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Was kann sich entwickeln, wenn drei junge Menschen aus unterschiedlichem Elternhaus ihr Leben in die eigenen Hände nehmen? Klug, mit Wärme und Humor erzählt Gurnah aus dem heutigen Leben junger tansanischer Weltbürger
Tansania, heute. Drei junge Menschen wachsen hier auf: Karim, der nach seinem Studium mit Ehrgeiz und großen Ideen in seine verschlafene Heimatstadt Daressalam zurückkehrt. Fauzia, die in Karim nicht nur ihren geliebten Partner, sondern auch die Chance sieht, einer allzu behüteten Kindheit zu entkommen. Badar, ein mittelloser Junge, der in Fauzia und Karim Freunde findet und von ihnen Hilfe erfährt, obwohl nicht klar ist, was und ob die Zukunft überhaupt etwas für ihn vorgesehen hat. Als Fortschritt und Tourismus in ihrem abgelegenen Winkel der Welt Einzug halten, nimmt jeder der drei das Schicksal in die eigenen Hände. Auf der Suche nach Erfolg, Glück und Bedeutung kämpft insbesondere Badar mit den langen Schatten eines Diebstahls.
»Absolut fesselnd . . . In diesem ruhigen, reifen Roman gibt es keine einfachen Wahrheiten, was ihn als Ganzes so wahrhaftig macht.« Wall Street Journal
»Gurnahs Sätze fließen wie der Lauf eines alten Flusses, selbst wenn er komplizierte moderne Leben beschreibt.« Washington Post
»Ein straff konstruiertes Familiendrama mit überraschenden Wendungen.« Kirkus Review
»Wenn die Geschichte zu Ende ist – wenn auf der letzten Seite endlich alle Fäden zusammenlaufen –, kann der Leser nicht anders, als Gurnahs Können zu bewundern.« Financial Times
»Eine wichtige Bereicherung für Gurnahs bemerkenswertes Werk; ein Roman, durchdrungen von Schmerz und Verlust, doch nicht von Verzweiflung.« The Guardian
«Kulturell spezifisch und zugleich emotional universell . . . Gurnah in Höchstform.« Publishers Weekly
»Eine leise kraftvolle Demonstration erzählerischer Meisterschaft, zugleich Coming-of-Age-Kammerstück und breit angelegtes postkoloniales Panorama.« Observer
»Der neue Roman des Nobelpreisträgers ist ein Knüller.« The London Standard
»Nichts am menschlichen Verhalten überrascht Gurnah, und durch das Lesen seines weisen neuen Romans mit dem sanften und schönen Ende sind wir Leser etwas weniger vorschnell mit Urteilen und eher bereit zu verstehen, was es bedeutet, zu kämpfen, zu wagen, zu lieben – was es bedeutet, Mensch zu sein.« Elif Shafak, New Statesman
»Eine meisterhaft inszenierte Auseinandersetzung mit Freundschaft und Verrat.« The Economist
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tansania, heute. Drei junge Menschen wachsen hier auf: Karim, der nach seinem Studium mit Ehrgeiz und großen Ideen in seine verschlafene Heimatstadt Daressalam zurückkehrt. Fauzia, die in Karim nicht nur ihren geliebten Partner, sondern auch die Chance sieht, einer allzu behüteten Kindheit zu entkommen. Badar, ein mittelloser Junge, der in Fauzia und Karim Freunde findet und von ihnen Hilfe erfährt, obwohl nicht klar ist, was und ob die Zukunft überhaupt etwas für ihn vorgesehen hat. Als Fortschritt und Tourismus in ihrem abgelegenen Winkel der Welt Einzug halten, nimmt jeder der drei das Schicksal in die eigenen Hände. Auf der Suche nach Erfolg, Glück und Bedeutung kämpft insbesondere Badar mit den langen Schatten eines Diebstahls.
»Der Ton seiner Romane ist leise, die Sprache unprätentiös. Und doch sind sie eine Wucht. […] Gurnah schreibt Weltliteratur im besten Sinne.« Falter, Sebastian Fasthuber
Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang elf Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers’ Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag. »Diebstahl« ist sein erster neuer Roman seit Verleihung des Literaturnobelpreises.
www.penguin-verlag.de
ABDULRAZAKGURNAH
ROMAN
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel Theft bei Bloomsbury, London.
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Copyright © der Originalausgabe 2025 bei Abdulrazak Gurnah
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Übersetzungslektorat: Tatjana Michaelis
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagabbildung: © Lubaina Himid
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-33380-5V001
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Im Allgemeinen ist bemerkenswert zu sein recht schwierig.
Joseph Conrad, Spiel des Zufalls
Raya wurde überstürzt verheiratet. Ihr Vater hatte herausgefunden, dass ein bestimmter junger Mann ihr äußerst viel Beachtung schenkte, anfangs nur durch lange Blicke und ein verstohlenes Lächeln im Vorübergehen, später dann, der Vater hatte es selbst gesehen, indem er sich ihr dreist in den Weg stellte und sie in minutenlange Gespräche verwickelte. Wahrscheinlich drängte er auf ein heimliches Treffen und machte ihr unsinnige Versprechungen, alles vor den Augen ihres Vaters. Das Verhalten des jungen Mannes war unanständig, dreist und respektlos. Der Vater machte sich nicht zuletzt deshalb solche Sorgen um Raya, weil er den jungen Mann kannte. Wäre er ein Fremder gewesen, hätte die Sache natürlich noch schlechter ausgesehen, trotzdem war der drohende Schaden groß genug. Der junge Mann hieß Rafik und war in der ganzen Nachbarschaft bekannt, wobei Rayas Eltern im Laufe der Jahre nur wenig Kontakt zu seiner Familie gehabt hatten. Er war zusammen mit anderen Jugendlichen durch die Straßen gezogen und hatte am Strand Fußball gespielt, und später, als der Versuch, die Briten loszuwerden, das Land in Aufruhr und Chaos stürzte, hatte er sich den sogenannten Genossen angeschlossen und war in die Umma-Partei eingetreten. Die Partei hatte ihn und viele andere Freiwillige zur militärischen Grundausbildung nach Kuba geschickt – mit Wissen der britischen Kolonialbeamten, die den Sinn der Exkursion nicht verstanden, oder vielleicht war es ihnen auch egal. Eigentlich warteten sie nur noch darauf, das Land verlassen zu können.
Nach seiner Rückkehr war Rafik ansehnlicher denn je; er hatte sich in einen schlanken, heldenhaften Krieger verwandelt und trug jetzt eine leuchtend grüne Uniform und dazu eine runde Kappe, wie sie niemand zuvor gesehen hatte. Er und die Genossen waren gerade rechtzeitig zurückgekommen, um bei der Revolution mitzumischen. Die Soldaten jener Zeit, und Rafik war einer davon, hatten nichts Besseres zu tun, als die Bevölkerung zu terrorisieren, denn schließlich war nirgendwo ein Feind zu sehen, stattdessen aber viele verängstigte Zivilisten. Doch selbst Wörter wie »Zivilist« oder »Bürger« waren umstritten, und die Krieger nutzten das gerne aus. Dann hältst du dich also für einen Bürger? Zeig mal deine Geburtsurkunde her. Was soll das heißen, du hast keine? – Besonders oft traf es Menschen fortgeschrittenen Alters, die nie auf die Idee gekommen waren, sich eine solche Urkunde zu besorgen; und nach Papieren gefragt wurde natürlich nur, wenn es jemanden zu demütigen oder einzuschüchtern galt, oder beides. Du Schmarotzer gibst dich als Bürger aus? Zu den Freuden der Macht gehörte auch, willkürlich bestrafen, schikanieren und vertreiben zu können.
Jedenfalls kehrte Rafik in einer schicken Uniform aus Kuba zurück, und mit einer Kappe, wie Fidel Castro sie zu tragen pflegte. Manchmal trug er auch eine schwarze Baskenmütze wie Che Guevara, und seine Kameraden grüßte er mit neuen Parolen, die schon bald vertraut klangen: venceremos, la luta continua, vamos. Ungefähr zu der Zeit begann er, Raya mit Blicken zu verfolgen, sie auf der Straße keck anzulächeln und schließlich anzusprechen. Alle konnten sehen, was er im Schilde führte. Sie war siebzehn und schön, und er hatte den Ruf, junge Frauen ins Unglück zu stürzen.
Wie er mit dir gesprochen hat, gefällt mir gar nicht. Du weißt, wie diese Leute sind, sagte ihr Vater wütend. Mach mir nichts vor. Usindanganye. Du hast ihn angelächelt, als hätten seine Schmeicheleien dir gefallen. Er ist hinter dir her, merkst du das nicht? Er wird dich entehren und uns alle in Schande stürzen.
Raya protestierte. Hatte sie eine Wahl? Sie konnte ja wohl schlecht so tun, als würde sie den jungen Mann nicht kennen. Sie wollte ihn nicht kränken. Ihr Vater hob den Arm und bedeutete ihr mit einer schwungvollen Geste, zu schweigen und ihm aus den Augen zu gehen. Er beriet sich mit seinem älteren Bruder Hafidh, der sich ebenfalls sehr vor der Schande fürchtete und daher nachvollziehen konnte, warum Rafiks Verhalten bei Rayas Vater eine solche Panik auslöste. Erst töten sie unsere Söhne, und dann wollen sie unsere Töchter entehren, sagte Hafidh. Die Brüder wussten, was auf dem Spiel stand, und so hielten sie verzweifelt nach jemandem Ausschau, der Raya – und damit sie alle – vor Demütigung und Schande retten würde. Rayas Vater wandte sich an seinen älteren Bruder, wann immer er einen guten Rat oder Geld brauchte oder, wie in diesem Fall, beides. Denn selbst wenn sie einen geeigneten Kandidaten fanden, würden sie eine Feier ausrichten und Geschenke und das Essen bezahlen müssen, und im Gegensatz zu seinem älteren, zum Glück sehr großzügigen Bruder hatte Rayas Vater fürs Geldverdienen überhaupt kein Talent.
Am Ende stießen sie auf Bakari Abbas, einen freundlichen Mann jenseits der vierzig, der in Pemba lebte. Er war geschieden und hatte es als Bauunternehmer zu einigem Wohlstand gebracht. Auf Nachfrage äußerten sich seine Bekannten wohlwollend über ihn, und so machten die Eltern sich daran, Rayas Leben an seiner Seite zu planen. Ihr Vater informierte sie davon in dem selbstmitleidigen Tonfall, den er immer anschlug, wenn er Raya oder ihre Mutter zu irgendetwas überreden wollte, deshalb glaubte sie nicht, eine echte Wahl zu haben. Entweder sie fügte sich in das Arrangement, das den guten Ruf und die Ehre ihrer Familie rettete, oder sie entschied sich für den Rabauken vom Militär. Niemand außer ihr selbst kam auf die Idee, sich zu fragen, ob sie ihr Glück lieber mit dem Krieger versucht hätte. Doch Raya verdrängte den Gedanken und sprach mit niemandem darüber. Die Planungen waren schon zu weit gediehen, außerdem würde am Ende ja vielleicht alles gut werden.
Und so kam es, dass ihr Vater, der zwar körperlich schwach, aber von herrischem Temperament war, Raya dazu brachte, in eine Ehe einzuwilligen, vor der sie größte Bedenken hatte. So war sie erzogen worden, so lebten alle in ihrem Umfeld. Die hektischen Vorbereitungen ließ sie ebenso über sich ergehen wie die guten Ratschläge ihrer Tanten und Freundinnen, die sie zurechtmachten und umarmten und ihr sagten, sie müsse sich der männlichen Lust unterwerfen. Die Freuen flüsterten Raya zu, das Begehren ihres Mannes würde sie zur Erwachsenen machen und ihre Leidenschaft wecken; seine liebevolle Zuwendung würde sie erfüllen, und Gott würde das Ergebnis segnen. Und dann, am Abend ihrer Auslieferung, lag sie im Bett von Bakari Abbas und erlebte zum ersten Mal und mit Schrecken, wie sich ihr ein fremder Körper aufdrängte. Sie wehrte sich nicht, weder in dieser Nacht noch in den darauffolgenden Nächten, denn so hatte man es ihr beigebracht. Er hatte ein Anrecht darauf, und sich ihm hinzugeben, war ihre Pflicht.
Bakari Abbas war ein Mittvierziger von angenehmem bis gefälligem Äußeren, sehnig und stark und mit seinen eins sechzig durchschnittlich groß. Draußen in der Welt gab er sich liebenswürdig, denn als Geschäftsmann besaß er tadellose Manieren und jene Höflichkeit, die Leute seines Berufsstandes auszeichnet. Nur Raya gegenüber war er kurz angebunden, außerdem verlangte es ihn pausenlos nach ihrem Körper, eigentlich täglich, und manchmal sogar zwei oder drei Mal am Tag. Was ihr zunächst befremdlich und beängstigend erschien, wurde mit der Zeit zu einer lästigen und irgendwie demütigenden Pflichtübung; doch sie fügte sich, weil sie es nicht besser wusste. Sie sagte sich, dass jede Frau das energische Eindringen ertragen müsse, um die Bedürfnisse ihres Mannes zu befriedigen; sie müsse versuchen, dem Ganzen irgendein Vergnügen abzugewinnen. Sie hätte sich verstellen und Lust heucheln können, um seine Dominanz ins Leere laufen zu lassen, aber dafür war sie zu jung und zu angeekelt. Während er Spaß hatte, verzog sie das Gesicht, kniff die Augen zu und wand sich innerlich. Ihre verzagte Art brachte ihn zum Lachen; er versuchte, sie mit leisem Geflüster und kleinen Küssen zu locken, und als das nicht funktionierte, forderte er sie ganz unverhohlen auf, seine Bemühungen mit ein bisschen mehr Begeisterung zu belohnen. Ihr Zaudern und ihr stummer Widerstand machten ihn umso entschlossener, ihre, wie er es nannte, Leidenschaft zu entfachen. In solchen Momenten lächelte er auf eine ganz bestimmte Weise. Komm, mein Vögelchen, gib mir ein winziges Körnchen Lust, murmelte er und schlug seine knochige Hüfte gegen ihre weichen, weit gespreizten Schenkel.
Sie lernte, den Schmerz zu minimieren, indem sie ihren Körper auf den Moment vorbereitete. Um ihrem Mann nicht restlos ausgeliefert zu sein, erlangte sie eine gewisse Kontrolle. Sie lernte auszuweichen, zu verzögern und Lust vorzutäuschen. Sie sagte Nein, wann immer es möglich war, und auf seine Forderungen und Einschüchterungsversuche reagierte sie mit wüsten Beschimpfungen. Es war ein Albtraum, von dem sie niemandem erzählen konnte. Manchmal fragte sie sich, ob sie es mit dem schönen Rafik besser getroffen hätte, dabei wusste sie bereits, auch das hätte ein böses Ende genommen. Rafik war ein Jahr nach ihrer Verheiratung bei einem Blutbad erschossen worden.
Mit Bakari zankte sie sich pausenlos, und nach der Geburt ihres Sohnes Karim wurde es noch schlimmer. Als sie sich weigerte, so kurz nach der Entbindung wieder mit ihm zu schlafen, wurde Bakari ungeduldig, und jede neue Zurückweisung quittierte er mit einem Tobsuchtsanfall. Dem Ruf, ein umgänglicher Mensch zu sein, wurde er nach wie vor gerecht, denn zu anderen Leuten war er, soweit Raya das beurteilen konnte, weiterhin sehr charmant. Er sparte sich seine Grausamkeiten für sie allein auf und fand ein so großes Vergnügen daran, dass sie fürchtete, er könnte eines Tages gewalttätig werden. Sie wusste nicht, ob es besser war, sich zitternd wegzuducken und ihm zu zeigen, dass sie kapituliert hatte – denn das war es, was er wollte –, oder sich zu widersetzen und ihrerseits auf ihn loszugehen. Sie lernte, mit seiner Verachtung und ihrem Selbstekel zu leben, trotzdem machte sie sich große Sorgen um die Sicherheit ihres Kindes. Manchmal fragte sie sich, ob das Leben für die meisten Frauen so aussah, ob auch sie in Todesangst vor dem eigenen Mann lebten. Warum erhoben sie nicht die Stimme? Raya wusste nicht, an wen sie sich wenden könnte.
Als Karim drei Jahre alt war, nach heimlichem Planen und hartnäckigem Täuschen, verließ Raya ihren Mann. Sie nahm ihr Kind und zog zurück nach Unguja. Sie hatte ihre Eltern dort besucht und sich dann einfach geweigert, wieder nach Hause zu fahren. Das Leben mit Bakari Abbas hatte ihr gezeigt, dass der anerzogene Gehorsam nutzlos war, und am Ende hatte sich so viel Wut in ihr angestaut, dass es zum Widerstand reichte. Die Nachrichten ihres Mannes, der sie zur Rückkehr aufforderte, ignorierte sie genauso wie seine Drohung, sich scheiden und sie mit leeren Händen dastehen zu lassen. Sie ignorierte auch, dass er seinen Sohn zurückverlangte und sich dazu auf ziviles und religiöses Recht berief. Kurz gesagt trennten sie sich im Schlechten. Sie verachtete ihn für seine Gewalttätigkeit, seine Lüsternheit und für den Umstand, dass man sie zu der Ehe mit ihm gezwungen hatte, und er verlieh seiner Empörung Ausdruck, indem er schwor, sie nicht mehr finanziell zu unterstützen, niemals. Sie hätte ihn in die Pflicht nehmen können, entweder per Gesetz oder sogar per Gewohnheitsrecht, aber Raya war trotz des Drängens ihres Vaters und ihres Onkels zu entmutigt und zu verbittert, um die entsprechenden Schritte einzuleiten. Über die Grausamkeiten ihres Mannes konnte sie nicht mit ihnen sprechen. Sie schämte sich zu sehr. Sie sagte nur, dass sie die ganze Zeit gestritten hätten und sie so nicht weiterleben wolle, und anschließend verbot sie ihnen, auch nur einen Schilling von ihrem Mann einzufordern.
Raya und Karim zogen zu Rayas Eltern, die zwei dunkle Zimmer im Erdgeschoss eines Mietshauses bewohnten. Küche und Bad teilten sie sich mit den Nachbarn aus dem ersten Stock. Raya fand die Räume bedrückend, im ganzen Haus roch es säuerlich. Vom Nachbargebäude trennte sie eine schmale Gasse, die von manchen Passanten als Urinal benutzt wurde. Karim schlief bei seinen Großeltern auf dem Boden, im anderen Zimmer rollte Raya jeden Abend ihr Lager aus. Sie war nur widerwillig hierher zurückgekehrt und hatte sich kein bisschen nach den stickigen Kammern gesehnt, in denen sie aufgewachsen war, aber dass ihre Mutter ihr bei der Kinderbetreuung half, bedeutete eine große Erleichterung. Ihr Vater war nicht gerade froh darüber, sie wieder bei sich zu haben, ständig murmelte er etwas von Pflichten und von dem armen Mann, um den sich nun niemand mehr kümmere. Raya fürchtete sich sehr vor den Übertreibungen und verkappten Vorwürfen ihres Vaters. Habt ihr mich denn nicht rufen hören? Der Kaffee ist kalt, der Kaffee ist bitter, der Kaffee ist zu schwach. Sind wir jetzt so verarmt, dass wir uns keinen anständigen Kaffee mehr leisten können? Warum hört mir niemand zu? Wo bleibt mein Badewasser? Ich habe Rückenschmerzen! Die Nachbarn von oben veranstalten einen solchen Lärm, dass ich nicht zur Ruhe komme. Könnt ihr Frauen denn niemals still sein?
Doch er verfügte über ein bestimmtes Talent, das in Rayas Augen alles wiedergutmachte: Er konnte Geschichten erzählen. Mit seinen Geschichten hatte er ihre Kindheit verzaubert. Sie hatte sie alle für wahr gehalten, und selbst als sie erfuhr, dass sie es nicht waren, blieb ein Eindruck von Wahrheit zurück. Später begriff sie, dass er sich diese Geschichten nicht ausdachte; er hatte sie selbst gehört, als Kind, genau wie ihre Mutter, wobei ihre Mutter nicht über dasselbe erzählerische Talent verfügte, oft das entscheidende Detail vergaß und dann, wenn die Pointe misslang, nur zerknirscht lächeln konnte. Ihr Vater hingegen erzählte seine Geschichten wirklich gut. Als sie klein war, erzählte er Fabeln von sprechenden Tieren, später dann fantasievolle Abenteuer aus der großen weiten Welt, und die unterschiedlichen Stimmen imitierte er gekonnt. Aber zuletzt war sein Vorrat versiegt. Raya wusste, warum. Die Revolution hatte ihn gebrochen, und die zauberhaften Geschichten ihrer Kindheit waren langen Tiraden über Ungerechtigkeiten und Alltagssorgen gewichen.
Die Geschichtenflaute hatte auch mit einem ihrer Cousins zu tun, Hafidhs Sohn Suleman. Kurz vor der Unabhängigkeit hatte Suleman sich den neuen Sicherheitskräften angeschlossen. Während Fidel Castro Genossen ausbildete, damit sie zurückkehrten und eine Revolution anzettelten, bereitete sich eine neue Regierung auf die Machtübernahme von den Briten vor und gründete eine paramilitärische Polizei, die im Land für Stabilität sorgen sollte. Die neue Regierung erklärte, die alte Polizei sei eine imperialistische Institution gewesen, die es allein darauf angelegt habe, die kolonisierten Untertanen zu kontrollieren. Die neuen Sicherheitskräfte standen für einen Neustart; sie würden die Bürger des Landes nicht drangsalieren, sondern beschützen. Das sagte man den Leuten. Die meisten Polizeianwärter waren Schulabgänger, die noch nicht einmal das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten. Der Kommandeur war ein Brite, denn warum sollte man sich die Expertise der Briten nicht zunutze machen, solange sie noch vor Ort waren? Dann, eines Abends, zirkulierten Gerüchte von einem geplanten Überfall. Der Kommandeur war zu einer seit Langem anberaumten Feier eingeladen und wollte nicht riskieren, dass ausgerechnet an diesem Abend irgendwelches Gesindel ins Waffenlager einbrach. Also trug er die Schlüssel zum Lager immer bei sich, oder vielleicht lagen sie auch daheim in seiner Aktentasche; niemand wusste es so genau. Jedenfalls ließ er die Teenager unbewaffnet in der Kaserne zurück. Die jungen Leute hatten kaum eine Grundausbildung absolviert, und als sie überfallen wurden, wussten sie nicht, was sie tun sollten. Sie hatten keine Mittel, sich zu verteidigen, und wurden niedergemetzelt. Es war der Auftakt zur Revolution. Hafidhs Sohn Suleman war einer dieser Jungen. Er hatte sich kurz nach dem Schulabschluss im Dezember der Truppe angeschlossen und war erst seit zwei Wochen dabei.
Hinterher konnte man ihn nicht finden, weder unter den Verstümmelten noch unter den Toten, doch weil sie die Prahlereien der Sieger gehört hatte, musste die Familie davon ausgehen, dass auch er gestorben war. Die Brüder erwähnten den Namen des Jungen nie wieder, außer im Gebet. Seine Mutter trauerte um ihn, sie weinte und sprach sich in ihrem Kummer jeden Wert und jedes Recht auf Weiterleben ab. Obwohl Baba nur der Onkel gewesen war, erschütterte es ihn zutiefst. Ein Teil von ihm schien mit dem Jungen gestorben zu sein, und seine Geschichten versiegten, beziehungsweise verwandelten sie sich in bitteres Wehklagen. Je mehr Zeit verstrich, desto blasser wurden seine Erzählungen; Raya wusste nur noch, dass einige davon lustig gewesen waren und andere sehr anrührend. Eine handelte von dem Bettler, der bezichtigt wurde, den köstlichen Duft vom Bankett des Sultans gestohlen zu haben, und als er dafür bezahlen sollte, half Abunuwas ihm, Münzen auf den Palastboden zu werfen und den Sultan zu überzeugen, das Klimpern der Geldstücke als Zahlung zu akzeptieren. Eine andere handelte von einem Vogel Strauß, der ein böses Ende fand, an das Raya sich allerdings nicht mehr erinnern konnte. Es gab auch eine sehr rätselhafte Geschichte über eine Festung hoch oben auf einem Berg aus schwarzem Magnetgestein; sie war uneinnehmbar, weil den herankommenden Feinden alle Schwerter und Lanzen aus der Hand und gegen die Felsen flogen. Und eine über zwei Schwestern, die so kultiviert waren, dass sie ihren Reis mit einer Nadel aßen, Korn für Korn. Aber die Erinnerung an diese Geschichten konnte Babas endloses Stöhnen und Grummeln nicht aufwiegen, das im Laufe der Zeit immer lauter wurde. Er konnte nichts dagegen tun, das wusste Raya, trotzdem fand sie sein Leid schwer mitanzusehen.
Jeden Morgen nach dem Aufstehen und jeden Abend vor dem Schlafengehen musste ihre Mutter den Vater von oben bis unten massieren, und auch tagsüber, wenn er es verlangte. Sie kniete sich neben ihn und arbeitete sich von seinem Nacken und seinen Schultern abwärts bis zu den Zehen, und er stöhnte in masochistischem Behagen. Nach der Morgenmassage kleidete er sich an und wartete, bis man ihm einen Tee brachte und dazu ein Stück frisch frittiertes Mandazibrot. Oft hatte er am Tee etwas auszusetzen, das Mandazi war ihm zu süß oder irgendetwas anderes passte ihm nicht. Nachdem Raya mit Karim zurückgekommen war, versuchte er, auch sie zur Erfüllung seiner Bedürfnisse einzuspannen. Wenn ihre Mutter zu tun hatte, rief er Raya zu sich und verlangte eine Massage, aber sie weigerte sich. Während der Zeit bei Bakari Abbas hatte sie gelernt, Missmut zu ignorieren.
Raya war nun 21 und eine echte Schönheit, auch wenn ihr das nicht bewusst war. So oder so machte sie sich nichts aus männlicher Aufmerksamkeit. Sie hatte von männlicher Gier genug, wollte einfach nur ihre Ruhe und fand Zufriedenheit in kleinen, alltäglichen Dingen. Trotz aller Nachteile war es eine Erleichterung, wieder bei ihren Eltern zu sein; sie lebte in Sicherheit und konnte einen Teil der Verantwortung für das Kind abgeben. Sie war selbst erstaunt darüber, wie bereitwillig sie Karim ihrer Mutter anvertraute. Anfangs fühlte sie sich schuldig deswegen, aber nach einer Weile konnte sie ihren Sohn aus einem gewissen Abstand betrachten und sich eingestehen, dass er sie an ihre unglückliche Vergangenheit erinnerte.
In den Augen ihres Vaters war sie immer noch jung genug, um Schmach und Schande über die Familie zu bringen, zog sie doch die Blicke zweifelhafter Männer auf sich. Denk an dein Kind, sagte er oft.
Ich denke an mein Kind, antwortete sie dann.
Es muss ohne seinen Vater aufwachsen, fuhr Baba fort. Dein Mann hat ein Anrecht auf sein Kind. Geh zu ihm zurück. Es ist deine Pflicht; der Junge braucht seinen Vater. Oder erlaube uns, dir einen neuen Ehemann zu suchen. Eine Scheidung ist heutzutage nicht mehr das Ende der Welt, sie bedeutet gar nichts.
Raya zuckte schweigend die Schultern und dachte bei sich: Beim ersten Mal habt ihr euch ja wirklich Mühe gegeben. Nichts, was du sagst, könnte mich dazu bewegen, zu Bakari Abbas zurückzugehen.
Karim hatte einen älteren Bruder namens Ali, Sohn einer anderen Mutter. Alis Mutter Mamkuu hatte sich von Bakari Abbas scheiden lassen, als ihr Kind acht Jahre alt war, und danach war sie mit dem Jungen von Pemba nach Unguja gezogen. Etwa sechs Jahre später hatte Bakari Abbas Raya geheiratet, was bedeutete, dass die beiden Brüder ein Altersunterschied von ungefähr zehn Jahren trennte.
Als Karim und seine Mutter nach Unguja zurückkamen, ging Ali noch zur Schule. Die Brüder sahen sich kein bisschen ähnlich. Schon mit vierzehn hatte Ali die Gestalt und Größe angenommen, die er als Erwachsener immer noch haben würde. Er hatte die strengen Gesichtszüge seines Vaters geerbt, war aber kleiner als dieser, gut eins fünfzig groß. Seinem muskulösen Körper war jetzt schon anzusehen, dass er im Alter eher untersetzt sein würde, wogegen sein Vater schlank und knochig war. Und anders als sein Vater glühte Ali vor jugendlichem Übermut und lachte bei jeder Gelegenheit. Er liebte das Meer und trieb sich zu gern bei den Fischern herum, viele davon selbst fast noch Kinder und kaum älter als er; sie wohnten in der Nachbarschaft und hatten mit ihm gespielt, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Manchmal schwänzte Ali die Schule und ging mit seinen Freunden fischen, und obwohl er versuchte, es vor seiner Mutter zu verbergen, kam sie jedes Mal dahinter.
Du riechst nach Meer. Du hast schon wieder den Unterricht verpasst, sagte sie, und er ließ in so übertriebener Zerknirschung den Kopf hängen, dass sie ihm statt der Tracht Prügel, die er angeblich verdient hatte, nur einen kleinen Klaps gab.
Seine Mutter Mamkuu wollte nicht, dass er sich mit den Fischern abgab, weil sie einen schlechten Ruf hatten, frech und rauflustig waren und Haschisch rauchten, beziehungsweise verhielt es sich andersherum, das Haschisch machte sie rauflustig und frech. Sie war in Sorge, weil Ali die Schule schwänzte und stattdessen breitbeinig durch die Straßen zog, doch ihre Ermahnungen zeigten überhaupt keine Wirkung. Er gelobte Besserung, nur um hinter ihrem Rücken weiter seinen Unfug zu treiben. Er liebte seine Mutter und wollte sie nicht beunruhigen, aber aufs Meer hinauszufahren, liebte er genauso. Er war stark und konnte allein auf sich aufpassen, eigentlich waren ihre Sorgen vollkommen unbegründet.
Im Grunde hatte er auch nichts gegen die Schule. Er hatte dort Freunde, oft amüsierten sie sich auf Kosten der Lehrer. Ali war der Klassenclown und schaffte es immer mühelos, die anderen zum Lachen zu bringen. Einer seiner Tricks bestand darin, den Gang und die Redeweise der Lehrer zu parodieren. Er hatte sie alle im Repertoire und buckelte, stolzierte und schimpfte, während seine Mitschüler lachten und manchmal auch mitmachten. Am besten gelang ihm der Mathelehrer, ein Mann, der ihnen durch seine Gewaltausbrüche und sein grimmiges Schweigen Angst einjagte. In jeder Mathestunde wurde irgendwer geohrfeigt, oder er wurde auf die Füße gezerrt und bekam Rohrstockschläge auf den Hintern. Ali hatte mit dem Fach ohnehin seine Probleme, aber ab einem gewissen Punkt kam er gar nicht mehr mit, weil der Lehrer im Klassenzimmer ein so bedrohliches Klima erzeugte. Einmal schlenderte Ali vor der kichernden Klasse auf und ab und imitierte den seltsamen Gang und die bösen Blicke des Mathelehrers, als der plötzlich hereinkam. Alis Hintern begann zu kribbeln, vor Schreck drehte sich ihm der Magen um, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel, lächelte den Lehrer freundlich an und kehrte zu seinem Platz zurück. Doch er hatte kaum ein paar Schritte getan, als der Lehrer sich auf ihn stürzte und ihm mit solcher Wucht eine Kopfnuss versetzte, dass er fast ohnmächtig niedersank. An dem Tag war Ali ein Held, denn er hatte unbeirrt weitergelächelt. Den Mathelehrer äffte er trotzdem nie wieder nach.
Besonders die Hausaufgaben fand Ali lästig, dennoch strengte er sich an, weil er eine gewisse Selbstachtung besaß und nicht für dumm gehalten werden wollte. Außerdem war da immer noch der Sportunterricht. Ali war auf eine verbissene Weise athletisch. Sein Ehrgeiz machte ihn vielleicht nicht immer zum Gewinner, aber sein Kampfgeist sicherte ihm einen Platz in der Fußballmannschaft der Schule, wo er sich als harter und disziplinierter Verteidiger hervortat.
Auch Karim hatte die strengen Züge des Vaters geerbt, und dazu dessen schlanke Statur, aber die schmachtenden Augen stammten von seiner Mutter. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatten seine Augen oft ausgesehen, als stünden sie voller Tränen. Anders als sein lebhafter großer Bruder antwortete Karim kaum, wenn man ihn ansprach, und wenn ihm etwas verwehrt wurde, reagierte er mit beleidigtem Schmollen. Die Brüder hatten nicht viel miteinander zu tun, weil ihre Mütter sich nicht gut verstanden oder sich nicht die Mühe machten, einander wirklich kennenzulernen. Mamkuu war knapp vierzig und damit fast zwanzig Jahre älter als Raya. Dieser Altersunterschied, glaubte Raya, schloss so etwas wie eine Freundschaft von vornherein aus, außerdem empfand sie eine brennende Scham, weil sie sich zu einem Leben hatte überreden lassen, das die ältere Frau kennengelernt und für unwürdig befunden hatte. Wahrscheinlich verachtete Mamkuu sie dafür, dass sie sich Bakari Abbas unterworfen hatte, dabei hatte Mamkuu ihn viel länger ertragen als Raya.
Und der Altersabstand zwischen den Jungen fühlte sich, als sie sich kennenlernten, ebenfalls riesig an. Von einem Vierzehnjährigen und einem Vierjährigen kann man nicht erwarten, dass sie viel gemeinsam haben, vor allem dann nicht, wenn der eine ein aufsässiger Teenager ist und der andere ein verschlossenes, von den äußeren Ereignissen überfordertes Kleinkind. Zudem wohnten sie in unterschiedlichen Stadtteilen. Karim war noch zu klein, um sich allein auf der Straße herumzutreiben – der Ort, an dem Ali sich meistens aufhielt. So kam es, dass sie einander fast nie zufällig begegneten. Trotzdem lernten sie sich im Laufe der Jahre immer besser kennen. Anlässlich des Fastenbrechens besuchte jeder die Mutter des anderen, und manchmal liefen sie sich bei einer Veranstaltung oder einem Sportwettkampf über den Weg.
Als Karim eingeschult wurde, hatte Ali längst seinen Abschluss gemacht und beim Zoll angefangen. Mamkuu fand das besser als zu fischen, außerdem stand er als Zollbeamter automatisch auf der richtigen Seite des Gesetzes. Karim besuchte dieselbe Schule, die Ali besucht hatte, und auch die Lehrer waren größtenteils dieselben geblieben. Sie nahmen die Jungen als Brüder wahr und verglichen ihr Verhalten und ihre Leistungen, wie Lehrer es eben tun. Karim schnitt bei diesen Vergleichen meistens sehr gut ab; die Lehrer lobten ihn für seine Begabung und seinen Gehorsam, der von Alis Provokationen und Streichen denkbar weit entfernt war. Dein Bruder war ein richtiger kleiner Teufel, bekam Karim immer wieder zu hören, und eines Tages schaute sein Klassenlehrer, der nur zwei Straßen weiter wohnte, sogar bei ihm zu Hause vorbei und sagte zu seiner Mutter: Der Junge ist ein Goldstück. Natürlich sprach das Lob sich bis zu Ali herum, der schmunzelte und sich an all die Streiche erinnerte, die er den Lehrern während seiner Schulzeit gespielt hatte. Wenn er Karim auf der Straße traf, fragte er ihn stets über die Schule aus: Wie machst du dich, bist du der Klassenbeste? Er gab Karim immer wieder die Gelegenheit, sich mit seinen Leistungen zu brüsten, und Karim ließ sich nie lange bitten, manchmal sprach er sogar von sich aus über seine guten Noten. Danach erkundigte Ali sich nach der Tante, wie er Raya nannte. Falls andere zugegen waren, stellte Ali Karim als seinen schlauen kleinen Bruder vor und tätschelte ihm mit einer beschützerischen Geste die Schulter. Karim liebte das, und wenn Ali den Arm um ihn legte oder ihn freundschaftlich knuffte, ging ihm das Herz auf. Karim war stolz darauf, dass Ali ihm so viel Beachtung schenkte.
Seine Mutter behandelte ihn wie einen Besitz, auf den sie sehr stolz war, dessen Pflege sie aber gern den Großeltern überließ. Dass eine Tante oder Oma die Mutterrolle übernahm und ein Kind in dem Gefühl aufwuchs, mehr als eine Mutter zu haben, war gar nicht ungewöhnlich. Manchmal war das jugendliche Alter der Gebärenden der Grund, manchmal ihre Überforderung mit zu vielen Kindern, manchmal ihr beruflicher Ehrgeiz. In Rayas Fall war es so, dass sie ein neues Leben begonnen hatte und in einem großen Bekleidungsgeschäft arbeitete, wo sie viel über Mode lernte, das Einzige, was sie wirklich interessierte. Sie liebte es, Kundinnen in Stilfragen zu beraten, Outfits zusammenzustellen und die aktuellen Kollektionen vorzuführen. Sie fand neue Freundinnen, und nach einer Weile fühlte sie sich für das jahrelange Elend, das ihr Vater ihr aufgezwungen hatte, angemessen entschädigt. Der hektische Alltag entfernte sie von ihrem Kind, bisweilen reagierte sie auf den Kleinen sogar gereizt. Wenn ihre Ungeduld verflogen war, ermahnte sie sich, nachsichtiger mit ihm zu sein.
Es war vor allem Karims Großmutter, die sich um ihn kümmerte. Morgens rüttelte sie ihn wach, kochte ihm einen Tee und schickte ihn zur Schule. Sie war diejenige, die abends erfuhr, was er tagsüber alles gehört hatte, darunter die verstörende Behauptung, der Erdkern sei flüssig, und auch Geschichten aus einem Buch über griechische Mythologie: die geköpfte Medusa, der Mann, der den Göttern das Feuer stahl, die Taten des Herkules. Aus einem Schulbuch las er ihr von Sindbads Reisen vor. Manche Geschichten betrachtete sie skeptisch, beispielsweise die von dem Trojanischen Pferd. Diese Trojaner müssen ziemlich dumm gewesen sein, auf so einen Trick hereinzufallen. Seine Großmutter war diejenige, die ihm brennendes Jod auf die Haut tupfte, wenn er sich das Knie aufgeschlagen hatte; und wenn er nach einem Sturz heulend nach Hause gelaufen kam, rieb sie ihm eine stinkende Tinktur auf den Knöchel oder das Handgelenk. Er liebte den Gestank der Tinktur, und auch das Wort an sich. Tinktur. Wenn niemand zu Hause war, entkorkte er das Fläschchen, schnupperte daran und zuckte vor dem beißenden Geruch zurück.
Karim wuchs schnell, und nach wenigen Jahren überragte er seinen älteren Bruder. Alle paar Monate musste er sich in den Türrahmen stellen, und Ali notierte seine Größe. Yalla, du bist eine Kokospalme, ein Stängel ohne Muskeln, sagte er. Karim wuchs zu einem schlaksigen, leisen, zurückhaltenden Jungen heran, dessen fester Blick so manchen Erwachsenen verunsicherte. Ali war jetzt noch stolzer auf seinen kleinen Bruder, und er kam oft vorbei, um Karim zum Schwimmen oder für ein Fußballspiel oder einen Spaziergang abzuholen.
Als Karim auf die weiterführende Schule kam, starb ihr Vater. In seinen letzten Lebensjahren hatte Bakari Abbas an Diabetes und einer vergrößerten Prostata gelitten; doch weil der Arzt ihm erklärte, der Diabetes könne eine Narkose verkomplizieren und andere Leiden verursachen, hatte er auf eine chirurgische Verkleinerung verzichtet. Er verstand nicht alles, was der Arzt sagte, aber die Operation klang gefährlich, also entschied er sich für ein Leben mit Schmerzen. Bloß, dass sein Leben dann nicht mehr lange dauerte, weil sein Herz plötzlich versagte. Bei seinem Tod war er 58 Jahre alt.
Seit seine Mutter mit ihm aus Pemba weggezogen war, hatte Karim nichts mehr mit seinem Vater zu tun gehabt. Seine Mutter hatte den Kontakt ohne Begründung abgebrochen. Ihre Miene und ihre abfälligen Gesten stellten klar, dass sie ihre Zeit nicht mehr mit diesem Mann vergeuden wollte. Karim wusste nicht, was sein Vater getan hatte und worüber sie nun nicht sprechen konnte, aber er ahnte, dass es etwas Schlimmes gewesen sein musste. Bakari Abbas’ Tod machte ihn nicht besonders traurig, aber er bedauerte, dass der Hass zwischen seinen Eltern ihn einer Sache beraubt hatte, die für andere Jungen vollkommen selbstverständlich war. Als Kind hatte er sich für seine sonderbaren Familienverhältnisse geschämt, manchmal hatte er sogar über seinen Vater in Pemba gesprochen, als kenne er ihn gut und als habe er zu ihm ein enges Verhältnis, obwohl er ihn doch in Wahrheit vor elf Jahren zuletzt gesehen hatte, als Dreijähriger.
Gelegentlich fragte Karim sich, warum so nachlässige und lieblose Menschen wie seine Eltern überhaupt Kinder bekamen. An seinen Vater erinnerte er sich nur vage, seine Mutter wies ihn oft wegen seiner Mätzchen zurecht, wie sie es nannte. Ganz offensichtlich ging er ihr auf die Nerven, und anders als seine Großmutter hatte sie nie Zeit, mit ihm zu plaudern. Manchmal überraschte seine Mutter ihn mit dem trägen Lächeln, das er so liebte, ganz selten drückte sie ihn sogar oder tätschelte seine Wange, aber meistens sprach sie in einem ungeduldigen Befehlston mit ihm. Hör auf, hier herumzurennen, mach nicht so einen Krach, kisirani we. Warum gehst du nicht raus und spielst mit den anderen Kindern? Er wusste nicht, wann er angefangen hatte, so zu denken, womöglich war es ihm anfangs gar nicht bewusst gewesen, aber ihre Frustration hatte er schon als kleines Kind gespürt. Wenn er eines Tages selbst ein Vater war, würde er alles anders machen, so viel stand fest. Er würde sicherstellen, dass sein Kind sich gewollt fühlte und geliebt. Also, falls er je ein Kind haben würde. Anderen gegenüber sprach er diese Gedanken erst viel später aus, denn sie erschienen ihm undankbar, wenn nicht gar sündhaft, und noch später hatte er sie ganz vergessen.
Ali war seinem Vater ein pflichtergebenerer Sohn gewesen und hatte ihn vor seinem Tod regelmäßig in Pemba besucht. Auf diesem Umweg erfuhr Karim von Bakari Abbas’ medizinischen Problemen. Raya behauptete, die Besuche in Pemba seien Teil eines Plans, den Alis Mutter Mamkuu geschmiedet habe. Die Frau ist eine Strippenzieherin. Sie schickt ihren Sohn hin, um sicherzustellen, dass der Vater ihm alles vererbt.
Und so kam es dann auch. Bakari Abbas hatte nach Raya noch einmal geheiratet und war in seinen letzten Tagen nicht allein gewesen. Seine dritte Frau erbte das Haus und alles darin, die Möbel, Matten, Töpfe und Pfannen, und Ali bekam, was von seinem Geschäft noch übrig war. Weder Alis Mutter noch Raya oder Karim wurden in Bakari Abbas’ Testament erwähnt. Obwohl Raya es nach religiösem Recht hätte anfechten und Karims Anteil erstreiten können, entschied sie sich dagegen und verachtete Bakari Abbas stattdessen für seine Böswilligkeit. Mamkuu war mit dem Erbe ihres Sohnes zufrieden. Ali verkaufte die Firma, heiratete Jalila, mit der er schon länger verlobt war, und kaufte ein Haus in Unguja. Mamkuu hatte kein Verlangen, aus ihrem vor Jahren von ihrer Mutter geerbten Haus auszuziehen. Ali war inzwischen ein erfahrener Zollbeamter im Hafen; seine Uniform war stets sauber, sein Schritt energisch und weit ausholend, und nun war er auch noch frisch verheiratet; er hatte seinen Platz in der Welt gefunden.
Als Bakari Abbas starb, lebte Karims Mutter nicht mehr bei ihren Eltern, zumindest nicht die ganze Zeit. Sie entkam nach und nach. Sie mietete sich ein Zimmer in einer Wohnung, in der eine Freundin mit ihrer Mutter lebte, und alle paar Tage kehrte sie zu ihren Eltern und ihrem Sohn zurück. Zwischen die Besuche schoben sich immer mehr Tage, bis Raya am Ende nur noch gelegentlich für eine oder zwei Stunden vorbeischaute und dann in ihr gemietetes Zimmer zurückkehrte. In der neuen Unterkunft war angeblich nicht genug Platz für einen Jungen im Teenageralter, also musste Karim bei seinen Großeltern bleiben. Er könne sie natürlich besuchen, wann immer er wolle, aber sie müsse fort. Sie könne zu Hause nicht mehr atmen. Es ist dort zu stickig, erklärte sie ihrem Sohn im Flüsterton, damit ihre Mutter es nicht hörte. Ich bekomme hier keine Luft, ich kann nicht bleiben. Alles riecht schal und abgestanden. Nach dem Dreck von Jahren. Das Bad ist schmutzig, die Gasse neben dem Haus stinkt nach Urin. Und du … du bist zu alt, um dir ein Schlafzimmer mit deinen Großeltern zu teilen.
Was soll ich sonst machen? Wenn du nicht da bist, schlafe ich in deinem Zimmer. Du willst nicht im selben Raum schlafen wie ich, murmelte er gekränkt.
Tja, du kannst das Zimmer haben, sagte seine Mutter und lächelte über sein kindliches Schmollen. Bitte sehr, ich überlasse es dir.
Ein paar Monate nachdem Karims Vater gestorben war, erlitt seine Großmutter einen Zusammenbruch. Sie war immer unermüdlich gewesen. Morgens war sie als Erste auf den Beinen, setzte Wasser auf, kochte Tee, wusch, kochte und putzte von früh bis spät, und abends legte sie sich als Letzte schlafen. Doch eines Morgens schaffte sie es nicht, aus dem Bett aufzustehen. Hechelnd und mit weit geöffneten Augen lag sie da. Ihr Kollaps stürzte den Haushalt ins Chaos. Mit letzter Kraft schickte sie Karim los, damit er Raya holte und diese das Kochen übernahm und die Pflege des Großvaters. Am zweiten Tag im Bett starb Karims Großmutter so still und leise, wie sie gelebt hatte. In den darauffolgenden Tagen galt es, die Formalitäten ihres Todes zu erledigen; sie mussten den Leichnam waschen und die Beerdigung, die Gebete und die Trauerfeier vorbereiten, bei der nur Karim und sein Großvater anwesend waren. Es gab eine Lesung in der Moschee und eine zu Hause. Für Karim fühlte es sich an wie der absolute Tiefpunkt. Zuerst war sein ferner, unbekannter Vater gestorben, dann war seine Mutter ausgezogen, und nun hatte seine Großmutter ihn verlassen, von einem Tag auf den anderen.
Du solltest hierbleiben und dich um deinen Großvater kümmern, sagte Raya. Er braucht dich. Mittelfristig müssen wir uns eine Lösung überlegen. Ich kann nicht wieder bei euch einziehen. Ich werde die Nachbarin von oben bitten, mittags für euch zu kochen, und ich werde jeden Tag vorbeischauen und nach euch sehen. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.
Hoffentlich, sagte Karim mürrisch, aber Raya hörte es gar nicht; sie war zu sehr in ihre eigenen Gedanken versunken.
Was Karim noch nicht wusste, aber bald verstehen würde, war, dass seine Mutter ihren Abschied seit Langem geplant hatte. Seit fast einem Jahr unterhielt Raya eine Affäre mit einem Mann aus Daressalam, der sich Haji Othman nannte. Sie hatten sich kennengelernt, als Raya in der Stadt eine Freundin besucht hatte. Bei dieser ersten Begegnung war nicht viel passiert, außer dass ihr sein Aussehen und seine fröhliche Art gefielen und sie im Beisein anderer etwa zehn Minuten mit ihm plauderte. Ein paar Tage nach ihrer Rückkehr rief er sie dann bei der Arbeit an. Nächste Woche bin ich in Sansibar, und ich habe mich gefragt, ob wir vielleicht mittags zusammen essen gehen könnten. Später erfuhr sie, dass er ihre Freundin in Daressalam ausgefragt und sich erkundigt hatte, ob sie vergeben sei. Als die Freundin verneinte, hatte er sie um die Telefonnummer des Kleiderladens gebeten, und die Freundin hatte sie ihm, ohne zu zögern, gegeben, weil sie Haji ebenso mochte wie Raya und sehr gespannt war zu sehen, wie die zwei sich verstehen würden. So hatte es angefangen. Er kam nach Sansibar, sie gingen mittags essen, danach rief er alle paar Tage an, und der Rest lief ganz diskret ab. Wenn er in Sansibar war, besuchte sie ihn im Hotel, manchmal fuhr sie auch nach Daressalam. Nach ein paar Monaten sprachen sie vom Heiraten. Inzwischen lebte Raya dauerhaft in dem gemieteten Zimmer, und der Tod ihrer Mutter hatte sie in ihrer Entscheidung noch bestärkt. Sie hatte nicht die Absicht, als Dienerin ihres Vaters zu enden.
Karim war fast fünfzehn, als seine Mutter wieder heiratete und ihrem neuen Mann, der in der Fire Station Road eine Apotheke besaß, nach Daressalam folgte. Ihr Wegzug kam für Karim nicht überraschend. Als er von der bevorstehenden Eheschließung erfuhr, wusste er sofort, dass sie ihn nicht mitnehmen würde. Mittlerweile fühlte er sich in der seiner Mutter so verhassten Wohnung recht wohl, trotzdem ärgerte er sich darüber, dass sie ihm stillschweigend die Pflege des übellaunigen Großvaters überlassen hatte. Die Nachbarin von oben kochte ihnen weiterhin das Essen, und nach der Schule holte Karim es ab und aß mit seinem Großvater. Im Unterricht kam er hervorragend zurecht, seine Lehrer und Mitschüler lobten ihn für seine Leistungen, und er verspürte keinen Wunsch, nach Daressalam umzuziehen; bislang hatte er die Stadt ja nicht einmal besucht. Außerdem war ihm klar, dass sein Großvater es zwar gewohnt war, im Alltag alle Wünsche auf der Stelle erfüllt zu bekommen, dass er dies aber kaum von einem Teenager erwarten würde, der weder kochen noch am Morgen den Tee richtig zubereiten konnte. Karim hatte auch nicht die Geduld, den Großvater morgens und abends zu massieren oder die Wäsche zu waschen, denn in seiner freien Zeit spielte er lieber Fußball, streifte mit seinen Freunden durch die Straßen oder steckte die Nase in Bücher. So kam es, dass der Großvater kurz nach Rayas Umzug nach Daressalam die alte Mietwohnung aufgab und zur Familie seines älteren Bruders zog. Karim wurde zu Ali und Jalila geschickt, die ihn ohne Zögern aufnahmen. Am Ende hatte der Verlust der Mutter Karim kaum mehr entlockt als ein Achselzucken.
Dies ist unser Haus. Ich habe es vom Erbe unseres Vaters gekauft, also gehört es auch dir, sagte Ali nach dem ersten gemeinsamen Abendessen zu dritt. Jalila nickte mit Nachdruck, wie immer, wenn es ihr ernst war. Weitere Diskussionen erübrigten sich.
Natürlich, fuhr Ali mit einem schelmischen Lächeln fort, werden hier eines Tages Kinder die Treppe rauf und runter springen, aber bis dahin dauert es noch eine Weile, Habibi. Fürs Erste ist es recht so, dass mein kleiner Bruder bei seiner Familie wohnt.
Das kleine, enge Haus stand in Mnazi Moja hinter der alten Koranschule, in der inzwischen ein Reisebüro residierte. Das Haus hatte zwei Stockwerke. Im Obergeschoss gab es eine Küche, ein Schlafzimmer und einen großen, offenen Bereich, den sie als Esszimmer nutzten und wo sie oft saßen und plauderten. Das Bad befand sich unten, ebenso wie ein großes Zimmer, das fortan Karim gehörte. Es war mit einem eisernen Bettgestell, einem kleinen Schreibtisch und einer Mkeka eingerichtet, einer groben Strohmatte. Das breite, vergitterte Fenster ging zur Straße hinaus. Karim sollte die schweren Fensterläden schließen, bevor er das Haus verließ, aber er öffnete sie selbst dann nicht, wenn er da war, weil die Passanten keinerlei Hemmungen hatten, im Vorbeigehen einen gründlichen Blick hineinzuwerfen oder gar stehen zu bleiben und sein Zimmer genauer in Augenschein zu nehmen. Am Nachmittag wanderte die Sonne ums Haus herum und malte ein bewegliches Lichtfeld an die Wand, das die Körnung des Kalkputzes hervortreten ließ.
Ein Studierzimmer, genau das Richtige für dich, neckte Ali seinen kleinen Bruder. Es ist schön, dich hier bei uns zu haben. Aber du darfst deine Bildung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Jalila und ich hatten in der Schule beide kein Glück, ich habe damals mehr Unfug angestellt, als gut für mich war. Ehrlich gesagt konnte ich es gar nicht abwarten, die Schule zu verlassen. Jalila hat im Unterricht ebenfalls nicht viel gelernt. Es gab nie genug Personal, manchmal musste ein Lehrer über hundert Kinder betreuen. Niemand sorgte für Ordnung, dort herrschten Mobbing und Chaos, es gab nur wenige Bücher und kaum Tische oder Stühle. Alles war kaputt und verdreckt. Damals konnten wir in der Schule nichts anderes lernen als Disziplinlosigkeit. Hörst du mir zu? Du hast mehr Glück als wir, und du hast es verdient. Du bist nicht auf den Kopf gefallen und ein schlaues Kerlchen. Du besuchst eine der beiden einzigen Schulen, in denen man wirklich was lernen kann, und du weißt auch, warum, oder? Weil es eine Schule für den Nachwuchs korrupter Arschlöcher ist, die noch nicht genug gestohlen haben, um ihre Kinder auf ein Internat im Ausland zu schicken. Du wurdest dort akzeptiert, weil du clever bist und die Aufnahmeprüfung mit Bravour bestanden hast. Du musst aus dieser Chance das Beste machen.
Jalila wurde nicht müde, Karim daran zu erinnern, was für ein Glück er hatte. Sie drängte ihn, die Hausaufgaben zu erledigen, und prahlte bei jeder Gelegenheit mit seiner Intelligenz und seinen Leistungen. Sie war nur sieben Jahre älter als er, doch nach dem Einzug behandelte sie ihn wie einen sehr viel jüngeren Bruder, der klare Ansagen und Zuspruch braucht. Karim beschwerte sich nicht, aber manchmal musste er über ihre Bemutterung und ihre Herablassung schmunzeln. Dann lächelte sie zurück. Du findest, ich mache dir zu viele Vorschriften? Es ist nur zu deinem Besten, sagte sie. Manchmal kam Ali in sein Zimmer und blätterte in den Schulbüchern, während Karim seine Hausaufgaben machte, oder er fragte ihn zu Sportwettkämpfen und anderen Veranstaltungen aus. Falls ihm danach war, erzählte er Anekdoten aus seiner Zeit als Schulversager, oder er spielte für Karim seine sportlichen Heldentaten nach und demonstrierte beispielsweise das Manöver, mit dem er ein fast schon sicheres Tor verhindert hatte.
Zwei Jahre nach dem Umzug seiner Mutter erhielt Karim eine Einladung, sie in Daressalam zu besuchen. Er war überrascht, hatten sie doch seit ihrem Verschwinden kaum noch Kontakt. Er wusste, sie wollte ihn für seine schulischen Erfolge belohnen und ihm vor der Oberstufe einen Urlaub ermöglichen. Es war seine erste längere Reise seit dem Umzug aus Pemba, an den er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Während der Tag der Überfahrt näher rückte, versorgte Ali ihn mit guten Ratschlägen, als wäre er selbst ein erfahrener Reisender. Lass dein Gepäck nie aus den Augen. Halte dich von Menschenmengen fern, dort verstecken sich die Taschendiebe. Setz dich auf der Fähre in die Mitte, nicht ans Heck, denn wenn du am Heck sitzt, wird dir schlecht. Ali kaufte Karim ein Ticket und begleitete ihn in seiner Zöllneruniform an den Anleger, als wäre er ein VIP. Karim war ein bisschen nervös, weil er wusste, dass niemand ihn vom Hafen abholen würde. Sobald du angekommen bist, nimmst du ein Taxi und lässt dich zum Haus der Tante fahren, schärfte Ali ihm ein. Mach dir keine Sorgen. Karim nickte höflich, obwohl er genau wusste, dass Ali selbst noch nie in Daressalam gewesen war.
Nicht nur, dass Karim seine Mutter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte; er hatte in der ganzen Zeit nicht einmal einen Brief oder eine Postkarte von ihr bekommen. Nur manchmal erfuhr er etwas über sie, wenn Bekannte sie in Daressalam gesehen hatten. Für diese Einladung, eine kleine Geste der Zuneigung, hatte sie so lange gebraucht, aber Karim hatte sich mit ihrem mangelnden Interesse abgefunden und war entschlossen, seiner Pflicht nachzukommen. Vor dem Wiedersehen hatte er keine Angst, trotzdem war er ein bisschen unsicher, wie es sich gestalten würde. Außerdem wollte er sich auf keinen Fall verirren oder dumm aussehen. Er nahm ein Taxi, wie Ali es ihm aufgetragen hatte, erreichte das Haus seiner Mutter ohne weitere Zwischenfälle und fühlte sich, als wäre ihm ein beeindruckendes Kunststück gelungen.
Wie schön, dich zu sehen, sagte seine Mutter, hielt ihn bei den Schultern und lächelte ihm ins Gesicht. Komm herein und iss etwas, und dann kannst du mir erzählen, was du alles erlebt hast. Wie groß du geworden bist! So gutaussehend und intelligent!
Als er die Komplimente hörte, grinste Karim. Er genoss ihren Stolz sehr, denn trotz aller Bescheidenheit hielt er ihn für nicht ganz unangebracht. Seine Mutter war nicht die Erste, die ihn gutaussehend nannte, und dass er intelligent war, wusste er selbst. Er war jetzt sechzehn Jahre alt, langsam bekam er breite Schultern und eine starke Brust. Seine Haare wurden buschiger und drahtiger, und er hatte beschlossen, sie wachsen zu lassen, trotz Jalilas wiederholter Bitten, sie abzuschneiden. Du siehst aus wie ein Verrückter, sagte Jalila, doch Karim war mit sich und seiner Frisur zufrieden.
Sein neuer Stiefvater Haji war ein schlanker, energetischer Mann mit dunkler Haut und kurz geschnittenem, krausem Haar. Anscheinend waren er und Raya ähnlich alt. Karim war ihm nur einmal flüchtig begegnet, bei der Hochzeit, fühlte sich aber in der Nähe des pausenlos scherzenden Haji auf Anhieb wohl, und über Hajis Witze lachte er sogar dann, wenn sie auf seine Kosten gingen. Während Karim spät zu Mittag aß, setzten Raya und Haji sich zu ihm, danach musste Haji zurück in die Apotheke. Raya zeigte Karim sein Zimmer, und anschließend gesellte er sich im Obergeschoss zu ihr. Sie erkundigte sich nach Ali und nach der Schule, und während er von seinen jüngsten Prüfungserfolgen berichtete, hörte sie ihm mit einem verzückten Lächeln zu. Karim war überrascht, wie ungezwungen es sich anfühlte, wieder bei ihr zu sein.