Die zwölf Sinne des Menschen - Karl König - E-Book

Die zwölf Sinne des Menschen E-Book

Karl König

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Beschreibung

" Das ist das erste Kapitel der Anthroposophie: die wirkliche Natur und Wesenheit unserer Sinne." Rudolf Steiner, 1909 Vor dem Hintergrund dieser Aussage forschte und lehrte Karl König sein ganzes Leben lang über die Sinne. Seine Darstellungen umfassen die große Perspektive des Menschseins, sind aber zugleich praxisnah und somit für alle Bereiche unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsfelder fruchtbar. In 2 Bänden erscheinen diese "Klassiker" nun mit bisher unveröffentlichtem Material aus dem Karl König Archiv sowie weiteren ergänzenden Beiträgen von Prof. Dr. Peter F. Matthiessen und anderen. Band 1 behandelt die Einheit des Sinneswesens – Band 2 betrachtet alle zwölf Sinne im Einzelnen und erscheint im Sommer 2021.

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Karl König

Die zwölf Sinne des Menschen

Band IDer Kreis der zwölf Sinne und die Ich-Entwicklung

Herausgegeben von Richard Steel

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Cover

Titel

Editorische Vorbemerkung

Die zwölf Sinne des Menschen

von Richard Steel

Das Sinneswesen als Ich-Leib – Zur Sinneslehre von Karl König

Einleitung von Prof. Dr. Peter F. Matthiessen

Karl König – Vorträge zur Sinneslehre

Vom Sinn der Sinne – Vortrag in Stuttgart, 1961

Der Kreis der zwölf Sinne – 8 Vorträge in Spring Valley, New York, 1960

Einführung

Der Tastsinn und der Lebenssinn

Der Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn

Der Geruchssinn und der Geschmackssinn

Der Sehsinn und das menschliche Auge

Der Wärmesinn

Der Hörsinn und das menschliche Ohr

Die drei höchsten Sinne

Die zwölf Sinne des Menschen – 5 Vorträge in Wien, 1963

Anhang

Course on Differential Diagnosis, Donegal, Pennsylvania, 13. / 15. Juli 1962 (Hörernotizen)

Tagebuchnotizen der Reise nach Wien, 1963

Anmerkungen

Impressum

Leseprobe: Brüder und Schwestern – Geschwisterfolge als Schicksal

Die zwölf Sinne des Menschen

Editorische Vorbemerkung

von Richard Steel

Die zweibändige Ausgabe der Sinnesarbeiten Karl Königs erscheint innerhalb der Werkausgabe in der Fachabteilung «Allgemeine Anthroposophie», wenngleich eine Zuordnung zur medizinischen Menschenkunde zunächst naheliegender erscheint. Königs Arbeiten zur Sinneslehre sind jedoch weitreichender, komplexer und fachübergreifend.

Seine Sinnesstudien begann Karl König bereits im Bereich der Zoologie und setzte sie nach seinem Medizinstudium in Wien in der Humanmedizin und Embryologie fort. Erste Kurse zur Sinneslehre gab er in der Arlesheimer Klinik und in Fortbildungsseminaren für Ärzte, aber auch für therapeutische und pflegerische Berufe, um sie dann in der Zeit des Aufbaus der Camphill-Bewegung – vor allem innerhalb der in Schottland entstehenden Ausbildung für Mitarbeiter – zu intensivieren. Dort war seine Blickrichtung besonders auf heilpädagogische Fragestellungen und die Beobachtungen aus dem pathologischen Bereich gerichtet, was letztlich das Verständnis der Sinnesorgane und -prozesse im Allgemeinen vertiefte. Gerade die Pathologien, die er dort beobachten und behandeln konnte, verstärkten seine Einsichten sichtlich.

Die beiden großen Kurse1 über die Sinne, die in Band I enthalten sind, können vor allem im allgemeinen anthroposophischen Sinne als Hinführung zu einem neuen Verständnis des Menschenwesens selbst betrachtet werden – also ganz im Zusammenhang mit der zentralen Aufgabe der Anthroposophie!

Insbesondere in seinem ersten Vortrag in Wien bezieht sich König auf dieses «Allgemeine» im Sinne des Umfassenden, indem er diese Absicht bei Rudolf Steiner feststellt:

Rudolf Steiner hat im Jahre 1909 die erste Konzeption seiner Sinneslehre dargelegt2 und hat sie das Grundkapitel der Anthroposophie genannt, ohne das es unmöglich wäre, eine anthroposophische Geisteswissenschaft zu entwickeln.

In diesem Sinne handelt es sich bei unseren beiden Bänden nicht um eine komplette Sinnesphysiologie, sondern um Betrachtungen zu den einzelnen Sinnen in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang, als «Hinführung zu einem neuen Verständnis des Menschenwesens» überhaupt; ein Weg allerdings, der sich als hilfreich und fruchtbar für pädagogische und vor allem therapeutische Fragen erweist. Dies wiederum kommt besonders deutlich in den Beiträgen im zweiten Band zum Ausdruck.

Die Bände in der Übersicht:

Band IDer Kreis der zwölf Sinne und die Ich-Entwicklung

Der erste Band enthält im Kern die beiden Kurse, die Karl König 1960 in Spring Valley, New York, und 1963 in Wien über die Ganzheit der zwölf Sinne gehalten hat. Der Titel des Bandes drückt bereits aus, dass es hier zentral um die Frage des Menschen in seiner Ich-Entwicklung geht. In dem Aufsatz «Die Zwölfheit der Sinne – Ich-Entwicklung und Gemeinschaftsbildung» in Band II wird das Thema noch einmal zusammenfassend ausgeführt.

Beide Kurse haben zu ihrer Zeit viele Menschen für das Thema begeistern können und nachhaltig in den Zuhörern gewirkt. Auf Englisch erschien 1999 – zusammen mit Vorträgen über «Die sieben Lebensprozesse» – eine Buchausgabe des in den USA gehaltenen Kurses unter dem Titel Living Physiology. Als diese Arbeiten im gleichen Jahr auf Deutsch erschienen,3 wurden lediglich Auszüge aus den Vorträgen des Wiener Kurs ergänzend hinzugestellt, weil die damaligen Herausgeber Wiederholungen vermeiden wollten. Wir sind jedoch heute der Meinung, dass dieser Wiener Kurs in seiner Gesamtheit relevant ist, sodass wir die Texte nun erstmalig vollständig veröffentlichen. Für Karl König war dieser Kurs, den er 1963 hielt, sicherlich bedeutend, denn es war seit der Flucht 1938 sein erster längerer Besuch in der Wiener Heimat – damals behandelten seine letzten Vorträge eben auch die Sinneslehre (und die Tiere).4

In Anbetracht der Fülle an Vorträgen, Aufsätzen und Seminarnotizen Königs zu den Sinnen werden die Arbeiten zu den «sieben Lebensprozessen», die in den oben erwähnten Ausgaben aufgenommen wurden, künftig in einem separaten Band zu den inneren Organen und Organprozessen publiziert.

Beiden Kursen wird im ersten Band nun ergänzend noch ein Vortrag Königs hinzugestellt, der ebenso allgemeine Gesichtspunkte zum Sinneswesen enthält – vor allem in Bezug auf das Verhältnis dieser Sinneswelt zum Menschen selbst. Auch wenn der Vortrag bereits 1961 (in Stuttgart) gehalten worden ist, und dadurch natürlich in mancher Hinsicht zeitgebunden sein mag, hat er mit dem Thema «Vom Sinn der Sinne und von der Not der Sinne in unserer Zeit» absolut nichts an Aktualität verloren, sondern wirft Fragen und Aspekte auf, die heute und für die Zukunft immer drängender werden. In diesem Vortrag kommt vor allem das große Anliegen Königs zum Ausdruck, dass die Bedeutung der Sinne für den Menschen im Allgemeinen und für seine Entwicklung erkannt und dadurch zu einem Leitprinzip unserer Gesellschaftsgestaltung wird. Wenn König in diesem Vortrag ausführt: Die Sinne sind die Wiege, in der das Ich-Kind zu wachsen beginnt, so drückt das genau das aus, was mit diesem ersten Band gemeint ist, der den Untertitel Der Kreis der zwölf Sinne und die Ich-Entwicklung trägt.

Königs Arbeiten werden mit einem Essay von Prof. Dr. Peter Matthiessen eingeführt, in dem ein Überblick über das Phänomen «Sinneswesen» und über die «Gliederung der Sinnesbereiche in ihre Zwölfheit» gegeben wird.

Der Seminarkurs 1962, Donegal Springs House, Pennsylvania

Der Anhang enthält fragmentarische Hörernotizen aus einem weiteren Kurs («Course on Differential Diagnosis»), den König 1962 in den USA gegeben hat. Zwei Jahre nach dem großen Kurs in Spring Valley war er wieder auf Vortragsreise – nun vor allem, um anzuknüpfen an die Resultate seines ersten Amerika-Besuchs, denn in New York State war eine Dorfgemeinschaft im Entstehen, und in Pennsylvania hatte sich durch die Entwicklung der Schule ein Stamm von Mitarbeitern zusammengefunden, der eine starke Pioniergruppe für die beginnende Camphill-Region in Nordamerika bildete. Bis heute sind aus dieser Zusammenarbeit 15 Gemeinschaften und weitere Initiativen in den USA und Kanada entstanden, die mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen arbeiten. Seinerzeit – 1962 – veranstaltete König mit einer kleinen Gruppe einen Kurs über Diagnostik in Zusammenhang mit den Sinnen.

Im Weiteren enthält der Anhang Auszüge aus seinem Tagebuch, die seine Eindrücke während der Reise nach Wien 1963 veranschaulichen.

Band IISinnesentwicklung und Leiberfahrung

Der zweite Band dieser Sinnesarbeiten fügt dem mehr allgemeinen ersten Band genauere Studien zu den einzelnen Sinnen hinzu und weist bereits im Titel auf den Hauptinhalt hin – die grundlegenden Aufsätze Karl Königs zu den «unteren» Sinnen, die bereits 1971 unter dem gleichen Titel erschienen; ergänzt auch durch den Aufsatz «Körperschema und Leibessinne» von Königs Freund und Schüler Georg von Arnim. Dieser Aufsatz wurde aus der Zusammenarbeit mit König zur Abrundung seiner Ausführungen zur ersten Herausgabe geschrieben.5

Wenn die Ausführungen zunächst auch sehr große Bereiche umspannen und grundsätzliche Erkenntnisse über Fragen der Gestalt, über das menschliche Leiberleben darstellen, so führen sie jedoch unmittelbar in die Praxis – in die Grundfragen der Erziehung, der Heilberufe und auch in die Fragen des sozialen Lebens.

König plante, zwei Bücher über heilpädagogische Diagnostik zu schreiben – einmal vom Gesichtspunkt der Bewegungsentwicklung und im Weiteren vom Gesichtspunkt der Sinne. So wie König Diagnostik verstanden und auch betrieben hat, wäre der therapeutische Ansatz in beiden Büchern mit impliziert gewesen und diese hätten sich gegenseitig ergänzt. Wir können vermuten, dass die Aufsätze über die «unteren» Sinne ein Kapitel abgegeben hätten; Notizen, die sich mit dem Datum 1951 und 1952 über die mittleren Sinne in seinem Nachlass befinden, könnten der Anfang eines eigenständigen Kapitels gewesen sein. Auch wenn sich das nicht belegen lässt, veröffentlichen wir sie in dieser Publikation.

Vermutlich hatte König damit begonnen, Texte aus den Seminarstunden, die er regelmäßig für die Mitarbeiterschaft gegeben hatte – und für die es auch eine Fülle von Notizen gibt –, zusammenzuführen. Sie bleiben bruchstückhaft und zeigen dennoch bemerkenswerte Ansätze zu einem neuen Verständnis dieser Umwelt-Sinne. Hinzugefügt sind dann Notizen zu den oberen Sinnen, die 1954 in Vorbereitung für Kurse im heilpädagogischen Seminar in Aberdeen entstanden waren. Auch hier handelt es sich um unvollständige Ausführungen, nicht ausgearbeitete Manuskripte, die interessante Aspekte zu den oberen Sinnen liefern. Um den Charakter des Arbeitsmaterials beizubehalten, fügen wir einige Faksimiles hinzu – vor allem dort, wo Zeichnungen zu einem Verständnis der Inhalte beitragen.

Einleitendes

Als Einstieg in das Material des zweiten Bandes dient ein Aufsatz, entstanden während einer Reihe von Vorträgen über Karl Königs Arbeiten an der Sinneslehre – ein Versuch, eine Zusammenfassung einer anthroposophischen Sinneslehre zu skizzieren, aus dem die Bedeutung für das Menschenverständnis, vor allem aber auch für die Praxis deutlich wird, ob im Erzieherischen oder in den Heilberufen. Denn dies war Königs großes Anliegen, dass die Anthroposophie im praktischen Leben fruchtbar wird, was bei ihm selbstverständlich gleich den Bezug zum sozialen Leben an sich aufzeigt. Die Relevanz der «oberen» oder «geistigen» Sinne für das Soziale – auch für das Heilen des Sozialen – war für Karl König essenziell. An dieser Stelle sollen daher seine Vorträge über das Soziale erwähnt werden, die in dem Band: Mensch unter Menschen werden bereits veröffentlicht worden sind; wir können sie vielleicht als eine notwendige Fortführung der Grundlagen der Sinneslehre sehen, wie sie König erarbeitet und gelehrt hat, ja auch versucht hat, im Leben der therapeutischen Gemeinschaft direkt wirksam werden zu lassen. Wir erkennen aber, dass das Hineinführen einer neuen Erkenntnis der Sinne in die soziale Wirklichkeit, gleichzeitig und unmittelbar eine Bemühung um Erkenntnis des Übersinnlichen bedingt. Die Sinne selbst scheinen das Tor zum Übersinnlichen darzustellen.

So ist es an dieser Stelle folgerichtig, dass als Übergang zu Königs Darstellungen der einzelnen Sinne eine Betrachtung steht, die den Bezug des Menschen zu seinem Sinneswesen und dessen Natur deutlich beleuchtet. Diese Gedanken von Peter Matthiessen haben in einem weiteren Aufsatz eine Fortsetzung erfahren, den er als Begleitlektüre für diesen Band komponiert hat, und den wir den Lesern ans Herz legen möchten.6

Karl Königs Weg mit der Sinneslehre

Bevor Karl König in die Humanmedizin einsteigen konnte, hatte er Latein nachzuholen und nutzte die Zeit, um nebenher weitere Fächer zu studieren. Neben Botanik war ihm die Zoologie sehr am Herzen gelegen, worüber die Aufsatzsammlung Bruder Tier Zeugnis gibt.7 Sicher wurden diese Studien von der Freundschaft mit Eugen Kolisko beeinflusst, der an der Angabe Rudolf Steiners über die Zwölfheit des Tierreichs gearbeitet hatte. So waren die ersten Arbeiten Königs zur Sinneslehre durch die Sinne im Tierreich und den Vergleich der beiden Zwölfheiten geprägt. Diese frühen Arbeiten würden allein schon ein Buch füllen. An dieser Stelle möge die Wiedergabe einiger Zeichnungen zunächst genügen, um auf diese Studien hinzuweisen.

Trotz der schwierigen Situation, verbunden mit seiner Flucht aus Schlesien 1936 und nach Schottland 1938, mit der folgenden Pionierzeit der kleinen Gemeinschaft, hielt König für die Anthroposophische Gesellschaft in Wien 1937 (26.10. – 14.12.) und 1938 (11.1. – 28.2.) insgesamt vierzehn Vorträge über die Sinne, die Tiere und den Tierkreis. 1939 veröffentlichte er drei Aufsätze zu diesem Thema mit dem Titel «Zodiac» in der Zeitschrift The Modern Mystic8 und schrieb 1939/40 drei Bücher: Die Ordnung der Tiere im Tierkreis, die als Manuskriptdruck über Elisabeth Vreede und Ernst Marti in Arlesheim erhältlich waren.

Seine Sinnesstudien erfuhren eine weitere Vertiefung durch das Medizinstudium, vor allem aber weil König seinen tiefen Fragen nach Wesen und Entwicklung des Menschen neben dem Studium im embryologischen Institut nachging. So hielt er in seinen Seminaren über die Sinne auch immer wieder Stunden über die embryologische Entwicklung der Sinnesorgane. Mit dem Aufbau der heilpädagogischen Gemeinschaft und der dazugehörenden Ausbildung, die formal 1949 eröffnet wurde, sowie der speziellen Schulung der Krankenschwester, die 1945 mit einem ersten Kurs begann, intensivierte sich seine diesbezügliche Lehrtätigkeit. Als Beispiel diene die rätselvolle Notiz aus dem Jahr 1952 zum Gleichgewichtssinn auf S. 18.

Aus den Aufsätzen «Zodiac», 1939: Vorbereitungsnotiz und Manuskript

Aus einer Notizmappe: «Tierstudien», 1939/1940

Notiz zum Gleichgewichtssinn, 1952

Als 1952 eine Camphill-Arbeit in Norwegen beginnen sollte, wählte Karl König insbesondere drei Themen für seine Vorträge, die den Boden bereiten sollten: die Tempelritter, die Rosenkreutzer und die Sinne. In den menschenkundlichen Darstellungen, so erfahren wir vor allem durch Hörernotizen, sprach König zunächst über Krankheiten und Vererbung in der kindlichen Entwicklung, dann aber über die Ich-Entwicklung des Menschen vor dem Hintergrund der Zwölfheit der Sinne. Er stellte dar, wie die Naturreiche den «Boden» für die menschliche Entwicklung abgeben, und wie gerade in der dauernden direkten Auseinandersetzung mit den Naturreichen um uns herum das Ich sich entwickelt, indem der Mensch ein eigenes Reich außerhalb der Natur aufbaut. In diesem Zusammenhang – in der Frage nach dem wirklichen «Sinn der Sinne» – stellen die Sinne nicht nur einen Bezug zur äußeren Welt dar, sondern erheben den Menschen, vor allem durch die oberen Sinne, über die Natur hinaus. Aus Königs Vorbereitungsnotizen auf S. 20 – 21 können wir einiges darüber erfahren.

In den 1950er-Jahren stellte König im heilpädagogischen Seminar Camphills zwar immer wieder den Zusammenhang aller zwölf Sinne dar, doch überwiegen in den hinterlassenen Dokumenten Ausführungen über die Umwelt-Sinne und ihre Sinnesorgane, oft auch über die Gegensätze von Sehen und Hören. 1959 – 61 entstanden dann die grundlegenden Aufsätze über die unteren Sinne für die deutsche Zeitschrift Das Seelenpflege-bedürftige Kind, die im Zentrum unseres zweiten Bandes stehen.

Notizen zu den Vorträgen in Oslo 1952: «Senses and The 3 Kingdoms of Nature»

Notizen zu den Vorträgen in Oslo 1952

Aus undatierten Unterlagen, die etwa 1945 entstanden sind, erscheint ein ganz anderer Zugang zu der Ganzheit der zwölf Sinne in Bezug zu dem «zwölffachen Verlangen» – also zu einer seelischen Zwölfheit. Da nur zwei Seiten erhalten sind, können wir nur annehmen, dass König sich dafür mit der «zwölfgliedrigen Kette des bedingten Entstehens» beschäftigt hat, wie sie im Pali-Kanon beschrieben ist (siehe Faksimile S. 23).9

Auch im Aufbau der therapeutischen Gemeinschaft war die Zwölfheit der Sinne für König so zentral, dass das Thema selbst in seinen Spielen für die Jahresfeste in künstlerischer Weise deutlich aufleuchtet. Das Spiel für das Johanni-Fest ist ganz den Gestaltungskräften des Tierkreises in ihrer Wirkung auf den werdenden Menschen gewidmet, insbesondere dem vierteiligen Osterspiel liegt auch die Zwölfheit zu Grunde. Vor einer Aufführung des Teils für Karfreitag legte König den Zuschauern dar, wie diese Zwölfheit auch direkt mit den Sinnen in Zusammenhang steht:

Ihr werdet es verstehen, wenn ich sage, dass das Karfreitagsspiel tatsächlich etwas ist, das uns die Welt der Sinne entdecken lässt; welches uns den Sinn der Sinne zeigt; das Wesen der Sinne selbst.

Später, nachdem er bereits nach Mitteleuropa zurückgekehrt war, waren es vor allem die oberen Sinne, die er eindrücklich darstellte: Die Sinne, die dem Menschen die Welt des Seelisch-Geistigen erschließen und ihn «Mensch unter Menschen werden» lassen. Diese Worte klangen immer wieder in den Vorträgen an, sodass wir sie dann als Buchtitel auswählten.10 In seiner Vorbereitung für den dort veröffentlichten Vortrag am Palmsonntag 1964 in Föhrenbühl schrieb Karl König am Ende seiner Notizen:

Nun aber erkennen wir: Die Christus-Kräfte, die im kleinen Kind das Gehen, Sprechen und Denken ermöglichen, sie wandeln sich in den drei obersten Sinnesorganen zu den Kräften des Heiligen Geistes um. Dieses aber ist die Sphäre des sozialen Lebens.11

Studien zu den zwölf Sinnen, etwa 1945

Studien zu den 12 Sinnen, etwa 1945

Zur Editionsarbeit und eine Danksagung

Es ist mir nun ein Anliegen, ein Wort über den Freund zu schreiben, der die Editionsarbeit mit großem Interesse begleitet hat: Peter Matthiessen, Neurologe, Psychiater, Professor für Medizintheorie und Komplementärmedizin und Mitgründer der Universität Witten-Herdecke, hat eine Einführung für die Bände verfasst und plante, einige weiterführende Notizen zu Königs Forschungen auszuarbeiten. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen, da er drei Wochen nach unserer letzten Besprechung, am 30. April 2019, in seine geistige Heimat zurückgekehrt ist. Es war immer etwas sehr Besonderes, mit Herrn Matthiessen gemeinsam die Texte zu studieren – einerseits weil er als Experte auf diesem Gebiet seine Erfahrung und sein weites Wissen anbringen konnte, andererseits war es deswegen eine Freude, da er jedes Mal seine Begeisterung für Karl Königs Art der Beschreibung zum Ausdruck brachte. So vertrat er die Meinung, dass König einen sehr künstlerischen Zugang zu den Fragen der Sinne schaffen konnte, der wesentlich dazu beitragen kann, unser Verständnis für die spirituelle Bedeutung der Sinnesvorgänge zu wecken. Persönlich bin ich immer von den Gesprächen bereichert nach Hause gegangen, dabei beteuerte er jedes Mal mit Bescheidenheit, selbst hinzugelernt zu haben. Es waren Begegnungen, für die ich sehr dankbar bin. Noch in den letzten Wochen seines Lebens hat er die einleitenden Texte fertiggestellt, und ich bin sicher, dass er unsere Arbeit weiter begleiten wird. Sein ausgesprochener Wunsch war es, dass der Aufsatz «Die Zwölfheit der Sinne – Ich-Entwicklung und Gemeinschaftsbildung», den ich während der Zeit unserer Zusammenarbeit schrieb, in den zweiten Band aufgenommen wird. Der Hinweis auf den Zusammenhang der «oberen» Sinne mit dem Sozialen – also auch das Einbeziehen von Königs Ausführungen in dem Band Mensch unter Menschen werden – war ihm sehr wichtig; so sollte ein Bogen gespannt werden von Königs frühen Arbeiten zum Wesen der Tiere, die ihn von Jugend an begleiteten, bis hin zu den Anliegen im Sozialen, die seine eigene Biographie immer mehr prägten.

An dieser Stelle darf ich auch einen Dank an Konrad Schily richten, der lange mit Peter Matthiessen zusammengearbeitet hat und sich schon länger für Karl Königs Werk einsetzt. Er hat die fachliche Begleitung der Editionsarbeit in der Schlussphase zu Ende geführt. Ein Dank soll ebenfalls an Angela Stintzing gehen, da sie nach dem Tod von Herrn Matthiessen wesentlich dazu beigetragen hat, die Literaturangaben und Fußnoten zu rekonstruieren, die er für diese beiden Bände vorgesehen hatte.

Zu den Vorlagen für diese zweibändige Ausgabe

Wenn auch die Texte aus den beiden längst vergriffenen Publikationen Der Kreis der zwölf Sinne und die sieben Lebensprozesse und Sinnesentwicklung und Leiberfahrung den Kern dieser zwei Bände ausmachen, so sind einige Texte neu hinzugefügt worden, die noch nicht veröffentlicht wurden. Diese haben teils redaktionelle Arbeit benötigt, da es sich (im ersten Band bei den Wiener Vorträgen und bei dem Vortrag in Stuttgart) um lückenhafte Hörernotizen handelt. Alle Vortragstexte sind aber weitgehend so belassen worden, wie sie aufgenommen wurden, um den persönlichen lebendigen Stil seines Vortragens so weit als möglich zu erhalten. Lediglich an einigen Stellen wurde der Text des lesenden Verständnisses wegen etwas redigiert. In wenigen Fällen werden heute übliche Begriffe verwendet, um es dem Leser leichter zu machen – die damals übliche Bezeichnung «Mongolismus» zum Beispiel wurde mit «Down-Syndrom» ersetzt.

Beim Wiener Kurs haben wir Zeichnungen in Faksimile aus Königs Vorbereitungsnotizen in die Texte eingefügt, da die Tafelzeichnungen nicht aufgehoben wurden – allerdings waren nicht alle Zeichnungen von ihm vorbereitet worden, und so liegen von den spontanen Tafelzeichnungen leider keine Abbildungen vor.

Die Seminarinhalte, die wir in den zweiten Band eingegliedert haben, sind nicht mitgeschrieben worden, folglich haben wir einige seiner Vorbereitungsnotizen aufgenommen, von denen wir annehmen, dass König selbst plante, eine Schrift daraus anzufertigen. Die Londoner Vorträge, 1952/53, die er schriftlich gut vorbereitet hatte, sind dort in der Übersetzung unter Beibehaltung der ursprünglichen Form des Originals ohne weitere editorische Bearbeitung wiedergegeben.

Schließlich soll erwähnt werden, dass König beabsichtigte, einen umfassenden Band über die Sinne zu veröffentlichen und letztlich, wie bei vielen seiner Vorträge und Forschungsarbeiten, in den relativ wenigen Jahren, die ihm noch zur Verfügung standen, nicht mehr die Zeit gefunden hat, die Texte weiterzubearbeiten. Christof-Andreas Lindenberg, der die Herstellung und Verteilung der Manuskripte von Karl Königs Vorträgen besorgte (was oft am späten Abend gleich nach dem jeweiligen Vortrag geschah), berichtete uns, dass König mit den relativ guten Nachschriften des Kurses in Spring Valley, USA, nicht zufrieden war und sie lieber nicht verteilt haben wollte. Er wollte sie in einer ähnlich übersichtlich gegliederten Form wie die Aufsätze über die unteren Sinne (Band II) überarbeiten. Damals willigte er trotzdem ein, und vielleicht wird er uns heute vergeben, wenn wir die Texte, die zweifelsohne ihren Wert haben, erneut publizieren. Vermutlich könnte er zustimmen, weil seine Ansätze auf diesem Weg von vielen Menschen ernsthaft studiert, weitergeführt – und vor allem für die Praxis fruchtbar gemacht werden. Denn sein Hauptanliegen war es, dass die höchsten Ideen aus der Anthroposophie die soziale Wirklichkeit durchdringen, denn ihm war der Ruf des Johannes: «Ändert euren Sinn» ganz wesentlich – und wo soll eine Sinnesänderung beginnen, wenn nicht mit der Sinneslehre? In diesem Sinne sei eine Notiz wiedergegeben, die er 1952 niederschrieb:

Für das Karl König Archiv

Richard Steel 2021

Das Sinneswesen als Ich-Leib

Zur Sinneslehre von Karl König

Prof. Dr. Peter F. Matthiessen

Rudolf Steiner hat in seinem erkenntniswissenschaftlichen Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit1 die (Sinnes-)Wahrnehmung und das Denken als die beiden letzt-begründenden Quellen aller Wirklichkeitserkenntnis aufgezeigt. Damit ist zugleich der Boden dafür bereitet worden, neben dem Denken auch die Sinnes-Wahrnehmung als unabdingbare Erkenntnisquelle anzuerkennen.

Im Gegensatz zum Denken, das wir tätig hervorbringen müssen, kennzeichnet sich die Wahrnehmung dadurch, dass sie uns ohne unser Zutun «gegeben» ist. So gehört das Phänomen der Letzt Gegebenheit zu den essenziellen Eigenschaften der Sinneswahrnehmung.

Meist sprechen wir von der Sinneswahrnehmung im Singular, obwohl sich die Sinneswahrnehmung in ganz unterschiedliche Sinnesbereiche bzw. Modalbezirke untergliedern lässt. Hier unterscheiden wir die fünf klassischen Sinne, nämlich Tastsinn, Geruch, Geschmack, Sehsinn und Hörsinn. Der Grund dafür, traditionellerweise fünf Sinne aufzuzählen, dürfte darin bestehen, dass bei diesen Sinnen die dazugehörigen Sinnesorgane unschwer aufzufinden sind. Es trägt die Kenntnis der organologischen Grundlage der Sinnesorgane jedoch nichts zu deren phänomenal inhaltlicher Erhellung bei: Als Alltagsmenschen und in den empirischen Wissenschaften gebrauchen wir unsere Sinne unhinterfragt.

Weiterführend für die Grenzziehung zwischen unterschiedlichen Sinnesmodalitäten und für die Verfolgung der Frage, wie viele Sinne des Menschen sich berechtigterweise darstellen lassen, hat sich ein phänomenologischer Ansatz erwiesen. «Dieser Begriff wird in sehr unterschiedlicher Weise gebraucht, vor allem auch im Sinne einer naiven Beschreibung der gewöhnlichen Lebenswelt. Was dagegen im Folgenden als Phänomenologie bezeichnet wird, ist eine erst durch Übung schrittweise zu erlangende Fähigkeit, von der Selbstverborgenheit der Sinneswahrnehmung und ihrer naiv-objektivistischen Handhabung zu einer Thematisierung des Sinnlichen selbst zu gelangen.»2 «Beim phänomenologischen Ansatz haben wir es nicht mit einer natürlichen, sondern mit einer durch eine mit freiem Willensentschluss herbeigeführten künstlichen Einstellung zu tun. Ihr Leitmotiv ist das Postulat der theoretischen Voraussetzungslosigkeit oder der konsequenten Urteilsenthaltung, der methodischen Ausklammerung aller Setzungen, Deutungen und Wertungen, insbesondere der Frage nach Wahrheit oder Falschheit, Wirklichkeit oder Unwirklichkeit, Objektivität oder Subjektivität. Was sich dieser Einstellung darbietet, ist das unmittelbar Gegebene.

Die Wahrnehmung selbst aber tritt originär auf. Sie bedarf keiner anderen Inhalte oder Erkenntnisse, auch keines physiologischen oder physikalischen Wissens, um gegeben zu sein.»3

Den Weg einer methodisch stringenten Selbstbeobachtung und einer konsequenten Erlebnisanalyse hat Rudolf Steiner als Erster aufgezeigt, indem er spätestens im Zusammenhang mit seiner erstmaligen Darstellung der Sinne des Menschen 1909 in dem Vortragszyklus «Anthroposophie» auf diese Vorgehensweise hingewiesen hat.4 Unsere begrifflich geleitete Intention löst dabei die Objekte der Außenwelt in ihre qualitativen «Eigenschaften» auf, die beim gewöhnlichen Wahrnehmen den Dingen gewissermaßen fest anhaften und richtet sich auf die Qualitäten als solche. Die sogenannte analytische Reduktion ist somit nur hinsichtlich der Auflösung der Dinglichkeit analytisch, während sie bei der Herausarbeitung des Qualitativen synthetisch vorgeht: Im Erfassen der Sinnesqualitäten als selbstständiger, auch durch eigene Begriffe repräsentierter Wesenheiten lösen wir uns aus der Verhaftung an die konkreten Gegenständlichkeiten der naiven Lebenswelt und vollziehen eine freie Synthese dessen, was über die Sinneswelt in Einzelerscheinungen verstreut ist. Die Grundsätze, nach denen in der modernen Sinneslehre die analytische Reduktion der Sinnesmannigfaltigkeit erfolgt, sind die Ähnlichkeit (Unähnlichkeit) und die Abhängigkeit (Unabhängigkeit) der verschiedenen Qualitätsbereiche.

«Führt man die analytische Reduktion der Sinnesmannigfaltigkeit konsequent weiter, so gelangt man schließlich zu Elementen, die begrifflich nicht weiter analysierbar sind, also rein phänomenalen Charakter besitzen. Es sind dies die sogenannten einstelligen Elemente der Sinneserlebnisse, z. B. das Erlebnis Rot. Die Sinnesphysiologie als experimentelle Wissenschaft unterscheidet sich nun von der Phänomenologie vor allem dadurch, dass sie diese phänomenalen Grundgegenstände nicht nur begrifflich aus der Sinnesmannigfaltigkeit extrahiert, sondern sie mittels entsprechender Versuchsanordnungen auch experimentell möglichst rein darstellt und die Bedingungen ihres Auftretens untersucht. In den ‹künstlich› erzeugten, rein phänomenalen Objekten der allgemeinen Sinnesphysiologie haben wir also einen Fall vor uns, in welchem der erkenntnistheoretische Grenzbegriff der reinen Wahrnehmung praktisch realisiert wird.»5

Ein Ergebnis dieser phänomenologischen Vorgehensweise ist die Auflösung, das Verschwinden der gegenständlichen Welt, und das Erstehen neuer Welten: einer Welt der Tasterlebnisse – und nur der Tasterlebnisse; einer Welt der Gerüche – und nur der Gerüche; einer Welt der Geschmackserlebnisse – und nur der Geschmackserlebnisse; einer Welt der Farben sowie von Licht und Dunkelheit – und nur der Farben sowie des Lichts und der Dunkelheit; und einer Welt der Töne – und nur der Töne.

Ein Vorgehen, bei dem methodisch dasjenige thematisiert wird, was die einzelnen Sinnesbereiche an spezifisch qualitativem Erlebniswert zeigen, ist von Erwin Straus als «Ästhesiologie» bezeichnet worden.6 Auf ihrem Boden ergibt sich für die moderne, erkenntniskritisch ausgerichtete Sinnesphysiologie (u.a. Hensel, Reenpää, Husserl, Steiner, König u. a. m.) die Möglichkeit, die einzelnen Sinne als Modalbezirke zu begreifen: «Die Modalität ist eine mehrstellige Eigenschaft, die eine ganze Gruppe von Sinneserlebnissen zu einem Modalbezirk verbindet. Dabei können wir aufgrund von Ähnlichkeits- und Unähnlichkeitsbeziehungen verschiedene Modalbezirke abgrenzen: die Sehmodalität, die Hörmodalität, die Bewegungsmodalität, die Tastmodalität, die Geruchsmodalität, die Geschmacksmodalität – um nur eine Auswahl zu nennen. […] Was die Modalbezirke voneinander sondert, ist ihre phänomenale Verschiedenheit. Wir sind uns ohne Weiteres darüber klar, ob ein Sinneserlebnis zum Bereich des Gesichts gehört oder zum Bereich des Gehörs. Ferner ist es evident, dass die verschiedenen Elemente eines Modalbezirks eine gewisse Ähnlichkeit besitzen, welche sie zu einer Teilmannigfaltigkeit – eben der betreffenden Modalität – verbindet. Eine gesehene Farbe und eine gesehene Räumlichkeit sind sich darin ähnlich, dass beide zum Modalbezirk des Gesichts gehören und nicht zu einem anderen Sinnesbereich. […] Man kann daher sagen, dass es in erster Linie die Qualitäten sind, welche die verschiedenen Modalbezirke konstituieren und ihnen das spezifische Gepräge geben.»7

Die Sinneserlebnisse haben unverwechselbare und spezifische Qualitäten, die in ihrer Gesamtheit die Sinnesmannigfaltigkeit darstellen. Diese phänomenale Struktur lässt sich aufgrund ihrer qualitativen Wesensinhalte beschreiben, in ihren gegenseitigen Verhältnissen untersuchen und begrifflich darstellen, ohne den Bereich des sinnlich Gegebenen zu überschreiten. Dies sei am Beispiel der Farben verdeutlicht: die Farbqualitäten lassen sich rein phänomenal nach ihren Wesenseigenschaften beschreiben und nach ihren unmittelbar erlebten Verwandtschafts- und Komplementaritätsverhältnissen in eine bestimmte Ordnung bringen, z. B. den Goethe’schen Farbenkreis, die Runge’sche Farbenkugel oder neuere Systeme des Farbendreiecks und Farbenkörpers. Gegenüber der Objektivität oder Subjektivität der Farben ist diese Farbenordnung völlig invariant; sie gilt unabhängig davon, ob es sich um Körperfarben, Lichtfarben oder Nachbilder handelt. Es liegt in unserer freien Entscheidung, dass wir die Wahrnehmungsdimension nicht nur – wie im natürlichen Alltag zumeist – auf die Dinge und die an ihnen als Eigenschaften auftretenden Sinnesqualitäten richten können, sondern, unter Abstraktion von den Dingen, auf die Qualitäten selbst.

«Wir können darüber hinaus im sinnesphysiologischen Experiment diese Qualitäten in reiner Form zum Erlebnis bringen. Hier zeigt sich eine spezifisch menschliche Fähigkeit des Wahrnehmens, die über die naturgegebenen Lebenszusammenhänge hinausreicht. Auf diesem Wege gelangen wir schließlich zu elementaren, nicht weiter analysierbaren Erlebnissen. Es sind dies die sogenannten einstelligen Elemente der Sinnesmannigfaltigkeit, z. B. das Erlebnis der Farbe Rot. Was Rot ist, kann man nicht definieren und deshalb auch nicht mit Worten sagen; man kann es nur erleben, und wer diese Erlebnisfähigkeit nicht besitzt, etwa weil er farbenblind ist, dem ist auch mit Definitionen nicht zu helfen.»8

Wie viele Sinne besitzt der Mensch?

Je nachdem wie sorgfältig man die auf Ähnlichkeitserlebnissen beruhenden Modalbereiche fasst oder phänomenologisch untersucht, wird man zu einer verschiedenen Anzahl von Sinnen gelangen. Die Sinneslehre von Aristoteles umfasst fünf Sinne, die neuere konventionelle, ästhesiologische Sinnenphysiologie unterscheidet acht bis zehn Sinne, Rudolf Steiner hat bei seiner ersten Auseinandersetzung (1909) zehn Sinne beschrieben, um später, ab 1916, zwölf Sinne zu beschreiben.9 Die Zahl zwölf ist auch für die von Karl König verfolgte Sinneslehre maßgebend. Da Karl König im Zuge seiner genialischen Schaffenskraft der von ihm vertretenen Sinneserkenntnis zwar eine durch seine Persönlichkeit eigenständig geprägte Auffassung zum zwölfgliedrigen Sinnesorganismus vertrat, andererseits aber sich ausdrücklich als ein Geistesschüler Rudolf Steiners empfand, auch bei seinen den Sinnen gewidmeten Vorträgen ausdrücklich Rudolf Steiner als Kronzeugen nennt, sei zunächst der Ansatz Rudolf Steiners zur Sinnesauffassung dargelegt.

Er, Rudolf Steiner, hat in seinen frühen erkenntnistheoretischen Schriften nicht nur die prinzipielle Unhintergehbarkeit dessen aufgezeigt, was uns die Sinne zeigen. In vier Vorträgen unter der Rubrik «Anthroposophie» (1909) hat Rudolf Steiner zudem das Spektrum der klar voneinander abgrenzbaren Sinne deutlich erweitert, indem er folgende Erlebnisbezirke als Sinne benennt und skizziert, welchen Sinnesbereich sie erschließen:

An Sinnen, die uns das eigene Leibeserlebnis vermitteln, werden als «untere» Sinne genannt:

Lebenssinn

Eigenbewegungssinn

Gleichgewichtssinn

An umweltbezogenen «mittleren» Sinnen führt Steiner folgende Sinne an:

Geruchssinn

Geschmackssinn

Gesichtssinn

Wärmesinn

Interessanterweise grenzt Steiner den Hörsinn hiervon ab und rechnet ihn zu den «oberen» Sinnen. An weiteren, an den Hörsinn angrenzend, zeigt Steiner noch folgende Sinne auf, die zuvor nicht als Sinne erkannt worden waren:

Hörsinn

Wortsinn

Gedankensinn

Diese Auflistung bedarf einer kurzen Kommentierung. Was die auf das Erleben der eigenen Leiblichkeit bezogenen Sinne betrifft, so handelt es sich im Rahmen des 1909 gehaltenen Vortrags sowohl um eine Neu- als auch um eine Erstbeschreibung. Dazu Steiner: «Was ist der Lebenssinn? Er ist etwas im Menschen, was er eigentlich, wenn alles in Ordnung ist, nicht fühlt, sondern nur dann fühlt, wenn etwas in ihm nicht in Ordnung ist. Der Mensch fühlt Mattigkeit, die er wahrnimmt, als ein inneres Erlebnis, wie er eine Farbe wahrnimmt. Und das, was im Hunger- oder Durstgefühl zum Ausdruck kommt oder was man ein besonderes Kraftgefühl nennen kann, das müssen Sie auch innerlich wahrnehmen wie eine Farbe oder einen Ton. Man nimmt dies in der Regel nur wahr, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist. Die erste menschliche Eigenwahrnehmung wird durch den Lebenssinn gegeben, durch den der Mensch als ein Ganzes sich seiner Körperlichkeit nach bewusst wird […] Niemand kann Sinne verstehen, der nicht weiß, dass es eine Möglichkeit gibt, sich als Ganzes innerlich zu fühlen, sich als einer innerlich geschlossenen körperlichen Gesamtheit bewusst zu werden.»10

Diese Ausführungen weisen darauf hin, dass der Erfahrungsbereich des Lebenssinns einen Teil desjenigen ausmacht, was wir als unser Befinden bezeichnen. Hinzu kommt hier, dass die durch den Lebenssinn erfahrenen Qualitäten – wie bei allen leibbezogenen Sinnen auch – von Steiner nicht etwa als subjektive Erlebnisse, sondern als objektive Erfahrungen begriffen werden. So führt Steiner in einem anderen Zusammenhang aus: «Nehmen Sie den Menschen in Bezug auf das, was durch diese letzten vier Sinne (Gleichgewichts-, Bewegungs-, Lebens-und Tastsinn; d. Verf.) wahrgenommen wird; es sind, trotzdem wir die Dinge wahrnehmen – unsere eigene Bewegung, unser eigenes Gleichgewicht –, es sind, trotzdem wir das, was wir wahrnehmen, auf entschieden subjektive Weise nach innen hin wahrnehmen, dennoch aber Vorgänge, die ganz objektiv sind. Das ist das Interessante an der Sache. Wir nehmen diese Dinge nach innen hin wahr, aber was wir da wahrnehmen, sind ganz objektive Dinge, denn es ist im Grunde genommen physikalisch gleichgültig, ob, sagen wir, ein Holzklotz sich bewegt oder ein Mensch, ob ein Holzklotz im Gleichgewicht ist oder ein Mensch. Für die äußere physische Welt in ihrer Bewegung ist der sich bewegende Mensch ganz genau ebenso zu betrachten wie ein Holzklotz; ebenso mit Bezug auf das Gleichgewicht. Und wenn Sie den Lebenssinn nehmen, so ist es so, dass das, was unser Lebenssinn übermittelt, ganz objektive Vorgänge sind. Stellen Sie sich vor einen Vorgang in einer Retorte: er verläuft nach gewissen Gesetzen, kann objektiv beschrieben werden. Das, was der Lebenssinn wahrnimmt, ist ein solcher Vorgang, der nach innen gelegen ist. Ist er in Ordnung, dieser Vorgang, ganz als objektiver Vorgang, so übermittelt Ihnen dieses der Lebenssinn, oder ist er nicht in Ordnung, so überliefert Ihnen der Lebenssinn auch das. Wenn auch der Vorgang in Ihrer Haut eingeschlossen ist, der Lebenssinn übermittelt es.»11

Dieser Aspekt findet sich neuerdings auch durch empirische Untersuchungen bestätigt. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil handelt es sich bei vielen Formen des Sich-krank-Fühlens keineswegs nur um subjektive Erlebnisweisen, denen in der Patient-Arzt-Beziehung ein Erkenntniswert nicht zugebilligt werden kann. Sie gehören vielmehr zu der auf den eigenen Leib bezogenen Sinnesmodalität, die auch als Coenästhesie12, als Allästhesie13 oder als Lebenssinn14 bezeichnet werden.

Subsumierend finden sich in diesem Modalbereich sogenannte Komfort- und Diskomfortempfindungen, die jeweils auf eine aktuelle, konkrete und objektivierbare eigenleibliche physiologische Situation hinweisen. So ist von Cabanac, Beste, Hensel, Hildebrandt und anderen nachgewiesen worden,15 dass die Komfort- bzw. Behagensempfindungen bei Wärmeapplikation auf die Hand von der integralen Hauttemperatur, also vom Gesamtwärmezustand abhängen. Bei relativ erhöhter Körperwärme wird eine kühlere Temperatur an der Hand (unter 30°C) als angenehm, eine höhere (über 37°C) dagegen als unangenehm empfunden. Umgekehrt gilt für die Komfortempfindungen bei niedriger Körpertemperatur, dass Erwärmung der Hand als angenehm, Kühlung aber als unangenehm erlebt wird. Die Korrelation der Behagensempfindung an die gemessene Temperatur ist dabei so eng, dass für eine willkürliche Deutung des Behagens kein Spielraum bleibt. «Die Lebensempfindungen sind vielmehr ein exakter Gradmesser für den ausgeglichenen integralen Wärmezustand.»16

Entsprechende Korrelationen zwischen den Empfindungen «angenehm» und «unangenehm» im Hinblick auf den Süßgeschmack in Abhängigkeit von der Höhe des Blutzuckers sind gleichermaßen nachgewiesen worden.17

Im Gegensatz zu den landläufigen Vorstellungen von subjektiven Wärmeerlebnissen, die einer res cogitans zugerechnet werden, und einer vermeintlich objektiven, einer res extensa zugerechneten Körpertemperatur, handelt es sich hier um die zwei Seiten ein und derselben Münze!18

Auch wenn im Hinblick auf den hier behandelten Modalbezirk der Coenästhesie bzw. des Lebenssinns ein Mangel an phänomenologischer bzw. empirisch-experimenteller Beforschung besteht, so muss in diesem Zusammenhang doch darauf hingewiesen werden, dass es sich hier um einen Modalbereich handelt, der für die Medizin und die Medizinanthropologie von zentraler Bedeutung ist. Denn was zu ihm gehört, ist eben nicht nur die Schmerzempfindung als Hinweis auf eine aktuelle Schädigung bzw. ein krankhaftes Geschehen. Zu ihm gehören neben Schmerz und Lust, Hunger und Sättigung, Durst und Labung, Ermattung und Erquickung, Ermüdung und Erfrischung u.a.m. alle lokalen und nicht lokalen Missempfindungen bei krankhaften Organ- und Allgemeinerkrankungen. Ohne ihn, diesen Sinn, wäre eine lebenserhaltende autonome Lebenspraxis gar nicht denkbar. Ohne Dursterleben als Hinweis auf einen aktuellen Flüssigkeitsmangel bzw. eine drohende Elektrolytverschiebung, ohne Hunger als ein innerleiblich empfundenes Signal eines anstehenden Nahrungsmangels und ohne das Erleben der Müdigkeit bzw. der Ermattung als innerleiblichem Hinweis auf das Erfordernis von Schlaf und Erholung würde bereits nach wenigen Tagen der Tod eintreten.

Was uns die Gesamtheit der auf den eigenen Leib bezogenen Sinne an Wahrnehmung vermittelt, ist nicht etwas nur Subjektives, es ist viel mehr der «Innenaspekt» erlebter Leiblichkeit. Wir sind in der ärztlichen Praxis oft nicht in der Lage, die Phänomene des Befindens bzw. Missbefindens als feine Indikatoren für im Entstehen begriffene Krankheiten diagnostisch und therapeutisch verwerten zu können. So ist es eine geläufige Erfahrung, dass der befundmäßig objektivierbaren Parkinson’schen Krankheit über Jahre hinweg «innere» Erlebnisse vorausgehen können in dem Sinne, dass charakteristische eigenleibliche Wahrnehmungen, die in der Regel mit «objektiv» greifbaren Symptomen dieser Erkrankung verbunden sind, bereits bei (noch) völlig «unauffälligem» neurologischen Befund vorhanden sein können, bis der pathische Aspekt «inneren Vibrierens» sich schließlich um den des äußeren Tremorphänomens erweitert.19

Was den Eigenbewegungssinn betrifft, so ist dieser der konventionellen Physiologie bekannt und wird dort als Kinästhesie bezeichnet. Dieser Sinn wird in der Physiologie auch als Propriozeption bezeichnet, also als eine Modalität, die das Körperselbst bzw. die eigenleibliche Selbstwahrnehmung vermittelt. Folgt man aber Rudolf Steiner und Karl König, so ist es das Gesamt der auf den eigenen Leib bezogenen Sinne, also Lebenssinn, Eigenbewegungssinn und Gleichgewichtssinn, mit deren Hilfe wir uns als leibliches Wesen selbst wahrnehmen.

Auch der Gleichgewichtssinn erweist sich als ein zwar auf die eigene Leiblichkeit bezogener, aber dennoch objektiver Sinn, in dem durch ihn – vor aller Urteilsbildung, als sinnenfällige Gegebenheit – die leibliche Orientierung in den drei Raumesrichtungen, nämlich oben – unten, vorne – hinten sowie rechts – links bewusst werden sowie die entsprechenden Abweichungen des eigenen Leibes von den vorgenannten Qualitäten, die sich bei einer qualitativen Raumauffassung auch als objektive Eigenschaften des Raumes erweisen.

Was den Tastsinn betrifft, so wird von Steiner bei der Erstvorstellung seiner Konzeption der menschlichen Sinne 1909 noch darauf verwiesen, dass diese «gewöhnlich zusammengeworfen» wird «mit dem Wärmesinn»: «Zunächst hat der Tastsinn freilich nur als Wärmesinn Bedeutung. Als solcher Sinn ist sozusagen im Groben zu bezeichnen die ganze Haut. Diese ist auch in gewisser Weise für den Tastsinn da. Doch ist, richtig betrachtet, nicht nur das ein Tasten, was wir tun, wenn wir einen Gegenstand anrühren, seine Oberfläche abfühlen; Tasten ist es auch, wenn wir mit den Augen etwas suchen. Auch Geruchssinn und Geschmackssinn können tasten. Wenn wir schnüffeln, so tasten wir mit dem Geruchssinn. Bis herauf zum Wärmesinn ist das Tasten eine gemeinschaftliche Eigenschaft der Sinne vier bis sieben. Von diesen Sinnen können wir also sprechen als von Sinnen des Tastens. […] Nur unsere grobklotzige Betrachtungsweise der Physiologie kann einem Sinn etwas zuschreiben, was einer ganzen Reihe von Sinnen zukommt, dem Geruchssinn, Geschmackssinn, Gesichtssinn und Wärmesinn. Beim Gehörsinn hört die Möglichkeit auf, ihn als Tastsinn zu bezeichnen; noch weniger ist das beim Sprachsinn und wiederum weniger beim Begriffssinn möglich. Während wir beim Tastsinn etwas haben, was an der Oberfläche bleibt, was nicht in die Dinge hineindringen kann, so dringen wir beim Wärmesinn zunächst in die Dinge ein und dann immer tiefer und tiefer. Diese oberen Sinne liefern uns das Verstehen und Begreifen der Dinge in ihrem Innern, und sie werden daher als Sinne des Begreifens bezeichnet.»20