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Wenn du bei mir bist E-Book

Renée Carlino

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Beschreibung

Die junge Journalistin Kate wittert ihre große Chance, als der geheimnisvolle, öffentlichkeitsscheue Multimillionär R.J. Lawson endlich einem Interview zustimmt. Kaum auf seinem idyllischen Weingut in Napa Valley angekommen, lernt sie den attraktiven Arbeiter Jamie kennen, und die beiden verlieben sich Hals über Kopf. Doch nach einer märchenhaft romantischen Woche ist Jamie plötzlich verschwunden, und Kate muss sich fragen, wer der Mann, der ihr Herz stahl, eigentlich wirklich ist.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1. Neue Spielregeln2. Einsam, aber nicht allein3. Journalistischer »Führerschein«4. Hyperbel5. Allegorie6. Auf drei7. Poesie8. Exposition9. Legende10. Leere Seiten11. Beginne nie einen Satz mit »Nun«12. Widerruf13. Evaluierungsausgabe14. Es ist Fiktion15. Ironie16. Überprüfe deine Quellen17. Der Sachverhalt18. ÜberleitungEpilogDanksagung

Über dieses Buch

Die junge Journalistin Kate wittert ihre große Chance, als der geheimnisvolle, öffentlichkeitsscheue Multimillionär R. J. Lawson endlich einem Interview zustimmt. Kaum auf seinem idyllischen Weingut in Napa Valley angekommen, lernt sie den attraktiven Arbeiter Jamie kennen, und die beiden verlieben sich Hals über Kopf. Doch nach einer märchenhaft romantischen Woche ist Jamie plötzlich verschwunden, und Kate muss sich fragen, wer der Mann, der ihr Herz stahl, eigentlich wirklich ist.

Über die Autorin

Renée Carlino ist Drehbuchautorin und lebt mit ihrem Mann, den beiden Söhnen und einem niedlichen Hund namens John Snow Cash im sonnigen Süden Kaliforniens. Sie ist eine Leseratte, liebt Livemusik und ist ganz versessen auf dunkle Schokolade.

Renée Carlino

WENNDUBEI MIRBIST

Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch vonFrauke Meier

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Nowhere but here«

German translation Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Original English language edition Copyright © 2014 by Renée Carlino

All rights reserved including the right of

reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with the original publisher,

Atria Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Pias, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Chinnapong/shutterstock.com;© Anawat Sangkran/EyeEm/GettyImages;© Kan Taengnuanjan / EyeEm / GettyImages

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9440-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für meine Schwester Rachel

1.  Neue Spielregeln

Eines Morgens im Oktober erwachte ich um sieben Uhr früh in meiner kleinen Wohnung in Lincoln Park. Ich machte mich fertig, aß eine trockene Waffel, wickelte mich in vier Lagen Kleidung, marschierte zur L-Station an der Fullerton und stieg etwa um Viertel nach acht in den Zug. Nichts an diesem Morgen war ungewöhnlich, und doch war dies der Tag, der die Spielregeln ändern sollte – ich wusste es nur noch nicht.

Ich durchquerte drei Waggons, ehe ich ihn fand. Ich setzte mich hinter zwei meiner Gemeindemitglieder und bereitete mich auf die Messe vor. Dies war an jedem Morgen unsere Kirche, und unser Pastor war Bob, zumindest war er das für mich. Als ich ihm das erste Mal begegnet war, hatte ich ihn nach seinem Namen gefragt, und er sagte: »Bob.« Ich wartete darauf, dass er weitersprach, und da sagte er: »Einfach Bob«, also nannte ich ihn nun auch so.

Mein Selbsterhaltungstrieb hätte in meinem sechsundzwanzigjährigen Kopf Alarm schlagen müssen, als vor sieben Monaten Bob in einem Hochbahnwaggon voller unschuldiger Menschen zu predigen begonnen hatte, aber gleich als ich ihn das erste Mal sprechen hörte, war ich hin und weg. Nie redete er von der Bibel oder von Religion oder Feuer und Schwefel. Und das Erste, was er an jenem Tag sagte, war: »Ihr seid alles, was ihr habt!«

Er war ein alter, müde aussehender Mann, mindestens siebzig Jahre alt. Fünf graue Haare sprossen auf seinem runden, kahlen Kopf, und er trug an jedem einzelnen Tag die gleiche Dockers-Hose, das gleiche Pendleton-Hemd. Seine Kleidung war sauber, zumindest sah sie sauber aus, aber er verströmte einen sehr ausgeprägten Geruch. Er roch nach alten Büchern, so eindringlich wie die hinterste Ecke der ältesten Bibliothek auf Erden.

Ich stellte mir vor, dass er in einer süßen kleinen Wohnung lebte, die bis unter die Decke mit alten gebundenen Büchern vollgestopft war. Er konnte kaum stehen, umso weniger gehen, also war es ein wahres Wunder, dass er es mit der Präzision eines Uhrwerks an jedem Tag in den Zug schaffte, um zu seinen treuen Anhängern zu sprechen. Wir waren vielleicht zehn. Ich kannte die anderen gar nicht – im Grunde blieb doch jeder für sich –, aber die Gesichter waren mir in den vergangenen sieben Monaten vertraut geworden.

Chicago hat seinen Anteil an seltsamen Leuten, die gern mit der L fahren und laut vor sich hin reden. Ich weiß es, schließlich bin ich mein ganzes Leben lang mit dieser Bahn gefahren, aber Bob war anders. Er hatte eine Botschaft zu vermitteln, eine Botschaft, die ich einfach hören musste. Jeden Tag ging es um ein anderes Thema. Manchmal eiferte er Suze Orman nach und sprach über persönliche Finanzen; an anderen Tagen ging es um Pestizide und Konservierungsmittel in unserer Nahrung und darum, dass er der Ansicht war, diese Substanzen würden die Menschen größer machen.

An jenem Tag lieferte er, dessen bin ich ziemlich sicher, eine Vorstellung von Gandhi mit Chicagoer Akzent. Er sagte, man selbst solle die Veränderungen herbeiführen, die man sich wünsche. Er sagte: »Visualisiere, um zu realisieren, das ist es, was ich euch heute sage, liebe Leute. Ihr müsst es sehen, ehe es geschehen kann. Ihr müsst euer eigenes Wunder sein. Ihr müsst visualisieren, um den Traum zu realisieren!«

Die Bahn näherte sich meiner Haltestelle. Ich stand auf und ging zur Tür. Bob saß wie so oft vorn in der Nähe des Ausstiegs, während er seine Predigt hielt. Als ich vorbeigehen wollte, erhob er sich auf seinen wackeligen Beinen und legte mir eine Hand auf die Schulter. Das war höchst ungewöhnlich.

»Kate«, sagte er – mir war bis dahin nicht bewusst gewesen, dass er meinen Namen kannte. »Dies ist ein Tag, an dem sich die Spielregeln für dich ändern können. Visualisiere, um das zu realisieren.« Und dann, wie stets am Ende seiner Ansprachen: »Und nicht vergessen …« Bob zog die Brauen hoch und wartete darauf, dass ich den Satz zu Ende brachte.

»Ich bin alles, was ich habe«, sagte ich.

»Exakt.«

Rückblickend betrachtet, war das irgendwie unheimlich, aber es war auch genau das, was ich zu diesem Zeitpunkt brauchte. Er ließ meine Schulter los, und ich trat an der State Street hinaus in den eiskalten Chicagoer Wind, erfüllt von dem sonderbaren Gefühl, mein Leben würde nie mehr das gleiche sein.

Nicht dass eine kleine Veränderung mir wehgetan hätte. Nach meiner ersten zufälligen Begegnung mit Bob hatte ich angefangen, an jedem Morgen in der Braunen Linie nach ihm zu suchen, obwohl ich bei dieser Route zu spät zur Arbeit kam. Es fing genau eine Woche nach Roses Tod an, zu einer Zeit, in der ich mich erstmals vollkommen allein fühlte.

Rose war seit ihrer Kindheit mit meiner Mutter befreundet gewesen und hatte mich aufgezogen, nachdem meine Mutter an Brustkrebs verstorben war, als ich gerade acht Jahre alt war. Meine Mutter bekam mich erst mit vierzig. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie geglaubt, sie könne nicht schwanger werden – bis sie meinen Vater kennenlernte. Leider war er nicht bei ihr geblieben. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen.

Meine Mutter war ein wunderbarer Mensch. In ihren Augen war ich ein Wunder, entsprechend vernarrt war sie in mich. Sie versuchte, mir alles zu geben, was ich brauchte, lehrte mich aber zugleich, eigenständig zu denken. Sie war die Art Mensch, die immer wie aus dem Ei gepellt aussieht, bis sie schließlich krank geworden war, und dennoch weiß ich noch, wie sie mir sagte: Du bist ein hübsches Mädchen, Kate, aber verlass dich nie auf dein Aussehen. Dann pflegte sie mir mit dem Zeigefinger an die Schläfe zu tippen und hinzuzufügen: Was du damit machst, darauf kommt es an.

Ich erinnere mich, sie war liebevoll, aber auch knallhart, als wollte sie mich auf die Herausforderungen des Lebens vorbereiten. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, sie würde nicht allzu lange bei mir sein, und das war sie auch nicht, doch ich hatte wenigstens Rose … bis auch sie nicht mehr da war. Sie starb an einer Infektion infolge einer Routineoperation zur Entfernung eines Gallensteins. Ich konnte nicht verstehen, welche Art von Gott mir jeden Menschen nahm, dem etwas an mir lag. Und dann begriff ich. Niemand wird sich um mich kümmern, ganz gleich, wie viele Leute um mich herum sind. Ich bin alles, was ich habe. Diese Worte wurden zu meinem Mantra.

Ich sang sie vor mich hin, als ich die Lobby des Chicago Crier betrat, ein Medienunternehmen, das eine bekannte Chicagoer Zeitung verlegte, einen Blog betrieb und seit fünf Jahren mein Arbeitgeber war. Ich hatte Artikel für das Special-Interest-Ressort verfasst, die sich um Themen wie die Gefahren von Transfetten, Yoga versus Pilates, die Vorzüge von rotem Lippenstift und Tipps zu Anbietern teurer Qualitätsweine drehten. Eine ernsthafte Aufgabe war mir nie übertragen worden.

Jerry, der Herausgeber, liebte mich, aber seit Rose verstorben war, hatte ich mit null Begeisterung unterdurchschnittliche Artikel produziert. Ich hatte keinerlei Hoffnung, in der Redaktion aufzusteigen, weil ich unmotiviert war und weil ich es offen gestanden auch nicht verdiente. Aber irgendwie hatte ich, als ich an diesem Tag zur Tür hineinging, eine Vision. Ich konnte es nicht ganz greifen, aber ich hatte ein Bild von mir im Kopf, wie ich am Rechner sitze und mit Leidenschaft schreibe – etwas, was ich seit acht langen Monaten nicht mehr getan hatte.

Als ich in meiner Etage ankam, sah ich Beth in der Nähe meines Arbeitsplatzes stehen. Sie war eine große, einschüchternd wirkende Frau mit mattbraunem Haar, besaß aber ein großes Herz und ein echtes Talent zum Schreiben. Sie kleidete sich wie ein männlicher Teenager, Baseballshorts, T-Shirts und Sneakers, und zwar an jedem einzelnen Tag, aber das war nicht weiter wichtig, denn sie war – mit Fug und Recht – die Chefredakteurin der Zeitung. Sämtliche wichtigen Aufträge landeten bei ihr, denn sie steckte all ihr Herzblut in jedes einzelne Wort, das sie schrieb. Ich verehrte sie geradezu.

»Hey, Kleines.«

»Hi, Beth, wie war dein Wochenende?«

»Toll. Hab zehntausend Wörter geschrieben.«

Was sonst? Warum konnte ich nicht etwas mehr so sein wie sie?

»Was ist das?« Ich deutete auf einen Stapel Papier auf meinem Schreibtisch. Das Deckblatt war leer, abgesehen von dem fett gedruckten Schriftzug: R. J. LAWSON.

»Jerry gibt dir diese Story«, sagte sie.

Zunächst hatte ich keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, aber dann erinnerte ich mich, dass ich Jerry über R. J. Lawson schimpfen gehört hatte. Jerry war besessen davon, ein Interview mit ihm zu bekommen. Ich persönlich wusste rein gar nichts über ihn.

»Mir? Warum um alles in der Welt sollte er die gerade mir geben?«

Beth lächelte nur. »Ich weiß es nicht, aber er wird in einer Sekunde hier sein, um mit dir darüber zu reden. Ich wollte diese Story unbedingt, Kate. Niemand hat es bisher geschafft, ein Interview mit ihm zu kriegen, seit er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Aber ich bin trotzdem froh, dass du sie bekommen hast – du brauchst so was.«

Einige Augenblicke lang starrte ich sie nur an. »Ja«, murmelte ich dann, »ich weiß … das könnte wirklich was für mich ändern.«

»Du hast es erfasst.« Dann beförderte sie ein zusammengeknülltes Stück Papier mit einem Sprungwurf in hohem Bogen zielsicher in den Papierkorb hinter mir. »Sauber versenkt.«

Als sie sich abwandte und davonspazierte, starrte ich auf die ordentlich aufgestapelten Papiere und lachte in mich hinein, während ich insgeheim dachte, dass Jerry nun endgültig den Verstand verloren hatte, wenn er mir einen ernst zu nehmenden Auftrag erteilte. Kaum blickte ich auf, sah ich ihn über die Trennwand gucken.

»Gefällt’s dir? Ist eine Exklusivstory«, sagte er und zog die Brauen hoch.

»Warum ich?«

»Kate, was weißt du über diesen Typ?«

»Nichts, außer dass du seinen Leuten wegen eines Interviews auf die Nerven gegangen bist, und ich kann dir außerdem noch verraten, dass Beth alles getan hätte, nur um diesen Auftrag zu bekommen.«

Er nickte langsam und starrte dann zur Decke hinauf, als würde er angestrengt nachdenken.

Das riesige Großraumbüro war durch etwa hundert Arbeitsplatztrennwände unterteilt worden. Unentwegt brummte der ganze Raum regelrecht von den Geräuschen, die von den sich unterhaltenden Redakteuren und dem hektischen Tippen an den Computern verursacht wurden. Jerry spielte zudem immer Musik über die Deckenlautsprecher, um eine kreative Atmosphäre zu schaffen, doch ich hatte schon lange keine Kreativität mehr verspürt, und das war allein meine eigene Schuld. In diesem Moment hallte eine traurige Version von »Heartbeats« von José González durch den Raum. Ich musterte Jerry, der immer noch grüblerisch in die Luft stierte.

Er war vierzig Jahre alt und sah exakt so aus wie Richard Dreyfuss zur Zeit von Unheimliche Begegnung der dritten Art. Seine Bifokalbrille saß auf dem letzten Millimeter seiner Nase, was ihn – wie sehr er sich auch einbildete, es würde ihm Glaubwürdigkeit verleihen – doch nur älter erscheinen ließ. Er liebte seine Frau und seine Kinder, ein echter Familienmensch, hatte aber keinerlei Taktgefühl und sprach einfach ungefiltert aus, was ihm gerade in den Sinn kam, weshalb es mich nicht im Mindesten überraschte, als er endlich den Blick von der Decke löste und sagte: »Du bist eine gute Journalistin, Kate. Du kannst was, und außerdem siehst du gut aus.«

»Jerry! Was hat das damit zu tun? Ich will nicht, dass du mir einen wichtigen Auftrag gibst, weil ich gut aussehe.«

»Jaja, so war’s ja nicht gemeint. Ich sagte, du kannst was. Und R. J. ist ein dreißigjähriger Junggeselle. So auszusehen wie du kann nicht schaden.«

»Na toll, vielen Dank«, sagte ich sarkastisch.

»Willst du den Job nicht?« Er griff nach dem Papierstapel.

»Doch, ich will ihn. Ich kann nur nicht fassen …«

»Das war ein Kompliment, Kate.«

»Okay, schön.« Er meinte es nicht böse. Wie ich schon sagte, absolut kein Taktgefühl. Er war der loyalste Mensch auf Erden, und er wollte mich bestimmt nicht instrumentalisieren. Vermutlich dachte Jerry, dass Beths aggressive Vorgehensweise bei dem Auftrag vielleicht nicht ganz so geeignet wäre.Das Einzige, was ich über R. J. wusste, war nämlich, dass er in dem Ruf stand, Interviewfragen nicht zu beantworten – und das auch nur, weil Beth es mir erzählt hatte.

»In Ordnung?«

»Ich würde mich sehr über diese Chance freuen, Jerry, danke. Ehrlich gesagt bin ich neugierig. Warum um alles in der Welt hat er zugestimmt, uns ein Interview zu geben – noch dazu exklusiv? Wir sind nicht gerade eine überregional bedeutsame Zeitung.«

»Ich habe ihn mit meiner Bettelei weichgekriegt«, prahlte er. »Ich habe immer wieder neue Anfragen geschickt, bis er endlich geantwortet hat. Er sagte, ich hätte ihn mit meiner Hartnäckigkeit beeindruckt und er habe das Gefühl, unsere Zeitung sei integrer als andere. Vermutlich hat er sich über uns erkundigt. Er scheint ganz wild darauf zu sein, dass sich die Nachhaltigkeit und die umweltfreundliche Arbeitsweise des Weinguts herumsprechen, und die scheint in dieser Hinsicht auch wirklich spitze zu sein. Das einzige Problem ist, dass er in seiner E-Mail betont, wie wichtig ihm seine Privatsphäre sei und dass er es zu schätzen wüsste, wenn sich der Artikel vorzugsweise mit dem Wein beschäftigen würde, nicht mit seinem Privatleben. Aber, Kate, eine Story wie die könnte den Crier in eine ganz neue Liga katapultieren, besonders wenn du irgendwelche Skandale ausgraben kannst, die unsere Leser mögen. Das bedeutet, dass du alles herausfinden musst, was es über R. J. Lawson zu wissen gibt.«

Ich wirbelte samt Stuhl zu ihm herum, schlug die Beine übereinander und lehnte mich zurück. Ich war mehr als interessiert. »Sag mir, was du über ihn weißt.«

»Halt dich fest, dieser Kerl ist ein echtes Rätsel. 1998 hat Ryan Lawson das MIT abgeschlossen, ein junges Wunderkind der Computertechnik und Mitbegründer eines der größten Technologieunternehmen in Silicon Valley. Er hatte das Potenzial, Steve Jobs und Steve Wozniak in einer Person zu werden – ein gerissener Geschäftsmann und ein Technikgenie.«

»Wow.«

»Ja, er hat irgendeinen Computerserver entwickelt, der in beinahe jeder Behörde, jeder Bank und jedem Großunternehmen eingesetzt wird und nicht gehackt werden kann.«

»Du erwartest also von mir, dass ich einen Technikmogul interviewe, obwohl ich bisher Artikel über Lippenstift und Wein geschrieben habe?«

»Jetzt kommt’s, Kate. Neunundneunzig hat er seinen Anteil an J-Com Technologies verkauft und ist vom Radar verschwunden. Niemand wusste, wo er hin ist oder was er mit den drei Milliarden Dollar machen will. Dann tauchten Gerüchte auf, er hätte das Geld nach Afrika gebracht und würde überall auf dem Kontinent eigenhändig Schulen erbauen, aber die wurden nie bestätigt.«

»Und woher wusstest du, wie du ihn finden kannst … und was er jetzt macht?«

»Ich habe vor drei Jahren zum ersten Mal etwas über ihn gehört, als jemand einer kalifornischen Zeitung gesteckt hat, dass er ein marodes Dreihundertsechzig-Hektar-Weingut und eine vorgestrige Frühstückspension in Napa Valley gekauft habe. Trotzdem ist nichts weiter rausgesickert, jedenfalls bis zu diesem Jahr, und dann haben seine Weine angefangen, jeden bekannten Preis abzuräumen.«

Langsam rückten die Puzzlestücke an den richtigen Platz. »R. J. Lawson«, sagte ich. »Ja, dieser Pinot ist fantastisch.«

»Nicht wahr? Es ist, als würde alles, was der Mann anfasst, zu Gold werden.«

»Und warum um alles in der Welt ist Beth scharf auf ein Interview mit einem Winzer?«

»Weil er sich seit über einem Jahrzehnt geweigert hat, Interviews zu geben oder sich fotografieren zu lassen. Stell dir vor, Bill Gates oder Steve Jobs wären auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs einfach verschwunden. Das ist eine Riesenstory.«

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du mir diese Story gibst.«

»Na ja, ich werde dich nicht belügen, Kate. In letzter Zeit hast du nur noch Mist produziert. Habe ich nicht sogar gehört, du hättest einen Vorschlag eingereicht, einen Sonderbeitrag über den Mythos zu verfassen, dass Fruchtgummis frischen Atem verleihen?«

»Aber es ist ein Mythos. Von Fruchtgummis bekommst du nicht nur keinen guten Atem, du bekommst sogar einen ekligen Atem, und das sollten die Leute wissen. Jetzt komm schon, genau darum geht es doch bei Special Interests.«

»Das Schlüsselwort ist Interest. Unsere Leser interessiert nicht, wie wertlos Fruchtgummis sind. Die wollen spannende Geschichten – Geschichten, die Gefühle wecken. Wenn du nur eine Geschichte über Wein schreibst, berührst du nicht das Herz des Lesers. Alles, was du schreibst, muss einen menschlichen Faktor enthalten.«

»Ich weiß, was du sagen willst. Ich war einfach unmotiviert, seit … Rose gestorben ist.«

Für eine Millisekunde sah er mich mitfühlend an. Ich bekam den Eindruck, dass diese Entschuldigung nicht mehr so recht zog. »Du musst morgen nach Kalifornien abreisen. Er hat zugestimmt, dir das Interview in zwei Teilen zu liefern. Dienstag und Donnerstag sind die einzigen Tage, an denen er abkömmlich ist, also wirst du in der Frühstückspension absteigen. Da hast du deine Ruhe und kannst vermutlich den halben Artikel schon schreiben, während du dort bist. Geh nach Hause, rede mit deinem Freund darüber, und gib mir Bescheid.«

Den wird das nicht interessieren.

»Ich bin dabei, Jerry. Ich muss nicht erst mit Stephen darüber reden. Wie lange soll ich bleiben?«

Wieder musterte er mich mit diesem hintergründigen Ausdruck in den Augen, ehe er mit leiser Stimme sagte: »Du hast dein Feuer verloren, Kate. Komm nicht nach Hause, ehe du es wiedergefunden hast. Bring mir eine tolle Story.«

2.  Einsam, aber nicht allein

Mein Freund Stephen und ich lebten im selben Apartmentgebäude. Zum ersten Mal waren wir uns an einem Montag vor zwei Jahren im Waschkeller begegnet, und seither hatten wir jede Woche zusammen gewaschen. Eigentlich konnte ich Stephen kaum meinen Freund nennen, denn abgesehen von den Wäschesitzungen und einem gelegentlichen Abendessen am Freitag sahen wir einander kaum. Er war ein Workaholic und kletterte erfolgreich die Karriereleiter in einem angesehenen Marketingunternehmen hinauf. Er nannte seine Firma eine Kreativagentur, aber im Grunde waren sie lediglich eine Profitagentur. Er verbrachte viel zu viel Zeit damit, sich Möglichkeiten auszudenken, um seine Klienten zu überzeugen, ihre Bestände abzustoßen und das Aussehen ihrer Produkte zu ändern, damit alle mehr Geld damit machen konnten. Der Mann war engagiert und voller Tatendrang, aber sein Arbeitsprogramm ließ ihm wenig Zeit für eine Freundin. Wir hatten mehr Sex in diesem Waschkeller über eine Waschmaschine gebeugt als in einem Bett.

An dem Tag verließ ich den Chicago Crier, um für meine Reise zu packen. Stephen erwartete mich zu unserer üblichen Zeit, sechs Uhr, im Keller. Wir besorgten abwechselnd etwas zu essen – in dieser Woche hatte er sich für Thai entschieden.

»Hey, wie war dein Tag?«, fragte ich, als ich mich vorbeugte, um ihn zu küssen. Stephen war nur ein paar Zentimeter größer als ich, ungefähr eins dreiundsiebzig, aber er hatte eine erheblich größere Präsenz, die er seinem Selbstvertrauen verdankte, das manche Leute allerdings als Arroganz einstuften.

»Hi, Süße. Mein Tag war stressig. Momentan wollen alle mit dem Kopf durch die Wand wegen der Copley-Sache. Ich muss auch in ein paar Minuten an einer Telefonkonferenz teilnehmen«, sagte er, als er mir einen Essenskarton reichte. »Gelbes Curry, richtig?«

»Oh, ja.« Mich fragte er nie, wie mein Tag gelaufen ist. Ich öffnete den Karton und klappte ihn sofort wieder zu. »Ist das Huhn?«

»Ja, das ist doch das, was du gern isst.« Das war keine Frage.

»Ich bin Vegetarierin, Stephen. Das bin ich schon seit zehn Jahren.«

»Ja, aber ich dachte, Geflügel würdest du essen.«

»Normalerweise nennen sich Leute nicht Vegetarier, wenn sie Geflügel essen.«

»Gott, tut mir leid. Ich hätte schwören können, dass ich dich schon Gelbes Curry habe essen sehen.«

»Mit Tofu.«

»Tja, ich würde dir ja meins anbieten, aber da ist auch Huhn drin«, sagte er und zog sein brummendes Telefon aus der Tasche.

»Ich werde einfach nur den Reis essen.«

Er hielt einen Finger an die Lippen, um mich um Ruhe zu bitten, ehe er den Anruf entgegennahm. »Stephen Brooks. Ja, nehme ich an. Hey, was ist los, Mann? Ach, du machst doch Witze, oder? Zwei Millionen. Das war das, was ich ihr gesagt habe.«

Während Stephen sein Gespräch fortsetzte, vertilgte ich den Reis und fing an, Wäsche zu sortieren. Als ich mich vorbeugte, trat er hinter mich und drängte sich an mich. Ich drehte mich um und sah ihn grinsen.

Du bist so verdorben, formte ich mit den Lippen.

Du bist so scharf, antwortete er in gleicher Weise.

Stephen war attraktiv, auf die Art eines adretten Geschäftsmanns. Er war immer glatt rasiert, hatte dunkles, langsam zurückweichendes Haar und dunkelbraune Augen, die beinahe schwarz aussahen, und er trug nur Anzüge oder seine Sportklamotten. Nie war er zwanglos gekleidet. Ich hingegen steckte in einer zerrissenen Jeans und einem Sweatshirt der University of Illinois.

Wir passten in mehr als nur einer Hinsicht absolut nicht zusammen, und auch wenn es da diese gegenseitige körperliche Anziehung gab, hatte ich nie das Gefühl gehabt, unsere Beziehung könnte über das, was sie derzeit war, hinauswachsen. Er hatte mich nie seiner Familie vorgestellt. An Feiertagen besuchte er seine Eltern in der Vorstadt, und ich ging zu Rose. Wir verbrachten kaum Zeit in der Wohnung des jeweils anderen.

Als Rose starb, isolierte ich mich sogar noch mehr, überzeugt, ich müsse lernen, allein zu sein, folglich hatte ich die Sache mit Stephen auch nie vorangetrieben. Auch er hatte nie auf mehr gedrungen. Ich blieb mit Stephen zusammen, weil das behaglich war. Und ich blieb mit Stephen zusammen, weil er nett war und ich glaubte, er wäre alles, was ich hatte. Aber auch nach zwei Jahren brachte er mir noch Gelbes Curry mit Huhn mit.

Ich setzte mich auf die Waschmaschine. Als Stephen sein Gespräch beendet hatte, kam er zu mir, steckte aber das Telefon nicht weg; er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf das Display. Ich spreizte die Beine, damit er näher an mich herankonnte.

Ohne aufzublicken, reckte er einen Finger hoch. »Warte, ich muss nur noch diese Nachricht abschicken.«

Es war erstaunlich, wie einsam ich mich fühlen konnte, wenn ich nicht einmal allein war. Manchmal, wenn ich mit Stephen zusammen war, kam mir meine Situation noch schlimmer vor als sonst. Ich hatte mich damit abgefunden, dass unsere Beziehung vorwiegend körperlicher Natur war. Stephen hatte nie auch nur einen Artikel gelesen, den ich geschrieben hatte. Seine Ausrede lautete, dass er lieber Wirtschaftszeitungen und Sportmagazine las. Nicht einmal mir zuliebe machte er eine Ausnahme.

»Ich reise morgen wegen einer Story nach Kalifornien. Das ist eine große Sache, die Jerry schon seit Monaten an Land zu ziehen versucht.« Er nickte, starrte aber weiter auf sein Telefon. »Hast du mich gehört? Ich verlasse morgen die Stadt.«

Nun blickte er auf, beugte sich vor und drückte mir einen gesitteten Kuss auf die Lippen. »Gute Reise. Ich muss diesen Anruf annehmen, Kate. Tut mir leid. Bringst du mir mein Zeug rauf, wenn es fertig ist? Das ist wirklich ein wichtiges Gespräch, es geht um einen Millionen-Etat.« Er küsste mich erneut, und ich nickte und rang mir ein Lächeln ab. »Danke, Süße«, sagte er, machte kehrt und ging samt seinem Essen zur Tür.

Wie ich schon sagte, ihn interessiert das nicht.

Später ging ich zu Stephens Wohnung, um seine Wäsche abzuliefern. Als er die Tür öffnete, hatte er noch dieselben Klamotten an. Die Krawatte hatte er abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt, aber das Telefon hielt er nach wie vor an sein Ohr.

Danke, ich schreibe dir eine Nachricht, formte er tonlos mit den Lippen.

Ich reichte ihm den Korb mit seinen Sachen und sagte sehr leise: »Gern geschehen.«

Er schrieb gern Nachrichten. Er hielt es für erotisch, schmutzige Texte hin- und herzuschicken, aber je weniger wir im echten Leben miteinander verbunden waren, desto bedeutungsloser wurden diese Nachrichten.

Doch tatsächlich, zwei Stunden später, ich war schon im Bett, erhielt ich eine Nachricht von ihm.

Stephen: Du siehst heute Abend toll aus.

Normalerweise hätte ich etwas in der Art geantwortet wie Du bist auch nicht übel, denn Stephen bemühte sich wenigstens, und ich glaubte, er meinte es gut, aber an diesem Abend wurde mir etwas überaus klar. Ich fing an, eine Beziehung zu visualisieren, in der ich mich wertgeschätzt fühlte. Es gelang mir nicht, mir das Gesicht der Person vorzustellen, die mir dieses Gefühl geben würde, aber irgendwie wusste ich, es war nicht Stephen.

Mehrere Minuten lang antwortete ich ihm nicht. Stattdessen rief ich Google auf und tippte R. J. Lawson in das Suchfeld. Ich streifte unzählige langweilige Artikel über seine frühen Erfolge und den Beitrag, den seine Erfindungen für den technologischen Fortschritt in Bezug auf Kommunikation und Sicherheit geleistet hatten. Es gab wenig, eigentlich gar nichts über sein Privatleben.

In einem Artikel wurde – zusammen mit einem Foto von ihm und dem Gerät – der Prototyp eines Servers vorgestellt, den er bei einer Wissenschaftsausstellung präsentiert hatte. Da konnte er nicht älter als zwölf gewesen sein, präpubertär, den Mund voller Brackets. Ich suchte und suchte in der Hoffnung, weitere Bilder zu finden, aber jedes Mal, wenn sein Name mit einem Foto verlinkt war, waren darauf entweder Computerkram oder das Weingut oder das Logo einer Wohltätigkeitsorganisation, die er gegründet hatte, zu sehen. Wenn ich zu diesem Interview ging, würde ich in Hinblick auf R. J. Lawsons Erfolge und sein philanthropisches Wirken eine Menge wissen und sehr wenig über den Mann selbst.

Nach einem Blick auf die Uhr kam ich zu dem Schluss, dass ich Stephen lange genug mit Schweigen bestraft hatte.

Kate: Wenn ich heute Abend so toll ausgesehen habe, warum bist du dann jetzt nicht in meinem Bett?

Stephen: Besprechung früh am Morgen. Gute Reise. Wir sehen uns, wenn du zurück bist.

Ich antwortete nicht. Ich schlief einfach ein mit dem Gedanken: Ich bin alles, was ich habe.

3.  Journalistischer »Führerschein«

Am nächsten Tag landete ich um zwei Uhr nachmittags auf dem San Francisco International Airport. Mein erstes Interview mit R. J. Lawson war für fünf Uhr nachmittags vorgesehen, und ich musste erst noch über die stark befahrene Golden Gate Bridge raus aus der Stadt und rauf nach Napa Valley. Ich hoffte, dass am Flughafen Taxis bereitstanden, denn mir blieb nicht viel Zeit zum Vertrödeln. Zudem hatte ich das Flugzeugessen verschmäht, also hatte ich großen Hunger und bekam Kopfschmerzen.

Während ich am Gepäckkarussell wartete, zog ich den Reiseplan hervor, den mir die Assistentin beim Chicago Crier zusammengestellt hatte. Bei den Details zum Hinflug fand ich eine Reservierungsnummer für Avis Car Rental. Sofort rief ich Jerry an.

»Warum ist da eine Mietwagenreservierung auf meinem Reiseplan?«

»Dir auch einen schönen Tag. Wir haben dir einen Mietwagen organisiert, weil Napa ziemlich weitflächig ist. Ich dachte, du willst dich vielleicht ein bisschen umsehen, während du dort bist. Außerdem … die Kosten für ein Taxi wären schon für den Hinweg höher ausgefallen.«

»Ich kann doch gar nicht Auto fahren, Jerry!«

»In deiner Akte ist ein Führerschein vermerkt.«

»Ja, ich habe den Führerschein gemacht, nachdem mir mein Freund auf der Highschool auf einem kleinen Parkplatz Fahrunterricht gegeben hat. Aber seitdem bin ich nicht mehr gefahren.«

»Du trittst aufs Gas, um loszufahren, und auf die Bremse, um anzuhalten, und du steuerst mit dem großen Rad direkt vor dir. Wie schwer kann das sein?«

»Schön. Ich hoffe nur, die Zeitung ist gut versichert. Das wird ein absoluter Albtraum werden.« Ich legte auf und griff nach meinem Koffer, der natürlich als letzter auf dem Transportband aufgetaucht war.

Bei Avis führte mich eine junge Frau zu meinem Wagen. »Ich muss rasch eine Sichtkontrolle durchführen, um bestehende Schäden zu protokollieren. Ich beeile mich.«

»Alles klar.« Ich warf meine Taschen in den Kofferraum und schlüpfte auf den Fahrersitz. Der Wagen war eine kleine Limousine von Toyota, nicht besonders schick, sah aber sehr neu aus. Ich tastete nach dem Zündschloss, als mir auffiel, dass die Frau mir den Schlüssel noch gar nicht gegeben hatte.

Sie hüpfte um den Wagen herum und stand dann vor meiner Tür. Dort bückte sie sich, um mich durch die Seitenscheibe anzusehen, lächelte süß und verkündete: »Keinerlei Schäden, Sie sind startklar, aber ich denke, das werden Sie brauchen.«

Sie hielt ein kleines schwarzes Kästchen hoch. Ich öffnete die Tür. »Was ist das?«

»Ihr Schlüssel.«

»Das soll ein Schlüssel sein?«

Sie stützte die Hand auf die Hüfte und neigte den Kopf zur Seite. »Haben Sie etwa noch nie ein Auto mit Startknopf gefahren?«

»Nein.« Offensichtlich hatten sich Autos in den letzten zehn Jahren ein bisschen verändert.

Die Frau unterzog mich einem Schnellkurs, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich sehr lange nicht gefahren war. Ich glaube, ich tat ihr leid.

»Das ist genau wie Radfahren, wissen Sie?«

»Ja, danke, das ist ein wirklich guter Hinweis.«

Ich tippte die Adresse des Weinguts in das Navigationsgerät und fuhr zur Ausfahrt der Mietwagenfirma. Alle eineinhalb Meter trat ich kreischend auf die Bremse, bis ich endlich die Straße erreicht hatte. Ich musste wohl noch etwas üben. Die Dame des Navis brachte mich erfolgreich über die Golden Gate Bridge, aber ich genoss nicht eine Minute der Fahrt. Ich hatte Angst, ich würde einen Fußgänger oder einen Radfahrer erwischen oder selbst von der Brücke stürzen, und konnte gleichzeitig den Blick nicht von dem Wagen vor mir wenden. Dann, als ich endlich raus aus der Stadt war, entdeckte ich einen Wendy’s und verließ den Highway. Die Dame des Navis geriet ein wenig außer sich.

»Neuberechnung. Fahren Sie zwei Kilometer nach Norden auf der DuPont.«

Ich bog noch mal ab, um auf die andere Seite des Highways und zu einem verlockenden Chocolate Frosty zu kommen.

»Neuberechnung.«

Hektisch drückte ich auf den Knöpfen herum, bis es mir endlich gelang, sie zum Schweigen zu bringen. Ich bog rechts ab, und dann bog ich gleich noch einmal ab, direkt auf den Parkplatz von Wendy’s und in die dort beginnende Drive-in-Spur.

Rasch warf ich einen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor vier, ich hatte noch genug Zeit. Ich fuhr vor dem Lautsprecher vor und rief: »Ich nehme eine mittlere Pommes und einen großen Chocolate Frosty.«

In diesem Moment hörte ich das kurze Aufheulen einer Sirene. Whoop.

Ich sah in den Rückspiegel und entdeckte den Ursprung des Geräusches. Es war ein Motorradpolizist. Was tut der da? Ich saß da und wartete darauf, dass der Lautsprecher meine Bestellung bestätigte, da hörte ich es wieder. Whoop.

»Ma’am, bitte verlassen Sie die Drive-in-Spur, und fahren Sie zur Seite.«

Rasch ließ ich die Seitenscheibe runter, steckte den Kopf hinaus und sah mich um, bis der Polizist in meinem Blickfeld war. »Reden Sie mit mir?«

Zu meinem absoluten Entsetzen benutzte er erneut seinen Lautsprecher. »Ja, Ma’am, ich rede mit Ihnen. Bitte verlassen Sie die Drive-in-Spur.«

»Entschuldigen Sie. Hallo? Die letzte Bestellung müssen Sie wohl streichen.«

Ein paar Sekunden später ertönte die Stimme eines jungen Mannes aus dem Lautsprecher. »Ja, das dachten wir uns schon«, sagte er und brach in Gelächter aus, ehe er den Lautsprecher abschaltete.

Der Polizist war sehr freundlich und schien die Situation auch ein wenig belustigend zu finden. Offenbar war ich unerlaubterweise an einer roten Ampel rechts abgebogen, unmittelbar bevor ich auf den Parkplatz gefahren war. Nach diesem peinlichen Zwischenfall entließ er mich, was durchaus erfreulich war, aber ich hatte immer noch keinen Frosty.

Ich nahm mein altes Chicago-Cubs-Cap aus der Tasche und beschloss, dass ich unbedingt meinen geliebten Frosty haben musste. Solchermaßen inkognito trat ich über die Schwelle, doch das Baseballcap war anscheinend unzureichend, denn der Typ hinter dem Tresen, der aussah wie Justin Timberlake, konnte nicht an sich halten.

»Hi«, sagte ich.

»Hi, was kann ich Ihnen bringen?«, fragte er, nur um im nächsten Moment die Hand vor den Mund zu schlagen, darum bemüht, nicht in Gelächter auszubrechen, ein Unterfangen, das mit Würgelauten aus tiefster Kehle einherging.

»Kann ich bitte einen extragroßen Chocolate Frosty haben?«

»Wollen Sie immer noch Pommes dazu?« Wieder lachte er, und dann hörte ich auch Gelächter aus dem Hintergrund.

»Nein, danke.« Ich zahlte, schnappte mir den Becher und flitzte davon.

Napa war im Oktober wunderschön. Die Sonne ging bereits unter und schickte ihre letzten Strahlen durch die großen Eukalyptusbäume, die die Straße zum Weingut säumten. Verglichen mit Chicago war es zu dieser Jahreszeit warm in Napa.

Ich fuhr rechts ran, schoss ein paar Fotos und legte einige Lagen Kleidung ab. Nun trug ich eine sehr knittrige schwarze Stoffhose und einen Blazer und versuchte reichlich erfolglos, wie eine erfahrene Journalistin auszusehen.

Mir blieben nur noch wenige Minuten bis zum Interview, also ging ich kurz meine Fragen noch einmal durch, ehe ich wieder in den Wagen sprang und zum Anwesen von R. J. Lawson fuhr.

Die Navi-Dame informierte mich, dass ich mich in der Nähe meines Ziels befand. Als ich an die Stelle kam, an der ich links zum Weingut abbiegen musste, hielt ich an und wartete, um einen Wagen passieren zu lassen, der aus der Gegenrichtung kam. Dieser Wagen war kaum vorbeigefahren, da tauchte in der Ferne der nächste auf. Und dann noch einer.

Irgendwann riskierte ich es und bog schnell ab. Ich schlug das Lenkrad zu weit ein, korrigierte zu sehr und knallte gegen einen Truck, der gerade aus der Einfahrt des Weinguts kam. Der Airbag wurde ausgelöst und schlug mir recht grob ins Gesicht, genau in dem Moment, in dem ich das metallische Krachen hörte und die Wucht des Zusammenpralls spürte. Verzweifelt drückte ich den bereits wieder kleiner werdenden Airbag von mir weg. Plötzlich fiel mir eine Gestalt vor dem Beifahrerfenster auf.

»Alles in Ordnung?«, schrie der Mann.

Ich nickte, und wenige Sekunden später öffnete er meine Tür.

Hastig stieg ich aus und rannte zum Kühlergrill, ehe ich zu dem Wagen blickte. Ich hatte ihn frontal gerammt, einen alten Ford Pick-up, der, so schien es, keinen Kratzer davongetragen hatte, doch die Vorderseite meines Mietwagens war komplett hinüber. Was für ein Tag. In diesem Moment wollte ich Jerry anrufen und ihm sagen, die einzige Möglichkeit für mich, mein »Feuer« wiederzufinden, bestünde darin, mich selbst in Brand zu stecken.

»Ist das Ihr Auto?«, fragte ich und zeigte darauf. Ich war immer noch mehr als aufgewühlt und ziemlich verwirrt.

Ich sah den Mann an, der nun langsam auf mich zukam. Er war groß, hatte längeres sonnengebleichtes Haar. Besorgnis spiegelte sich in seinen tiefgrünen Augen, und mir fiel auf, dass er ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo von R. J. Lawson trug.

»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Sie sehen aus, als hätten Sie einen ziemlichen Schock erlitten«, sagte er.

Ich fing an zu schwanken, und er hielt mich aufrecht, indem er mit beiden Händen meine Oberarme packte.

»Arbeiten Sie hier?«

»Ja, ich bin Jamie.«

Sein Kinn sah unter den Bartstoppeln kantig aus, und obwohl er dünn war, hatte er etwas Wildes, Starkes an sich. Zu dem T-Shirt trug er eine dunkle Levi’s und schwarze Arbeitsstiefel. Seine Gesichtshaut war absolut makellos, aber dunkler, als ich es von den Männern in Chicago gewohnt war. Als ich seine Hände betrachtete, erkannte ich, dass er sie zum Arbeiten benutzte. Sie sahen stark und schwielig aus.

»Ich brauche Ihre Kontaktdaten, Jamie.«

Sein hübscher Mund verzog sich zu einem trägen Lächeln. »Ich glaube, Sie sind mir reingefahren, also brauche ich Ihre Kontaktdaten.«

Gott, er sah wirklich gut aus, und ich wurde von Sekunde zu Sekunde verlegener.

»Gut.« Ich stand neben der Tür und zog einen Zettel aus meiner Tasche. Hastig notierte ich die nötigen Daten und streckte die Hand nach hinten, dorthin, wo Jamie stand. Er nahm mir den Zettel aus der Hand. Ich drehte mich nicht um, aber ich vernahm ein leises Glucksen.

Ich wurde ziemlich ärgerlich, als mir klar wurde, dass mein Wagen nicht mehr fahrbar war und mir nur noch fünf Minuten bis zum Interview blieben. Verdammt. Als ich mich schließlich doch zu Jamie umdrehte, ließ er ein dämliches, süffisantes Grinsen aufblitzen.

»Was?«, fragte ich ihn und sah ihn dabei so vielsagend an, wie ich nur konnte.

»Sie sind Jerry Evans?«

»Ja, und?«

»Nun, als wir heute Morgen telefoniert haben, hat Ihre Stimme deutlich tiefer geklungen.«

»Das sind alle Daten, die Sie brauchen, auch wenn es nicht so aussieht, als müsste Ihr Truck repariert werden. Tut mir leid, dass ich Ihnen reingefahren bin, okay? Ich fahre einfach nicht so oft, und ich bin sehr spät dran für mein Interview mit R. J. Lawson.«

»Oh, dann sind Sie die Reporterin?«

»Ich bin Journalistin, ja.«

»Tja, dann beeilen Sie sich besser. R. J. wird echt sauer, wenn Leute zu spät kommen.«

Schnaubend zerrte ich meinen Koffer aus dem Wagen. Jamie stand immer noch albern grinsend an Ort und Stelle und rührte sich nicht.

»Hey, Jerry, brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit? Ich glaube, mit Ihrem Auto kommen Sie nicht weit.«

Ich beugte mich zur Seite, schaute an seinem Truck vorbei und erblickte einen sehr langen, von Bäumen gesäumten Weg hinauf zu den Kellereigebäuden. Das war mindestens ein Zwanzig-Minuten-Marsch.

»Mein Name ist Kate …« Ich suchte nach Worten, bis ich schließlich mit zitternder Stimme sagte: »Und … ja.«

»Ja, was, Katy?« Er neigte den Kopf zur Seite und zog die Brauen hoch. »Möchten Sie, dass ich Sie die Auffahrt rauffahre? Ist das Ihre Art, höflich zu bitten?«

»Noch einmal, mein Name ist Kate, nicht Katy, und ja, bitte, wenn Sie so nett wären, mich mitzunehmen, wüsste ich das sehr zu schätzen.«

Er schwieg, musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle, blickte anschließend zum Himmel hinauf und kratzte sich am Kinn, als müsste er eine lebenswichtige Entscheidung treffen.

»Hmm … okay, Katy, ich glaube, ich mache es. Es wäre mir sogar ein Vergnügen, Sie die Auffahrt hinaufzufahren, obwohl Sie mich beinahe umgebracht hätten.«

Endlich gab ich den Widerstand auf und musste selbst über die Situation lachen.

Jamie schaffte meinen Mietwagen von der Straße, und ich beobachtete, wie sich beim Schieben seine Armmuskulatur anspannte. Sein rechter Arm war vollständig mit Tribal-Tattoos bedeckt. Nicht die übliche Art, die man an den Wänden jedes Tattoostudios zu sehen bekam, sondern einzigartige Motive, einige davon in orangeroter Farbe. Er war sehr attraktiv und wirkte stark und durchtrainiert. Ich fragte mich, was er auf dem Weingut machte, aber mein Gedankengang wurde unterbrochen, denn als ich in seinen Truck steigen wollte, fiel mir ein schokoladenbrauner Labrador auf, der perfekt aufrecht und angegurtet auf dem Beifahrersitz saß.

»Das ist Chelsea. Sie werden hier einsteigen und sich in die Mitte setzen müssen, denn das da ist ihr Platz.«

Ich ging um den Truck herum zur Fahrerseite und schenkte ihm ein Lächeln, ehe ich hineinkletterte. »Und sie trägt einen Sicherheitsgurt?«, bemerkte ich lachend.

»Ja, und das ist auch gut so, denn anderenfalls wäre sie geradewegs durchs Fenster geflogen, als Sie uns mit Ihrem Wagen gerammt haben.«

»Ich sagte doch schon, es tut mir leid.« Ich klang ein wenig weinerlich.

Er glitt auf den Fahrersitz, startete den Truck und tätschelte mein Bein. »Ich ziehe Sie nur auf.«

Ich konnte mich nicht erinnern, wann zum letzten Mal jemand mein Bein so angefasst hatte. Normalerweise würde ich mich dabei extrem unbehaglich fühlen. Ich saß schon direkt an ihm dran, an einem Mann, der mir völlig fremd war und dem ich gerade reingefahren war, aber irgendetwas an seinem Auftreten wirkte beruhigend auf mich, wenn ich von dem Umstand absah, dass er heftig nach Alkohol roch. Überhaupt lag ein überwältigender Weingeruch in der Luft. »Haben Sie getrunken?«

Er griff nach seinem Shirt, hob es an die Nase und schnüffelte daran.

»Neugierige Katy, die Reporterin, die immer als Erste vor Ort ist.« Er unterbrach sich und bedachte mich mit einem selbstzufriedenen Grinsen. »Ich arbeite auf einem Weingut, Süße. Ich habe heute Fässer gereinigt.« Er deutete mit dem Daumen zur Heckscheibe.

Ich drehte mich um und sah drei hölzerne Weinfässer, die auf der Ladefläche festgeschnallt waren.

Kopfschüttelnd verdrehte ich die Augen über mich selbst. Wirklich, kann ich mich heute überhaupt in eine noch peinlichere Lage manövrieren? Ich war R. J. Lawson noch gar nicht begegnet, und trotzdem war ich schon jetzt bereit, das Handtuch zu werfen.

»Wo wollten Sie hin, als ich Ihnen reingefahren bin?«

»Nur schnell in die Stadt, ein paar Sachen erledigen.«

»Ich dachte, die Leute in Kalifornien wären so umweltbewusst. Sind diese alten Trucks nicht irre Spritfresser und Dreckschleudern?«

Den Blick stur nach vorn gerichtet, lächelte er. »Ich habe den Motor umgebaut. Er läuft mit Biokraftstoff.«

»Was ist das für ein Kraftstoff?«

»Donut-Fett. Null Schadstoffemission, und ich bekomme meinen Kraftstoff kostenlos von einer örtlichen Bäckerei.«

»Soll das ein Witz sein?«

Er schüttelte nur den Kopf.

Chelsea starrte zur Windschutzscheibe hinaus. Als ich mich umdrehte, um sie anzuschauen, drehte sie sich ebenfalls um und sah mir direkt in die Augen. »Hey«, sagte ich und rechnete fest mit einer Reaktion, aber sie wandte sich nur ganz lässig wieder ab und blickte erneut zum Fenster hinaus.

»Sie ist wie ein Mensch.«

»Jep, sie ist mein Mädchen.«

Ich schenkte ihm ein Lächeln, und da zwickte er mich in den Oberschenkel.

»Hey!«

»Selber hey. Wir haben’s geschafft. Hier setze ich Sie ab.« Er zeigte zum Fenster hinaus auf ein Gebäude. »Da ist R. J.s Büro. Und lassen Sie sich bloß nicht von ihm verunsichern, der Typ verhält sich jedem gegenüber wie ein Idiot.«

Ich lachte. »Danke.«

Er half mir aus dem Truck und holte meinen Koffer von der Ladefläche. Als ich danach greifen wollte, hielt er weiter den Griff fest, und meine Hand landete auf seiner. Doch statt den Koffer wegzuziehen, verharrte ich aus irgendeinem Grund so, ließ meine Finger über seine schwielige Haut gleiten, ehe ich zu ihm aufblickte.

Er starrte mich unverwandt an, die Augen ein wenig zusammengekniffen, als versuchte er, meine Mimik zu entschlüsseln. Er kam näher, beugte sich zu mir, ein schwaches, ehrliches Lächeln auf den Lippen. Ich spürte die Hitze, die von unseren Körpern ausging, als die Lücke zwischen uns kleiner wurde und er sich meinem Gesicht näherte. Ich glaubte, er würde mich küssen – und dann tat er es, einfach so, auch wenn es nur ein kleines Wangenküsschen war. Seine Fingerspitzen lagen auf meiner anderen Wange, und seine Lippen verweilten ein paar Sekunden, und dann hörte ich ihn tief einatmen. Schließlich rückte er ein paar Zentimeter von mir ab und lächelte wieder. Seine Augen wirkten hellwach, erfüllt von Neugier und noch etwas anderem. Verlangen, möglicherweise.

»Ich sagte ja, Sie müssen nicht ängstlich sein. Das wird schon.« Seine Stimme klang sanft.

Ich war vollständig erstarrt. Ich hätte mich nicht abwenden können, selbst wenn ich gewollt hätte. Meine Hände kribbelten, und ich zitterte am ganzen Leib, während wir dort standen und uns einige Momente lang intensiv anstarrten.

Irgendwann räusperte ich mich, dennoch kam meine Stimme kaum über ein Flüstern hinaus, als ich sagte: »Es tut mir leid, dass ich Ihnen reingefahren bin.«

Er schüttelte den Kopf, drehte ihn ganz langsam hin und her, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wie lange werden Sie bleiben?«

»Oh.« Mein Herz fing an zu hämmern, als könnte es jeden Moment versagen. Ob er mich um ein Date bitten will? »Äh … ich werde mindestens bis Freitag hier sein, aber … ich habe einen Freund.«

»Ich wollte Ihnen nur anbieten, Sie auf dem Gut herumzuführen, falls R. J. keine Zeit dazu hat.«

»Oh.« Ein weiterer peinlicher Augenblick an diesem so oder so schon apokalyptischen Tag. »Dann, ja, gern, das wäre toll.«

Sein Lächeln brachte auch seine Augen zum Strahlen. »Okay, Katy, Reporterin mit Freund, dann werde ich Sie herumführen.« Er machte kehrt, um zu seinem Truck zu gehen.

»Ich heiße Kate, und ich bin Journalistin.«

Als er davonfuhr, lehnte er sich aus dem Fenster und winkte. »Viel Glück, schöne Frau. Sie machen das schon.«

Ich stützte mich auf das Geländer vor dem Gebäude. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, aber nicht wegen meines Interviews mit Lawson. Ich empfand etwas, das ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Und ich empfand es für einen Typen, den ich gerade erst kennengelernt hatte.

4.   Hyperbel

Ich nahm mir einen Moment, um mich zu sammeln und mir einen Eindruck von meiner Umgebung zu verschaffen. Alle Gebäude des Weinguts drängten sich um das Ende der langen, von Bäumen gesäumten Einfahrt, und alle sahen aus, als wären sie erst kürzlich renoviert worden. Durch die Craftsman-Architektur erinnerten die Häuser an rustikale Jagdhütten.

Links war die Pension, ein dreistöckiger Bau mit kunstvollen Buntglasfenstern und einer schweren Eichentür, die mit einem aufwendigen Muster in Form miteinander verflochtener Weinreben verziert war. Auf einem Schild an der Fassade stand: Gemeinsam schaffen wir Wärme.

Selbst jetzt, am Nachmittag, da die Sonne nicht mehr weit über dem Horizont stand, konnte ich die orangerote Glut der an den Wänden angebrachten Außenlampen und der glimmenden Wegbeleuchtung wahrnehmen, die eine behagliche Freundlichkeit verströmten.

Gleich rechts von der Pension stand ein kleineres, ähnlich gestaltetes Gebäude mit einem Schild, das verriet, dass dort Verkostungsraum und Restaurant zu finden waren. Weiter entfernt, hinter dem Restaurant, konnte ich etwas sehen, das an ein großes Lagerhaus erinnerte, und ich nahm an, dass das der Ort war, an dem der Wein hergestellt wurde. Gleich daneben befand sich eine rote Scheune, die aussah, als stammte sie direkt von einer Rinderfarm in Wyoming.

Ich stand derzeit vor einer Reihe von vier kleinen Bungalows. Einer davon beherbergte, wie ich annahm, R. J.s Büro, die anderen waren vermutlich weitere Büro- oder Personalgebäude.

Ich konnte erkennen, dass der Besitz sich weiter ausdehnte, als ich sehen konnte. Weinstöcke umgaben die Gebäude in allen Richtungen und zogen sich bis zum Horizont. Es war mir unmöglich zu erkennen, wo die Weinreben endeten; sie schienen sich einfach endlos auszubreiten. Die Häuser um mich herum hoben sich wie kleine Inseln von der Gleichförmigkeit der Reben ab.

Mein Telefon klingelte einmal. Ich tippte auf das iMessage-Symbol und las:

Stephen: Ich habe heute noch eine späte Besprechung. Ich rufe dich morgen früh an, Süße.

Ich antwortete nicht. Er hatte mich nicht gefragt, wie meine Reise bisher verlaufen war, wie es in Napa war oder ob ich überhaupt noch am Leben war. Das war nur wieder eine von Stephens Phrasen, die obligatorische Nachricht, das obligatorische »Süße«. Das waren nur Worte – und es gab nie irgendwelche Gefühle oder Erfahrungen, die ihnen entsprechen würden. Ich schloss die Nachrichten-App und stellte fest, dass es schon zehn nach fünf war. Ich würde zu spät kommen. Da legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen und wirbelte herum.

»Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Ich bin Susan, die Geschäftsführerin. Sie sind sicher Kate?«

Dem Aussehen nach musste sie in den Fünfzigern sein. Sie war eher mollig und hatte einen perfekt gepflegten und vollständig grauen Bubikopf. Zu ihrem schwarzen Kostüm trug sie eine weiße Hemdbluse und eine schmale Brille mit schwarz gerahmten Gläsern.

»Ja, ich bin wegen des Interviews mit R. J. hier. Tut mir leid, dass ich so spät bin. Ich hatte Probleme mit meinem Wagen. Jamie musste mich hier raufbringen.«

Sie drückte Rücken und Schultern durch. »Ach, tatsächlich?«

»Ist das ein Problem?«

»Nun, ich hatte Jamie einen Auftrag erteilt, und ich fürchte, es ist typisch für ihn, dass er sich ablenken lässt.« Langsam musterte sie mich von Kopf bis Fuß.

Was soll das heißen?

»Ach so.«

»Ist schon in Ordnung.«

»Um ehrlich zu sein, ich bin mit meinem Wagen in Jamies Truck gefahren.« Plötzlich sah sie sehr besorgt aus. »Ihm ist nichts passiert, und er tut, was Sie ihm aufgetragen haben, ich möchte nur nicht, dass er Ärger bekommt, wenn er später als erwartet zurückkommt.«

Ein warmer Ausdruck trat in ihre Züge, und dann lachte sie. »Jamie wird keinen Ärger bekommen, Liebes.« Sie legte einen Arm um meine Schultern und zog mich zur Tür. Meinen Koffer ließen wir draußen auf der Veranda. Susan neigte sich zu mir herüber und raunte leise: »Dann kommen Sie mal mit, ich stelle Sie dem großen Meister vor.«

Wir betraten einen kleinen Raum mit einem Schreibtisch und gingen weiter zu einer offenen Tür, hinter der ich R. J. erblickte. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und war jetzt schon dabei, mich zu taxieren.

»R. J., das ist Kate Corbin. Kate, das ist R. J.«

Sofort verließ Susan den Raum, und ich näherte mich ihm mit ausgestreckter Hand, doch er stand nicht auf. Stattdessen beugte er sich über den Schreibtisch, schüttelte mir die Hand und lehnte sich hastig wieder zurück.

Ich bemühte mich um einen selbstsicheren Ton. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

»Ich hatte mit einer Blondine gerechnet«, sagte er grinsend.

Ich war fassungslos und stand wie erstarrt vor ihm. »Ach, ja? Wieso das?«

»Weil ich mit dem Namen Kate immer Blondinen assoziiert habe.«

Es bestand nur eine sehr vage Ähnlichkeit zwischen diesem R. J. und dem zwölfjährigen Jungen, den ich am Vorabend auf dem Foto gesehen hatte: weiß, männlich, braunes Haar, helle Augen. Der erwachsene R. J. hatte absolut nichts Besonderes an sich. Die Zahnspange war verschwunden, sein Lächeln aber auch, was vermutlich die Antwort auf die Frage war, warum er so ein Einsiedlerleben führte – seine Sozialkompetenz war offensichtlich dürftig.

Er trug einen langweiligen blauen Anzug mit Nadelstreifenhemd und Krawatte. Seine große Nerdy-Chic-Brille und die modischen Missgriffe passten perfekt zu einem Computergenie, das vermutlich mehr Zeit allein mit seinen Spielzeugen verbrachte als unter anderen lebenden und atmenden Menschen.

»Ich schätze, Sie haben noch nie von Kate Middleton oder Katie Holmes gehört?«

»Oh, Sie sind schlagfertig.«

»Und Sie unhöflich.«

Abrupt stand er auf, klatschte in die Hände und verkündete: »Gut, ich denke, das war es dann, Kate.«

»Nein, es tut mir leid.« Ich ließ mich auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen. Ich musste das wieder in Ordnung bringen. »Sie haben mich nur ein wenig überrumpelt. Ich hatte nicht mit Kommentaren über meine Haarfarbe gerechnet.«

Er setzte sich ebenfalls, musterte mich aber weiterhin forschend. »Dann lassen Sie uns weitermachen. Sie sind zu spät gekommen. Ich habe nur eine Stunde, und ich muss Sie noch in den Verkostungsraum führen.«

Ich zog ein Diktiergerät hervor.

Sofort sprang er wieder auf. »Nein. Keine Aufnahmen, keine Fotos. Nur Notizen. Man sagte mir, Jerry wüsste das.«

»Es tut mir leid, ich möchte nur sicherstellen, dass ich Sie nicht falsch zitiere.«

»Dann seien Sie eben sorgfältig mit Ihren Notizen.«

Oha, eben noch taktlos, jetzt von oben herab. Respekt.

Susan kam herein und meldete: »Der Verkostungsraum ist bereit für Sie.«

»Ich habe noch keine einzige Frage beantwortet«, informierte er sie mit einem blasierten Grinsen.

Sie schüttelte nur den Kopf und ging wieder hinaus. Ich war nicht sicher, ob diese Geste mir oder R. J. gelten sollte, aber wenn ich raten sollte, würde ich auf ihn tippen.