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Der Roman handelt von zwei alten Männern, den unverheirateten Zwillingen Peter und Paul Witt, die über Jahrzehnte hinweg nach außen hin stets mit einer Meinung aufgetreten sind bis sie sich 2020 über die Coronamaßnahmen zerstritten haben. Als deren Neffe von einem Bestatter erfährt, dass dieser aus Portugal Totenscheine und Urnen mit der Asche der beiden Zwillinge erhalten hat, wendet er sich an den pensionierten Polizisten Nottebrook mit der Bitte, die Umstände des Todes, vor allem aber den Charakter des Streites der beiden genauer zu untersuchen. Schnell wird klar, dass beide Zwillinge in der Coronazeit kaum noch miteinander gesprochen haben. Stattdessen kommunizierten sie über ein System von Karteikarten, die zumindest einer von beiden aufbewahrt hat. Diese Karten zeichnen ein deutliches Bild des Konfliktes zwischen den Brüdern, der manchmal heftig und unversöhnlich erscheint, sich später aber immer häufiger zu einem Versuch, den anderen zu überzeugen und vielleicht sogar zu verstehen übergeht – was aber allenfalls ansatzweise gelingt. Dazwischen scheinen Alltagsprobleme auf, zum Beispiel während der Toilettenpapierkrise, aber es kommt auch immer wieder zu heftigen Anfeindungen. Und es wird klar, dass die lebenslange Einigkeit der beiden kein genetischer Effekt ihres Zwillingsdaseins war, sondern immer wieder das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung zwischen den beiden um 'richtig' und 'falsch'. Bei diesem Ringen um die Wahrheit scheiterten sie nun in der Coronazeit. Am Ende kann der Ermittler zwar die zwielichtigen Umstände des Zustandekommens der beiden Urnen und Totenscheine in Portugal aufklären, aber wie der Konflikt zwischen den Zwillingen ausging, haben die beiden vor ihrem Tod offenbar verschleiert. Es wirkt fast, als hätten sie vier verschiedene Enden für ihre Geschichte entwickelt, je eines für die Befürworter und die Gegner der Maßnahmen, aber auch eine für diejenige, die Verständnis für beide Seiten hatten und sogar eine für die, die beide Seiten für Spinner hielten.
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bernd Dieter Schlange
Die Zwietracht
in der Coronazeit
Das Zerwürfnis eines Zwillingspaarsam Ende seiner Tage
© 2025 Bernd Dieter Schlange
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:
Bernd Dieter Schlange, Erich-Ziegel-Ring 26, 22309 Hamburg, Germany .Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Dialoge
Geschichten
Nottebrooks Wohnung
[email protected] an [email protected]
[email protected] an [email protected]
[email protected] an [email protected]
Nottebrooks Wohnung
Nottebrooks Wohnung
Horner Rampe
Im Hamburger Stadtpark
Zwillingshaus an der Horner Rampe
[email protected] an [email protected]
Nottebrooks Wohnung
[email protected] an [email protected]
Wittsche Wohnung in Boberg
Am Telefon
Wittsche Wohnung in Boberg
[email protected] an [email protected]
Nottebrooks Wohnung
Am Telefon
Nottebrooks Wohnung
Nottebrooks Wohnung
Am Telefon
Im Restaurant
Gemeindehaus Horn
Zwillingshaus an der Horner Rampe
Nottebrooks Wohnung
[email protected] an [email protected]
Nottebrooks Wohnung
Arztpraxis an der Horner Landstraße
Nottebrooks Wohnung
Auf der Fähre nach Finkenwerder
Nottebrooks Wohnung
Taxi vom Flughafen nach Steilshoop
Horner Rampe, Haus der Zwillinge, am Pult
Horner Rampe, Haus der Zwillinge, Erdgeschoss und Garten
An der Bille
Nottebrooks Wohnung
Horner Rampe, Haus der Zwillinge, am Pult
Horner Rampe, Garten der Zwillinge
Horner Rampe, Haus der Zwillinge, Erdgeschoss
Nottebrooks Wohnung
Flughafen Humberto Delgado / Joãos Wohnung
Deutsche evangelische Kirche in Lissabon
Kirche und Bar in Galamares
Adega das Azenhas
Auf dem Weg zu und in der Wohnung von Christine Müller
Zwillingshaus an der Horner Rampe
Bohinjska Bistrica
Im Bus nach Bled und am Bleder See
Restaurant in Bohinjska Bistrica
Im Bus nach Ljubljana
Ljubljana, Žale
Ljubljana, Tromostovje
Im Bus nach Bistrica
Anmerkungen
Danksagungen
Drosten hat die Gefährlichkeit von Corona ausreichend bewiesen.57
Walter liegt mit Corona im Bett und es ist furchtbar.59
Du sollst nicht mit den Kindern auf der Straße reden!60
Haben die Bilder aus Italien Dich jetzt zur Vernunft gebracht?61
Das Klopapier fehlt63
Du läufst immer noch mit dieser Filtertüte am Gummiband herum,93
Fühlst Du Dich jetzt auch wie die Geschwister Scholl?94
Jetzt ist Kuddl nicht mehr.94
Bill Gates war gestern in der Tagesschau97
Jetzt seid Ihr völlig durchgedreht.115
Du bist ohne Maske auf die Straße gegangen. Nächstes Mal rufe ich die Polizei.117
Hast Du die Berichte aus den schwedischen Pflegeheimen gelesen?117
Hast Du immer noch keine Corona-App?122
Jetzt stürmt Ihr also den Reichstag124
Endlich gibt es einen Impfstoff! - Wir sind gerettet158
Jetzt glaubt Ihr also, in der Spritze ist ein Chip161
Jetzt haben wir seit Wochen die 2G-Regel.177
Heute ist ein Feiertag, die Vernunft hat gesiegt.181
Ich habe heute mit Marianne gesprochen,181
Das RKI hat die Protokolle übergeben194
Für wen gräbst Du das Loch hinten im Garten?195
Die Amsel vor meinem Haus138
Eineiig uneinig139
Wir verkaufen nichts141
Die Amsel und der Gartenstuhl143
Was ist Solidarität146
Die Gattin200
Der Angestellte202
Kindheitstage204
Sommerabend209
Paul der Nachbar210
Die letzten Tage der Zwillinge212
Margot Eggers215
Hauke Hein219
Dr. Adler222
Michel Martens und Nico Köhler226
Einige Nachbarn227
Walter Gross235
Noch ein paar Nachbarn237
Die Walz254
Ein Held259
Gemüse aus Ochsenwerder259
Der Zoobesuch262
Der ‚Prosaische Greis‘265
Freund Hein und die Statistik267
Die Friedensstifter273
Einige Nachbarn279
Alf Rehkopf282
Lothar Quast und Volker Kraushaar284
Marianne Schneider290
Margot Eggers und die Zwillinge – erste Möglichkeit334
Margot Eggers und die Zwillinge – zweite Möglichkeit342
Tante Margot und die Zwillinge – dritte Möglichkeit350
Der Abschiedsbrief359
Die Witts waren ein Paar in Nottebrooks Alter, wahrscheinlich ein paar Jahre jünger, jedenfalls um die 60. Er führte sie in sein Wohnzimmer.
„Kaffee, Tee, was kann ich Ihnen anbieten?“
„Danke, im Moment nichts.“
Herr Witt war weniger bescheiden: „Wenn ich einen Kaffee bekommen könnte?“
So dauerte es noch ungefähr zehn Minuten, ehe das Gespräch langsam in Gang kam.
„Mein Kollege Rodrigues hat Ihnen empfohlen, sich an mich zu wenden, darüber hat er mich informiert. So ganz weiß ich nicht, worum es geht. Senhor Rodrigues hat da eine etwas verwirrende Geschichte erzählt. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Asche Ihres Onkels verschwunden?“
„Nein, die Asche nicht, die haben wir, also ein Bestatter hier in Hamburg. Und die Totenscheine…“
„Totenscheine, wieso gibt es für Ihren Onkel mehrere Totenscheine?“
„Wir haben zwei Onkel.“
„Hatten“, warf Herr Witt ein.
„Ja, oder einen, der verstorben ist, und einen der verschwunden ist.“
„Und wieso haben Sie dann zwei Totenscheine?“
„Von jedem Arzt einen, vielleicht für denselben Onkel, aber vielleicht sind ja doch beide gestorben.“
„Jetzt mal von Anfang an, Ihr Onkel war auf Urlaub in Portugal, in Sintra, habe ich Senhor Rodrigues da richtig verstanden?“
„Ja, beide. Oder doch nur einer.“
„Die beiden sind oder waren Brüder?“
„Zwillingsbrüder, eineiige Zwillingsbrüder, deshalb ja die Zweifel.“
„Und einer von denen war in Portugal oder beide, aber das wissen Sie nicht so genau?“
Hier übernahm Frau Witt die Gesprächsführung.
„Das ist ja genau die Frage, eine von den vielen Fragen. Die sind zusammen nach Portugal gefahren mit der Bahn. Jedenfalls hatten sie beide Fahrkarten und Reservierungen.“
„Warum mit der Bahn, hatten die Flugangst, oder Flugscham, oder irgend so etwas? Also wissen Sie, warum mit der Bahn?“
„Das wissen wir nicht. Jedenfalls mussten sie da nicht einchecken, wir wissen also nicht sicher, ob sie zu zweit gefahren sind oder nur einer mit zwei Fahrkarten. Am Flughafen wären sie ja genauer kontrolliert worden, also, wenn einer sich da für zwei ausgegeben hätte, wäre das schiefgegangen.“
„Haben Ihre Onkel denn nicht mit Ihnen gesprochen, bevor sie reisten?“
Frau Witt überlegte, wie sie das erklären sollte, jetzt sprang ihr Mann ein:
„Also, die beiden sind nicht nur Zwillingsbrüder, sondern die waren bis vor vier Jahren ganz eng miteinander, traten fast nie alleine auf. Haben sich immer die gleiche Kleidung gekauft und gleichzeitig getragen, sie haben außerdem gelernt, die Handschrift des jeweils anderen nachzumachen. Sie haben sich alles in allem sehr bemüht, verwechselt zu werden, obwohl zumindest meine Mutter, die ja ihre ältere Schwester war, sie immer unterscheiden konnte. Aber da war sie nach meiner Erinnerung die einzige.“
„Wie alt waren oder sind die beiden?“
„91.“
„Und bis vor vier Jahren sind sie immer zusammen aufgetreten?“
„Ja, sie wohnten in einem Haus, also auch danach noch, bis zuletzt, einer im Erdgeschoss, einer im ersten Stock. Da waren zwei Klingeln am Haus, für Paul Witt und Peter Witt, aber von Zeit zu Zeit machten sie sich einen Spaß daraus, die Schilder auszuwechseln. Und sie haben ja über Jahre zusammen einen Laden betrieben, da war diese doppelte Person eine Attraktion, sonst hätte sich der Haushaltswarenladen vielleicht gar nicht so lange gehalten. Naja, er war gut sortiert, aber das waren andere auch.“
„Und seit vier Jahren sind sie dann nicht mehr zusammen aufgetreten?“
„Das begann mit der Coronageschichte, da haben sie völlig entgegengesetzt reagiert, und das schlug in echte Feindschaft um.“
Hier mischte Frau Witt sich wieder ein: „Die beiden waren schon, solange ich sie kenne, also seit mehr als 40 Jahren, gelegentlich – aber wirklich nur gelegentlich – etwas streitsüchtig, wenn sie von etwas 120%ig überzeugt waren. Aber sie waren bis dahin halt immer einer Meinung gewesen, jedenfalls hab ich da nichts anderes erlebt. Und dann kam es zu diesem Streit, sie waren einander plötzlich spinnefeind, ich kann mal ein Beispiel erzählen…“
Nottebrook unterbrach sie: „Das interessiert mich zwar, aber erstmal will ich sehen, wieso nicht klar ist, ob da einer gestorben ist oder beide. Wie war denn Ihr Kontakt zu den beiden?“
„Gut“, antwortete Herr Witt, „bis vor vier Jahren, wir haben die zwei fast jede Woche besucht, und es war immer ein Vergnügen…“
„Wenn die beiden nicht gerade wieder eine fixe Idee hatten, mit der sie die Welt retten wollten. Dann konnten sie einem verdammt auf die Nerven gehen“, warf Frau Witt ein.
„Gut, in den letzten Jahren, seit sie ihr Geschäft aufgegeben hatten, war das so, aber vorher…“
„Vorher auch, nur waren sie dann bei der nächsten Begegnung mit der jeweiligen Idee durch. Aber seit der Geschäftsaufgabe konnten sie sich an einem Thema wochenlang festhalten.“
„Entschuldigung.“ Nottebrook interessierte das alles, und er ahnte schon, dass er da noch eine ganze Menge würde hören müssen, aber jetzt wollte er erst einmal zur Sache kommen. „Wie war denn der Kontakt ist den letzten vier Jahren?“
„Fast eingeschlafen. Onkel Paul verlangte ja, dass niemand zu Besuch kam, auch keine Verwandten, damit er kein Corona bekommt. Und Onkel Peter hat dann jeden Besuch als Provokation gestaltet, da legte man dann im Flur seinen Mantel ab und Onkel Peter schrie die Treppe hoch: ‚Martin ist da, Paul, versteck dich, damit du nicht stirbst.‘ Und Onkel Paul brüllte von oben zurück, dass ich sofort gehen solle, ich hätte hier nichts zu suchen.“
Frau Witt übernahm: „Und wenn man dann vorschlug, dass wir einfach rausgehen sollten, irgendwohin, in das Lieblingscafé der beiden zum Beispiel, dann erklärte Onkel Peter hochaggressiv, er lasse sich von Onkel Paul nicht aus seinem Haus vertreiben.“
„Konnte man denn da noch in ein Café gehen?“
„Naja, während der Lockdowns hatten wir den Kontakt schon weitgehend abgebrochen.“
„Telefoniert haben wir noch, Martin mit Onkel Paul und ich mit Onkel Peter.“
„Stimmt, so konnten wir immer sagen, sie hätten recht, und Anke war ja sowieso eher auf Onkel Peters Seite.“
„Hehe, ich war da sicher in vielem anderer Meinung als du. Trotzdem habe ich oft genug gesagt, dass ich diese extremen Ansichten von Onkel Peter nicht teile.“
„Jedenfalls hast du dich nicht impfen lassen.“
„Jedenfalls hast du dich nach deiner Impfung fünf Tage von mir pflegen lassen.“
Einen Moment roch es in Nottebrooks Wohnung nach Streit, dann brachen die beiden in Gelächter aus und küssten sich flüchtig, aber zärtlich.
Herr Witt sagte dann: „Die beiden haben einfach gar nicht mehr miteinander geredet und, was sie am Telefon erzählten, war… – naja, das wollte man nicht hören, ich hab dann immer zu allem einfach ja gesagt, was Onkel Paul sagte, egal, was ich davon hielt.“
„Und ich hab es mit Onkel Peter genauso gehalten, da war so viel Hass, ich hab nachher nur noch alle paar Wochen angerufen und Martin hat das genauso gehalten.“
„Ihre Onkels haben nicht angerufen?“
„Dauernd, aber zum Glück mit Rufnummernanzeige, da sind wir dann nicht rangegangen, schon damit nicht der Falsche rangeht. Ich glaube, wenn ich da plötzlich Onkel Paul am Apparat gehabt hätte, wäre es eine Katastrophe geworden. Die beiden benutzten ja fast nur ihr gemeinsames Festnetztelefon, das haben sie die ganze Zeit nicht geändert. Wenn sie mit dem Handy anriefen, dann war es einfacher.“
„Und wie haben sie es dann geschafft, beim Anrufen jeweils den richtigen Onkel zu erwischen?“
„Da haben wir einfach auf dem Handy angerufen. Aber wie gesagt, am Ende waren das noch wenige Telefonate.“
„Aber wenn die so verfeindet waren, wieso sind die dann plötzlich zusammen nach Portugal gefahren?“
„Das haben wir uns auch gefragt. Da kamen dann zwei Karten, eine von Onkel Paul an Martin und eine von Onkel Peter an mich. Beide schrieben, dass sie sich jetzt wieder vertragen und dass sie zusammen nach Portugal fahren, danach würden sie uns zu ihrem Geburtstag einladen.“
„Das mit dem Geburtstag kam von Onkel Peter, Onkel Paul kündigte an, uns zu einer gemeinsamen Reise nach Baltrum einzuladen, eine etwas zwiespältige Perspektive, aber da sie sich jetzt wieder vertrugen… – aber das war ja noch hin.“
„Und dann?“
„Dann kam vier Wochen später eine gemeinsame Karte aus Sintra und noch mal sechs Wochen später die Todesnachricht.“ Martin Witt verstummte.
Anke Witt übernahm: „Ja, erst die Nachricht vom Bestatter gleich mit den Totenscheinen. Wir mussten das hier ja erstmal übersetzen lassen und so weiter und dann war da die Geschichte mit den beiden Urnen mit der Asche.“
„Woran sind die beiden gestorben?“
„Herzinfarkt“
„Onkel Peter oder Onkel Paul?“
„Beide“
„Wann?“
„Vor zwei Monaten.“
„Gleichzeitig? Ist sowas bei Zwillingsbrüdern normal?“
„Nein, und schon gar nicht, dass sie sich beide vier Wochen vor ihrem Tod einen Arm gebrochen haben, auch am gleichen Tag. Hat Herr Rodrigues rausbekommen, als er mit den Ärzten gesprochen hat.“
„Hatten sie verschiedene Ärzte?“
„Ja.“
„Und nun?“
„Irgendwas stimmt da nicht und wir möchten gerne wissen, was.“
„Martin, ich denke immer noch, wir bilden uns da was ein.“ Und dann, zu Nottebrook: „Sicher bin ich da aber eben auch nicht.“
„Wissen Sie was, ich kann mal mit meinem Freund João Rodrigues telefonieren, was der meint, und Ihnen dann sagen, was ich von der Geschichte halte, aber wenn ich dann gründlicher recherchieren soll, dann müssten Sie mir schon die Spesen erstatten und auch ein wenig meinen Zeitaufwand.“
„Das ist klar. Herr Nottebrook, wir haben einerseits nicht viel Geld, aber andererseits wohl doch, wenn wir jetzt unsere beiden Onkel beerben. Insofern können wir uns da sicher einigen.“
„Gut, aber ich denke, wir warten erst mal ab, was ich von João Rodrigues erfahre.“
k.
an
Lieber João,
Du hattest mir ja kurz erzählt, worum es bei den Witts ging, aber so richtig bin ich nicht schlau geworden aus dem, was sie mir erzählt haben.
Das heißt, verstanden habe ich das schon, aber irgendwie scheint es mir nicht richtig glaubwürdig. Falls es doch so ist wie geschildert, dann ist wohl nur ein Onkel gestorben, aber sie haben die Sterbeurkunde und die Asche von beiden bekommen. Falls das so hingedreht wurde, ist es natürlich ein Skandal, und dann verstehe ich, warum wir dem nachgehen sollten. Aber eigentlich wäre das dann doch eine Angelegenheit für die Polizei und nicht für pensionierte Polizisten, die sich ein wenig die Alterslangeweile vertreiben und dabei auch noch Geld verdienen wollen. Wobei ich mich nebenbei bemerkt weder langweile noch am Hungertuch nage.
Aber da Du ja vor Ort etwas mehr erfahren hast, schick mir doch einfach mal eine mail mit den wesentlichen Informationen oder ruf mich an, vielleicht liege ich ja falsch.
Und schreib doch mal, wie es Dir in Deiner neuen Wohnung geht.
Viele Grüße,
Klaus
an k.
Olá Klaus,
ich schreibe Dir, damit ich beim Telefonieren nichts vergesse. Und ich kann beim Aufschreiben auch meine bisherigen Erkenntnisse strukturieren. Das habe ich nämlich noch nicht getan.
Aber vorher möchte ich zwei Meinungen mitteilen: Du hast recht, dass wir uns nicht darum kümmern sollten. Du hast aber auch nicht recht, dass sich die Polizei darum kümmern sollte.
Ich schreibe Dir als Erstes, wie die Witts an mich geraten sind. Habe ich Dir schon erzählt, dass sie nach dem Tod ihrer Onkeln (oder wie ist der Plural von Onkel?) hierhergekommen sind, also nicht direkt nach Sintra, sondern unten ans Meer an die Praia das Maçãs. Und zwar um noch einmal zu sehen, wo ihre Verwandten ihre letzten zwei Lebensmonate verbracht haben.
Dabei haben sie auch die Wohnung der beiden besucht und sie waren etwas erstaunt, dass es nur ein Schlafzimmer gab. Es gab auch ein Wohnzimmer, aber ohne Schlafgelegenheit. Das passte nicht, denn so eng die beiden Onkeln miteinander waren, so sehr legte doch jeder der beiden Wert auf einen vollständigen eigenen Wohnbereich.
Vom Vermieter der Wohnung, Senhor Barbosa, erfuhren sie dann, dass er eigentlich immer nur einen Onkel gesehen hatte. Der Onkel hatte sich einfach P. Witt genannt, auch in allen Unterschriften. Und so genau nahm Senhor Barbosa es nicht, dass er den vollständigen Vornamen verlangt hätte. Vom Tod der beiden hatte er erst erfahren, als die Leichen bereits abtransportiert waren.
Jedenfalls waren Herr und Frau Witt etwas irritiert und wollten zur Polizei gehen. Dort sagte man ihnen allerdings, dass doch alles klar sei: Zwei Totenscheine, zwei Leichen, wenn man dem Bestatter glauben durfte, und keine Geheimnisse.
Die beiden sind dann noch mal zu Senhor Barbosa gegangen und der riet ihnen, die Sache doch auf sich beruhen zu lassen. Falls einer der beiden Onkeln in Wahrheit lebendig wäre, würde er bestimmt irgendwann auftauchen, falls er nicht alle Brücken hinter sich zerstören wolle. (Sagt man das so, ich glaube, da war statt ‚zerstören‘ ein anderes Wort?) Aber das kommt bei einem 91-Jährigen wohl eher selten vor.
Die beiden Witts waren trotzdem nicht zufrieden. Am nächsten Tag beim Mittagessen berichtete Barbosa von der Geschichte. Dort aß auch ein alter Freund von mir. Der hat Senhor Barbosa dann meine Adresse gegeben, Senhor Barbosa hat sie den jungen Witts gegeben und die haben sich darauf bei mir gemeldet.
Ich hab dann mit Senhor Barbosa gesprochen, der hatte inzwischen über die Geschichte geredet und da sah es dann so aus, dass eigentlich niemand die beiden Onkeln zusammen gesehen hatte, an der ganze Küste bei Colares.
Die Witts waren bei dem Gespräch dabei. Senhor Barbosa und ich haben aber Portugiesisch gesprochen, weil Senhor Barbosa nur wenige Sätze Englisch und gar kein Deutsch kann und die Witts kein Französisch können, das Senhor Borboso und ich beide sprechen. Deshalb habe ich alles übersetzt.
Eingekauft hat der Onkel (ich schreibe Onkel, weil es ja wahrscheinlich nur einer war) immer in dem kleinen Laden, direkt unten an der Hauptstraße in Praia das Maçãs, und zwar eher bescheiden für eine Person. Zum Essen war er meistens zweimal täglich gegangen, das erklärt den geringen Einkauf. Der Einzige, der sich an beide Onkeln erinnert hat, war der Apotheker, oder besser alle, die in der Apotheke arbeiteten, denn da kam mal ein Onkel mit dem Rezept für Paul Witt und mal ein Onkel mit dem Rezept für Peter Witt. Aber dass das zwei verschiedene Personen waren, wollte keiner aus der Apotheke beschwören.
(Beim Schreiben habe ich überlegt, sagt man im Deutschen ‚in Praia das Maçãs‘ oder ‚an der Praia das Maçãs‘? Im Portugiesischen ist es klar, da heißt es ‚na Praia das Maçãs‘, da ist es egal, ob man das als einen Strand mit Ort sieht oder als einen Ort, der Strand heißt. So wie Porto, das ist im Portugiesischen o Porto, im Deutschen würde man aber Hafen – nein, das gibt es wohl nicht, aber Friedrichshafen sagen, nicht der Friedrichshafen – o Porto do Frederico.)
Ich bin danach noch einmal der Geschichte mit dem gebrochenen Arm nachgegangen. Ich wollte wissen, ob da niemand stutzig geworden ist in der Apotheke. Schließlich hatten beide Onkeln gleichzeitig den Arm gebrochen. Aber da war dann immer nur Onkel Paul gekommen mit dem gebrochenen Arm, der hat dann erzählt, seinem Bruder Peter sei es viel schlimmer ergangen, und deshalb hole er auch für den das Rezept ab. Also auch keine Lösung für das Rätsel.
Außerdem habe ich Folgendes erfahren: Der Bestatter hat keinen sehr guten Ruf und er hat wohl wirtschaftliche Schwierigkeiten. Aber trotzdem kann ich mir da noch keinen Reim drauf machen, ich müsste halt mal mit ihm sprechen. Ich müsste die beiden Ärzte besuchen. Die beiden Brüder waren ja bei verschiedenen Ärzten in Behandlung, der eine praktiziert direkt in Colares, hält da zweimal die Woche Sprechstunde bei der Feuerwehr. Der andere praktiziert in Sintra gleich bei mir um die Ecke, ich kenne ihn vom Anblick. Da kann ich anfangen zu recherchieren, wenn wir das wollen.
Aber sollen wir da tatsächlich ermitteln?
Es kann ja durchaus sein, dass die beiden Onkeln wirklich beide so gestorben sind, wie es offiziell bekannt ist. Dann gibt es keinen Grund zu ermitteln.
Es kann auch sein, dass nur einer der Onkeln tot ist, dann müsste man warten, bis der andere auftaucht. Der weiß bestimmt, warum er nicht auftaucht, wenn er noch lebt. Für die allgemeine Moral ist das ohne Interesse und für die Eheleute Witt ist es auch nicht wichtig, die haben ja die Totenscheine und können damit nach der Testamentseröffnung das Erbe antreten. Und für den Fall, dass ein Onkel noch auftaucht, können sie ja mit dem Verkauf des Hauses noch eine Weile warten. Wollen die das Haus überhaupt verkaufen? Das könntest Du sie mal fragen. Wenn es mit dem Verkauf eilt, dann könnten wir doch mal ermitteln. Aber dann wohl eher Du, denn dann wäre der lebendige Onkel vermutlich schon in Hamburg verschwunden.
Schließlich können auch beide Onkeln tot sein, aber nur einer ist hier in Sintra gestorben. Dann läge vermutlich eine Straftat vor, dem müsste man aus moralischen Gründen wohl nachgehen. Andererseits wäre der Täter (ob das jetzt Mord war oder ein Unfall, ist egal) vermutlich der andere Onkel und der ist ja inzwischen auch tot. Es ginge also doch nicht um die Moral, sondern um die Wahrheit, für die es sich nicht zu sterben lohnt – finde ich. Und für die Witts gibt es eine Menge Ärger, wenn diese Theorie sich bewahrheitet, ohne dass sich viel ändert, sie können ja weiter beide Onkeln beerben. Ich habe das doch richtig verstanden, dass sie die Erben sind?
Insofern spricht eigentlich viel gegen die Ermittlungen, aber sprich noch mal mit den jungen Witts. Falls die uns beauftragen wollen und falls sie genug Geld haben: Eine kleine Reise nach Hamburg fände ich schön und Dir gefällt die Gegend hier doch auch gut, Klaus?
Sprich doch einfach noch mal mit den jungen Witts.
Und was meine neue Wohnung angeht, das ist eine ganz normale Mietwohnung, drei Zimmer, Küche, Bad, viel zu groß für mich, aber ich habe jetzt ein Gästezimmer. Der Ausblick geht auf einen kleinen, nicht sehr attraktiven Platz mit Miethäusern ringsherum und Autos überall. Das besondere Plus ist der direkt gegenüber gelegene Bahnhof Portela de Sintra. Da fährt nicht nur die Bahn nach Lisboa, sondern da gibt es auch viele Buslinien hinab zum Atlantik.
Außerdem bist Du zu Fuß in wenigen Minuten im neuen Stadtzentrum von Sintra (naja, das ist auch schon über 100 Jahre alt) und zur Altstadt von Sintra ist es auch nur ein Spaziergang. Außerhalb der Touristensaison ist es da immer noch gut auszuhalten – und eigentlich sogar während der Saison, nur zum Essen gehe ich dann lieber ins Monserrate, das Tirol gibt es ja nicht mehr.
Und Du wohnst immer noch in Steilshoop, nehme ich an, merkst Du die Baustelle? Die U-Bahn wird ja jetzt doch gebaut.
Besuch mich, wenn Dir danach ist, Du hast ja genug Geld, hast Du geschrieben.
Ich schicke Dir Grüße aus Sintra,
João
k.
an
Hallo João,
mit den jungen Witts habe ich mich für übermorgen verabredet, sie kommen wieder zu mir.
Den Plural von Onkel habe ich geklärt, der heißt auch Onkel, wobei ich denke, in vielen Gegenden sagt man auch Onkels, Onkeln war mir neu. Wir sollten aber beim richtigen Onkel bleiben, also bei den richtigen Onkeln (ja, nur im Dativ hängt da ein n dran), der Artikel ist im Deutschen ja sehr üblich und hilft bei der Bestimmung, ob von einem oder beiden Onkeln die Rede ist.
Ich glaube, es heißt in Praia das Maçãs, so wie in Porto, aber wer beweisen will, wie gut er Portugiesisch kann, wird am Apfelstrand schreiben, Praia das Maçãs heißt doch Apfelstrand?
Deiner Einladung folge ich gerne, vielleicht Mitte nächsten Monats, mal schauen, was das Gespräch mit den jungen Witts ergibt. Sonst komme ich privat.
LG KN
(das schreibt man jetzt so für Liebe Grüße, Klaus Nottebrook)
Klaus
Diesmal hatte sich Nottebrook mit den jungen Witts zum späten Frühstück verabredet, sie hatten darauf bestanden, Brötchen mitzubringen, Nottebrook steuerte Aufschnitt, Butter, Marmelade und Kaffee bei.
Die erste halbe Stunde verging mit allgemeinem Geplänkel, über die dank der U-Bahn-Baustelle unübersichtliche Verkehrssituation in Steilshoop, über Erlebnisse in Portugal; auch Nottebrook war ja schon einmal in Colares gewesen.
Nottebrook, der schon früh gefrühstückt hatte, aß trotzdem zwei Brötchen, dann nahm er sich den zweiten Kaffee und wechselte zum eigentlichen Thema der Besprechung:
„Ich habe mich jetzt ausführlich mit dem Kollegen Rodrigues ausgetauscht. Natürlich können wir ermitteln, wenn Sie sichergehen wollen, dass wirklich ihre beiden Onkel tot sind und nicht einer plötzlich auftaucht, nachdem Sie zum Beispiel das Haus verkauft haben.
In allen anderen Fällen sind ja beide tot und Sie haben auch die entsprechenden Dokumente, müssten sich also wirklich keine Sorgen machen. Warum wollen Sie dann unbedingt herausfinden, wie die beiden verstorben sind? Ich meine, selbst wenn der eine den anderen erschlagen haben sollte, ich nehm mal den Extremfall, dann ist der Täter ja auch tot und strafrechtlich sozusagen aus dem Schneider und damit haben Sie auch keinen Grund, sich damit zu belasten.“
Martin Witt antwortete: „Das Haus ist nicht das Problem. Klar, wir werden das auf Dauer entweder verkaufen oder unserem Sohn überlassen, das ist noch nicht ganz klar. Aber das hat Zeit. Finanziell kommen wir sowieso über die Runden, und wir haben ja auch Geld geerbt, mindestens von einem der beiden. Nehmen wir jedenfalls an, das Testament ist noch nicht eröffnet. Die hatten ja Ersparnisse, hatten gut vorgesorgt, anders als manche anderen kleinen Einzelhändler. Aber wir sind halt neugierig.“
Auf Nottebrooks fragenden Blick hin schaltete sich Anke Witt ein: „Wir sind nicht scharf auf das Erbe, aber wir sind die einzigen in der gesetzlichen Erbfolge. Wenn nicht noch in einem der Testamente etwas ganz anderes steht, erben wir alles. Das erfahren wir in ein paar Tagen. Gut, bis dahin hängt das in der Luft und, wenn wir nichts erben, dann läuft unser Leben weiter wie bisher, ohne große Sorgen, eigentlich wirklich sorgenfrei, finanziell. Wenn wir erben, und davon sind wir vor vier Jahren gemeinsam mit Onkel Peter und Onkel Paul ausgegangen, dann haben wir sozusagen einen gewaltigen Überschuss und außerdem eine große Neugier, was mit den beiden passiert ist. Und die wollen wir dann mit einem Teil des ererbten Geldes befriedigen.
Wieviel das ist, oder ob das doch noch alles ganz anders kommt und wir nichts erben, das können wir Ihnen wohl in zwei Wochen sagen, dann wird das Nachlassgericht wohl soweit sein. Jetzt reden wir sozusagen vorab, auf Verdacht, aber das hatten wir Ihnen ja schon am Telefon gesagt.“
„Ja, und das ist mir auch recht, dass wir trotzdem jetzt schon reden. Sie sagten ja, dass der Kontakt zu den beiden Onkeln in den letzten vier Jahren eher sporadisch war, ging es da auch um die Erbschaft?“
Anke Witt schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, wir waren ja immer in Kontakt mit den beiden, wir und unsere Kinder. Wir hatten ja nach dem Tod von Martins Mutter sonst keine Verwandten mehr außer meiner Cousine, die aber in Dessau lebte und mit der wir nur sporadischen Kontakt hatten.
Für die Kinder war es immer ein Erlebnis und zwar ein sehr glückliches, wenn wir wieder einen Tag bei Onkel Peter und Onkel Paul verbrachten oder wenn die uns besuchten oder wenn wir einen gemeinsamen Ausflug machten. Und für uns war es das auch, wenn die beiden nicht gerade mal wieder ihren Rappel kriegten und die Welt retten wollten.“
Martin Witt schaltete sich ein: „Aber das passierte selten. Zum Beispiel zu ihrem 70. Geburtstag, das war kurz nach dem Verkauf des Geschäfts, da waren wir mit der ganzen Familie auf Baltrum, die Onkel hatten dort mehrere Ferienwohnungen gemietet. Die Kinder gingen damals schon ihre eigenen Wege, aber zu dem Fest sind sie natürlich mitgekommen, und Onkel Peter und Onkel Paul hatten auch einige ihrer besten Freunde eingeladen. Das ging eine Woche lang, die beiden hatten sogar eine Musikgruppe engagiert, die zumindest nicht gegen unser und das Geschmacksempfinden unserer Kinder verstieß. Das war ein wahnsinniges Erlebnis, diese Woche. Zuerst das Wochenende, da waren ganz viele da, Freitag angereist, Sonntag ab und Sonnabend die ganz große Feier, aber etliche Leute blieben eben die ganze Woche und da war immer etwas los.“
„Auch mit lokalen Künstlern, einer Inselführung und lauter solche Sachen, Baltrum ist natürlich kulturell nicht der Nabel der Welt und das meiste waren dann auch Veranstaltungen, die auch für die Allgemeinheit der Besucher offen waren.“ Jetzt war Anke Witt wieder am Zug. „Wissen Sie, das war eigentlich so typisch für die beiden, als Einzelhändler interessierte sie vor allem der Genossenschaftsladen auf Baltrum.“
Hier schaltete sich Martin kurz ein: „Es gab ja lange nur den EDEKA und der hatte völlig überhöhte Preise, deshalb wurde der Genossenschaftsladen gegründet und danach wurden auch die EDEKA-Preise normal.“
„Lass mich ruhig mal ausreden“, Anke Witt war einen Moment lang mucksch, aber dann kehrte gleich ihre gute Laune zurück. „Onkel Peter und Onkel Paul hatten die Leute, die damals wegen der Wahnsinnspreise im einzigen Lebensmittelladen auf der Insel die Genossenschaft gegründet hatten, näher kennengelernt und die haben dann die Geschichte lang und breit auf einer öffentlichen Veranstaltung während der Geburtstagswoche erzählt.
Der Geschichte des katholischen Jugendlagers wurde auch eine Veranstaltung gewidmet, das wurde ja 1935 aufgelöst. Da kamen die Recherchen weniger von der Insel als aus Münster, von wo aus das Lager organisiert wurde. Viel wusste man da nicht und vieles war unklar, aber für Onkel Peter und Onkel Paul musste da auch etwas Antifaschismus dabei sein, die hatten die Zeit ja als Kinder miterlebt.“
„Ihre Familie war damals eher gegen die Nazis?“ Nottebrook war jetzt plötzlich mittendrin.
Martin zögerte: „Ja. 1923 waren die beide noch beim Hamburger Aufstand dabei, nicht führend, aber immerhin. Die wohnten halt auch oben an der Horner Landstraße, das war ja die richtige Gegend, direkt an der Stadtgrenze zu Schiffbek, also Billstedt. Das war damals noch kein Teil von Hamburg. Eigentlich kamen die aus der kommunistischen Ecke und meine Großmutter blieb ihren Idealen immer treu. Mein Großvater wollte dann wohl nichts mehr von Politik wissen, als seine Krebskrankheit auftauchte – da ging es ja auch bald mit ihm zu Ende.“
„Wann ist er gestorben?“
„Sommer 34 an Krebs. Onkel Peter und Onkel Paul sind dann ja von der Mutter großgezogen worden, die haben ihren Vater gar nicht mehr bewusst kennengelernt.“
„Ihre Großmutter war weiter bei den Kommunisten aktiv?“
„Nein, aber die Grundhaltung blieb irgendwie. Sie war wohl auch enttäuscht von dem, was sich in der DDR entwickelte, ohne deshalb in Antikommunismus zu verfallen. Aber für Onkel Peter und Onkel Paul blieb die Ablehnung der Nazis und aller derer, die sie verharmlosten, eine Grundeinstellung, die sie nie aufgegeben haben. Und jede Entwicklung zur Unfreiheit war für sie ein Grund, sich laut zu melden. Auch damals, als die Notstandsgesetze verabschiedet wurden. Aber richtig aktiv waren sie nicht.“
„Das ist spannend, aber doch etwas für den großen Auftrag, entschuldigen Sie, wenn ich so bremse – naja, ehrlich gesagt, wenn ich mich jetzt zu sehr mitreißen lasse, dann will ich mich unbedingt drum kümmern. Und unbedingt wollen will ich das nicht.“ Nottebrook war unsicher, ob er sich klar ausgedrückt hatte, aber die beiden schienen ihn zu verstehen, Nottebrook hoffte, richtig.
„Jedenfalls, mir geht es jetzt erst mal um die Geschichte, dass die beiden Spaß dran hatten, verwechselt zu werden, das war immer so?“
„Solange ich sie kannte“, antwortete Martin Witt, „Und meine Mutter sagte mal, das wäre wohl 43 so richtig losgegangen, da waren die beiden verschüttet.“
Nottebrook schaut fragend, natürlich wusste er, dass 43 der Feuersturm gewesen war, die Operation Gomorrha, egal wie man es nannte. „Wohnten sie da noch in Horn? Ich meine, wer da verschüttet wurde, hatte doch eigentlich keine Chance, das war ja fast wie in Billbrook.“
„Naja, Billbrook wurde damals ja zum Seuchenschutz abgeriegelt und Horn da war auch nicht so viel übrig, aber ganz an der Grenze zu Billstedt waren an der Horner Landstraße ein paar Häuser stehengeblieben. Aber eines war beschädigt und da waren die beiden Jungs drin, kamen erst nicht raus, es war wohl nicht wirklich schlimm, die Nachbarn aus den unbeschädigten Häusern oder wer auch immer hörten sie klopfen und eigentlich war nur die Kellertür verklemmt, aber eben sehr, und einer der beiden war unter einen schweren Tisch geraten, den der andere, die waren ja erst 10, nicht hochbekam. Die waren da nur einen halben Tag eingeschlossen und zu essen hatten sie auch. Und wer der war, der unter dem Tisch lag, das haben sie nie verraten. Da hat das wohl begonnen.“
„Wieso waren die da alleine im Keller, damals 43 das war ja… – da sind doch alle runter, denke ich.“
„Ja, das war ein Zufall, hat meine Mutter erzählt, sie war an dem Tag mit ihrer Mutter bei Verwandten in Kirchsteinbek, und was mit den anderen Leuten im Haus war, wusste sie nicht. Sie erinnerte sich, dass sie am nächsten Tag zu Fuß nach Hause gegangen sind. Da hatten sie eigentlich schon jede Hoffnung auf ein Überleben der Zwillinge aufgegeben, aber dann waren die sogar fast unverletzt. Das war wie ein Wunder.“
„Und die beiden waren dann auch immer einer Meinung bis 2020, sagen Sie, da würde ich gerne später noch mal drüber reden. Jetzt geht es mir darum, ob Sie eine Ahnung haben, was dann bei denen in die Köpfe geraten ist, dass sie einander plötzlich so feindselig gegenüberstanden.“
Die beiden waren einen Moment ratlos, dann versuchte Anke Witt es: „Naja, ein bisschen war es wohl so: Onkel Peter war im Zweifel bedingungslos für die Freiheit und das erwartete und kannte er wohl auch von Onkel Paul. Onkel Paul hingegen verabscheute alles, was nach dem fehlenden Respekt für das menschliche Leben auch vor dem Hintergrund der Euthanasiemaßnahmen, die sie als Kind wohl in ihrer Umgebung mitbekommen hatten, aussah, und erwartete das vermutlich auch von Onkel Peter. Aber damit gerieten sie während der Coronamaßnahmen auf verschiedene Seiten. Wie das in den Einzelheiten ablief, das haben wir dann ja wegen des schwindenden Kontakts nur noch sehr ansatzweise mitbekommen.“
Martin Witt, der zu Anfang seiner Frau mit skeptischer Miene zugehört hatte, nickte jetzt, dann sagte er zögernd: „Ja, so ähnlich war das wohl, und irgendwie haben sie sich dann gegenseitig hochgeschaukelt – sonst war das ja auch oft so, nur vorher hatten sie immer im Einklang miteinander geschaukelt. Im Grunde ist es auch das, was wir wissen wollen, was da passiert ist.“
Die beiden zögerten „Naja, bei uns…“ sie sprachen gleichzeitig und benutzten auch dieselben Worte.
„Sag du“, meinte Martin Witt und seine Frau brachte jetzt den ganzen Satz: „Wir waren da ja auch nicht völlig einig und bei uns hing manchmal der Haussegen recht schief.“
Martin Witt fügte an: „Wir lieben uns immer noch, aber irgendwie waren wir doch auch Teil dieses Konflikts und das hätte bei uns ja genauso eskalieren können wie bei den Zwillingen. Und – naja, wir lieben einander und haben uns dann doch manchmal nur der Liebe wegen vertragen können.“
„Und vielleicht“, jetzt war sie wieder dran, „vielleicht verstehen wir uns auch besser, wenn wir verstehen, was bei den Zwillingen abgelaufen ist. Lieben tun wir uns, aber verstehen ist noch besser.“ Plötzlich lachten beide ein befreites, sehr offenes Lachen.
„Also, so wie ich Sie erlebe, glaube ich, dass Sie auch so zurechtkommen, aber andererseits, meine Angst ist jetzt noch größer geworden.“
„Ihre Angst?“
„Das sagte ich doch vorhin, dass ich Angst habe, mich mitreißen zu lassen auch ohne Auftrag. Also, ich habe das Gefühl, dass wir uns da einig werden, insofern – formal nennt man das wohl vorzeitigen Maßnahmenbeginn – also am liebsten würde ich jetzt schon anfangen und dann aber meine Arbeit dann abrechnen, wenn das mit dem Erbe klappt – wenn nicht, habe ich halt mit Zitronen gehandelt.“
Und auf diese Abmachung lief es dann auch hinaus.
Das wurde mit Handschlag besiegelt, nachdem die jungen Witts Nottebrook zwei Mappen übergeben hatten, eine mit Unterlagen, die sie in der Wohnung in Colares gefunden hatten. „Da ist alles drin, was die dabeihatten, auch Ausweise und so weiter.“ Die andere mit einigen Unterlagen aus dem Haus der alten Witts an der Horner Rampe. „Das sind einfach ein paar Sachen, die in den beiden Schreibtischen der beiden lagen, ansonsten gibt es da noch eine Menge Aktenordner, aber ob das lohnt…“
Das nächste Treffen sollte nach dem Brief des Nachlassgerichts stattfinden.
Am nächsten Tag begann Nottebrook mit der Durchsicht der Unterlagen, die ihm die jungen Witts hinterlassen hatten. Er begann mit den Unterlagen aus Colares.
Da waren zunächst die Ausweise, also für jeden der beiden Zwillinge ein Reisepass, aber kein Personalausweis. Die Pässe waren für beide Zwillinge am selben Tag ausgestellt worden, aber nicht im selben Bezirk – in Hamburg konnte man sich frei entscheiden, bei welchem Kundenzentrum – so hießen die Meldeämter inzwischen – man seinen Ausweis beantragen wollte. Nottebrook betrachtete die Gesichter, beide trugen einen kleinen Schnurrbart und eine Metallbrille mit relativ großen Gläsern. Die Gesichter waren eher rundlich, beide hatten eine sehr hohe Stirn, einen leicht zurückgezogenen Haaransatz, aber keine Glatze. Nottebrook konnte die beiden nicht unterscheiden, für ihn hätte es in beiden Pässen dieselbe Person sein können. Aber vielleicht war es das ja auch. Aber, dass die beiden kaum zu unterscheiden waren, wusste er ja schon von den jungen Witts.
Die Wohnadresse, die die jungen Witts beigefügt hatten, musste Nottebrook sich erst einmal ergoogeln, es war ein Einfamilienhaus im südlichen, bereits in der Marsch gelegenen Abschnitt der Horner Rampe. Vermutlich stammte es aus den 50er Jahren, aber Nottebrook war sich nicht sicher. Die Vorstellung, dass dort, im Garten hinter dem Haus, Familienfeste stattfanden, war durchaus einleuchtend, der Vorgarten war sicher durch die Horner Rampe stark verlärmt.
Ebenfalls für beide vorhanden waren Karten einer gesetzlichen Krankenversicherung.
Ebenfalls gab es zwei Rentnerausweise der Bundesversicherungsanstalt, das war nun doch ungewöhnlich, aber vielleicht hatten die beiden irgendwann angestellt gearbeitet, ehe sie sich selbständig gemacht hatten. Freiwillig ging eigentlich kaum ein Selbständiger in die gesetzliche Rentenversicherung. Gut, auch das war eher unwichtig.
Als nächstes schaute sich Nottebrook die Fahrkarten an. Die beiden hatten sich für Interrailtickets entschieden, sieben Tage in zwei Monaten, 1. Klasse Senioren. Das war auf den ersten Blick in derselben Preislage wie eine Standardflug mit Gepäck, aber dann sah Nottebrook, dass da noch Reservierungskosten dazukamen, das waren dann für jeden noch mal rund 100 € für die Hin- und Rückfahrt. Sie waren zunächst von Hamburg nach Marseille gefahren, dann nach einem Tag Unterbrechung weiter nach Madrid, und dann nach einer weiteren Unterbrechung am fünften Tag von Madrid nach Lissabon. Auf allen Fahrten nutzten sie Tageszüge, wobei die ersten beiden Abschnitte mit Hochgeschwindigkeitszügen zurückgelegt wurden. Zwischen Madrid und Lissabon mussten sie allerdings zweimal umsteigen und teilweise mit Nahverkehrszügen fahren. Auf der Rückfahrt sollte es entsprechend gehen. Das war anstrengend, aber die beiden hatten jeweils Hotels in Bahnhofsnähe gesucht. Die Rückfahrt lag so spät, dass sie die zwei Monate voll ausnutzen konnten, und sie sollte zwei Tage nach dem Tod der beiden beginnen – sie waren also gute 6 Wochen in Colares gewesen.
Die nächsten Unterlagen waren Rechnungen der Ärzte. Für verschiedene kleinere Konsultationen, auch für die Nachsorge für den Armbruch oder für die Armbrüche. Nottebrook merkte, dass er sich schon fast auf nur einen Zwilling festgelegt hatte, ein Fehler, wenn er ernsthaft recherchieren wollte.
Es gab keine Rechnung für die eigentliche Behandlung des Armbruchs, dem würde er nachgehen müssen.
Für die Wohnung in Colares gab es nur eine Rechnung. Wie er schon gehört hatte, war die einfach auf P. Witt ausgestellt.
Im Nahverkehr hatten beide Brüder einen Passe Navegante benutzt, Nottebrook konnte nicht erkennen, was für eine Fahrkarte das genau war.
Dann gab es einige Rechnungen von verschiedenen Läden in Colares, Sintra und Lissabon, vor allem ging es um Lebensmittel, Wein hatten die beiden oder der eine gekauft, vor allem aber Mineralwasser, Aufschnitt, Käse, Brot, Butter, Joghurt und Milch.
Restaurantrechnungen fand er ebenfalls, stets waren da ein Hauptgericht und manchmal auch eine Suppe konsumiert worden, selten eine Sobremesa, ein Nachtisch. Meist hatte es dazu Wein gegeben, fast immer zwei Gläser. Mittags auch manchmal gar nichts, aber Nottebrook erinnerte sich, dass ein kostenloses Glas Wasser zum Essen in Portugal durchaus üblich war.
Das Mittagessen wurde offenbar normalerweise in einem preiswerten Restaurant an der Praia das Maçãs eingenommen, da gab es Hausmannskost. Es fanden sich aber auch etliche Rechnungen von Restaurants in Sintra, Lissabon, und vereinzelt auch aus anderen Orten wie Mafra, Ericeira und Setúbal. Das Abendessen konzentrierte sich auf bessere Restaurants in den verschiedenen Ortsteilen in Colares. Fisch und Meeresfrüchte dominierten hier den Speiseplan. An Tagen mit auswärtigem Mittagessen gab es meist zwei Rechnungen für einen Tag, sonst in der Regel eine, aber manchmal gar keine. Das sagte allerdings wenig, denn die Rechnung konnte ja auch weggeworfen worden sein.
Zwei Rechnungen stammten aus der Deutschen Buchhandlung in Lissabon, insgesamt waren acht Bücher verzeichnet, überwiegend eher moderne Klassiker von Brecht bis Mann, es waren sowohl Heinrich als auch Thomas vertreten.
Acht Bücher in sechs Wochen konnte gut ein einzelner lesen, insofern passte das alles bis hierher durchaus zu der These eines einzelnen Zwillings.
Anders war es bei den Apotheker- und Arztrechnungen. Wie Nottebrook bereits wusste, praktizierte der eine Arzt – der von Peter Witt – in Colares, die Adresse war die der Feuerwehr, der andere – also der von Paul Witt – in Sintra. Die Medikamente wurden für Peter Witt ebenfalls in Colares gekauft, für Paul Witt dagegen direkt an der Praia das Maçãs. Es gab Blutdrucksenker für beide und ein Statin für Paul, Nottebrook fragte sich, ob der Unterschied gesundheitlich bedingt war oder ob die beiden oder deren Ärzte sich einfach für unterschiedliche Behandlungen entschieden hatten.
Unklar war, wieso beide Ärzte am Todestag bei den Zwillingen aufgetaucht waren. Tatsächlich gab es am Tag nach dem Armbruch – oder den Armbrüchen – zwei Arztbesuche, die abgerechnet wurden, von jedem Arzt einer. Aber danach waren beide wieder zu ihren Ärzten in die Praxis gefahren. Wer hatte also die Ärzte benachrichtigt?
Das ergab auf jeden Fall eine erste Aufgabe für João. Nottebrook überlegte, ob er gleich nach Sintra fahren sollte, entschloss sich aber, dies bis nach der Entscheidung des Nachlassgerichts zu verschieben. Entweder wäre er dann zur Recherche da oder zum Urlaub oder beides nacheinander, aber die unklare Situation wäre ihm unbehaglich gewesen.
Unklar war Nottebrook, wie der Armbruch behandelt wurde, die Nachsorge war ja dokumentiert, aber nicht die eigentliche Behandlung. Darum sollte sich auch João kümmern.
Dann waren da einige Eintrittskarten in Museen, teilweise die üblichen Sehenswürdigkeiten in Sintra und Lissabon, aber auch einige Exoten wie das Archäologische Museum in Odrinhas oder das Straßenbahnmuseum in Sintra. Mehr als eine Karte gab es nur für das Ozeanarium in Lissabon, aber für zwei verschiedene Tage.
Auch mehrere Adegas, Kellereien, hatte jeweils ein Bruder besichtigt.
Dazu kamen einige Straßenbahnfahrkarten, für die Straßenbahn von Sintra galt die Navegante-Karte offenbar nicht.
Als nächstes folgten einige Prospekte von Weinkellereien, Museen, Kirchen, auch von der Straßenbahn von Sintra, und einige Werbeprospekte für Musikveranstaltungen, Fado, klassische Konzerte, damit schien das Interesse des Zwillings oder der Zwillinge erschöpft zu sein. Aus zwei Konzertankündigungen fiel jeweils eine einzelne Karte heraus, das waren ein Fadokonzert in Sintra und ein Chorkonzert bei der Gulbenkian-Foundation. Dann entdeckte Nottebrook noch eine Karte für ein Symphoniekonzert im Centro Cultural de Belem, allerdings war das für den Tag, an dem die beiden Arztbesuche wegen des Armbruchs stattfanden. Die Karte war also vermutlich verfallen.
Zwei unaufwändige Kirchenprospekte – eine kurze Selbstdarstellung der evangelisch-lutherischen Kirche in Lissabon und eine Gottesdienstankündigung der Kirche in Galamares – fielen aus dem Rahmen. Nottebrook suchte Galamares auf der Karte, es lag an der Straße von Colares nach Sintra. Bei der Kirche handelte es sich um eine katholische Kirche. João würde prüfen müssen, ob der Zwilling oder die Zwillinge diese Kirchen besucht hatten.
Damit war die erste Mappe abgearbeitet, die zweite wollte Nottebrook ein andermal ansehen. Er schickt eine kurze mail an João, in der er ihn über die Ergebnisse dieser ersten Prüfung unterrichtete. Dabei schlug er vor, bis zum Vorliegen des Erbscheins mit irgendwelchen Arbeiten zu warten.
Das kühle, aber sonnige Herbstwetter animierte Nottebrook am nächsten Tag zu einem Spaziergang durch Horn. Er war an der Legienstraße aus der U-Bahn ausgestiegen und lief von dort über kleinere Umwege zur Horner Rampe.
Nottebrook wurde klar, dass in diesem Bereich von Horn doch einige Häuser nach dem Feuersturm wiederaufgebaut wurden, insofern verstand er jetzt besser, warum die Zwillinge damals überlebt hatten.
Die Horner Rampe war Teil des Rings 2, der Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts gebaut worden war. Nottebrook folgte der Straße jetzt und überquerte die Horner Landstraße auf einer Brücke von der Horner Geest in die Horner Marsch, dort dann unter einer Schnellstraße ebenfalls aus den 70er Jahren hindurch. Das Gelände in der Horner Marsch lag höher als das Niveau der normalerweise ja sehr flachen Marsch. Nottebrook fand später heraus, dass dieses Gebiet vor gut 100 Jahren aufgeschüttet worden war.
Er lief jetzt zwischen Einzelhäusern herum, nach seinem Gefühl stammten sie aus der Nachkriegszeit, das Gebiet war klein und ging in ein größeres Kleingartengelände über.
Im Gegensatz zum sehr regen Autoverkehr waren hier keine Fußgänger unterwegs, aber dann sah Nottebrook nur wenige Häuser von dem Wittschen Anwesen entfernt eine ältere Frau, die Laub harkte. Er ging auf sie zu und grüßte.
„Guten Tag, darf ich Sie etwas fragen?“
„Gerne, wenn ich helfen kann.“
„Kannten Sie die Brüder Witt?“
„Kannten? Wieso, gibt es die nicht mehr?“
„Die sind wohl während ihres Urlaubs in Portugal gestorben.“
„Ach je, aber die waren ja auch nicht mehr die jüngsten. Und wer sind Sie?“
„Es ist einfach so, dass es da noch einige Unklarheiten gibt, und der Neffe der beiden und dessen Frau haben mich gebeten, da etwas zu recherchieren.“
Die Nachbarin schaute etwas skeptisch, deshalb wollte Nottebrook nicht drängen. „Ich würde gerne ein bisschen was erkunden, aber wenn Sie Bedenken haben, ist das in Ordnung, wäre es Ihnen recht, wenn ich demnächst mal mit Martin und Anke Witt vorbeikomme?“
Als Nottebrook die Vornamen nannte, hellte sich das Gesicht der Frau auf. „Naja, man ist ja immer etwas vorsichtig, heutzutage. Aber – was wollen Sie denn wissen, etwas Bestimmtes?“
„Ehrlich gesagt Anke und Martin Witt hatten ja ein gutes Verhältnis zu den beiden, aber die letzten Jahre waren die Zwillinge dann wohl etwas schwierig geworden, und jetzt geht es einfach darum, ob das bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gegangen sein kann, Sie wissen ja, die Ärzte in Portugal…“
Nottebrook hoffte, dass die Frau zu der Mehrheit der Deutschen (oder war es noch eine Minderheit?) gehörte, die überzeugt waren, dass auf dem Rest der Welt, vor allem im Süden, alles sehr viel schlechter war als hier.
„Ja, ach, ich kenne nicht viele Portugiesen, aber ich kann mir schon vorstellen, dass die dort bei Ausländern, noch dazu Touristen, nicht zu viel Aufwand haben wollen. Ist hier ja genau so. Aber wenn Sie so viel wissen wollen, kommen Sie doch einen Moment rein, Martens ist mein Name.“
„Nottebrook, aber ich will Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten.“
„Ich freu mich über jeden, der mich da abhält, dann hab ich einen guten Grund, das Laub für meinen Mann liegenzulassen. Gartenarbeit ist doch eigentlich sowieso Männersache, aber da bin ich wohl zu altmodisch.“
Frau Martens lotste Nottebrook in ihr Esszimmer, das eigentlich nur ein durch ein Regal abgeteilter Teil des Wohnzimmers war, die Stühle waren alt, aber bequem, „Zwei Kaffee sind noch da, wenn Sie mögen?“
„Da sag ich nicht nein.“
„Milch, Zucker?“
„Nur Milch.“
Frau Martens ging kurz in die Küche, kam mit zwei bereits eingeschenkten Tassen und einer Milchpackung auf einem Tablett zurück: „Kuchen gibt es aber keinen.“
Nottebrook lachte.
Er nahm einen Schluck Kaffee, dann meinte er: „Wie war denn Ihr Verhältnis zu den Witts, waren Sie auch nach Baltrum eingeladen?“
„Nicht nur eingeladen, wir waren sogar dort, mein Mann hatte sich extra ein paar Tage freigenommen, so dass wir fast die ganze Zeit dabei waren. Meine Güte, ist das her. Müssen auch schon 20 Jahre sein. Damals hätte man sich sowas noch gar nicht vorstellen können.“
„Was meinen Sie damit, was hätte man sich nicht vorstellen können?“
„Na, diese Feindschaften. Wissen Sie, das war hier immer eine gute Nachbarschaft. Aber jetzt ist das nicht mehr, da sind die einen, die anderen, die dazwischen. Als ich jung war, haben sich die Alten manchmal gezofft, die, die 1923 den Hamburger Aufstand noch miterlebt haben, da muss das ähnlich gewesen sein, danach. Und die sind sich in den 60ern und 70ern immer noch in die Haare geraten, vor allem die, die bei der Polizei waren, und die Kommunisten. Vertragen haben die sich längst wieder, aber wenn das Thema aufkam, da kriegten sie sich jedes Mal wieder in die Wolle. Ob das mit der Coronazeit auch so geht, obwohl das ja ganz was anderes war?“
„Also, wir schweifen zwar ab, aber ich finde das spannend, und ich wusste das noch nicht, was Sie da erzählen. Aber die Leute hier sind stärker aneinander geraten wegen des Hamburger Aufstandes als zum Beispiel wegen der Nazizeit?“
„Naja, das war was anderes. Die Nazizeit hat ja keiner verteidigt, und wenn doch, dann war der sowieso außen vor. Anderswo war das anders, aber hier war das so. Hinterher jedenfalls, während der Nazizeit waren schon einige dabei, aber da wurde der Mantel des Vergessens drübergebreitet, und wenn jemand doch noch für die Nazis war, dann hielt der sich von öffentlichen Anlässen fern. Naja, hier in Horn. Aber beim Thema Hamburger Aufstand fühlten sich immer noch beide Seiten im Recht. Ach, ich meine, ich war ja auch noch Kind, als die Alten noch lebten. Oh je, wie ich rede, aber Sie verstehen mich, glaube ich, schon.“ Sie versicherte sich mit einem fragenden Blick, dass dem so war:
„Und was ich dann so mitkriegte, mit 14, 15, das war auch durch meine Eltern vermittelt, aber die waren ganz kluge Leute, sage ich heute. Damals, naja, wer hält seine Eltern in dem Alter schon für ganz klug. Aber zugehört habe ich ihnen schon.“
Natürlich hatte Nottebrook die Coronazeit und den Umgang miteinander schon mitbekommen, trotzdem fragte er: „Empfinden Sie das tatsächlich so wie ein neues 1923, die Coronazeit, ich meine, damals haben die Leute sich gegenseitig erschossen, das ist schon noch ein Unterschied, denke ich.“
„Ja, ach, wissen Sie, ich bin ja keine Wissenschaftlerin, will ich auch nicht sein, und der Hass ist vielleicht auch anders. Corona, das ist ja frisch, was ich von 1923 mitbekommen habe, das war ja erst ein halbes Jahrhundert danach.
Ich wohnte damals noch oben auf der Geest, in der Stengelestraße, das Haus hier hat mein Mann von seinen Eltern geerbt, die kamen auch von da oben, aber aus Billstedt, naja, egal. Wissen Sie, damals zum 50jährigen Jubiläum des Aufstands gab es ja hier Veranstaltungen, und die alten Leute, die damals dabei waren, die lagen sich in den Haaren, das ging heftig zu. Da war ein Brüderpaar, der eine war Polizist, der andere Kommunist, und die hatten 50 Jahre lang nicht mehr miteinander geredet. Die haben sich erst damals wieder versöhnt. Das war nicht normal, eine extreme Ausnahme, aber daran musste ich denken, als die Witts sich plötzlich so zerstritten hatten.
Wissen Sie, die waren ja, solange ich denken kann, immer ein Herz und eine Seele. Wenn man die traf, wenn man mit einem von denen redete, dann wusste man meistens gar nicht, wer wer war. Das wollten die wohl auch so, die haben sich ja zum Beispiel immer völlig gleich angezogen.
Auch wenn man da über Politik redete, die waren immer derselben Meinung, das war schon nicht mehr normal.“
„Haben Sie da ein Beispiel?“
„Naja, das waren hier ja früher auch Kleingärten, aber die Häuser stehen schon lange. Trotzdem, Sie kennen ja die Kleingärtnermentalität. Die Gärten müssen immer ordentlich sein, wenn da jemand das Unkraut stehen lässt und das weht dann rüber, das ist ganz, ganz schlimm.“ Frau Martens sprach in deutlich ironischem Tonfall.
„Die Witts waren natürlich auch für gepflegte Gärten, wenn da Unkraut wucherte, sagten die schon mal was, aber nicht wirklich aggressiv.
Aber es gab damals einen neuen Nachbarn, den jungen Köhler, der machte so richtig auf Naturgarten, wegen der Insekten und so, sagte er immer.
Dann gab es irgendwo ein Bild in allen Zeitungen, das zeigte Frauen in China oder so, die Kirschbäume per Hand bestäubten. Weil es keine Bienen mehr gab in der Gegend. Danach waren die Witts dann ein paar Tage lang ganz reumütig, haben sich bei allen entschuldigt, die sie wegen Unkrautjätens angesprochen hatten. Dafür gab es eigentlich keinen Grund, die Witts hatten das ja nett gemacht. Und niemanden beleidigt.
Aber so waren sie halt, aber dann – also, die hatten da, glaube ich, noch den Laden, also Haushaltswaren, oder wenn nicht, dann hatten sie noch Kontakt zu Kunden. Einer kam von drüben, von Moorfleet, immer rüber, der hatte dort einen kleinen Gartenbaubetrieb, Blumen oder Gemüse, was weiß ich, der war manchmal hier zu Besuch, und auf Baltrum war der auch, aber nur einen Tag oder so. Naja, der kaufte wohl manchmal bei den Witts ein, nach dem Wochenmarkt in Horn, da hatte er einen Stand. Wenn der mal eine Kleinigkeit brauchte an Handwerkszeug, das holte er bei den Witts, war ja vom Markt gleich um die Ecke, nur den Bauerberg runter. Also, ich glaube, mit dem haben sie darüber geredet, kann auch jemand anderes gewesen sein. Und da haben sie dann erfahren, dass es da wohl nicht um fehlende Bienen ging, sondern um Bestäubung von Hybridpflanzen. Und mit dem Thema haben sie uns dann wochenlang alle genervt, hier in der Siedlung. Aber ich kenn mich jetzt genau aus mit Hybridpflanzen.“
Nottebrook schaute wohl fragend, jedenfalls fühlte Frau Martens sich animiert, das etwas näher zu erläutern.
„Also, in der Pflanzenzucht kreuzt man verschiedene Pflanzen, damit man wirtschaftlich interessante Ergebnisse erzielt, das ist wie bei den Maultieren, die sind ja die Kinder von einem Eselshengst und einer Pferdestute, wenn man das so sagen kann. Und wenn die Bienen die Pflanzen befruchten, dann achten sie natürlich nicht darauf, jede Pferdekirsche mit dem Samen eines Eselshengstes zu befruchten, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
Nottebrook nickte.
„Naja, deshalb lässt man das nicht die Bienen machen, sondern macht das mit der Hand. Gut, das ändert ja nichts daran, dass es immer weniger Insekten gibt und dass das ein Problem ist. Aber das war den Witts dann einfach egal, die fühlten sich belogen, und damit waren sie automatisch auf der Gegenseite. Und wenn sie sich jetzt über Unkraut aufregten, das Nachbarn im Garten stehen ließen, dann wurden sie richtig fuchtig. Das war dann schon mal heftig. Mit dem jungen Köhler sind sie sich immer richtig in die Haare geraten, der war aber auch ein bisschen extrem mit seinem Ökogarten.
Der Köhler und die Witts konnten dann stundenlang darum streiten, ob das Unkraut heißt oder Wildkräuter, und das Wort Insektenwiese gegen das Wort Unkrautschleuder wurde hier in der Siedlung richtig zum Running Gag, jetzt sag ich das auch schon. Naja, jedenfalls wenn jemand einen anderen kritisierte, dann konnte man die Situation immer leicht entspannen, wenn man sagte, du kannst mich zehnmal Unkrautschleuder nennen, ich bin und bleibe eine Insektenwiese. Das klappte natürlich nicht, wenn der junge Köhler dabei war oder die Witt-Brüder.
Aber dieser Konflikt zwischen den Zwillingen und dem jungen Köhler blieb auf das Thema beschränkt. Wenn wir hier gemeinsam feierten, dann sind die drei immer friedlich miteinander umgegangen. Und wenn der eine mal Hilfe brauchte, dann half der andere auch. Die Witts kannten sich ja als Haushaltswarenhändler mit all den Sachen aus, da holte sich der Köhler seine Tipps, und wenn es um irgendwelche Vorschriften der Behörden zu Vorgärten ging, dann unterstützte Köhler die Witts, damit sie ihren tipptopp gepflegten Vorgarten auch weiter konsequent unkrautfrei halten konnten. Er frotzelte dann zwar rum, aber die Witts holten sich die Hilfe bei ihm und alles war gut.“
„Und das hat sich dann geändert?“
„Ja, naja, die Konflikte um Corona gab es ja überall, da sind Familien zerstritten, Freundschaften zerbrochen. Das wissen Sie ja sicher auch. Was bei den Witts halt hinzukam, war, dass die beiden da plötzlich, zum ersten Mal, soweit ich weiß, auf verschiedenen Seiten standen.“
„Und das bekam man auch als Nachbar mit?“
„Und wie, die hetzten ja regelrecht gegeneinander. Also, Hetzen ist jetzt vielleicht das falsche Wort, oder auch nicht.“ Frau Martens schaute Nottebrook unsicher an. „Also, ich erzähl da mal ein Beispiel: Irgendwann 2020 hatten wir in der Adventszeit Besuch von Freunden, eine etwas größere Familie, ist jetzt nicht so wichtig, jedenfalls mehr Leute, als erlaubt waren.
Und das hat der Paul Witt mitbekommen und hat gleich bei der Polizei angerufen. Also, das kann ich jetzt nicht prüfen, aber die Polizei kam eine halbe Stunde später tatsächlich. Jedenfalls hat Peter Witt dann bei uns angerufen und uns erzählt, dass sein Bruder uns gerade bei der Polizei angezeigt hätte wegen des Besuchs. Und das war nicht einfach nur eine Warnung, sondern er zog dann richtig über seinen Bruder her, Spitzel, Denunziant ist der jetzt geworden. Der hätte sogar bei den Nazis jeden angezeigt, der was Böses sagte, wenn er schon alt genug gewesen wäre, der Paul, der hat ja schon immer so einen miesen Charakter gehabt. Ich hab dann gesagt, ich müsse mich um die Gäste kümmern, da hat er aufgehört, aber man merkte, eigentlich wollte er weiterreden.
Paul Witt hat dann am nächsten Tag mit dem Otto Kahl gesprochen, der wohnt drüben im Jürsweg, also der war ja auch ein richtig scharfer Maßnahmenbefürworter, aber halt doch noch immer Mensch. Der hat mir dann später erzählt, dass der Paul Witt sich bei ihm über den Peter beschwert hatte, weil der uns gewarnt hat. Er ist nicht so in die Einzelheiten gegangen, aber der Paul muss fürchterlich über den Peter hergezogen sein. Sogar das Wort Mörder soll gefallen sein. Otto hatte ja einen guten Draht zu Paul, weil die ja in der Coronasache ziemlich einer Meinung waren, und er hat dem Paul dann schon irgendwie klar gemacht, dass das so nicht geht, dass die Siedlung zur Hölle wird, wenn wir uns alle gegenseitig anzeigen und so. Hat wohl gefruchtet, die Polizei hat Paul danach nicht mehr gerufen, aber ansonsten hat seine Aggressivität nicht weiter nachgelassen.“
Einen Moment herrschte Schweigen, Nottebrook erinnerte sich an die Zeit vor vier Jahren, er war froh, dass es in seinem Umfeld nicht ganz so hoch hergegangen war.
„Das hat sich dann aber gelegt?“
„Also insgesamt wie überall, aber die Brüder – dass sich das wieder eingerenkt hat, habe ich nicht mitbekommen. Aber sie waren dann ja gleichzeitig…“
Frau Martens verstummte, ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Haustür, dann kam ein hochgewachsener, leicht vorgebeugt gehender Mann herein: „Guten Tag.“ Fragend schaute er Nottebrook an.
„Nottebrook“, Nottebrook stand auf, um sich vorzustellen.
„Martens.“
„Stell dir vor, die Witt-Brüder sind tot“, Frau Martens musste die Neuigkeit sofort loswerden.
„Ich weiß.“
„Du weißt das?“
„Ja, der Neffe war hier mit seiner Frau, der hat mir das erzählt.“
„Und du hast kein Wort gesagt?“
„Vergessen.“ Und dann, nach einem Moment: „Wie du das Laubharken.“
