Diebinnen im Paradies - Lilian Peter - E-Book

Diebinnen im Paradies E-Book

Lilian Peter

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Beschreibung

Dieser Text lässt uns keinen Zweifel. Von Anfang an sagt er uns, die Geschichte, die er erzählt, ist unglaubwürdig, ja unmöglich: Keine Mutter wurde je vom eigenen Kind geboren. Genau so unmöglich wie die Pathologisierung der Frau als Diebin, die die Autorin anhand vieler Texte belegt. Die Jury hatte keinen Zweifel: Ein Essay, der gezielt überrascht und fundiert zeigt, wie unsere Geschlechterbilder uns in die Irre führen. (Martin Zeyn für die Jury des EDIT Essay-Preises 2017)

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Seitenzahl: 26

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Lilian Peter

Diebinnen im Paradies

Lilian Peter

Diebinnen im Paradies

»I’ll example you with thievery: The sun’s a thief, and with his great attraction Robs the vast sea; the moon’s an arrant thief, And her pale fire she snatches from the sun; The sea’s a thief, whose liquid surge resolves The moon into salt tears; the earth’s a thief, That feeds and breeds by a composture stol’n From general excrement: each thing’s a thief: The laws, your curb and whip, in their rough power Have uncheck’d theft.«(Shakespeare, Timon of Athens)

»Würde man das Warenhaus abschaffen, so gäbe es eine Revolution der Frauen.«(Émile Zola)

Meine Mutter brachte ich am 3.4.2017 in Oberpommern zur Welt. Sie begann noch in derselben Nacht zu sprechen. Ihre Lehrerin in der Volksschule Unterpommern hatte eine weiße Plastikflöte mit einem roten Lippenstiftabdruck darauf und forderte meine Mutter, die ein absolutes Gehör hatte und Noten lesen konnte, lange bevor sie Buchstaben lesen konnte, im Musikunterricht einmal auf, eine zweite Stimme zu einer gegebenen Melodie zu schreiben, und zwar einen Ton höher als die Melodie selbst. Meine Mutter, die immer alles besser wusste, sagte, das würde nicht gut klingen, doch die Lehrerin sagte, sie solle tun, was man ihr sage, also schrieb meine Mutter eine zweite Stimme einen Ton höher, und die Lehrerin teilte die Klasse in oben und unten, und die Klasse begann zweistimmig in die Flöten zu pusten. Nach nicht einmal einem Takt brach die Lehrerin ab, da es nicht gut klang, und fand bis zum Ende des Schuljahres in den Klassenarbeiten meiner Mutter siebenundzwanzig Fehler, die es gar nicht gab. Mit fünfzehn schrieb meine Mutter einen Text über eine Person namens Erich Endlich, der daran verzweifelt, dass ihm jemand seine Identität gestohlen hat, sich deshalb auf den Weg macht, die Diebin zu finden, und auf diesem Weg in vielen Bars landet, in denen er es mit schönen Frauen zu tun bekommt, die ihm, ohne dass er fragen muss, Feuer anbieten, sobald er eine Zigarette aus der Tasche zieht. Ich vermute, dass meine Mutter u.a. gerade Frisch und Sartre gelesen hatte. In einer Randnotiz zu ihrem Text stellte sie fest, dass sie sich, sie wisse nicht warum, schreibend automatisch als Mann denke. Die Komik oder Tragik des Scheiterns an Erkenntnis, Identität, Wahrheit, Frau! Meine Mutter hatte sich verliebt in diese alte Geschichte und wäre vermutlich gerne selbst zu ihrem Erzähler geworden, aber das ging nicht, da sie a) kein Mann war, und ihr b) wenig später etwas sehr faul an dieser Geschichte vorkam. Mit sechzehn wurde meine Mutter zum ersten Mal als Kleptomanin bezeichnet; eine Liste all dessen, was sie angeblich gestohlen hat, findet sich hier: https://fundbueroderdingediemeinemutterstahl.wordpress.com/.

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