Dieser eine Augenblick - Renée Carlino - E-Book
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Dieser eine Augenblick E-Book

Renée Carlino

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Beschreibung

Als Charlotte auf Adam trifft, ist es, als würden sie sich schon ewig kennen. Sie verbringen eine wunderbare Nacht zusammen, am nächsten Morgen jedoch ist er wie verwandelt und zeigt ihr die kalte Schulter. Aber Charlotte kann den mysteriösen Fremden nicht vergessen, der ihr in nur einer Nacht das Herz gebrochen hat. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, um endlich Klarheit zu bekommen. Doch sie ahnt nicht, dass Adam ein Geheimnis hat, das ihr Leben für immer verändern wird.

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EPUB
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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1. Kleine Fahnen2. Muse3. Seelenverwandtschaft4. Geblendet5. Merkwürdigkeiten6. Nur ein Traum7. Dieses Computerdingsda8. Jedi-Psychotrick9. […]10. Storm Chasing11. O Bruder12. Boy(s)13. Die Dinge ändern sich14. Sabotage15. Huldigung16. Gutes Timing oder schlechtes Timing17. Warum wir uns erinnern18. Umstände19. Exakt20. Gutes und Schlechtes21. Wunder22. Die Erprobung23. Der Plan24. Zeit zu reden25. Die Saat geht auf26. Akzeptanz27. Solo28. Hoffnung29. Trunkener Sokrates30. Neues Leben31. AbenteuerEpilogDanksagung

Über die Autorin

Renée Carlino ist Drehbuchautorin und lebt mit ihrem Mann, den beiden Söhnen und einem niedlichen Hund namens John Snow Cash im sonnigen Süden Kaliforniens. Sie ist eine Leseratte, liebt Livemusik und ist ganz versessen auf dunkle Schokolade.

Renée Carlino

DIESER EINE

AUGEN

BLICK

Roman

Ins Deutsche übertragen vonFrauke Meier

LÜBBE

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Wish You Were Here«

German translation copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Original English language edition Copyright © 2017 by Renée Carlino

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Atria Books,

a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Pias, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Einband-/Umschlagmotiv: © KanTaengnuanjan/shutterstock.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7786-6

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Rich, den besten Bruder auf der Welt.Ich liebe dich, auch wenn du Moms Liebling bist.

1. Kleine Fahnen

Im Blackbird’s Café waren Dienstage Tortillasuppentage. Dann gab es Suppe satt für lausige vier fünfundneunzig. Toll, wenn man Tortillasuppe liebte. Aber ziemlich übel, wenn man dort als Kellnerin arbeitete.

Der Trick dabei war, dass die Suppenteller zwar groß, aber flach waren, sodass der Gast den Eindruck bekam, er hätte eine Riesenmenge suppiger Köstlichkeit bekommen, obwohl jede Portion tatsächlich nur aus einigen wenigen, gut verteilten Unzen bestand. Das Problem mit besagten Tellern war, dass man sie auf einem Tablett nicht transportieren konnte; jedes Mal, wenn man aus der Küche zum Tisch des Gastes latschte, schwappte die Suppe erwartungsgemäß von einer Seite zur anderen und ergoss sich über den Tellerrand, auch wenn man noch so ruhige Hände hatte. Jack, der Eigentümer, und sein fetter kleiner Bruder, der auf den Namen Jon-Jon hörte (idiotisch, ich weiß), bestanden darauf, dass wir die Tabletts über unsere Köpfe hielten, so wie die Kellnerinnen auf Rollerskates in einem gottverdammten Drive-in. Das gehört zum Ambiente, sagten sie. Meiner Ansicht nach diente das Wort Ambiente ihnen vorwiegend dazu, die veraltete Innenausstattung zu rechtfertigen.

Bestellte man Tortillasuppe »bis zum Abwinken«, musste man eine Minifahne an einem Minifahnenmast hissen, der an die Tischkante geschraubt war. Eine scheußlich peinliche Prozedur, die jedoch die von Jack und Jon-Jon gewünschte Wirkung erzielte: Niemand, nicht einmal ein Dreihundert-Pfund-Mann mit einer Leidenschaft für Texmex, würde dieses Fähnchen je mehr als zweimal hissen; das war einfach zu demütigend.

Bedauerlicherweise war diese Methode, Leute in den Laden zu locken, ohne dabei draufzuzahlen, nicht dazu angetan, eine Klientel anzuziehen, die sich in Bezug auf Trinkgelder besonders großzügig zeigte, wodurch der Dienstag für die Kellnerinnen im Blackbird’s eine einzige Pleite war. Wir verdienten nichts und gingen jedes Mal mit einer gesunden Portion Tortillasuppe auf unseren weißen Smokinghemden nach Hause. (Ja, wir mussten in einer besseren Frittenbude Smokinghemd und Fliege tragen; ich nehme an, das trägt auch zum Ambiente bei.)

Aber dieser spezielle Dienstag war schlimmer als alle anderen.

»Ich komme mir vor, als wäre ich in der Hölle gelandet. Hast du den Typ an Tisch dreiundzwanzig gesehen?«, fragte mich Helen, meine beste Freundin, Mitbewohnerin und Kollegin, hinten im Servicebereich.

Ich lugte um die Wand herum und entdeckte einen grauhaarigen Mann, der allein aß. »Ja. Was ist mit ihm?«

»Er hat nach einer Avocado al dente verlangt. Wer zum Teufel sagt ›al dente‹, wenn er eine Avocado beschreiben will?«

»Du weißt aber, was er meint, oder?« Ich lachte, aber Helen blieb ernst.

»Ja, aber wir sind hier nicht im Spago. Der kann von Glück reden, wenn er hier grüne Avocados bekommt.«

»So schlimm ist es nun auch nicht«, erwiderte ich und füllte einen Plastikbecher mit Coke. Der Getränkedispenser fing an zu keuchen und die Luft in kleinen Portionen auszuhusten. »Verdammter Mist, die Kohlensäure geht aus. Kannst du Jon-Jon Bescheid geben?«

»Sorry, muss erst die Bestellung von einundzwanzig erledigen.« Helen verließ den Servicebereich, und ich sah zu, wie ihre Hüften von einer Seite zur anderen schaukelten, während sie in den Gastraum tänzelte. Helen wusste, dass sie eine gute Figur hatte und die Männer sie angafften, und sie bewegte sich so langsam und rhythmisch, dass ich annahm, die Aufmerksamkeit gefiel ihr.

Ich dagegen ließ die Schultern hängen und hielt den Kopf gesenkt, wo immer ich auch hinging. Die Leute sagten immer zu mir: »Du bist ein hübsches Mädchen, Charlotte. Warum gehst du wie ein alter Mann?« Meine Antwort lautete meist: »Keine Ahnung, ich gehe halt so«, oder so ähnlich. Lahm, ich weiß, aber ich machte mir eben nicht viele Gedanken darüber, wie ich von anderen wahrgenommen werde. Wahrscheinlich, weil das Einzige, was ich an meinem Äußeren wirklich mochte, mein langes rotbraunes Haar war. Ich hatte große braune Augen, die mein Bruder als »kackfarben« bezeichnete, und Sommersprossen, die mit zunehmendem Alter glücklicherweise allmählich blasser wurden. Trotzdem würde ich mich, wenn ich ein Selbstporträt malen sollte, automatisch mit Sommersprossen abbilden. Das ist wie mit dieser Freudschen Theorie, die so ungefähr besagt, dass man im Kopf immer auch irgendwie Kind bleibt.

»Habe ich da gerade meinen Namen gehört?« Plötzlich, ich bin gerade dabei, die große CO2-Flasche abzuschrauben, steht Jon-Jon unangemessen dicht hinter mir.

»Kannst du das machen?« Ich stand vorgebeugt da, den Hintern in die Luft gestreckt.

»Du scheinst das doch ganz gut hinzukriegen.«

Ruckartig richtete ich mich auf. »Musst du immer so pervers sein? Irgendwann verklagt dich jemand.« Wäre ich in diesem Jahr nicht schon aus zwei Jobs geflogen, würde ich mich ganz bestimmt nicht mit Jon-Jons Mist herumschlagen, aber ich brauchte das Geld und konnte es mir nicht leisten, noch einen Job zu verlieren. Ich glaube, ich muss nicht extra betonen, dass Kellnerin nicht mein Traumberuf war, auch wenn das nicht mein größtes Problem war. Ich hatte einen Abschluss in Ernährungswissenschaften und eine Maklerlizenz, und ich war staatlich geprüfte Massagetherapeutin. Sie sehen ein Muster? Irgendwann hatte ich mir sogar ernsthaft eingebildet, Jockey wäre ein toller Beruf für mich. Ich hatte zwar noch nie auf einem Pferd gesessen, aber ich musste nur ein paarmal Seabiscuit sehen, um vollends überzeugt zu sein.

»Entspann dich, Charlotte, und geh mir aus dem Weg.« Jon-Jon schob seinen zu kurz geratenen rundlichen Leib vor mich und nahm mir den Austausch der Flasche ab.

Ich warf einen Blick in den Gastraum und sah gehisste Flaggen auf drei meiner Tische. Zeit für ein bisschen Genialität. Unter dem Geschirrspüler fand ich einen großen Krug. »Kann ich den nehmen?«, fragte ich und hielt ihn einem der Hilfskellner vor die Nase.

»Klar, Gutterfoot«, sagte er. Habe ich schon erwähnt, dass mich jeder im Blackbird’s Gutterfoot nannte? Direkt unter den großen Metalltabletts, auf denen wir das schmutzige Geschirr stapelten, gab es einen dreißig mal dreißig Zentimeter großen Abfluss, in den wir all das eklige Essen warfen, das wir von den benutzten Tellern kratzten. Manchmal war er verstopft, und ganz selten trat auch eine Kellnerin hinein. An einem beschissenen Dienstag, als ich in Eile gewesen war, war ich diese Kellnerin, und das verdammte Ding ist mehr oder minder übergelaufen mit etwas, das aussah wie Erbrochenes. Natürlich war es keine Kotze, aber wenn Sie je etwas benötigen, das genauso aussieht, dann dürfte die Mischung aus Suppe, Hackbratenresten, Kuchen, Limonade und Bier der Sache am nächsten kommen. Die Brühe ging mir bis zur Mitte der rechten Wade, aber ich zog einfach den Fuß raus und lächelte und schickte einen kurzen Dank auf eine höhere Ebene. An jedem anderen Tag der Woche wäre ich wütend gewesen, aber es war eben ein Dienstag. Ich war überzeugt, man würde mich von meinen Pflichten als Suppenschubse befreien und nach Hause schicken. Ich lag falsch. Jack sagte, es sei zu viel los, also musste ich bleiben und mit einem klatschnassen Bein und Schuhen voll gammelndem Speisebrei Tortillasuppe bis zum Abwinken servieren. Logisch, dass mir das den Spitznamen Gutterfoot einbrachte.

Ich schnappte mir den Krug und fing an, Tortillasuppe hineinzuschöpfen, als Jon-Jon mich ertappte. »Charlotte? Was machst du da?«, fragte er.

»Ich habe einen Haufen Teller nachzufüllen. So geht es schneller und einfacher.«

»Du weißt schon, dass du dich seit der Kapriole mit der Wäschekammer auf ziemlich dünnem Eis bewegst, oder? Wir servieren unsere Suppe nicht aus dem Krug«, wies mich Jon-Jon zurecht.

»Ich bin nur rational! Und außerdem, das mit der Kammer war Helens Werk.« Wir wurden immer für die Missgriffe der anderen gerügt, weil wir so unzertrennlich waren. Vor ein paar Wochen, als in unserer Schicht kaum noch was los war, hatte sie mich gebeten, Jon-Jon zu suchen und ihn zu fragen, ob er die Tür zur Wäschekammer repariert habe. Ich wusste, sie führte etwas im Schilde.

Als Jon-Jon die Tür öffnete, sprang Helen heraus und schrie »Wah!«, woraufhin er prompt zu Boden stürzte und seine Hand in die Brust krallte; ein so kleiner Mann mit einem so plumpen Körper war definitiv ein Kandidat für einen plötzlichen Herzstillstand. Glücklicherweise hatten wir uns die Verantwortung für sein vorzeitiges Ableben trotzdem nicht auf unser Gewissen geladen … bisher, jedenfalls.

»Du hast mitgespielt«, sagte er.

»Nein, wirklich nicht.«

Helen hüpfte durch die Küche. »Süße, du hast so ziemlich auf jedem deiner Tische gehisste Flaggen. Die Leute haben einfach keine Würde.«

»Ich komm ja schon.«

Jon-Jon hatte recht, Tortillasuppe sollte nicht aus dem Krug serviert werden, aber sollte mich jemand fragen, würde ich sagen, das gehöre zum Ambiente im Blackbird’s.

Als es endlich ruhiger wurde, leistete ich mir selbst eine kleine Kapriole mit der Wäschekammer. Ich wusste, dass Helen, wenn sie Pause machte, dort öfter mit Luc herummachte. Die beiden schleckten sich schon seit ungefähr sechs Monaten gegenseitig das Gesicht ab. Er war Franzose und aus irgendeiner Schickimicki-Konditorschule in Frankreich rausgeflogen, und nun saß er im Blackbird’s fest und produzierte massentaugliches Gebäck. Eigentlich war er erstaunlich stolz auf seinen Job, und das, obwohl er nicht mehr als den Mindestlohn verdiente. Seine Backmethode war bemerkenswert, und man hatte ihm freigestellt, selbst zu entscheiden, welche Kuchensorten er backen wollte. Aus irgendeinem Grund fuhr Helen darauf ab. Ich gab mir Mühe, mich jeglichen Urteils zu enthalten, aber ich konnte den Anblick von Helens Gesicht, wenn Luc irgendetwas sagte, kaum ertragen. Er sprach ihren Namen Ä-leen aus, und immer, wenn er das tat, stand sie kurz vorm Orgasmus.

Als die beiden sich das erste Mal begegnet waren, hatte er ihr die Hand geküsst und ihr ins Ohr geflüstert: »Du und ich, wir könnten wunderschöne Babys machen.« Helen war prompt dahingeschmolzen und Luc von da an vollkommen verfallen. Er hatte uns beiden zu dem Job im Blackbird’s verholfen – ich war gerade arbeitslos gewesen, und Helen hatte schon seit acht Jahren keine ordentliche Rolle mehr ergattert –, folglich verdrehte ich nur die Augen, hielt aber die Klappe, wann immer ich sah, dass Helen ihm verführerische Blicke zuwarf.

Aber als ich die Tür zur Wäschekammer aufriss, saß da nur Helen auf einem Hocker und hielt mit verheulten Augen eine Flasche Wodka in der Hand, die sie zweifellos aus Jon-Jons berüchtigter Bloody-Mary-Bar entwendet hatte.

»Was machst du hier?«

»Luc hat mit mir Schluss gemacht.« Sie schniefte vernehmlich.

»Was? Jetzt gerade? Warum?«

»Er hat irgendwas halb auf Französisch und halb auf Englisch gefaselt, darum habe ich nicht alles verstanden. Irgendwas mit einem Schiff, das seinem Kurs folgen muss, und überreifen Pfirsichen. Und der Mistkerl hat die ganze Zeit gelächelt.« Sie nahm einen Schluck und hickste.

»Und woher weißt du dann, dass er mit dir Schluss gemacht hat?«

»Das weiß ich, weil er gesagt hat: ›Ä-leen, ess war ganz sön mit unss, aber isst vorbei.‹«

Unbeabsichtigt hatte sie Luc so nachgeahmt, dass sein Akzent plötzlich mexikanisch klang, und ich musste unwillkürlich lachen. »Tut mir leid«, sagte ich, als ich mich beruhigt hatte. »Aber ehrlich, ohne ihn bist du besser dran. Ich meine, diese leuchtend pinkfarbenen Tennisschuhe, dieser permanente Bartschatten … ernsthaft. Ich wette, er trägt auch Speedos.«

»Ja!« Und damit brach sie wieder in Tränen aus.

Ich beugte mich zu ihr hinab und legte ihr den Arm um die Schultern. »Sei nicht traurig, Babe; es schwimmen noch andere Fische im Teich, sogar welche, die nicht so stinken.«

Sie richtete sich auf. »Er riecht, nicht wahr?«

»Nach einer Mischung aus Schweiß und Teig. Echt abstoßend.«

»Ich brauche eine Aufmunterung.« Abrupt riss sie die Augen auf und reckte den Zeigefinger in Richtung Decke. »Das ist es! Wir gehen heute Abend aus.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde, und du solltest heute Abend lieber nicht losziehen. Dadurch fühlst du dich auch nicht besser. Die erste Nacht nach einer Trennung sollte chinesischem Essen, Eis und schlechten Fernsehsendungen vorbehalten bleiben.«

»Du darfst mir morgen die Haare färben«, bot sie an.

»Warte. Echt?«

Helen nickte wie ein aufgeregter Welpe.

»Abgemacht.« Ich hatte darüber nachgedacht, auf eine Kosmetikschule zu gehen, aber ich kannte nicht genug Leute, mit denen ich üben konnte. Helen änderte ihre Haarfarbe bei jeder Trennung – derzeit war es ein blasser Purpurton –, aber bisher hatte sie mich noch nie auch nur in die Nähe ihrer Haare gelassen.

»Ich denke an Chartreuse«, sagte sie und stand von ihrem Hocker auf.

»Chartreuse sieht an dir bestimmt toll aus!« Aus Dankbarkeit nahm ich sie so fest in die Arme, dass ihr die Luft wegblieb. »Morgen holen wir uns was von Manic Panic. Also, wo willst du heute Abend hin?«

»Meine Damen!«, blaffte Jon-Jon. »Raus da. Muss ich euch daran erinnern, dass ihr euch in Geschäftsräumen aufhaltet?«

Wir lugten um die Tür herum. »Wir haben nichts angestellt, Jon-Jon. Wir wollten nur in Ruhe Pause machen«, behauptete ich.

»Dann geht nach draußen. Ihr zwei seid für heute fertig.« Er bewegte seine Hand kreisförmig vor dem Gesicht, seine Geste für Bringt eure Tische in Ordnung, dann könnt ihr nach Hause gehen.

»Danke, Jesus!«, rief Helen. Wenn der Hochbetrieb erst vorbei war, hofften alle Kellner, dass sie heimgeschickt wurden. Nach dem Abendessensansturm gab es kaum noch etwas zu verdienen, und die Kellner, die bleiben mussten, durften sich um langweilige Dinge wie das Auffüllen der Salzstreuer und Ketchupflaschen kümmern. Das war einfach scheiße.

»Haben wir schon entschieden, wo wir heute hingehen?«, fragte ich Helen, während wir unsere leeren Tische wischten.

»Wie wäre es mit dem Villains?«

Ich schenkte ihr ein breites Grinsen. »Perfekt.«

2. Muse

Das Villains war eine anspruchslose Kneipe mit Livemusik, ungefähr fünf Blocks entfernt von unserer Wohnung im Arts District in Downtown L.A., in der Helen und ich schon seit acht Jahren zusammenlebten. Ich hatte von Freundschaften anderer Leute gehört, die zerbrochen waren, kaum dass die allerbesten Freunde zusammengezogen waren, aber Helen und ich waren von jeher unzertrennlich. Wir kannten uns seit unserer Kindheit, die wir in der gleichen Vorort-Sackgasse verlebt hatten, und wir hatten zwölf Schuljahre und vier Jahre College an der UCLA zusammen gemeistert. Wenn wir überhaupt irgendein Problem hatten, dann wohl, dass wir uns vielleicht ein bisschen zu wohl fühlten mit der Vorstellung, niemals einen Mann fürs Leben zu finden.

Helen liebte das Villains, denn, und davon war ich tief im Inneren ziemlich überzeugt, ihr Plan B sah vor, Muse für irgendeinen Rockgott zu werden. Wann immer wir ein Konzert besuchten, stand sie ganz vorn, nahe an der Bühne, und wiegte sich hin und her in dem Bestreben, die Aufmerksamkeit des Sängers zu erregen. Und sie ging nicht gerade raffiniert vor. Ich saß dann gewöhnlich am Tresen und beobachtete das Spektakel aus der Ferne.

Wenn es um Dates ging, so wartete ich immer darauf, dass ich angesprochen wurde. Ich hatte Beziehungen gehabt, aber keine hat länger als ein Jahr gehalten. Ich hatte die Neigung, aus jedem Date so eine Ein-Jahres-Geschichte zu machen, statt mich frühzeitig zurückzuziehen, wenn mir klar wurde, dass es nicht von Dauer wäre. Ich konnte mich einfach nicht auf One-Night-Stands einlassen. Helen hingegen unterwarf sich keinerlei Regeln, und darum beneidete ich sie.

Als unsere Schicht beendet war, gingen wir zurück in unsere Wohnung, schälten uns aus einer Lage Tortillasuppe, machten uns fertig und gingen gegen zehn zum Villains. Ich trug meine Partyuniform – schwarze Bluse und Jeans – und Helen einen ausgestellten roten Rock mit hoher Taille und eine ärmellose Bluse zu Plateau-Stilettos. Sie sah immer viel hipper aus als ich.

Kaum hatten wir die Bar betreten, brüllte sie: »Verdammt!«

Ich folgte ihrem Blick zur Bühne, wo eine Girlband sich auf ihren Auftritt vorbereitete.

»Schade«, sagte ich.

»Lass uns abhauen, Charlie. Das ist mir zu blöd.«

»Nein. Mir gefällt es hier. Es ist so schön nahe an unserer Wohnung. Zwing mich nicht, wieder da rauszugehen.«

Die Sängerin trat ans Mikro und tippte darauf. »Check, Check.« Als sie dann einen irren Gitarrenriff spielte, hellte sich Helens Miene auf. »Okay, schön. Eine Weile können wir bleiben, aber wir trinken Kurze!«

Wissen Sie noch, wie ich sagte, Helen unterwerfe sich keinen Regeln? Sie stand gern im Zentrum der Aufmerksamkeit, von wem, war ihr egal. Wir stellten uns also an die Bar und tranken einen Schnaps nach dem anderen, vergaßen die Tortillasuppe, Luc und das ganze Chaos, das wir Leben nannten. Als die Band etwa eine Stunde lang gespielt hatte, ließ Helen mich allein, um zur Bühne zu gehen. Wie üblich baute sie sich ganz vorn auf und versuchte verzweifelt, die Aufmerksamkeit der Sängerin zu erregen, aber die Frau zeigte nicht das geringste Interesse. Vielleicht war sie hetero? Nach einigen weiteren Schnäpsen, während deren ich Helens jämmerliche Versuche, den Blick der Sängerin auf sich zu ziehen, beobachtet hatte, fand ich mich in einer Nische wieder, in der ich eine zurückgewiesene – und sehr betrunkene – Helen trösten musste.

»Warum will mich niemand?«, lallte sie. »Nicht mal die lesbische Braut mit der Gitarre.«

»Na ja, mich hat auch niemand angegraben.«

»Dich gräbt nie jemand an, Charlie! Dafür bist du zu spröde.«

»Was? Nein, bin ich nicht«, jammerte ich.

»Deine Augen brüllen ›Bleib mir vom Leib, ich hasse One-Night-Stands‹.«

»Jeder hasst One-Night-Stands. Die sind einfach tierisch peinlich.«

»Du bist doch nur prüde.«

»Puh. Lass uns nach Hause gehen. Ich habe genug, und ich will nicht, dass du dich hier übergibst.« Auch ohne Helen musste ich mir von meinem Bruder, meiner Mom und Helens Mom genug Mist über mein Liebesleben anhören.

»Nein, ich will tanzen.« Helen glitt aus der Nische und landete prompt mit dumpfem Schlag auf dem Hinterteil. Ich schob die Hände unter ihre Achseln und zog sie wieder hoch, legte ihr den Arm um die Taille und zerrte sie Richtung Tür. Wir lieferten eine spektakuläre Vorstellung ab, aber so bekam Helen endlich, was sie wollte: Die Sängerin starrte sie an, ebenso wie jeder andere in der Kneipe.

»Ich komme allein klar«, informierte sie mich.

»Das glaube ich nicht, Babe. Du kannst ja nicht mal gehen.« Mit dem Fuß stieß ich die Tür der Kneipe auf und führte sie hinaus auf die Straße.

»Ich glaube, jemand hat mir was in den Drink gemischt«, lallte sie; ihr Kopf beschrieb eine Kreisbewegung und landete an meiner Schulter.

»Ich glaube, das waren die zehn Kurzen, die du getrunken hast, von dem Wodka vorher ganz zu schweigen.«

Wir bogen um eine Ecke, und ich blickte gerade noch rechtzeitig auf, um den Mann zu sehen, der direkt vor uns mit gesenktem Kopf seine Handfläche betrachtete, in der etwas geschrieben stand. »’tschuldigung«, murmelte ich und versuchte, um ihn herumzusteuern, aber er stand nun einmal mitten auf dem Gehweg, in der Hand einen Beutel, der nach chinesischem Essen zum Mitnehmen aussah.

»Mjam, ist das chinesisch?«, fragte Helen.

Der Typ blickte auf, musterte sie auf eigenartige Weise und sah dann den Beutel in seiner Hand an. Er trug Shorts, Flipflops und einen schwarzen Kapuzensweater, der einen Schatten über seine Augen warf. Nicht gerade ein besonders modebewusstes Outfit. »Das hier? Ja, ist es. Haben Sie Hunger?«

Ich fing an, Helen weiterzuzerren. »Komm schon«, flüsterte ich. »Du kannst doch nicht mitten auf der Straße das chinesische Essen von irgendeinem Fremden vertilgen.«

Sie stolperte, fing sich aber ab, ehe sie auf der Nase landen konnte.

Der Mann trat auf ihre andere Seite. »Lassen Sie mich Ihnen helfen«, erbot er sich.

»Nein, nein, wir kommen schon klar«, protestierte ich, aber Helen hatte ihm bereits den Arm um die Schultern gelegt. Dann reckte sie die Hand hoch und zog seine Kapuze zurück. Verdattert drehte er sich zu ihr, und seine Augen waren vor Neugier geweitet. Er sah unbestreitbar gut aus. »Ich bin Adam«, sagte er. »Lassen Sie sich doch helfen.«

»Nett, Sie kennenzulernen, Adam. Ich bin Trixie, und das ist Dottie. Ich glaube, wir kommen allein zurecht«, erwiderte ich.

Adam grinste. Zwei tiefe Grübchen erschienen auf seinen Wangen. »Trixie und Dottie, ernsthaft?«

»Jep«, sagte ich kurz und bündig.

Helen verdrehte die Augen. »Das ist Charlotte, und ich bin Helen.«

Ich rammte ihr den Ellbogen in die Rippen. Sie beugte sich zu mir und flüsterte: »Er hat chinesisches Essen, und er ist süß.« Letzteres sagte sie etwas zu laut, was Adam ein Lächeln entlockte.

»Wohnen Sie hier in der Gegend, Adam?«, erkundigte ich mich.

»Ja, ich wohne an der Molina.«

»Und warum gehen Sie dann in die Gegenrichtung?«

Er starrte stur geradeaus, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. »Ich muss wohl irgendwie die falsche Richtung eingeschlagen haben.«

Neugierig beäugte ich ihn. Vielleicht ist er neu in der Gegend? Das würde erklären, warum ich ihn hier noch nie gesehen habe.

»Wollen Sie in unserer Wohnung essen?«, lallte Helen.

»Schon gut«, sagte Adam. »Ich begleite Sie nur bis nach Hause.«

»Es ist gleich da.« Ich zeigte auf die Stufen, die zum Eingang des Gebäudes führten. »Bis hierher reicht. Den Rest schaffe ich schon.«

Er blieb stehen und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf die Seitenwand des Hauses. »Aah, Mann, ich liebe dieses Wandgemälde. Sieht aus wie Wölfe, die in einem Blumenbeet tanzen.«

Ich folgte seinem Blick zu dem großen abstrakten Bild, das die gesamte Seitenwand unseres Gebäudes mit einem Durcheinander aus Grau-, Rosa-, Orange- und Blautönen überzog.

»Wir dachten immer, diese Streifen wären Blut«, bemerkte Helen mit einer ausholenden Handbewegung.

»Das ist eine ziemlich gruselige Interpretation. Das sind natürlich rote und rosafarbene Blumen«, konterte er. »Ihre Pracht soll die wilde Schönheit der Wölfe unterstreichen.«

Ich neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. »Jetzt, da Sie es erwähnen, das könnten wirklich Blumen sein. Aber warum sind die Wölfe so wütend, wenn sie in einem Blumenbeet tanzen?«

»Vielleicht haben sie Heuschnupfen«, schlug Helen vor.

»Wer sagt, dass sie wütend sind?«, erwiderte Adam. »Die Blumen erheben sich aus dem Boden, um sie zu umarmen. Für mich sehen sie glücklich aus.«

Ich starrte ihn an, während er das Gemälde anstarrte. Er wirkte vollends fasziniert. Stille senkte sich über uns, während wir gemeinsam auf dem Gehweg standen, zwei enge Freundinnen und ein Fremder, die einen sonderbar innigen Moment teilten.

»Tja, war nett, Sie kennenzulernen, Adam«, sagte ich und durchbrach die kollektive Benommenheit. »Danke für Ihre Hilfe.«

»Kein Problem. Hat mich gefreut, meine Damen.« Er nickte uns zu, winkte knapp und ging die Straße hinauf. Aber als wir kehrtmachten und die Treppe erklommen, hörten wir Adam rufen: »Oh, das hätte ich beinahe vergessen!« Er lief zurück zu uns und nahm eine Essenspackung aus seiner Plastiktüte. »Hier. Ich habe versprochen zu teilen.« Er hielt mir den Karton hin und sah mir mit einem Ausdruck vollkommener Aufrichtigkeit in die Augen. Als er dann mit der anderen Hand sein dichtes braunes Haar zurückstrich, spürte ich tief im Inneren so etwas wie einen Sog.

»Schon gut.«

»Nein, wir nehmen es!« Helens Hand klatschte auf den Karton, als sie ihn Adam entriss.

Er gluckste leise, ehe er sich wieder auf mich konzentrierte. Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden, von diesem Gesicht, das so voller Liebenswürdigkeit war, von diesen Augen, deren Augenwinkel leicht herabgezogen waren, was ihm etwas Trauriges verlieh. Eigentlich sollte mir unbehaglich zumute sein, war es aber nicht.

Kennen Sie das, wenn Sie jemanden ansehen und einfach lächeln müssen, weil die Person sich ihrer eigenen Anziehungskraft nicht bewusst ist? Genau das passierte mir da, und es machte mich … glücklich. Euphorisch. Irgendetwas Unbeschreibliches geschah mit mir. Es war, als würden wir einander längst kennen, als wären wir uns in einem früheren Leben bereits begegnet. Erinnerungen, die gar nicht existierten, erblühten wie Feuerwerk in meinem Kopf.

Ich lächelte ihn an; er lächelte mich an. Da war eine Nähe zwischen uns, aber ich wusste nicht, wo genau sie hergekommen war. Vor einer halben Stunde hatte ich den Typ nicht mal gekannt, aber jetzt musste ich ihn kennenlernen.

Sein Blick glitt an mir vorbei zu dem Wandgemälde und suchte dann meine Augen. Er musterte mich eingehend. »Sind wir uns schon mal begegnet?«, fragte er. Spürt er das auch?

»Nein, ich glaube nicht.«

»Aber Sie kommen mir so bekannt vor.«

»Das geht mir mit Ihnen genauso«, erklärte ich im Brustton der Überzeugung

Er reichte mir die Hand, ohne auch nur für einen Moment den Blick von mir abzuwenden. »Vielleicht haben wir beide vertraut wirkende Gesichter.«

»Durchschnittliche, meinen Sie?«, fragte ich.

»Ihres ist alles andere als durchschnittlich«, erwiderte er. Wieder fühlte ich dieses Ziehen. Ich ließ zu, dass er mir übertrieben lang die Hand schüttelte, während er mich weiter beäugte. Dann drehte er meine Hand mit der Handfläche nach oben und strich mit dem Zeigefinger über meine Haut. »Lange Lebenslinie«, konstatierte er.

»Danke. Schätze ich.« Wenn er nicht so hinreißend gewesen wäre und ich mich nicht wie magnetisch von ihm angezogen gefühlt hätte, ich wette, mein Unbewusstes hätte sich unüberhörbar erkundigt, ob der Kerl vielleicht ein Serienmörder war.

Helen gähnte hörbar, und mir wurde bewusst, dass Adam und ich nur dastanden und uns wie in Trance gegenseitig anglotzten.

»Bye, Adam«, flüsterte ich.

Fältchen zeigten sich um seine freundlichen Augen. »Bye, Charlotte.«

Schluckend entzog ich ihm meine Hand. Nachdem er kehrtgemacht hatte und die Straße wieder hinunterging, fragte Helen: »Was um alles in der Welt war das?«

»Was meinst du?« Ich blinzelte immer noch gegen meinen tranceartigen Zustand an.

»Mit dem Blick hätte er dich schwängern können.«

Ich lief die Treppe zu unserer Wohnung hinauf. »Ja, er war irgendwie …«

»Scharf!«, platzte Helen heraus.

Ich hatte seltsam sagen wollen, obwohl mir gerade das an ihm gefiel.

Sie fuhr fort: »Ist dir aufgefallen, wie er das Bild angesehen hat?«

»Ja. Ich fand das ziemlich süß.«

Helen stand in der Nähe der Tür und wartete darauf, dass ich aufschloss. »Du hättest dich mit ihm verabreden sollen. Hätte er mich so angesehen, ich hätte ihn nicht entkommen lassen.«

»Zu spät, schätze ich.«

Kaum drin, hüpfte Helen auf die Arbeitsfläche vor der Glasschiebetür, die hinaus auf einen kleinen Balkon auf der Vorderseite des Gebäudes führte. Sie riss den Karton mit chinesischem Essen auf und aß direkt aus der Packung mit den Stäbchen, die Adam ihr gegeben hatte.

»Nicht zu fassen, dass du das isst«, bemerkte ich vom Sofa aus.

»Es ist köstlich«, murmelte sie mit einem Mund voller Nudeln.

Ich legte den Kopf an die Rückenlehne der Couch, schloss die Augen und gähnte. »Ich glaube, ich gehe ins Bett.«

»Oh mein Gott!«

»Was?« Hastig sah ich mich zu ihr um.

»Schau. Schau doch, da ist er!« Helen zeigte auf die Glasschiebetür.

Ich sprang auf, öffnete die Tür und rannte hinaus auf den Balkon. Von unserer Wohnung im ersten Obergeschoss aus konnten wir bis zu der Ecke sehen, an der Adam wie erstarrt auf dem Gehweg stand und zu einem Straßenschild hinaufblickte.

»Was macht er?«, fragte Helen und kam zu mir auf den Balkon.

»Ich glaube, er hat sich verirrt.«

»Sollen wir ihm helfen?«

»Adam?«, rief ich. Er drehte sich um und schlurfte auf unser Haus zu.

»Jetzt kannst du dir seine Nummer geben lassen«, flüsterte Helen.

»Sieh ihn dir an. Er hat keine Ahnung, wo er ist«, sagte ich.

»Vielleicht ist das nur irgendeine schräge Show.«

»Adam? Alles in Ordnung?«, rief ich.

»Ja. Ich wohne noch nicht lange hier, und ich habe mein Telefon vergessen.« Er blickte zu uns herauf.

Helen bedrängte mich. »Los, hilf ihm. Lass ihn eines unserer Telefone benutzen.«

»Ich komme runter und helfe Ihnen«, sagte ich.

Als ich zur Tür ging, folgte mir Helen. »Sag ihm, er kann dein Telefon benutzen – im Austausch für einen Kuss.«

»Nicht, während du uns vom Fenster aus zusiehst, du Verrückte.«

Ich weiß nicht, was sich in mir verändert hatte; vielleicht lag es einfach nur an dem süßen Lächeln, mit dem er wie ein verlorener Welpe zu mir heraufgestarrt hatte, während er seine Tüte mit chinesischem Essen umklammert hielt; aber vielleicht war ich es auch nur leid, immer diejenige zu sein, die danebensteht und zusieht.

Seine Augen waren geweitet, als ich auf der Treppe vor dem Haus zu ihm stieß. Ich hielt ihm mein Telefon hin. »Wollen Sie Ihre Adresse in die Karten-App eingeben?«

»Ja«, sagte er und nahm es entgegen. »Vielen Dank.«

»Gern.« Er reichte mir die Essenstüte, las eine Adresse von seiner Handfläche ab und tippte sie in mein Telefon.

»Dann sind Sie also total neu hier?«, fragte ich.

»Äh, na ja … gewissermaßen. Okay, links, links, rechts, drei Blocks, links, dann rechts. Links, links, rechts, drei, dann links und wieder rechts.« Er studierte das Display.

»Sie wohnen direkt bei der Bar Kenner in diesen Lofts in den Backsteingebäuden?«

Er zeigte mir einen hochgereckten Daumen. »Sie haben’s erfasst.«

Ich zog eine Braue hoch. Diese Lofts waren sehr kostspielig. »Das ist ganz in der Nähe«, sagte ich.

»Gehen Sie dort auch hin? Ins Kenner?«, fragte er.

»Ja. Helen und ich gehen manchmal nach der Arbeit hin.«

Er lächelte, wie mir auffiel, als ich seinen Mund anstarrte. »Haben Sie Lust, auf einen Drink hinzugehen?«

Oh mein Gott, er will sich mit mir verabreden. Ganz ruhig jetzt. »Klar. Wann?«

»Jetzt?« Er zuckte mit den Schultern und zeigte mir wieder seine Grübchen. »Das Leben ist kurz.«

Ich nahm mein Telefon wieder an mich und sah nach, wie spät es war. Halb zwölf. »Ist ziemlich spät.«

Feigling!, brüllte ich innerlich.

»Na los! Geh!«, ertönte eine Stimme über uns. Nein, nicht Gottes Stimme. Es war Helen. Sie stand auf dem Balkon und hatte natürlich gelauscht.

»Ich versüße Ihnen das Angebot und teile mein kaltes Gung Bao mit Huhn mit Ihnen.«

»Das klingt sehr verlockend«, sagte ich.

»Ich meine, ich verstehe natürlich, wenn Sie nicht können«, sagte er, als ihm mein Zögern bewusst wurde. »Es ist spät. Sollen wir es verschieben?«

»Geh mit!«, rief Helen.

»Sicher. Soll ich Ihnen meine Nummer geben?«

Er sah sich um und schob die Hände in die Taschen, als wollte er nach einem Stift suchen, fand aber keinen. Das war der Moment, in dem ich eine Entscheidung traf.

»Scheiß drauf! Gehen wir jetzt auf einen Drink. Warten Sie hier, ich muss mir schnell einen Pulli holen.«

»Ich werde hier sein«, versprach er.

Und ich rannte mit einem breiten Lächeln im Gesicht zurück in unsere Wohnung.

3. Seelenverwandtschaft

Ich nahm zwei Stufen auf einmal und platzte zur Tür herein, hinter der Helen schon auf mich wartete. »Er ist ein edles, unaufdringliches Rehauge«, beschied sie mir. Ich rannte auf der Suche nach einem Pullover durch die Wohnung, während sie weiterredete: »Er muss einen anständigen Job haben; er trägt eine TAG-Uhr, und diese Lofts in der Nähe vom Kenner sind superteuer.«

»Die Uhr passt nicht so recht zu seinem Stil. Vielleicht hat er sie geschenkt bekommen?«

»Er ist ja nur rausgegangen, um sich was zu essen zu holen.« Sie hält mich an den Schultern fest, um mich davon abzuhalten, ständig im Kreis zu laufen. »Sei nicht so spröde. Dieser Typ scheint nett zu sein. Außerdem ist er scharf. Habe ich das schon erwähnt?«

»Warum müssen du und mein Bruder eigentlich so darauf beharren, mir zu erklären, wie spröde ich wäre?«

»Weil du eine ziemlich klägliche Erfolgsbilanz hast. Es ist Zeit, das zu ändern. Geh einfach, trink was mit ihm und sei cool.«

»Es ist spät, und er ist ein Fremder. Wir sind uns gerade erst auf der Straße begegnet. Darf ich da nicht ein bisschen nervös sein?«

»Von mir aus schick mir alle fünf Minuten eine Nachricht, wenn du dich dann besser fühlst. Ich bleibe auf. Außerdem ist es nur zwei Blocks entfernt, und du bist in der Öffentlichkeit. Du hast schon dubiosere Dinge angestellt. Erinnerst du dich an den Typ, den du im Museum of Death kennengelernt hast?«

»Ugh, erinner mich nicht an den.«

»Hat der nicht ein Hundehalsband getragen?«

Ich wühlte immer noch in meinem Kleiderschrank nach dem perfekten Pulli und versuchte, Helen zu ignorieren. »Ja, ja, hat er.«

»Wie war das noch mit seinem Namen?«

Ich musste lachen. »Er hat mir erzählt, sein Name wäre Atticus Danger, und dann habe ich seinen Ausweis gesehen; da stand Albert Davis. Und ein Teil von dem Totenkopftattoo an seinem Unterarm ist abgegangen, als ich beim Abendessen meine Margarita über ihn verschüttet habe.«

»Und du machst dir Sorgen wegen dem da draußen? Nimm halt ein Uber, wenn dir das so zu schaffen macht.«

Ich formte meine Finger zu einer Pistole, obwohl ich mich längst entschieden hatte. »Das ist ein guter Plan. Ich muss los.«

»Ich bin stolz auf dich. Du gönnst dir sonst nie Spaß. Ooh, vielleicht vögelt ihr ja sogar.«

»Lass uns nichts überstürzen. Ich werde einen Drink mit ihm nehmen, also lass die Verkuppelungsversuche sein.« Ich hastete zur Tür. »Wenn du bis zwei nichts von mir gehört hast, gib eine Vermisstenanzeige auf.«

Ich hörte sie vergnügt gackern, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

Adam beobachtete mich aufmerksam, als ich das zweite Mal in dieser Nacht die Treppe hinunter auf ihn zuging. »Sie sehen zauberhaft aus.«

»Ich habe nur ein Sweatshirt übergezogen.«

»Na ja, dann sehen Sie eben in diesem Sweatshirt zauberhaft aus.«

»Danke.«

Er ergriff meine Hand. »Kommen Sie.«

Ich zog ihn in die Gegenrichtung. »Da geht es lang.«

»Oh, richtig, ha. Wollte Sie nur auf die Probe stellen.«

Ich wusste wirklich nicht, was mich dazu trieb, mein Haus mitten in der Nacht zu verlassen und vier Blocks von Skid Row entfernt mit einem Fremden durch die dunklen Straßen zu ziehen. Ich schätze, wenn es um Adam ging, schaltete sich die Alarmfunktion meiner Intuition einfach ab.

Wir suchten uns zwei Plätze an der Theke und bestellten den gleichen Wein, worauf Adam vorschlug, wir sollten gleich eine Flasche nehmen. »Warum nicht?«, entgegnete ich und schlug jegliche Vorsicht in den Wind.

»Also, Charlotte, erzählen Sie mir von sich. Was machen Sie so?«

»Na ja, ich arbeite im Blackbird’s, das ist dieses beschissene Restaurant an der Vierten. Aber ich spare, damit ich zur Kosmetikschule gehen kann.«

»Blackbird’s? Der Laden mit der Bloody-Mary-Bar und den komischen Fahnen?«

»Genau der!«, erwiderte ich, zu gleichen Teilen befriedigt und peinlich berührt.

»Die haben aber eine gute Tortillasuppe, richtig?«

»Ja, leider.« Zeit, das Thema zu wechseln. »Wie steht es mit Ihnen, Adam?«

»Ich war mal Anwalt.«

»Anwalt?« Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Ja, Prozessanwalt für Gesellschaftsrecht. Die richtig verkommene Sorte.« Er feixte.

»Und dann? Haben Sie zu Gott gefunden oder so was?«

»Ja, so was in der Art.« Er streckte die Hand aus und strich mir mit dem Daumen über die Unterlippe. Ich hatte von innen an ihr genagt, eine reizende Gewohnheit, die ich mir schon als Kleinkind zugelegt hatte. »Sie werden sich noch die Lippen abkauen.«

»Das tue ich immer.«

»Irgendwie niedlich.«

»Eher irgendwie eklig.«

»Sie haben recht, es ist abscheulich«, sagte er, aber mir war klar, dass er nur scherzte.

»Hey!«, protestierte ich, und wir mussten beide lachen. »Also, Sie waren ein korrupter Anwalt, und dann haben Sie Gott entdeckt und gekündigt? Wie können Sie sich da dieses extravagante chinesische Essen zum Mitnehmen leisten?«

Für einen Moment studierte er mich eingehend. »Möchten Sie mit rüberkommen?« Whoa, das kam aber plötzlich.

»Äh, was? Zu Ihnen nach Hause?«

»Ja! Interesse an einer Übernachtungsgelegenheit?« Er wackelte mit den Brauen. Oh mein Gott, der Kerl ist dreist.

»Ehrlich, das macht mir irgendwie Angst, Adam.« Um die Wahrheit zu sagen, ich wollte nichts lieber als eine Übernachtungsgelegenheit in seiner Wohnung, aber das ging mir ein bisschen zu schnell. Selbst wenn ich Helens Maßstäbe zugrunde legte.

»Okay, dann trinken wir nur den Wein.« Er nippte an seinem Glas, als würde ihm die Zurückweisung überhaupt nichts ausmachen. »Um Ihre Frage zu beantworten, ich nehme mir gerade eine Auszeit von der Arbeit. Und ich bin Maler.«

»Wände?«

Er lachte. »Nein, Bilder.«

»Ach, diese Art Maler.«

»Mögen Sie Kunst, Charlotte?«

»Wer nicht?«

»Ein Haufen Leute, bedauerlicherweise.« Wieder lachte er. »Erzählen Sie mir mehr über Ihr Leben, Ihre Familie. Was machen Sie gern in Ihrer Freizeit?«

Er fixierte mich, als wollte er versuchen, sich alles einzuprägen, was ich sagte. Während er sich in meine Erzählungen vertiefte, fielen mir ein paar Dinge an ihm auf. Zunächst war er irre attraktiv. Haut und Haar waren gerade dunkel genug, um das Braun seiner Augen unwahrscheinlich hell wirken zu lassen, und er war groß und schlank, sah dabei kräftig und leistungsfähig aus.

Es war schon enorm sexy, wenn ein Mann sich in seiner Haut so wohlfühlte, wie Adam es tat. Seine Bewegungen waren geschmeidig, von der Art, wie er das Weinglas zum Mund führte bis hin zu jeder unbedeutenden Geste. Er hatte etwas Ungezwungenes. Und er war spontan und unterhaltsam. Das reizte mich.

»Meine Eltern sind immer noch glücklich verheiratet und leben in Thousand Oaks, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe einen kleinen Bruder, Chucky, der zur Uni geht. Er will Zahnmediziner werden, genau wie mein Dad. Ein echter Goldjunge, aber auch ein Arsch. Ich stehe meiner Mutter ziemlich nahe, weil sie mich versteht, aber mein Dad war schon immer übertrieben kritisch, jedenfalls mir gegenüber. Er nennt mich Paper Doll.«

»Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass er mich für flatterhaft hält. Als würde ich beim kleinsten Windhauch davonschweben.«

»Wow. Das ist aber irgendwie fies.«

»Ja, ich bin auch ganz geknickt.«

»So wirken Sie aber nicht auf mich.«

»So gut kennen Sie mich nicht.«

Er lächelte, als würde er glauben, das hätte keinerlei Einfluss auf die Situation.

»Freund?«, fragte er.

»Nein. Sie?«

»Ich bin hetero.«

Ich versetzte ihm einen Hieb an die Schulter. »Ich meine: Haben Sie eine Freundin?«

Er lächelte. Gott, diese Grübchen. Diese Lippen. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden; es war, als wären wir in unserer eigenen Welt, abgesondert vom Rest der Bar. Er blinzelte und schüttelte dann den Kopf.

»Was?«, fragte ich.

»Sie sind wirklich wunderschön, Charlotte. Und … ich möchte Sie küssen.«

»Das geht alles ein bisschen schnell, Adam«, stammelte ich.

»Das Leben ist kurz«, sagte er erneut und sah mir wie gebannt tief in die Augen.

Ich reckte die Hand hoch. »Meins nicht.«

»Angeberin«, flüsterte er, beugte sich vor und ließ meinen Mund nicht aus den Augen.

Auf halbem Wege trafen wir uns, und plötzlich küssten wir uns doch. Langsam, zart. Nichts außer unseren Lippen berührte den anderen.

Endlich wich er zurück und öffnete die Augen. »Willst du mit zu mir kommen und bei mir übernachten?«

»Das hast du mich schon gefragt.«

»Was hast du noch geantwortet?«

»Meine Antwort lautete: Ja, auf jeden Fall, ganz bestimmt. Lass uns zu dir gehen.«

Er zog seine Brieftasche hervor und warf ein bisschen Geld auf den Tresen, ehe er die Weinflasche hochhielt und mit ihr vor dem Barkeeper wedelte. »Können wir die mitnehmen?«

Der Barkeeper drückte den Korken zurück in die halb leere Flasche, packte sie in eine Papiertüte und reichte sie Adam. »Bis demnächst, Adam«, sagte er.

»Ja, Mann, wir sehen uns.«

»Kennst du ihn?«, fragte ich.

»Klar, er ist hier der Barkeeper.« Er reichte mir die Hand, um mir von dem Barhocker zu helfen. »Komm, Kindchen, lass uns eine Pyjamaparty feiern.«

Hand in Hand gingen wir zu Adams Wohngebäude. »Irgendwie kommst du mir gar nicht vor wie ein Anwalt.«

»Wie ist denn ein Anwalt? Idiotisch vielleicht?«

»Nein, eher … diszipliniert. Angespannt. Neurotisch. Du dagegen streifst mitten in der Nacht in Flipflops durch die Straßen und bietest Fremden chinesisches Essen an.«

»Du kennst anscheinend nicht viele Anwälte. Wie auch immer, ich streife nachts in Flipflops durch die Straßen, habe chinesisches Essen dabei und halte gerade deine Hand. Ich gewinne. Und nichts ist wichtiger für einen Prozessanwalt als gewinnen.«

Ich lachte. »Muss ich mich auf ein lächerlich sauberes und aufgeräumtes Loft gefasst machen? Muss ich womöglich meine Schuhe ausziehen?«

»Eher auf einen totalen Saustall. Eigentlich ist mir das ein bisschen peinlich«, sagte er, aber ich glaube nicht, dass es ihm wirklich peinlich war. Er wirkte einfach zu selbstsicher, um wegen irgendetwas in Verlegenheit zu geraten.

Plötzlich entdeckte Adam einen BMW, der schief und krumm in einer Parklücke vor seinem Haus abgestellt worden war, und blieb abrupt stehen. Er war mit mehreren orangefarbenen Umschlägen verziert, in denen ich Strafzettel erkannte. »Mist, die habe ich vorhin gar nicht bemerkt.« Er fing an, die Umschläge einen nach dem anderen abzuzupfen, bis er den ganzen Stapel in Händen hielt.

»Ist das dein Wagen?«

»Nein, ich zahle nur die Strafzettel von diesem armen Tropf. Ja, was sonst, das ist mein Wagen.«

»Und du wirst die bezahlen?«

»Nein. Ich werde sie wegwerfen.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch, ist es. Ich habe neuerdings erkannt, dass ich mich nicht mit jedem Mist beschäftigen kann und will. Ich setze den Wagen morgen um, aber heute interessieren mich die Strafzettel und das Auto einen Scheiß.«

»Was interessiert dich dann?«

»Dich kennenzulernen«, sagte er. »Und vielleicht zu malen.« Ich glaubte keine Sekunde, dass er die Strafzettel wegwerfen würde, aber ich bekam allmählich das Gefühl, dass Adam eine große Veränderung in seinem Leben durchmachte. Leute, die Jura studierten, waren gewöhnlich nicht der Typ, der sein Telefon zu Hause vergaß oder massenweise Strafzettel ansammelte. Ich fragte mich, was ihm in seinem Beruf begegnet sein mochte, das ihn in die Person verwandelt hatte, die nun vor mir stand.

Als wir die Treppe hinaufgestiegen waren, starrte er eine Weile seine Schlüssel an. »Auf geht’s!«, sagte er, aber der erste Schlüssel passte nicht. Der zweite öffnete die Tür. »Du kennst den Barkeeper aus dem Laden, in dem wir gerade waren, aber du weißt nicht, welcher Schlüssel zu deiner Wohnungstür passt?«, zog ich ihn auf. Er sagte nichts dazu, sondern zwinkerte mir nur zu.

Hinter der Tür erwartete mich ein traditionelles Loft mit hoher Balkendecke und raumhohen Fenstern, die zur Straße hinausführten. Die anderen Wände bestanden aus unverputzten Backsteinmauern. Überall waren Leinwände, Abdeckplanen und Malerutensilien – und an den Wänden lehnten im wahrsten Sinne des Wortes Hunderte von Gemälden. Darüber hinaus gab es, von ein paar Küchentischen und -geräten, einer Kommode und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen abgesehen, nur noch ein Bett. Keine weiteren Möbel. Und das Bett war nicht gemacht. Mir fiel auf, dass auf den ersten vier Gemälden, die ich zu Gesicht bekam, Frauen abgebildet waren. Eine in einem Park, eine in einem Taxi, eine, die in einem fließenden orangefarbenen Kleid auf einem Bett lag, und eine, die auf den Ozean hinausblickte.

In dem Loft herrschte tatsächlich Chaos. Es war nicht schmutzig – eigentlich war es sogar sehr sauber –, aber überall lag irgendetwas herum. Ich entdeckte einen BH, der über einem Stuhl in der Nähe des Tisches hing. Prompt wirbelte ich herum und maß Adam mit einem finsteren Blick.

»Du hast mir gar nicht geantwortet. Hast du eine Freundin?«

»Nein, nicht in dem Sinne. Der gehört einer Freundin, die für mich Modell steht.«

»Sieht aus, als hättest du eine ganze Menge Freundinnen, die für dich Modell stehen«, konterte ich scharf.

Neugierig musterte er mich. »Stört dich das?«

»Nein«, sagte ich leichthin und fühlte mich plötzlich sehr verunsichert.

»Hast du Hunger? Ich verhungere. Und wir müssen das hier noch leermachen.« Er hielt die Weinflasche hoch. »Außerdem ist das hier das beste chinesische Essen überhaupt.«

Ich hatte das Gefühl, ich war auf dem besten Weg, zu einer Kerbe im Bettpfosten zu werden. Dort war ich noch nie gelandet, und diesen Weg hatte ich offen gesagt auch nie einschlagen wollen. Bis ich Adam begegnete.

»Okay«, sagte ich. Vielleicht hatte er mit einem Haufen Mädchen geschlafen und dann erst Bilder von ihnen gemalt. Und? Er war Künstler. Waren die nicht bekannt für so etwas? Waren sie nicht so romantisch, dass sie sich bisweilen ein Ohr abschnitten, um es der Frau zu schicken, die sie liebten?

Moment, das ist nicht romantisch, das ist wahnsinnig.

In Helens blöder Bucket List gab es alle möglichen schrägen Punkte, darunter, dass sie einmal Muse für jemanden sein wollte. Sollte ich nun für eine Nacht Adams Muse werden, würde ich dann am nächsten Tag ein Ohr in der Post finden?

Ich vertrieb die verrückten Gedanken und ging weiter durch Adams Wohnung. Seine Bilder waren großartig – wirklich überwältigend. Sie waren modern, wirkten aber auch irgendwie klassisch, wie es bei figurativer Kunst bisweilen geschah. Einige Porträts waren fotorealistisch, andere gezielt unproportional wie bei Picasso. Ich fragte mich, ob mein Bild irgendwann auch in einem Stapel Gemälde irgendwo in diesem unordentlichen Loft verschwinden würde.

Ich folgte ihm in den Küchenbereich, wo er das Essen auf zwei Teller verteilte und sie in die Mikrowelle stellte. Als ich mich in der Nähe des Geräts auf den Tresen lehnte, ergriff er meine Hand und wirbelte mich herum, sodass ich an der Arbeitsplatte auf der anderen Seite landete. »Du solltest nicht so nahe an einer Mikrowelle stehen, wenn sie läuft.«

»Warum?«

»Sie kocht dir das Gehirn weich.«

»Das glaubst du nicht ernsthaft.«

Er riss die Augen weit auf. »Doch, natürlich!«

Ich kicherte. »Also, was hast du vor?«

»Wir machen es uns einfach ein bisschen gemütlich. Hängen ab«, sagte er, während er mir den Rücken zukehrte.

»Das alles fühlt sich viel zu entspannt an für zwei Leute, die sich überhaupt nicht kennen.«

Nun schaute er sich zu mir um. »Wir kennen uns nicht?«

Ich lachte, aber es schien nicht so, als würde er scherzen. Endlich lächelte er. »Es sieht ganz so aus, was? Machen wir das Beste daraus. Lernen wir einander kennen. Was würdest du denn jetzt gern tun?«

»Äh, schlafen? Es ist ziemlich spät.«

»Ich schlafe, wenn ich tot bin.« Er tat zwei Schritte, und plötzlich klebte ich am Küchentresen, weil er sich mit seinem Körper an mich presste. »Wenn du nicht bleiben willst, dann verstehe ich das. Ich kann dich nach Hause bringen.«

Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte ihm in die Augen. Unsere Gesichter waren vielleicht zehn Zentimeter voneinander entfernt, dann war es eine einstellige Zahl, und schließlich blieben noch ein paar Millimeter, ehe wir uns endlich küssten.

Als er sich von mir löste, fühlte ich mich benommen. »Ich bleibe noch ein bisschen«, sagte ich.

»Gut. Ziehen wir uns aus.«

»Lieber nicht.«

Die Mikrowelle klingelte. »Okay, dann lass uns essen.«

Ich war verliebt in seine Spontanität, und ich beneidete ihn darum. Wir setzten uns an den kleinen Tisch, tranken Wein und verspeisten das aufgewärmte chinesische Essen.

»Also, erzähl mir ein bisschen von dir, Adam.«

»Tja, ich bin neunundzwanzig, aufgewachsen in Nordkalifornien. Mein Dad war einer dieser Jungs, die ziemlich früh in einem kleinen Laden namens Google angefangen haben, also hatten wir haufenweise Geld, als ich ein Kind war.«

»Ach, dieser kleine Laden? Ja, von dem habe ich auch schon gehört. Erzähl weiter.«