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Im zweiten Roman um den Hamburger Ermittler Nottebrook geht es um Schienenprojekte und Busverkehr in Hamburg und in einigen Vororten von Lissabon. Zunächst sucht Nottebrook nach Beweisen für Korruption. Aber dann trifft er auf einen alternden Philosophen. Der erklärt ihm, wie er das Geschäftsmodell der Schamanen in die Moderne übertragen hat, zeigt sogar, wie man manchmal gut auf Korruption verzichten kann - und trotzdem weist er Nottebrook auf andere Untaten hin. Racheakte der Opfer wären strafbar.
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Dieses Buch ist Barbara Charlotte Smith gewidmet, ohne die ich nicht der wäre, der ich heute bin. Und die ihr Leben in Würde beendete.
Das Bild auf der Titelseite oben zeigt die Metrostation in Cacilhas.
Das Bild auf der Titelseite Mitte zeigt eine Elbfähre in Hamburg.
Das Bild auf der Titelseite unten zeigt eine Tejofähre in Lissabon.
Das Bild auf der Rückseite oben zeigt die Busstation in Cacilhas.
Das Bild auf der Rückseite Mitte zeigt einen Bus, wie er in den 60er Jahren am Letzten Heller verkehrte.
Das Bild auf der Rückseite unten zeigt den Autor in Oeiras.
Die Liste der Personen und Projekte in diesem Buch findet sich auf den Seiten → und →.
Eine Liste der Parteien in Portugal findet sich auf Seite →.
Eine Übersichtskarte mit Verkehrsprojekten für Steilshoop und Bramfeld findet sich auf Seite →.
Eine Karte der Tejomündung mit den im Roman behandelten Verkehrsprojekten findet sich auf Seite →.
Das Personal der Erzählung
Hamburger Elbbrücken
Der Trienekens-Skandal
Bahrenfelder Marktplatz
Reiher am Bramfelder See
Letzter Heller, Autobahnbrücke
Hamburger Segelclub
Ehemaliges Union-Kühlhaus
Maison du Portugal, Rougemont
Parteien in Portugal
Wandse
Misslungenes Foto
Verkehrsprojekte Steilshoop und Bramfeld
Bus im Stau, Metrotrasse, Almada
Château-d’Oex
Bahnhofsüberdachung in Saanen
Tejomündung
Bahnhofsbuffet in Château d‘Oex
Busse in Steilshoop
Azulejomanufaktur im Pays d’Enhaut
Blick aus der Europapassage
Kosten
Wagen der MOB
Briefkasten
O-Bus
Flug
Restelo
Oeiras
Bushaltestelle Cacilhas
Aguardente Velha
Auf dem Bramfelder See
Transpraia
Alstertal
Elbe bei Brücke 10
Hochhaus in Steilshoop
Pragal
Bauabschnitte U5
Wahlplakat der CDU in Almada
An der Alster
Brunnen in Castelo de Vide
Straße in Castelo de Vide
Costa da Caparica
Bus der TST
Häuser am Bahrenfelder Marktplatz
Bramfelder See im Winter
Dr. Weigerts Vorbereitung
Nachtrag
Fiktive Personen in Hamburg
Klaus Nottebrook
Ehemaliger Polizist, erstellt ein Gutachten für den Landesrechnungshof
Der alte Weise
Ehemaliger Vorgesetzter von Klaus Nottebrook, Freund von Kreutzmann
Herr Kreutzmann
Arbeitet am Landesrechnungshof, vergibt den Auftrag für ein Gutachten an Klaus Nottebrook
Walter Goliath
Kleinwüchsiger älterer Ingenieur mit Begeisterungsfähigkeit für gute Projekte, einst Partner im Büro David und Goliath
Günther David
Hochgewachsener Ingenieur, ist trotz teilweise gegensätzlicher Wertvorstellungen weiter mit Walter Goliath befreundet
Nicole da Silva
Junge Ingenieurin im Büro Goliath, wird misstrauisch, als sie ein seltsames Gutachten gegenliest und beginnt zu recherchieren
Christine Müller
Geliebte von Klaus Nottebrook, der ihre perversen Hobbies nicht mag
Dr. Weigert
Ehemaliger Richter, einst aktiver, jetzt passiver Autobahngegner
Frau Meyer
Wohnt an der Autobahn, Mieterin von Dr. Weigert.
Lore Wagner
Journalistin, kennt sich mit Verkehr aus, nicht verwandt mit Jürgen Wagner
Fiktive Personen in Portugal
João Rodrigues
Ehemaliger Polizist in Lissabon
Carlos Pinto
Freund von João Rodrigues
Pedro Rita
Freund und Genosse von Carlos Pinto, trank öfters Wein mit Walter Goliath
Mafalda
War zu Lebzeiten mit Pedro Rita verheiratet
Nilda Bomtempo
Genossin und Freundin von Pedro Rita
Jürgen Wagner
Beratender Philosoph, hat einen bösen Verdacht
Ana Moura
Frau von Jorge de Sousa, FKK-Liebhaberin
Jorge de Sousa
Mann von Ana Moura, FKK-Liebhaber
Fiktive Personen in Portugal
Leandro Bettencourt
Polizist in Castelo de Vide
Fiktive Personen in der Schweiz
Jan Flörken
Geliebter von Nicole da Silva, Mieter von Jaques Blanc
Jaques Blanc
Eisenbahnmanager in Montreux, Vermieter in Château d’Oex
Personen, nach dem wirklichen Leben erfunden
Hans Reimer
Ingenieur in Hamburg, passte zufällig gut in die Geschichte
Isaltino Morais
Bürgermeister in Oeiras, ehemals Minister unter Manuel Barroso
José Manuel Barroso
Ehemaliger Portugiesischer Premierminister, ehemaliger Präsident der EU-Kommission
Verkehrsprojekte, die die Fantasie des Autors anregten
MST
Metro Sul do Tejo, Stadtbahn in Almada
TST
Transport Sul do Tejo, Busunternehmen südlich des Tejo
SATU
Eine Art Cablecar in Oeiras
U5
Ein neues U-Bahn-Projekt in Hamburg
Der Lastwagenfahrer warf einen Blick in den Rückspiegel. Der hochgewachsene Mann mit dem auffälligen roten Jackett und der grünen Hose – eine schreckliche Kombination – kam auf seinem E-Scooter aus der Einfahrt und bog in die Straße ein. Der Lastwagenfahrer startete seinen Sattelzug. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte, dass er genug Abstand zum E-Scooterfahrer hatte. An der nächsten Ampel hatte er grün, danach kam eine Einmündung, an der er Vorfahrt hatte. An der folgenden Ampel würde er nach rechts abbiegen. Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, der E-Scooterfahrer war kurz hinter ihm. Der Lastwagenfahrer bremste leicht ab, blinkte, jetzt war es ein Glücksspiel. Der E-Scooterfahrer verschwand aus dem Rückspiegel. Er musste jetzt neben dem Sattelzug sein, außerhalb des Blickfelds des Lastwagenfahrers. Der Lastwagenfahrer bog ab. Der Schrei war markerschütternd.
Nicole da Silva nickte. „Ja, habe ich, 124 Korrekturen, schau aber besser noch mal drüber.“ Sie zögerte etwas.
„Was ist?“ fragte Walter Goliath.
„Hm, die Fehler waren – wie soll ich das sagen. Also da stand dann Rhein statt Elbe, Deutz statt Harburg, Rheinbrücke statt Elbbrücken, was schon wegen Wilhelmsburg gar nicht passte, man kam sozusagen direkt von Hamburg nach Harburg, ohne die Insel Wilhelmsburg zu durchfahren. Und manchmal waren die Einwohnerzahlen eher eine knappe Million statt etwas unter zwei Millionen, also – ach, ich hatte das Gefühl, da hat jemand ein Gutachten für Köln genommen und einfach ein paar Namen und Zahlen getauscht, damit es für Hamburg passt.“
Walter nickte mit dem Kopf. „Noch etwas?“
„Ja, also – ich meine, das steht mir nicht zu -“, ein fragender Blick, Walter nickte ihr aufmunternd zu, „also, was da drinsteht, sind Belanglosigkeiten und Gemeinplätze, deshalb kann man das wirklich für Köln und Hamburg gebrauchen. Hm, wenn wenigstens die Zahlen die Ortsnamen stimmen.“
Walter dachte einen Moment nach, dann fragte er: „Und Du hast jetzt dafür gesorgt, dass sie stimmen?“
„Willst Du das denn so rausgeben?“ fragte sie. „Schau‘s lieber noch mal durch, ob es unseren Ansprüchen genügt.“
„Tut es nicht, aber den Ansprüchen unseres Kunden genügt es.“
„Hm, was will er denn damit anfangen?“
Walter schaute sie ernst an. „Als Du hier angefangen hast, hast Du eine pauschale Vertraulichkeitserklärung unterschrieben, trotzdem musst Du nicht alles wissen.“
Er machte eine Pause, schien nachzudenken, dann gab er sich einen Ruck: „Es ist nur so, ich wollte Dich fragen, ob Du Interesse hast, Deine befristete Stelle in eine dauerhafte umzuwandeln.“
Ihr Gesicht zeigte unverhohlene Freude. „Im Ernst?“
„Dein Vertrag wäre ansonsten unverändert, nur eben unbefristet und 5% mehr Gehalt und eine Woche mehr Urlaub. Und Du würdest öfter mit Gutachten wie dem hier zu tun haben - und müsstest wohl auch die Hintergründe ein wenig kennen und für dich behalten. Aber mit vertraulichen Dingen kannst Du ja umgehen, jedenfalls wenn die 15 Monate, die Du hier bist, repräsentativ sind. Also, überleg Dir übers Wochenende, wie Du dazu stehst.“
„Eigentlich gibt es da nichts zu überlegen.“
„Du hättest also keine Schwierigkeiten damit, wenn beispielsweise auf einem Gutachten wie dem hier Dein Name stände?“
„Ich würde es besser machen.“
„In einer Woche oder in Deiner Freizeit?“ Entgegen ihrer Erwartung war Walters Blick sehr, sehr ernst.
„Ja. 20 Seiten Text mit Inhalt statt 200 Seiten Geschwafel und 40 Grafiken, die mehr oder weniger nichts sagen.“
Walter schüttelte den Kopf. „Wenn unser Kunde das gewollt hätte, hätten wir es mit Kusshand geliefert, Nicole, aber darum ging es nicht. Deshalb meine Bitte, einfach mal nachzudenken, ob Du eine Festanstellung willst – Dein Vertrag läuft ja noch fast drei Monate, Du kannst also in Ruhe überlegen.“ Er stand auf, hielt dann aber noch einmal inne: „Damit wir uns nicht missverstehen: Wenn Du keinen festen Vertrag willst, können wir die Befristung verlängern, oder wir machen eine Rahmenvereinbarung über Werkverträge zu besseren Konditionen. Einige mit Günter, einige mit mir, damit es keine Scheinselbständigkeit ist. Und mit Gutachten wie dem hier hast Du dann nichts mehr zu tun. Wie ich schon mal sagte, ich schätze Deine Arbeit sehr. Und geh den Text Montag früh noch mal durch, ob Du nichts übersehen hast.“
Günter, das war Günter David. Im Gegensatz zum schmächtigen, nur 1,55 m großen Walter Goliath überragte Günter David mit seinen 2,02 m stets seine gesamte Umgebung. Dank seiner stattlichen Figur brachte er mit Sicherheit mehr als das Doppelte dessen auf die Waage, was Walter Goliath zu bieten hatte – und der war zwar nicht dick, aber auch nicht unbedingt dürr.
Im Juni 2002 wurde Hans Reimer vom Landgericht Hamburg zu 5 Jahren Haft verurteilt. Er hatte 11 Mio DM an Provisionen nicht versteuert, die er im Rahmen des Baus der Kölner Müllverbrennungsanlage erhalten hatte. Ihm wurde daher Steuerhinterziehung im Umfang von 6,5 Mio DM vorgeworfen. Zu seiner Verteidigung führte Reimer an, die vereinnahmten Gelder seien gar nicht für ihn gewesen, sondern haben der Bestechung von Beamten und Kommunalpolitikern gedient. Das Gericht kritisierte, dass Hans Reimer keine Details zu den Bestechungen nannte.
Tatsächlich waren die Gelder im Auftrag von Trienekens, der damit den Auftrag für die Müllverbrennungsanlage in Köln sicherte, gezahlt worden. Trienekens selbst wurde zu einer Bewährungsstrafe und zwei Geldbußen in Höhe von insgesamt 15 Mio Euro verurteilt. Sein Unternehmen war zu diesem Zeitpunkt bereits von RWE übernommen worden.
Auch die Politiker, die Geld angenommen hatten, kamen überwiegend mit Bußgeldern oder Bewährungsstrafen davon, soweit sie überhaupt belangt wurden.
Da das Büro Göpfert, Reimer und Partner in Hamburg ansässig war und ist, überrascht es nicht, dass es auch eine kleine Anfrage von Abgeordneten der CDU und FDP gab, in dem sie einiges über die Tätigkeit des Büros für die Stadt Hamburg erfahren wollten. In der Antwort werden mehrere Aufträge aufgeführt. Eine besondere Ironie wohnt dabei nach der Verurteilung von Hans Reimer der Tätigkeit des Büros bei der Gebäude- und Sicherheitstechnik von Strafanstalten inne, letztere aber nur bei einem Jugend- und Frauengefängnis.
Ebenfalls erwähnt wird die Tätigkeit von Göpfert und Reimer (so hieß das Büro damals) bei der technischen Ausrüstung der 4. Elbtunnelröhre, hier bestand von 1986 bis 2001 ein Vertragsverhältnis.
Nicht erwähnt wurde in dem Zusammenhang ein kurzes Gutachten zum Thema Lärm, das Göpfert und Reimer während der Anhörungen zur Planfeststellung der 4. Elbtunnelröhre aufstellte.
Frei erfunden sind die Person des Günter David und ihre Tätigkeit für Göpfert und Reimer.
Am Sonnabend schob Nicole das gestrige Gespräch beiseite. Sie kaufte auf dem Markt ein, dann im Supermarkt, sie machte sich für das Mittagessen gefüllte Paprika. Sie hatte da einen leichten Tick: Stets füllte sie zwei Paprika mit einer Hackfleisch-Reis-Mischung, die waren zum sofortigen Verzehr bestimmt, vier weitere wurden nur mit Hackfleisch gefüllt und eingefroren. Warum sie das tat, hatte sie vergessen. Den Nachmittag wollte sie ihren Krimi weiterlesen, der sie aber langweilte, so sehr, dass sie es vorzog, einfach aus dem Fenster zu schauen und an nichts zu denken.
Abends war sie dann in der Elbphilharmonie, Avishai Cohen mit seiner Band, das meiste was sie spielten, war wunderbar, aber es gab auch Stücke, die ihr zu gefällig und zu sentimental waren. Sie saß in der Reihe W1 auf Platz 0, eine Nummer, die in ihrem alten Sitzplan nicht zu finden war und auch sonst in der Elbphilharmonie fehlte, da alle anderen Reihen mit Platz 1 begannen. Sie war beruhigt gewesen, als sie ihren Platz fand, der offenbar nachträglich aufgestellt worden war. Sie merkte dann aber, dass bei einigen – zum Glück nicht allen – lauten Passagen die Akustik sehr zu wünschen ließ. Es gab störende, keineswegs nur irritierende Quergeräusche von rechts oben. Als sie später einer Freundin davon berichtete, frage die, was Quergeräusche seien, und Nicole wusste nicht so recht, wie sie das Wort erklären sollte. Vielleicht hatte sie es ja auch an diesem Abend erfunden.
Trotzdem suchte sie am nächsten Morgen im Internet nach Aufnahmen von Avishai Cohen und wurde erstaunlich oft fündig. Danach wollte sie den Rechner ausschalten, erinnerte sich dann aber plötzlich an das Gespräch von Freitag und begann, erst einmal alles zu recherchieren, was mit Walter Goliath zu tun hatte, wobei sie nicht überrascht wurde. Und dass sie nicht überrascht wurde, überraschte sie wiederum ebenfalls nicht. Sie hatte Walter schon immer als gradlinigen, offenen, klugen, aber ziemlich langweiligen Mann eingeschätzt.
Sie schaute noch mal bei Günter David nach. Das gemeinsame Büro von Günter und Walter hatte nur anderthalb Jahre bestanden, ehe sie sich wieder trennten. Nicole vermutete, dass die enge Zusammenarbeit eher wegen des einprägsamen Firmennamens „David & Goliath“ entstanden war als aus sachlichen Gründen, aber ein wenig hatte es natürlich schon gepasst zwischen den beiden. Und manchmal, bei Engpässen – zeitlichen oder fachlichen – holten sie sich immer noch gegenseitig bei Aufträgen dazu, obwohl es mittlerweile für beide meistens andere Partner gab.
Auch bei Günter David entdeckte sie nichts Neues, wurde aber daran erinnert, dass der als Berufsanfänger kurze Zeit bei Goepfert, Reimer und Partner gearbeitet hatte – der Trienekens-Skandal war unvergessen.
Günter hatte aber immer in Hamburg gelebt und außerdem nie etwas mit Müll zu tun gehabt. Beruflich jedenfalls. Nicole suchte also, ob es in Hamburg entsprechende Aktivitäten gab. Sie wurde fündig, aber es war kein Auftrag, der ihr irgendwie verdächtig erschien. Es ging um die technische Ausrüstung der vierten Elbtunnelröhre, und die Bedingungen für den Vertrag schienen angemessen, ein Scheingutachten war das jedenfalls nicht. Trotzdem, sie würde mal schauen, ob es da etwas zu entdecken gab.
Nicole kehrte zu ihrem Krimi zurück, der ihr plötzlich gar nicht mehr so langweilig vorkam. Jedenfalls im Vergleich zu den Lebensläufen von Walter und Günter.
Nicole da Silva fühlte sich fast erschlagen, als sie am Bahrenfelder Marktplatz stand. Wenn sie den Lärm wegdachte, war es beinahe idyllisch: Dreigeschossige Wohnhäuser zur linken, rechts Bäume, so etwas wie ein kleiner Park. Dass der Park klein war, konnte man nicht mit den Augen erkennen, wohl aber mit den Ohren, denn der Lärm von der vierspurigen stark befahrenen Bundesstraße war unüberhörbar. Rechts und links der kleinen Straße, auf der sie selber unterwegs war, parkten Autos. Und dann sah sie vor sich – die Autobahn? Nein, Nicole wurde klar, dass das eine zweispurige Straße war, nur in einer Richtung, also die Autobahnausfahrt aus Richtung Süden. Am Ende der kleinen Straße zweigte ein Fußweg ab. Neben der Autobahnausfahrt ging sie zurück zur Bundesstraße, freute sich, als die Ampel auf Rot sprang. Die Autos neben ihr hielten jetzt, natürlich mit laufendem Motor, aber trotzdem wurde es etwas leiser – und man konnte jetzt im Hintergrund die derzeit noch sechsspurige, bald schon achtspurige Autobahn hören. Gut hören, obwohl der Lärm von der Bundesstraße jetzt beachtlich war. Dann schaltete die Ampel auf Grün, einige Motoren heulten auf, andere Fahrzeuge fuhren leiser an, aber die Ausfahrt hatte jetzt die Lärmherrschaft übernommen.
Nicole war unsicher, ob ihre Idee wirklich gut war. Es war ihr sehr einleuchtend erschienen, die Belastungen durch die Autobahn waren enorm, und die Leute hatten sich damals gegen den Ausbau gewehrt, also mussten sie sich heute noch erinnern. Aber jetzt fürchtete Nicole, dass die meisten wohl nach so vielen Jahren die Flucht ergriffen hatten, gar nicht mehr hier lebten. Aber egal, einen Versuch würde sie machen, jetzt wo sie schon einmal hier war.
Nicole kehrte um, ging zu den roten Klinkerhäusern, klingelte nacheinander bei den Mietern eines Eingangs. Bei den ersten beiden Klingeln reagierte niemand, dann ertönte der Summer. Als Nicole eintrat, blickte ihr vom nächsten Treppenabsatz eine ältere Frau entgegen. Sie war etwas kleiner als Nicole, die 1,70 m groß war. Aber trotz ihres Alters, das man am Gesicht ablesen konnte (irgendwas um die 80), hatte die Dame noch überwiegend blonde Haare – kein kraftvolles Blond, aber auch nicht das Grau oder Weiß, das in diesem Alter normal gewesen wäre. Und wenn Nicole nicht völlig daneben lag, waren die Haare nicht gefärbt.
Nicole schaut ihr in die Augen, erzählte etwas von „Geschichtswerkstatt“ und dass sie gerne etwas über die Geschichte der Autobahn erfahren würde. Als sie zum zweiten Mal „Geschichtswerkstatt“ sagte, schweifte ihr Blick kurz ab und sie nahm auf dem Klingelschild den Namen Meyer wahr. Die alte Frau lächelte, freundlich und misstrauisch zugleich; dann fasste sie offenbar einen Entschluss und bat Nicole herein.
„Nein, denken Sie nicht, ich sei eine einsame alte Frau, die um jeden Preis Gesprächspartner sucht, und deshalb jedem Vertreter an der Tür gleich einen Kaffee anbietet. Das bin ich überhaupt nicht, ich bin einfach eine alleinstehende ältere Dame, die einem Gespräch nicht abgeneigt ist, wenn eine junge Frau, die das Leben noch vor sich hat und einen netten Eindruck macht, an ihrer Tür klingelt. Und Sie scheinen mir keine Person zu sein, die einsame alte Frauen, die um jeden Preis Gesprächspartner suchen, überfällt. Setzen Sie sich. Und sprechen Sie laut, ich bin schwerhörig.“
Frau Meyer wies auf einen Sessel, dann schaute sie fragend. „In der Kanne ist noch etwas Kaffee, ich koche immer zu viel. Mögen Sie eine Tasse?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, holte sie einen Kaffeebecher aus der Küche, der offenbar aus einem Bordrestaurant im Intercity mitgenommen worden war. Sie nahm die Thermoskanne, schaute Nicole fragend an, die nickte. „Milch, Zucker? Steht ja da, nehmen Sie sich selber. Es reicht ja schon, dass ich Ihnen den Kaffee einschenke. Lernen Sie, weniger schüchtern zu sein!“
Nicole war unsicher, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hier zu klingeln, dann beschloss sie, das Ganze als unterhaltsames Spiel zu sehen.
„Ich hoffe, Sie wissen es zu schätzen, dass ich Sie nicht für eine jener älteren Damen halte, die zufällige Besucher mit einem stets bereitstehenden Kaffee vergiften, um Sie dann für ihre Ausstellung ausgestopfter Gäste zu präparieren.“
Die Gastgeberin lachte laut auf: „Das wäre gut gekontert gewesen, wenn es Ihnen schneller eingefallen wäre. Sie scheinen dieselben Krimis zu lesen wie ich.“
„Hm, einige sind ja Allgemeingut.“
Die Dame nickte, dann meinte sie: „Trotzdem, ich denke, Sie wollen wirklich irgendetwas erfahren, lassen Sie also den ganzen Schmu mit der Geschichtswerkstatt, die einzige hier in der Gegend ist die in Ottensen, und wenn die was über die A7 machen würden, wüsste ich es. Also, was wollen Sie wissen und, wenn Sie Lust haben erzählen Sie danach noch, warum.“
Nicole war unsicher, dann beschloss sie mit offenen Karten zu spielen.
„Gut, zunächst mal, mein Name ist da Silva. Sie sind Frau Meyer?“
Frau Meyer nickte.
„Also, Frau Meyer, ganz falsch ist das mit der Geschichtswerkstatt nicht. Ich will tatsächlich etwas Historisches erfahren, aber halt über die Geschichte der Ingenieurbüros in Hamburg. Also, genauer gesagt, ich arbeite selber in dieser Branche, für ein Büro, und da gibt es eine uralte Verbindung zu Göpfert und Reimer.“
Die alte Dame schaute Nicole fragend an.
„Hm, das ist das Ingenieurbüro, das damals im Trienekens-Skandal, also die Geschichte mit der Kölner Müllverbrennungsanlage, die Bestechungsgelder verteilte. Und die…“
„Halt, halt, halt, da dämmert etwas, ganz dunkel, lange in der Vergangenheit, das war doch… ja, das war einer der Bestechungsskandale zu der Zeit, als ich gerade aufgehört hatte zu arbeiten.“
Nicole fragte höflich nach „Was haben Sie denn gearbeitet?“
Frau Meyer lachte, „Also das interessiert Sie nicht, bleiben Sie beim Thema, ich ahne jetzt, was dahintersteht, auch wenn ich nicht wusste, dass das Geld von einem Ingenieurbüro verteilt wurde, oder ich wusste es mal, habe es aber vergessen.“
„Lehrerin, nehme ich an,“ sage Nicole, und die Dame lachte, „Heiß, aber nicht sehr heiß, falls Sie sich noch ans Topfschlagen erinnern, aber bitte, weiter, mehr als drei Themen gleichzeitig überfordern eine alte Frau wie mich.“
„Ja, gut. Also, der Kollege, der mal bei uns gearbeitet, hat, war früher, sehr viel früher, bei Göpfert und Reimer, und…“
„Die das Geld verteilt haben.“ Es klang nicht wie eine Frage.
„Ja. Und die waren halt auch beim Bau der Elbtunnelröhre, der vierten, beteiligt.“
„Ja, das war damals die erste achtspurige Autobahn in Hamburg, jetzt beginnt man endlich mehr davon zu bauen.“
Nicole nickte. „Und jetzt will ich wissen – damals muss es ja schon Bürgerbeteiligung gegeben haben – ob jemand hier etwas davon mitbekommen hat.“
Die Dame lachte wieder. „Sie wollen also einen Kollegen – einen alten Kollegen, also vom Lebensalter, denn als Kollege alt sein kann er angesichts ihres jugendlichen Alters nicht – ausspionieren. Sind Sie scharf auf den Mann oder auf seine Stelle?“
Nicole wurde rot, dann entschloss sie sich endgültig zur Ehrlichkeit. „Weder noch, ich will einfach wissen, ob solche Sachen bis heute laufen. Hm, der war damals bei Göpfert und Reimer, und dann war er bei unserem Büro, und vielleicht gibt es da eine Tradition.“
Frau Meyer lachte. „Tradition klingt gut.“ Dann schwieg sie. Stand auf, ging langsam, aber nicht unsicher zum Fenster, schaute raus. „Jetzt im Herbst hätte ich gerne ein paar Blumen auf dem Fensterbrett.“ Sie drehte sich um, lächelte. „Wissen Sie, ich habe wenig Geld, so eine große Wohnung kann ich mir eigentlich nicht leisten. Aber in dieser Lage – die hält man ja nur aus, wenn man schwerhörig ist, und die Abgasbelastung hier – in meinem Alter schadet die auch nicht mehr wirklich. Wussten Sie, dass es auf der Ostseite der A7 in Hamburg deutlich mehr Fehlgeburten gibt als auf der Westseite? Der Wind…. Sie können es sich denken, oder?“
„Ja, ich weiß, ich wohne lange genug in Hamburg, um zu wissen, dass der Wind meistens von Westen her weht. Das war ja schon immer so, deshalb liegen in den meisten Städten die wohlhabenden Stadtteile eher im Westen, die armen eher im Osten.“
„Ja, das lag früher an der Industrie. Jetzt ist es der Verkehr. Gut, so ich kann mir auf meine alten Tage noch eine schöne, große Wohnung gönnen. Wohnzimmer, Schlafzimmer, PC-Zimmer.“
Auf Nicoles erstaunten Blick hin antwortete sie „Nein, meine Liebe, die Strumpfstrickomageneration gibt es kaum noch, jetzt stricken nur die besonders stark interessierten Damen und manchmal sogar Herren aller Altersklassen. EDV ist angesagt, obwohl Sie wohl eher schon der Generation Twitter angehören – nein, Sie sprechen ja richtig ausführlich und denken dabei auch noch nach. Aber viele Ihrer Generation sind da eher wie der letzte US-Präsident.“
„Also, Trump ist eher in Ihrem als in meinem Alter.“
„Gut gekontert. Aber ich will Sie nicht langweilen, Sie wollen mehr erfahren über das Verfahren damals und die Rolle, die Göpfert und Reimer spielte?“ Sie strahlte. „Ich kann mir neue Namen offenbar immer noch sehr schnell merken.“
Nicole nickte.
„Kommen Sie.“ Sie führte Nicole ins PC-Zimmer, schaltete den Rechner ein. Ganz neu war er nicht, „ein ausgemusterter Desktop, gut, läuft noch mit Windows XP, ich hoffe, es wird bald mal etwas Neueres in meinem Bekanntenkreis ausgemustert.“
Sie fuhr den Rechner hoch. Für Nicole, die ganz andere Geräte gewohnt war – vor allem seit sie bei Goliath arbeitete –, schien das eine Ewigkeit zu dauern. Dann ging Frau Meyer in ihr E-Mail-Programm, begann eine mail zu schreiben.
„Lesen Sie mit, ob das in Ihrem Sinn ist.“
Lieber Herr Schindler, ich habe gerade Besuch von einer jungen Frau, die sich für die Geschichte der vierten Elbtunnelröhre interessiert. Warum, das kann sie Ihnen im Falle einer Begegnung selber erzählen. Jetzt geht es erst einmal darum, ob Sie etwas über die Beteiligung des Büros Göpfert und Reimer wissen, das nicht 100%ig koscher sein könnte.
Die junge Dame heißt
„Ihr Vorname, Frau da Silva?“
„Nicole da Silva“
Nicole da Silva, die Dame scheint vom ersten Eindruck her sympathisch zu sein. Wenn Sie Lust haben, dann melden Sie sich doch bei ihr.
Ihre E-Mail-Adresse lautet:
„Ihre E-Mail-Adresse, Frau da Silva?“
Sie schrieb Nicoles Adresse und endete dann
Mit einem lieben Gruß, Ihre alte Frau Meyer
Danach forderte sie Nicole auf, jetzt mal aus dem Fenster statt auf den Monitor zu schauen. „Ich gebe nämlich keine Adressen an Dritte weiter, ohne diese zu fragen.“
Nach einigen kurzen Eingaben fuhr Frau Meyer den Rechner runter, stand auf, führte Nicole zur Tür.
„Ich werde noch ein wenig lesen. Viel Erfolg, Frau da Silva. Und lassen Sie mich gern‘ hören, wenn etwas Interessantes dabei herausgekommen ist. Vielleicht macht dann wirklich eine Geschichtswerkstatt mal etwas über die A7.“
Nicole erschrak wieder über den Lärm vor der Tür, die Fenster hatten doch einiges weggedämmt. An der Haltestelle sah sie, dass der 283er Bus gerade weg war. Der 37er fuhr zwar alle 10 Minuten, kostete aber Zuschlag. Also ging sie die 800 m zum Bahnhof Bahrenfeld zu Fuß.
Als sie dort einen geöffneten Blumenladen sah, beschloss sie spontan, drei Strelitzien zu kaufen, kehrte um und brachte sie Frau Meyer. Die nahm sie lächelnd entgegen, ohne Nicole hereinzubitten, und meinte dann: „Das war eine hervorragende Idee.“
Nachdem Frau Meyer die Tür geschlossen hatte, ging sie in die Küche, suchte eine Vase, versorgte die Strelitzien und stellte sie neben ihren Rechner, den sie anschließend hochfuhr. Sie ging in ihr E-Mail-Programm, rief den Ordner „Entwürfe“ auf und versandte die E-Mail, die sie vorhin vorbereitet hatte.
Klaus Nottebrook saß bei einem Kaffee auf dem Balkon seiner Wohnung mit Blick auf den Bramfelder See. Naja, ein schräger Blick, und auch erst seit ein paar Tagen, die ersten Herbstwinde hatten genug Blätter von den Bäumen gefegt, um den See wieder sichtbar werden zu lassen.
Nottebrook langweilte sich, er war im Frühjahr in Ruhestand gegangen, seitdem privatisierte er. Richtige Hobbies hatte er nicht, ein wenig las er über alte Kriminalfälle in Hamburg – das war auch bei der Arbeit seine letzte Tätigkeit gewesen. Bekannte hatte er wenige, er war seit Jahren geschieden und seine Kinder lebten bei seiner Frau, obwohl auch das nicht mehr stimmte: Die Tochter war zum Studium nach Tübingen gezogen, auch wenn sie noch das Zimmer im Hause Nottebrook hatte, und der Sohn lebte die meiste Zeit bei seiner Freundin. Das war einer der Lichtblicke: Nottebrooks Verhältnis zu seinem Sohn hatte sich seither verbessert, alle paar Wochen gingen sie gemeinsam zum Essen oder in ein Konzert oder beides. Nottebrook hatte allerdings den Verdacht, dass sein Sohn daran vor allem schätzte, dass er auf diese Weise die Konzertkarten meist geschenkt bekam, sich vor allem aber nie darum kümmern musste, sie rechtzeitig zu besorgen, ehe sie ausverkauft waren.
Es wurde etwas kühl, Nottebrook überlegte eben, hinein zu gehen, als sein Handy klingelte. Erst wollte er es ignorieren, dann sah er, dass sein ehemaliger Chef Weise der Anrufer war, ein greisenhafter Ex-Polizist, der immer noch einige Fäden in der Hand hielt (so drückte Weise es aus, heute würde man wohl eher formulieren, dass Weises Netzwerke noch intakt waren). Vor allem gehörte Weise zu den wenigen Menschen, mit denen Nottebrook auch über seine Probleme sprach. Fast würde er Weise als Freund bezeichnen.
„Sagen Sie, Herr Nottebrook, Sie sind ja jetzt im Ruhestand. Und da frage ich mich, was Sie so treiben, den lieben langen Tag.“
„Kaffee trinken, spazieren gehen, Musik hören, Konzerte besuchen – manchmal treffe ich meinen Sohn, oder Freunde.“
„Nottebrook, Freunde haben Sie nicht viele. Und die auch erst neuerdings, mich, den Herrn Rodrigues, die Frau Müller, ach ich glaube, es sind noch ein, zwei Menschen dazugekommen, die ich nicht kenne. Aber deshalb rufe ich nicht an.“
„Sondern?“
„Das sagte ich doch, ich will wissen, was Sie so treiben, den lieben langen Tag. Ob Sie ausgelastet sind, ob Sie sich langweilen, und falls Sie sich langweilen, ob dies eine wohltuende oder eine erdrückende Langeweile ist.“
Nottebrook empfand nicht zum ersten Mal Weises Auftreten als unpassend, und dieser Eindruck wurde in den letzten Jahren immer stärker. Da er ihn trotzdem schätzte und oft feststellen musste, dass auch unpassende und peinliche Fragen bei Weise oft die Einleitung zu einem spannenden Thema waren, teilte er ihm jedoch mit, dass er nicht ausgelastet sei, sich auch des Öfteren langweile, dies jedoch auf eine wohltuende Weise (zumindest für ihn selbst). Dass er allerdings habe erfahren müssen, dass seine Gewohnheit, diese Phasen der Langeweile mit lauter Musik zu beenden, für einen seiner Nachbarn etwas Bedrückendes habe, weshalb er jetzt das Hören lauter Musik auf die Arbeitszeiten des seither nicht mehr bedrückten Nachbarn lege.
„Und, Nottebrook, rostet bei dieser Art zu leben der berufsbedingt entwickelte Teil Ihres Hirns nicht allmählich ein?“
„Eigentlich mache ich mir darum keine Sorgen, Herr Weise, da ich diesen Teil meines Hirns nicht mehr brauche.“
„Aber andere könnten ihn gut brauchen, Herr Nottebrook. Haben Sie Interesse daran, ein Gutachten zu erstellen?“
„Nein, zu so etwas habe ich keine Lust mehr. Das heißt, Gutachten waren noch nie meines, ich war immer ein Ermittler, oder hatten Sie da einen anderen Eindruck?“
„Gar nicht, aber der Landesrechnungshof wird bestimmte Ermittlungen nicht extern beauftragen, während ein Gutachten…“
„Herr Weise, erstens bin ich froh, im Ruhestand zu sein, und zweitens wird sich das nicht ändern, wenn Sie in Rätseln sprechen.“
„Gut, es scheint um eine Zweckentfremdung von Geldern zu gehen, da scheint es auch Querverbindungen zur Korruption zu geben. Das sind Dinge, um die sich der Rechnungshof eigentlich nicht kümmert, aber die sich doch mit seiner Arbeit überschneiden. Und dort soll halt ein wenig recherchiert werden, und die Ergebnisse dieser Recherche sollen in Form eines Gutachtens beschrieben werden. Es geht da um einige Geldflüsse nach Portugal und vielleicht auch wieder zurück nach Deutschland, die zu einem nicht sachgemäßen Einsatz öffentlicher Mittel führen könnten. Vielleicht wäre das eine Gelegenheit für Sie, Ihren Freund Rodrigues mal wieder zu besuchen. Falls Sie das interessiert, werde ich jedenfalls am nächsten Dienstag um 19 Uhr einen Tisch in der Post reservieren.“
Nicole war unsicher gewesen, als sie mit Frau Meyers Vermieter gesprochen hatte. Erst hatte er sich ein wenig gesträubt, dann war er zu einem Treffen bereit gewesen, „einfach ein unverbindliches Kaffeetrinken, danach entscheide ich, ob ich Ihnen helfen will.“ So hatte sie es sich nicht vorgestellt, und vor allem fürchtete sie, dass Dr. Weigert, so hieß der Vermieter, irgendwelche Hintergedanken hatte. Schließlich hatte sie trotzdem eingewilligt. Dass er sie auch noch bezahlen ließ – und das vorher betonte, stimmte sie nicht optimistischer.
Dann wurde ihr klar, dass der Adressat der E-Mail, die Frau Meyer an ihren Vermieter geschrieben hatte, Schindler hieß und nicht Weigert. Den hätte sie gesucht, den Herrn Schindler, wenn er sich nicht bei ihr gemeldet hätte. War also ihr Gedächtnis völlig im Eimer oder war dieser Dr. Weigert ein Betrüger?
Sie war noch einmal nach Bahrenfeld gefahren, hatte Frau Meyer besucht mit drei Strelitzien, die sie ihr als Dankeschön für das Herstellen des Kontaktes brachte.
Frau Meyer lud sie wieder zum Kaffee ein, wie beim ersten Mal, lächelte, tauschte ein paar Höflichkeiten aus. Dann fragte sie noch einmal: „Hat mein Vermieter sich also bei Ihnen gemeldet, der Herr – oh je, mein Gedächtnis wird auch immer schlechter…“
„Also, er sagte, er heiße Dr. Weigert, also…“
„Ja, genau, Weigert. Haben Sie denn Zweifel, dass er es war?“
„Hm,“ Nicole beschloss, nicht weiter herumzudrucksen „Also, ich hatte mich aus der E-Mail an einen anderen Namen erinnert, Schindler glaube ich.“
„Sie glauben nicht, Sie sind ganz sicher, Kindchen, und Sie haben mich nicht ernst genommen, als ich sagte, dass ich die Daten meiner Freunde nicht am Rechner zeige. Auch nicht die Namen.“ Frau Meyer drohte mit dem erhobenen Zeigefinger. „Also, zum einen würde ich Ihnen also niemals den Namen meines Vermieters gezeigt haben, ohne ihn zu fragen – so konnten Sie ihn nicht suchen. Und zweitens würde Ihr Vertrauensbruch – denn das ist es ja, dass Sie sich den Namen gemerkt haben – mir einen zweiten Strauß Strelitzien einbringen, weil Sie Zweifel an der Identität von Dr. Weigert ausräumen mussten. Jetzt machen Sie ein Gesicht, als würden Sie rot werden, was Sie offenbar nicht tun. Die Durchblutung ist bei verschiedenen Menschen verschieden, also seien Sie nicht böse, nehmen Sie es als meinen Beitrag zu Ihrer Erziehung zur erwachsenen Frau.“
Das Gespräch stockte ein wenig, Frau Meyer saß abwartend da, Nicole hingegen wurde immer nervöser, bis sie sich zu einer Frage entschloss: „Als ich nach Ihrem Beruf fragte, haben Sie mir keine wirkliche Antwort beschieden, ich frage also mal ´was ganz Unverfängliches: Haben Sie eigentlich schon in Hamburg gewohnt, als die Straßenbahn hier noch fuhr?“
Frau Meyer lachte, dann nahm ihr Gesicht einen leicht verträumten Zug an.
„Also, nach Hamburg bin ich gekommen, als wir eine Familie gründeten, als die Kinder kamen. Mein Mann war bei der Post, und da bekamen wir eine Dienstwohnung, die war ganz neu gebaut. Anfang der 60er war das, am Letzten Heller, in Horn, wissen Sie, wo das ist?“
Nicole verneinte, und Frau Meyer erzählte.
„Das war eine kleine Straße, nur durch die Horner Landstraße vom Elburstromufer, heute sagt man meistens vom Geesthang, getrennt. Auf der anderen Seite schaute man auf die große Rolltreppenfabrik, Rheinstahl, Eggers, Kehrhahn, das leuchtete die ganze Nacht da herüber. Ein paar viergeschossige Wohnhäuser und ein Lehrlingswohnheim, in einem Hochhaus, das war die ganze Straße. Damals gab es dort in der Nähe, unterhalb des Elburstromufers, noch kleine Läden in der Nähe, aber vieles war oben auf der Geest. Oder weiter die Horner Landstraße entlang Richtung Innenstadt.
Nein, nein, ich lenke nicht ab. Eine Straßenbahn fuhr da auch, in der Horner Landstraße, die Linien 1 und 7. Wenn wir die nehmen wollten, war das immer ein Stück zu laufen, weil man ganz um das Lehrlingswohnheim herummusste und dann noch ein Stück die Horner Landstraße entlang. Außerdem gab es eine Bushaltestelle, die hieß sogar Letzter Heller und war etwas näher gelegen. Da hielten die Buslinie 1 und noch ein paar andere Linien. Aber den Bus durfte man damals nicht benutzen, wenn man in die Stadt wollte. Denn die Straßenbahn gehörte der Hochbahn, die Busse aber der VHH. Und man wollte nicht, dass die VHH der Hochbahn die Fahrgäste wegnehmen.“
„Aber die Straßenbahn war doch sicher sowieso attraktiver als der Bus?“
„Also, das konnten wir testen, als der HVV gegründet wurde, danach hatten wir die freie Wahl. In die Stadt sind wir dann fast immer mit dem Bus gefahren, einmal war die Haltestelle näher an unserer Wohnung, dann waren die Busse komfortabler, die hatten zum Beispiel gepolsterte Sitze, und bis zum ZOB waren sie auch schneller, weil sie nicht so oft hielten und weniger durch die Autos behindert wurden.
Der Vorteil der Straßenbahn war eigentlich nur der regelmäßige Takt, und dann fuhr sie vom ZOB noch weiter in die Innenstadt. Aber mein Mann war Eisenbahnfan, der liebte den kurzen Weg durch den Hauptbahnhof, das war dann noch ein Grund mehr, mit dem Bus zu fahren.“
Nicole war überrascht, „dann hat Sie die Stilllegung der Straßenbahn eigentlich gar nicht so sehr gestört?“
„Was soll ich sagen – einerseits fehlte sie uns nicht, andererseits fuhren die Busse dann nicht viel öfter, so dass sie ständig überfüllt waren, und gleichzeitig wurde ja die U-Bahn gebaut. Und ein paar Jahre später mussten wir plötzlich immer an der Hammer Kirche vom Bus in die U-Bahn umsteigen, wenn wir in die Stadt wollten, das war richtig lästig.
Aber noch mal zur Straßenbahn, da kam ja noch was dazu: Die Straßenbahn damals war nicht besonders leise, und wenn Sie schon mal ein paar Jahre an einer quietschenden Straßenbahnstrecke gewohnt haben, dann ahnen Sie vielleicht, dass wir auch ein wenig glücklich waren, als die nicht mehr fuhr. Leider gerieten wir dann ja vom Regen in die Traufe.“
„Inwiefern?“
„Gut, als vorne die Straßenbahn verschwand, da kam hinten – also zwischen unserer Wohnung und der Rolltreppenfabrik – die neue Stadtautobahn nach Bergedorf.“
Nicole überlegte: „Oh, ich hatte den Letzten Heller jetzt nördlicher vermutet.“
„Nein, nein, nicht die neue Autobahn nach Geesthacht, die kam später, sondern die unterhalb des Geestrandes, also durch Horn und Billstedt, da gibt es schon länger eine Autobahn, gut, formal ist das wohl eine Bundesstraße, aber wenn Sie dran wohnen, dann macht das nichts. Damals gab es gar keinen Lärmschutz, wenn so ´was gebaut wurde. Da hätten wir dann manchmal lieber den Straßenbahnlärm ertragen.“
Danach nahm das Gespräch trotzdem einen auch für Nicole angenehmen Verlauf. Am Ende fragte sie sogar, ob sie Frau Meyer wieder besuchen dürfte. Und die Frage nach dem dürfen war keine Floskel, wie man sie manchmal verwendet, um die Peinlichkeit des Mitleids mit einsamen alten Menschen zu verstecken. Frau Meyer gehörte nicht in diese Kategorie.
Als sie Dr. Weigert dann im Hamburger Segelclub gegenübersaß, entspannte sie sich. Er hatte sie beobachtet, und jetzt lachte er sie auf eine freundliche Art aus. Als sie an der Eingangstür angekommen war, hatte sie nämlich nicht das Gefühl gehabt, hier vor einem Restaurant zu sein, war dann zurückgegangen bis zu der kleinen Brücke, die die Gurlittinsel mit dem Festland verbindet. Dort schaute sie noch einmal auf die Schiefertafel, auf der die Gastronomie des Segelclubs Gäste ausdrücklich willkommen hieß. Auf dem Rückweg suchte sie nach Türen, aber vor allem sah sie den ziemlich leeren Gastraum, und schloss daraus, durchaus auf dem richtigen Weg zu sein. Ein zutreffender Schluss, wie sie jetzt wusste.
„Die Geschichte, um die es Ihnen geht, ist zwar lange her, aber wenn ich Frau Meyer richtig verstanden habe, interessieren Sie vor allem eventuelle Verstrickungen, die in die Gegenwart hineinreichen. Und da bin ich zwiespältig, einerseits finde ich es eigentlich ein Gebot der gesellschaftlichen Hygiene, hier einmal nachzubohren, andererseits will ich da niemanden in sein Unglück stürzen. Ja, schauen Sie mich nicht so an, meinen Sie, da geht es immer nur ganz harmlos zu? Hm, tja, und ‚einerseits, andererseits‘ war nicht ganz richtig formuliert, denn es gibt noch eine dritte Sorge: Wer sagt mir, dass Sie wirklich ernsthaft an die Dinge herangehen? Dass es Ihnen nicht ausschließlich um einen persönlichen Vorteil geht? Oder, moralisch weniger verwerflich, ob Sie nicht beim ersten Problem den Schwanz einziehen?“
Jetzt wurde Dr. Weigert tatsächlich etwas rot, „hm, tja, das ist so eine Redensart…“ er hörte mit dem Thema auf, ehe es wirklich peinlich wurde. Als da Silva sein freundliches Auslachen von eben erwiderte, war das Eis gebrochen, jedenfalls schien es ihr so.
Dr. Weigert hatte sich an einen Tisch am Fenster gesetzt, so dass Nicole, die ihm gegenübersaß, ihren Blick in Ruhe über den südlichen Teil der Außenalster, die Kennedybrücke und die Türme Hamburgs schweifen lassen konnte. Die Türme Hamburgs, das waren vor gar nicht so langer Zeit noch die Türme der fünf Hauptkirchen gewesen, aber das wusste Nicole nur aus der Literatur und von älteren Leuten. Dr. Weigert bemerkte ihren schweifenden Blick und erzählte ihr, wie erst das Polizeihochhaus, dann der Fernsehturm, der damals noch Telemichel genannt wurde – nach dem Turm der einzigen Hauptkirche der Neustadt –, und danach dann immer mehr Hotel- und Geschäftshochhäuser, emporgewachsen waren. Zum Schluss hatten sich zwei Bürgermeister mit der Elbphilharmonie ein Denkmal gesetzt, das man von hier aus aber nicht sah.
„Ja, die Skandale gibt es auch heute noch. Wären die Kosten vorher klar gewesen, gäbe es heute keine Elbphilharmonie.“ Nicole war sich bewusst, dass diese Bemerkung kein bisschen originell war.
Mit der Antwort von Dr. Weigert hatte sie aber nicht gerechnet: „Ich bin trotzdem überzeugt, wäre die Elbphilharmonie dort nicht gebaut worden, dann stünde dort die EXXON-Deutschlandzentrale oder etwas Ähnliches. Und da ist es mir so lieber, auch wenn es im Detail viel zu kritisieren gibt. Jetzt sollen ja mit dem Hochhaus an den Elbbrücken die wirklichen Machtverhältnisse wieder zur Geltung kommen. Aber insgesamt hat sich seit meiner Kindheit viel verändert, Sie werden es nicht erinnern.“ Er lachte. „Sie sind ja viel zu jung. Meine Eltern haben mir damals, als das erste Hochhaus gebaut wurde, gesagt, das müsse so hoch sein, damit die Polizei überall hinsehen kann. Hm, tja, ich als Kind habe das geglaubt, und als die Polizei dann das Hochhaus am Strohhause verließ, da hatte ich für einen Moment wirklich das Gefühl, jetzt würde sie die Übersicht verlieren – und habe zum ersten – nein, zum einzigen Mal – gedacht, jetzt wird Hamburg unsicherer. Wir denken offenbar wirklich nicht immer vernünftig. Aber deshalb sind Sie nicht hier, auch wenn der Blick über die Alster auf die Stadt Sie offenbar fasziniert. Trotz seines Verlustes an Schönheit. Deshalb verzeihen Sie mir sicher meine Abschweifung.“
Sie wendete sich wieder dem hochgewachsenen, schlanken Mann mit dem glattrasierten kantigen Gesicht und den dichten weißen Haaren zu, der ihr gegenübersaß und sie jetzt fragte, worum es ihr eigentlich ganz im Inneren bei der Angelegenheit ginge.
Nicole wunderte sich über das Vertrauen, das sie an dieser Stelle fasste. Sie erzählte Dr. Weigert ausführlich von dem Gutachten, das offensichtlich unbrauchbar war – oder besser gesagt, nutzlos. „Ja, nutzlos, das war es, eigentlich, als wenn hier Geld bezahlt werden sollte für etwas, das irgendetwas war, aber eben nicht das Gutachten selber,“ meinte sie, und fügte hinzu „und ich weiß noch immer nicht, was dahintersteckt. Mein Chef, der Herr Goliath, ist eigentlich niemand, der krumme Touren fährt – zumindest soweit man das beurteilen kann. Aber sein Ex-Kompagnon, der Herr David, ist da – ach, der ist mir eher unheimlich.“ Nicole lachte das leise Lachen der Frauen, die verlegen sind, etwas gesagt zu haben, das ihnen eigentlich nicht peinlich sein müsste. Jenes Lachen, das noch aus der Zeit stammte, als die Frauen bei Tische eigentlich zu schweigen hatten. Dr. Weigert registrierte es und nahm es als Vertrauensbeweis.
„Gut, Frau da Silva, das ehrt Sie, und – ja, ich hätte gerne einen Kaffee, ja, einen Becher.“ Er schaute Nicole an, die für sich ebenfalls einen Kaffee bestellte.