellen müssen. Chronische Erkrankungen hängen auch mit einem geringen Bildungsstandard zusammen, bei sozial schwächeren Menschen kommen sie häufiger vor.

Objektive Verschlechterungen werden vom Patienten und seinem Umfeld oft nicht erkannt oder falsch gedeutet: Treten Symptome einer chronischen Erkrankung auf, markiert das oft das Ende einer langanhaltenden Entwicklung bzw. Verschlechterung, die vom Patienten und seinem Umfeld bisher subjektiv gar nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen wurde. Konsequenz sind ungeplante Krankenhausaufenthalte oft via Notaufnahme, wie bei Martin S. Oft kommen die Patienten auch kurze Zeit nach Entlassung wieder ins Krankenhaus (sog. „frequent flyer“).

Gesundheitsversorgungssystem bietet die falschen Anreize: Unser heutiges Versorgungssystem ist noch zu sehr auf die Akutversorgung, auf Diagnose und das Verschreiben einer Therapie ausgerichtet – für Adhärenz-Monitoring und das Erlernen von Verhaltensänderungen gibt es im heutigen System nur wenig oder gar keine Erstattung durch die Kostenträger (Christensen 2008; Gerlach et al. 2018).

Ausrichtung des Gesundheitsversorgungssystems ist zu wenig multidisziplinär und intersektoral: