Dieses Mädchen - Emma Winter - E-Book

Dieses Mädchen E-Book

Emma Winter

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Beschreibung

Max, 18, ist mit seiner Mutter nach Berlin umgezogen, um dort neu zu starten. Neue Schule, neue Clique, neue Fussballmanschaft - alles auf Anfang. Dies alles, um mit seiner Vergangenheit, seiner ersten großen Liebe abzuschließen. Sein Leben war völlig aus dem Ruder gelaufen, seit er erfahren hatte, dass sein Vater nicht sein biologischer Vater ist. Dann kam Milla, eins führte zum anderen. Doch leider gibt es auch in Berlin dieses eine Mädchen, dass das Wort Probleme gepachtet zu haben scheint. Und natürlich fühlt sich Max ausgerechnet zu ihr hingezogen. Sie weckt sein Interesse, seine Neugier. Dafür testet er sogar seine neuen Freundschaften, legt sich mit Atze, seinem Teamkapitän an, nur um Jule zu verteidigen. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf und obwohl Max immer wieder versucht, Jule zu vergessen, Abstand zu gewinnen, beherrscht sie doch seine Gefühle, seine Gedanken...

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Dieses Mädchen

Von Emma Winter

Impressum

Kerstin Walther

Lengberg 4, 98529 Suhl

[email protected]

Cover © EmmaWinter2021

Alle Rechte vorbehalten

 

Dieses Mädchen

Atze redet seit mindestens fünf Minuten auf mich ein. Ich höre nur mit halbem Ohr zu. Seine Weibergeschichten in allen Ehren, aber was geht es mich an. Mein Namensvetter Max und Pascal stehen grinsend neben mir, machen immer wieder bescheuerte Bemerkungen. Nein, eigentlich nur Pascal. Ich lehne an der Laterne, puste mir meine Hände warm, weil es schweinekalt ist. Ich hätte doch die gefütterte Jacke anziehen sollen. Meine Mutter hatte sie extra herausgelegt. Dennoch stehe ich in meiner fast zerfallenen Lederjacke hier. Sie ist mein Heiligtum. Total geil, mit Nieten und abgewetzten Stellen, aber eben nicht Kälte tauglich.

„Gehen wir rein?“Die anderen machen keine Anstalten. Rangeln miteinander und kicken Atzes leere Redbull Dose hin und her. Es hat längst geklingelt. Der Pausenhof ist so gut wie leer. In meine Hände pustend blicke ich zu der Dreiergruppe Fichten. Sie sind riesig. Das Mädchen sitzt immer noch dort. Schreibt in ein Heft oder ein Buch, wirkt wie nicht zugehörig. Ihre langen, glatten Haare fallen über ihr Gesicht. Mir wird gleich noch kälter, wie ich sie so hocken sehe. Max legt seinen Arm um meine Schulter, zieht mich mit sich.

„Seht sie euch an. Die ist völlig daneben. Ey Jule!“, schreit Atze laut.

„Soll ich dir den Arsch wärmen? Das kann ich gut!“

Atze bleibt mit eindeutigen Hüftbewegungen stehen. So ein Idiot! Jule also. Bisher hatte ich zu dieser eigenartigen Person keinen Namen. Sie blickt nicht einmal auf, zeigt nur einen Stinkefinger in unsere Richtung. Die drei lachen ausgelassen, ich verziehe meinen Mund, will nicht aus der Reihe tanzen. Kurz bevor wir durch die Schultür gehen, sehe ich noch einmal zurück. Sie rappelt sich gerade hoch, reibt an ihrem Hintern.

Wir haben Deutsch bei Frau Gläser. Sie reicht uns unsere letzte Interpretationsarbeit.

„Tolle Arbeit Max. Vielleicht könntest du uns auch während der Stunde an deinen Gedanken teilhaben lassen. Nur, weil Atze nicht studieren möchte, musst du nicht so tun, als ob es bei dir genauso wäre.“

Ich starre aus dem Fenster. Schönen Dank auch! Sie ist total dominant, habe ich gleich gemerkt, als ich vor drei Wochen in diese Klasse gekommen bin. Blöde Kuh! Sie beginnt ein Gedicht vorzulesen. Ich kenne es. Ich mag Gedichte. Völlig untypisch für einen Kerl, der auch Fußball spielt, gerne zockt und mit anderen abhängt. Den Titel habe ich vergessen, aber es ist definitiv von Shakespeare. Mit einem Mal wird die Tür aufgerissen. Eine fremde Lehrerin schiebt das Mädchen mit den schwarzen Haaren energisch vor sich her.

„Marianne, von jetzt an kannst du dich mit ihr rumärgern. Wie besprochen Klassenwechsel. Sie bringt mich mit ihrer Schweigsamkeit zur Weißglut!“

Ihre Stimme ist schrill und verzweifelt, aber auch wütend.

„In der Wut verliert der Mensch seine Intelligenz.“

Das Zitat schießt mir automatisch durch den Kopf, die Lehrerin wirkt alles andere als überlegen. Mit Pädagogik hat das nicht mehr viel zu tun. Ich sehe sie kopfschüttelnd den Raum verlassen. Sofort macht sich Getuschel breit.

„Oh Mann, jetzt haben wir die Verrückte an der Backe“, zischelt Atze mir in den Rücken.

Meine Augen hängen auf ihr, suchen ihre. Doch sie starrt auf ihre zwei Füße, wartend, ohne irgendeine Reaktion.

„Tja. Ist es also soweit, Fräulein Heinsen? Sie wollten es nicht anders. Was machen wir denn jetzt mit Ihnen?“

Selbst Frau Gläser scheint just überfordert. Sie sucht den Raum nach einem freien Platz ab.

„Geh ganz hinten neben Franzi. Wir werden das Kind schon schaukeln. Ein Jahr, das wäre doch gelacht.“

Redet sie sich gerade selber Mut zu? Ich beobachte Jule. Ihre Augen sind aufgrund ihrer Haare kaum zu sehen, ihr Gesicht wirkt komplett blass. Träge hebt sie den Blick, fokussiert etwas im Hintergrund.

Grau, sie sind grau.

„Hey Süße, endlich kommen wir uns näher…“

Atze kann es nicht lassen. Er ist der größte Aufreißer, den ich kenne. Sein Selbstbewusstsein scheint unendlich. Feixend zwinkert er mir zu, lehnt sich anschließend fläzend in seinen Stuhl. Der Unterricht geht ohne weitere Zwischenfälle weiter, meine Gedanken wandern immer wieder zu diesem Mädchen. Irgendetwas an ihr fasziniert mich. Wahrscheinlich, weil sie sich so absondert. Total schwarz gekleidet. Ich habe sie noch nie reden sehen. Immer ist sie abseits, alleine, ausgegrenzt. Ist es Mitleid oder nur Neugier?

In der folgenden Pause sitzen wir auf unseren Tischen. Ich wende mich Atze zu, kann diese eine Person beobachten. Sie wirkt verloren, rollert ihren Stift monoton auf ihrem Tisch vor und zurück.

„Wir spielen gegen Eichendorf. Die sind gut. Letztes Jahr Tabellendritter. Bist du am Wochenende da? Vielleicht darfst du diesmal schon ins Tor.“

„Meinst du nicht, dass der Dicke Vorrechte hat? Euer Trainer lässt mich noch nicht spielen, dazu hat er viel zu sehr rumgemeckert.“

Ich sehe Max mit einem bedauernden Ausdruck an. Seit zwölf Wochen habe ich nicht mehr im Tor gestanden. Dabei war ich in meiner alten Mannschaft sogar Kapitän. Was solls. Das kümmert hier keinen. Ich bin schon froh, dass mich Max und Atze ohne Probleme in ihre Clique aufgenommen haben.

„Warts ab. Der tickt mal so, mal so. Wenn er sieht, dass er mit dir mehr Chancen hat, lässt er dich ins Tor. Dem geht es hauptsächlich um die Tabelle. Wundere dich nicht, wie es vor dem Spiel abgeht, da macht er jeden zur Sau. Seine Art Motivation zu betreiben.“

Sie lachen sich an. Okay, jeder ist anders. Allerdings hasse ich schreiende Trainer. Es klingelt, weshalb ich vom Tisch rutsche. Meine Augen gleiten automatisch zur der hintersten, mittleren Bankreihe. Sie sitzt noch genauso wie vor ein paar Minuten. Ohne Regung, nur der Stift rollt kontinuierlich auf und ab. Ihr gesamter Körper strahlt negative Energie aus, Abneigung. Total eigenartig. Leider macht mich das umso neugieriger. Atze kann ich nicht fragen. Der dreht sofort am Rad und denkt, ich will sie aufreißen. Max scheint etwas gesitteter zu sein, eher mein Kaliber. Vielleicht bekomme ich aus ihm etwas heraus. Der Mathelehrer bittet ein Mädchen an die Tafel. Sie rechnet wie ein Uhrwerk und hat bald die richtigen Lösungen für x und y gefunden. Ich versuche mitzukommen, aber mitten in der Aufgabe fehlt mir die Klarheit für den Lösungsweg.

„Fuck“, flüstere ich leise.

Hart trifft mich Pascals Bodycheck. Geht’s noch? Wütend sehe ich ihn an, halte mir die schmerzende Seite. Doch der grinst nur. So ein Idiot! Jetzt bin ich ganz raus, doch es geht nahtlos weiter. Wie soll da einer mitkommen? Ich pinsele das Lösungswerk von der Tafel ab, das gibt wieder einige Stunden Schreibtisch zu Hause. Fuck!

„Jule? Du vielleicht?“

Alle Köpfe drehen sich wie auf Kommando nach hinten. Ich kann es leider auch nicht unterdrücken, bin zu neugierig, wie sie reagieren wird. Ihre Augen blicken mehr als wütend.

„Brauchst du eine Extraeinladung? Jetzt komm schon!“

Herr Feierabend versteht nicht viel Spaß, das habe ich längst kapiert. In seinem Unterricht kann man eine Stecknadel fallen hören. Atze hat schon mal seinen Schlüssel abbekommen, weil er rumgeblödelt hat. Seitdem ist sogar er mucks Mäuschen still. Pascal hat mir die Story gleich vor meiner ersten Mathestunde zukommen lassen.

Sie erhebt sich tatsächlich. So von der Nähe ist sie gar nicht so klein, wie ich dachte. Nur etwas kleiner als ich. Ansonsten kann man aufgrund ihrer schwarzen Klamotten nicht viel erkennen. Biker Stiefel, schwarzer Schal. Ziemlich Grufti. Ihre grauen Augen sind zu zwei kleine Schlitzen zusammengekniffen, allerdings ist sie so schnell an mir vorüber, dass ich nur noch auf ihren Rücken starre. Sie ist längst vorne an der Tafel. Irgendwie ist es noch stiller als sonst, geht das überhaupt? Mit der Kreide in der Hand steht sie abwartend vor uns, blickt auf die Gleichung oder durch sie hindurch, keine Ahnung. Auf einmal hebt sie ihre Hand und fängt an. Gleichmäßig bewegt sich ihre Hand mit der weißen Kreide, Zeile für Zeile bis sie das Ergebnis doppelt unterstreicht. Augenblicklich drückt sie Herrn Feierabend die Kreide in die Hand und kehrt auf ihren Platz zurück. Sie sieht niemanden an, gibt kaum ein Geräusch von sich. Wie eine Katze.

„Sehr gut. Wusste ich es doch. So, wer will die nächste? Max?“

Ich blicke auf. Das kann nur ein Missverständnis sein. Ich habe Welpenschutz, ich bin der Neue. Glücklicherweise erhebt sich mein Namensvetter, läuft bereits nach vorne.

„Nicht du. Max Stelzer, komm, zeig, was du kannst.“

Nicht sein ernst? Deutlich konsterniert sehe ich den Mathelehrer an. Ich sehe Pascals dummes Grinsen aus den Augenwinkeln. Ganz langsam erhebe ich mich, verringere den Abstand zwischen mir und dieser scheiß Aufgabe. Herr Feierabend hält mir mit wachsamen Blick die Kreide entgegen. Ich kann förmlich spüren, wie mich alle mit ihren Augen durchlöchern. Scheiß drauf. Ich versuche mich zu konzentrieren, vor kurzem konnte ich das noch. Leider kann ich mir diesen Mist nicht besonders lange merken. Wahrscheinlich sortiert mein Kurzzeitgedächtnis sofort nach der fälligen Klausur aus. Das meiste verschwindet unter der Kategorie Überschusswissen. Verdammt! Auch nach mehrminütigem Starren, habe ich keinen Schimmer. Ich lege die Kreide zurück.

„Keine Ahnung“, brummele ich.

Etwas verlegen reibe ich mir über meinen Bartflaum. Mein Blick fängt Atzes ein, der schon wieder in seinem Stuhl fläzt. Sein feiernder Blick treibt mir ein Grinsen ins Gesicht. Er ist einfach zu dämlich.

„Sie haben keinen Grund zum Lachen, Herr Stelzer. In ein paar Wochen ist Vor Abi. Ich würde Ihnen raten, sich wichtigeren Dingen zu widmen. Ihre Vornote war doch gar nicht so schlecht.“

Gemütlich schlendere ich auf meinen Platz zurück, riskiere einen Blick in die letzte Reihe. Nichts. Abwesend. Etwas frustriert falle ich auf meinen Stuhl. Pascal gibt mir schon wieder einen Bodycheck, aber diesmal ganz harmlos. Aufgrund seines Feixens, grinse ich auch. Gleichzeitig weiß ich, dass Herr Feierabend recht hat. Wenn ich mein Abi nicht verhauen will, muss ich endlich wieder in die Puschen kommen. Durch den Schulwechsel habe ich mich die ersten Wochen mehr auf den Anschluss und die neuen Kumpels orientiert. Dabei habe ich zwar coole Leute gefunden, aber es sind nicht die hellsten Leuchten. Eher Durchschnitt, nein eher darunter. Die Ausnahme ist Max. Ihn habe ich noch nicht so richtig durchschaut. Er ist immer eine Spur ruhiger, nicht so anzüglich, pfeift den Mädchen nicht wahllos hinterher. Dagegen benimmt sich Atze, als wäre er dauernotgeil. Keine Tussi, die er nicht anmacht, kein Mädchen, das er nicht kennt. Und die er doch nicht kennt, baggert er sofort an oder beleidigt sie. Je nachdem, wie sie auf seine Anmache reagieren. Er ist hier Kapitän der Fußballmannschaft. Spielt auch wirklich ein geiles Fußball. Tolles Dribbling, tolle Ballbeherrschung. Kein anderer kann dabei mithalten. Pascal spielt rechts außen meistens Abwehr, kann aber tolle Ecken schießen. Und Max? Max ist unser letzter Mann. Mein letzter Posten bevor der Schuss kommt. Und diese Sache kann er ausgesprochen gut. Er hat so eine intuitive Gabe zu wissen, wo der Gegner in letzter Sekunde hinlaufen wird oder den Ball schlagen wird. Dennoch hat die Mannschaft die letzten zwei Spiele verloren. Im letzten hat sich der Stammtorwart verletzt. Er heißt Falk. Ein riesiger Kerl, füllt das Tor schon ganz gut aus. Nur die Reflexe sind meines Erachtens nicht ganz so gut. Als ein bisschen phlegmatisch würde ich ihn bezeichnen. Meine Aufmerksamkeit kehrt in diesen Raum zurück. Ich kenne fast alle Namen der Mädchen aus dieser Klasse. Ivi steht gerade jetzt an der Tafel. Hat meine Aufgabe bereits gelöst und rechnet gleich noch eine. Ich pinsele das Tafelbild schnell auf meinen Block. Schaffe es gerade so, bis Herr Feierabend die Tafel auslöscht.

„Noch einmal an alle. Ihr müsst jetzt aufwachen. Wenn ihr jetzt nicht ranklotzt, sehe ich schwarz. Atze, Max, Pascal. Nur gut Fußball spielen reicht nicht. Von denen gibt es zu viele auf dieser Erde. Ihr müsst euch andere Optionen schaffen.“

Er rückt seine Brille zurecht und sieht mit scharfem Blick zu uns in die Fensterreihe. Ist ja gut, Mann! Die Klingel erlöst uns von weiteren Moralpredigten. Ich sehe diese Jule an mir vorbeirauschen, als erste das Klassenzimmer verlassen. Was ist das nur mit ihr? Es ist Mittagspause, wir laufen wieder hinaus. Die meisten strömen Richtung Cafeteria, aber ich habe keinen Hunger. Auch Atze und Pascal wollen sich etwas holen.

„Ich warte hier draußen“, rufe ich ihnen nach.

Keine gute Idee, bei der Kälte. Ich erklimme die Bank, setze mich oben auf die Lehne und falle gegen den Stamm einer Birke dahinter. Ich scrolle meine WhatsApp-Nachrichten durch, lande auf Facebook und Instagram. Immer wieder stellen die Leute dort witzige Sachen ein. Belustigt lache ich über ein Foto. Kit Harington alias Jon Schnee aus „Games of Thrones“ hat seinen Schnurbart mit seinen Augenbrauen vertauscht. Wer kommt nur auf solche Ideen? Kopfschüttelnd scrolle ich weiter.

„Hey.“

Ich blicke auf, erkenne zwei Mädchen aus meiner Klasse. Maja und Nelly. Beide hübsch, bisher nur als Doppelpack unterwegs.

„Auch hey. Geht ihr nicht essen?“

Ich stecke mein Handy weg. Wärme mir pustend meine Hände. Morgen ziehe ich definitiv meine dicke Jacke an.

„Also, wir wollten dich fragen, ob du am Freitag zu unserer Party kommen willst. Nelly wird morgen 18, ich bin es schon seit dem Sommer. Wir wollten aber zusammen feiern.“

Sie lächeln unsicher.

„Wer kommt noch?“

Ich habe keine Lust dort am Ende als einziger Kerl abzuhängen. Noch kann ich die Mädchen schlecht einschätzen. Diese zwei sind eher unscheinbar und zurückhaltend.

„Eigentlich alle. Naja, bis auf Atze und Pascal. Denen ist bei uns nicht genug los. Aber sonst fast die ganze Klasse und ein paar Freunde.“

Und nun? Kann ich ohne Atze und Pascal los? Und schon habe ich wieder diesen scheiß Gruppenzwang. Das war in Neuruppin auch nicht anders.

„Freitag ist Fußballtraining und Samstag Spiel. Muss ich erst mal sehen, okay? Ihr könnt mir ja die Adresse aufschreiben. Dann kann ich spontan entscheiden.“

„Cool. Gibst du mir deine Nummer?“

Ich grinse, Maja lässt nichts anbrennen. Ganz anders, als ich dachte.

„Gib mir dein Handy.“

Maja lächelt und reicht mir ein pinkes Samsung. Geiles Teil, ziemlich neues Modell. In wenigen Sekunden bin ich um einen Kontakt reicher.

„Darf ich sie auch haben?“

Nelly steht etwas bedeppert neben Maja, nicht, dass hier gleich ein beste-Freundinnen-Streit ausbricht.

„Ja klar. Kein Ding. Aber textet mich nicht zu und wundert euch nicht, wenn ich nicht antworte. Ist nicht so meine Art. Nur wenn es präsiert, okay?“

„Klasse. Also dann Freitag auf der Party. Wir rechnen fest mit dir. Brauchst auch nichts mitzubringen. Ist genug da, auch Alkohol und so. Bis dann.“

Ich hebe nur die Hand. Grinse über die zwei. Maja gefällt mir, ist nicht ganz so schlank, hat eher üppige Kurven. Ihre Haare trägt sie kurz gestylt. Sie laufen auf die Schuleingangstür zu, als Atze wie ein Affe neben sie springt. Erschrocken texten sie ihn sofort zu, doch er lacht nur. Komischer Kauz. Irgendwie obendrüber. Zu viel Spaß, zu viel Coolness. So richtig gefällt mir seine Art nicht. Trotzdem bin ich froh, dass ich so schnell guten Anschluss gefunden habe.

„Was wollten die Schnepfen denn?“

Er hockt sich zu mir auf die Lehne, wankt aber, da er keinen Baum zum Anlehnen hat. Pascal bleibt vor der Bank stehen und checkt sein Handy.

„Ich soll zu ihrer Party kommen. Geht ihr auch?“

„Ne Alter, nicht zur Schulmädchenparty. Du ziehst es doch nicht etwa in Erwägung? Wir machen einen drauf. Kneipenabend. Das wird lustig.“

Ja klar wie letzten Freitag. Okay, am Anfang war es lustig. Aber nach dem fünften Bier kann ich mich nicht mehr erinnern, wie ich heimgekommen bin.

„Diesmal ohne mich.“

Ich reibe mir über meinen Nacken. Ich würde schon gerne auch noch ein paar andere kennenlernen. Insofern wäre eine Party nicht schlecht. Atze springt von der Bank, Pascal schließt sich ihm augenblicklich an.

„Jetzt wartet doch mal!“

Ich sprinte beiden hinterher, schließe neben Atze auf. Er wirkt plötzlich gar nicht mehr witzig, eher angepisst. Mit seinem Fuß tritt er die Schultür auf. Wow!

„Ich muss noch mal zum Spint“, sage ich und biege nach rechts ab.

Starke Arme packen mich und drücken mich gegen die naheliegende Wand. Für einen Moment weiß ich gar nicht, was vor sich geht. Dann stehen wir uns Auge in Auge gegenüber. Der Zorn in seinen Augen überrascht mich. Er ist maßlos.

„Wir haben dich bei uns aufgenommen, haben dir gezeigt wie hier alles läuft. Haben dir den Weg in die Fußballmannschaft geebnet. Glaubst du, ich lasse mich gerne verarschen?“

Es ist eher lächerlich, aber mich packt ebenso Wut. Denkt er, er wäre Gott? Mit einem geschickten Griff verändere ich die Situation zu meinen Gunsten. Atzes Arm liegt hinter seinem Rücken, ich habe ihn ordentlich in der Mangel.

„Deine Gönnernummer in allen Ehren, aber ihr seid hier nicht die einzigen, mit denen ich befreundet sein könnte. Falls du glaubst, ich bin so eine Nullnummer, die nach deiner Nase tanzt, bis du auf dem Holzweg. Ich mache, was ich will. Ich gehe, wohin ich will. Alles klar?“

Ich zische ihm die Worte rücklings ins Ohr, lasse ihn mit einem Ruck los. Atze reibt sich seinen Arm, wir sehen uns ernst an. Auf einmal schleicht ein Lächeln in sein Gesicht.

„Du hast was drauf. Das gefällt mir. Also mischen wir am Freitag Majas Party auf. Ist doch geil!“

Nach einem langen Blick lässt er mich stehen. Pascal folgt ihm wie ein treuer Hund. Das Handy in seiner Hand, als wäre nichts gewesen.

Ich stehe noch ein paar Sekunden am gleichen Fleck. Der Typ ist verrückt. Ich verschränke meine Hände an meinem Hinterkopf, fahre mir über meine Stoppelhaare. Als ich mich umdrehe, sehe ich sie. Drüben an der Wand, etwa zehn Meter weiter. Ihr Blick trifft mich bis ins Mark. Vielleicht ein Zehntel einer Sekunde. Dann stößt sie sich ab und verschwindet im Treppenhaus.

„Los, geben wir dem Neuen eine Chance!“

Der Trainer nickt mir zu, ich darf ins Tor. Endlich! Wolle schlägt sich mit mir ab. Er ist in Ordnung. Seit meiner Auseinandersetzung mit Atze umkreisen wir uns wie Wildkatzen. Ich schätze, er wartet auf den richtigen Moment, um mich ins Jenseits zu befördern. Ein Übungsspiel würde sich natürlich auch gut eignen. Er spielt in der gegnerischen Mannschaft. Ich klatsche mit meinen Handschuhen aneinander, motiviere mich. In den nächsten paar Minuten habe ich nicht viel zu tun, doch dann ein Konter. Ein paar Jungs allen voran Atze spielen sich über Doppelpässe den Ball zu. Dann folgt der Schuss, Tor. Scheiße! Atze schlägt sich mit seinen Leuten ab, sieht mich triumphierend an. In den letzten Minuten kann ich zwei Schüsse von Toni und Justin abwehren. Zum Abschluss gibt es Elfmeterschießen. Wolle und ich wechseln uns ab. Ich glaube nicht an Zufälle, Atze schießt, als ich im Tor stehe. Konzentriert warte ich, doch ich habe keine Chance. Falsche Ecke. Seine Siegerfaust ist zum Kotzen. Dafür halte ich drei andere, Wolle nur einen. Nach dem Auslaufen ruft uns der Trainer zusammen.

„Morgen früh 8 Uhr hier auf dem Platz. Eichenberg ist hart, ihr wisst es selbst. Kommt ja nüchtern. Max?“

Sowohl Max, als auch ich heben den Kopf. Der Trainer grinst.

„Dafür müssen wir uns was einfallen lassen. Du gehst morgen ins Tor. Verbock es nicht, sonst bist du ganz schnell wieder draußen.“

Ich nicke und grinse. Wolle steht neben mir.

„Tut mir leid, ist nicht meine Absicht.“

„Geht schon in Ordnung.“

Wir lächeln uns an. Ich verkneife mir einen siegesbewussten Blick an Atze zu senden. Sein Plan ist nicht aufgegangen. Wie konnte sich unsere Situation so schnell ändern? Aber am Ende ist es besser so. Er zeigt sein wahres Gesicht, er würde mich nur runterziehen. Solche Typen gibt es überall, sogar mehr als man denkt. Ich trotte den anderen in die Umkleide hinterher. Nach dem Duschen beeile ich mich, um nicht all zu spät zu der Party zu kommen.

„Und wie findest du Ed Sheeran?“

Maja hat mich mit Beschlag belegt. Sie redet pausenlos, wirkt weder unsicher noch zurückhaltend. Vielleicht liegt es an der vertrauten Umgebung oder am Alkohol, dem sie inzwischen schon mächtig zugesprochen hat. Ich halte immer noch mein erstes Bier in den Händen, inzwischen ist es warm, schmeckt eher wie Pisse.

„Ja ganz okay. Ich mag es lieber etwas rockiger. Aber er schreibt tolle Songs.“

Meine Augen verfolgen Max und Wolle, die unweit zwei Mädchen anbaggern. Ich grinse, weil Wolle nicht mehr ganz sicher auf den Beinen ist. Atze ist noch nicht aufgetaucht, allerdings finde ich das eher gut als schlecht. Mein Handy vibriert.

„Vermisse dich.“

Scheiße! Nur zwei Worte. Wie können zwei Worte so viel auslösen? Kann sie sich nicht endlich raushalten? Aus meinem Leben? Aus einfach allem? Ich reibe mit meiner Hand über die wachsenden Stoppeln, langsam wird es wieder. Eine Frustaktion, völlig bescheuert, völlig übertrieben. Meine Haare waren lang, fast bis über die Schulter. Ich trug sie schon seit der Siebten als Zopf.

„Fuck!“, zische ich leise.

„Leck mich“, schreibe ich zurück, stecke das Handy sofort ein.

„Alles okay?“

Maja nervt. Ich stehe auf, stelle im Vorbeigehen die Flasche auf einen Tisch. In der Küche schnappe ich mir eine neue.

„Trinkst du mit?“

Wolle hält eine Wodkaflasche hoch. Genau das Richtige, ich grinse. Wir suchen uns zwei Schnapsgläser und verschwinden gemeinsam auf die kleine Couch gegenüber von dem Platz, wo ich mit Maja noch vor ein paar Sekunden gesessen habe.

„Ich dachte schon, du lässt dich von ihr um den Finger wickeln. Geht ganz schön ran, die Kleine.“

Er reicht mir ein volles Glas.

„Und du bist besser? Was war das mit Tina oder Christina vorhin?“

Ihren Namen kann ich mir einfach nicht merken. Wir stoßen lachend an.

„Ohne mich?“

Max fällt neben mich, kichert und schließt kurz die Augen.

„Du hattest schon genug. Denk an morgen. Der Trainer macht uns rund wie einen Buslenker, wenn wir dort besoffen aufschlagen.“

Max legt seinen Arm um mich, sieht mich prüfend an.

„Who cares?“

Was? Ich lache ungläubig. Max so drauf? Das hätte ich nicht gedacht. Ich reiche ihm mein Schnapsglas, Wolle füllt es wieder auf.

Etwas später blödeln wir nur noch. Maja hat noch zwei Anläufe gestartet, aber ich habe auf weibliche Gesellschaft keinen Bock mehr. Nicht nach dieser scheiß Nachricht. Mein Handy hat immer wieder gesummt, aber ich habe nicht nachgesehen.

„Atze ist schon in Ordnung, du musst nur das machen, was er will. Dann läuft alles easy. Wir kennen uns ewig. Ärger sollte man mit ihm nicht haben. Sei vorsichtig.“

Wolle grinst, wir stoßen noch einmal an.

„Wer ist eigentlich diese Jule?“

Keine Ahnung, warum mir das gerade jetzt einfällt. Max rutscht nach vorne an die Kante und hebt den Zeigefinger. Bereits das sieht so zum Piepen aus, dass Wolle und ich losprusten. Doch Max bleibt ernst. Sitzt weiter mit diesem erhobenen Finger und schüttelt den Kopf. Ich boxe Wolle in die Seite, woraufhin auch er sich zusammenreißt.

„Das ist ´ne ganz blöde Frage. Wirklich! ´Ne ganz, ganz blöde Frage. Jawohl! Prost!“

Er stößt an unsere Bierflaschen. Klar lachen wir, trotzdem bin ich etwas enttäuscht. Ich hatte mir von Max mehr erhofft.

„Kommt tanzt doch mal“, mault Maja plötzlich vor uns.

Sie zieht einen Schmollmund und verschränkt ihre Arme vor ihrem üppigen Busen. Er wird richtig nach oben gequetscht, so dass er droht aus ihrem tiefen Ausschnitt zu schnipsen. Wir sehen uns an, lachen alle drei gleichzeitig los. Echt mies, natürlich dampft Maja wutschnaubend ab. Was solls! Gegen ein Uhr bin ich am Limit. Wolle ist schon los, Max zieht mich von der Couch nach draußen. Es ist arschkalt, der Wind geht eisig. Wir torkeln neben einander, Max singt irgendetwas mit „Champions…“ An der nächsten Kreuzung biegt er ab.

„Bis nachher. Bist ´ne coole Sau. Lass dich von Atze nicht klein machen.“

Er grinst, hebt die Hand. Ich steh noch da, sehe ihm nach, mit dem gleichen, blöden Grinsen im Gesicht. Mein Gehirn arbeitet langsam, meine Augen fallen immer wieder zu. Wäre es nicht so kalt, würde ich mich hier unter einen Baum flaggen. Wen juckt´s. Der kalte Wind fordert mich zum Gehen auf. Ich komme nur schlecht voran. Falle sogar einmal fast über eine Bank. Der Park, durch den ich muss, ist schlecht beleuchtet.

„Fuck!“

Wankend sinke ich kichern darauf, hole mein Handy hervor, um die Uhrzeit zu checken. Leider öffne ich auch WhatsApp, eine schlechte Idee.

„Gerne, wenn du mich lässt.“

Was? Ich lese meine letzte Nachricht. So antwortet nur sie.

„Soll ich kommen? Nach Berlin am Wochenende? Ich hätte Zeit. Sei nicht mehr sauer, das war doch nur so.“

Dann noch die letzte.

„Ich verwöhne dich, so wie du´s magst.“

Erst sinkt der Arm mit meinem Handy neben mir herab. Ich reibe mir meine Augen, versuche die aufsteigende Wut zu unterdrücken. Aber ich kann nicht, ich kann sie nicht ertragen. Nicht in meinen Gedanken, nicht in meinem Herzen und schon gar nicht hier in Berlin. Das war das einzig Gute an unserem Umzug. Weg von ihr, weg von Milla. Ich stehe auf, wanke. Alles ist still, alles liegt im Dunkeln. Wie der schwarze Fleck auf meiner Seele. Trotz und fast Hass steigen wie eine Seuche in mir hoch. Von diesem Gefühl entsetzt, darüber entsetzt, wieviel sie noch in mir auslösen kann, sei es auch nur im negativen Sinne, knalle ich mein Handy mit einem lauten wütenden Laut von mir. Es fliegt weit. Mindestens fünf Meter. Der Aufprall ist kaum zu hören. Dafür aber der grelle Schrei, der sich aus tiefster Seele seinen Weg bis in die Freiheit erkämpft. Ich sinke in mich zusammen, greife mit beiden Händen meinen Kopf. Alles ist wieder da, alles, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei sind es fast drei Monate. Scheiß Liebe. Wozu gibt es die überhaupt? Ich kann nichts an ihr finden. Nur Verarsche, nur Schmerz.

Ein leises Geräusch lässt mich zusammenzucken. Neben mir liegen die Bruchstücke meines Handys, danach folgen zwei schwarze Stiefel mit silbernen Ösen. Verwirrt blicke ich auf. Ihre Augen sind nicht mitleidsvoll, sondern forschend. Diesem Blick halte ich nicht stand, nicht in meinem aufgewühlten Zustand. Ich lasse mich auf meinen Allerwertesten fallen, wische grob über mein Gesicht, fange an, das Handy zu begutachten.

„Ich denke, es ist hin. Aber das wolltest du sicher.“

Ihre Stimme ist heller, als ich vermutet hätte. Fast ein bisschen piepsig. Ich nicke nur, sehe schließlich doch noch einmal hoch. Unsere Augen treffen sich, auch wenn das über die Dunkelheit kaum möglich ist. Sie wirkt unentschlossen, knetet ihre Hände vor ihrer Jacke. Mit einem Mal dreht sie sich herum und geht.

„Danke!“

Ich brülle ihr dieses Wort hinterher. Wofür eigentlich? Der Park hat sie längst verschluckt. Dass sie sich als Mädchen hier nachts herumtreibt, finde ich nicht gut. Ich hätte ihr anbieten sollen, sie nach Hause zu bringen. Aber das hätte sie mit Sicherheit abgelehnt. Missmutig stecke ich die Einzelteile in meine Jackentasche, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich damit noch anfangen soll. Die ganze Aktion war insoweit hilfreich, dass sich mein Gemütszustand deutlich verbessert hat. Der restliche Weg verläuft ohne Zwischenfälle. Ich habe keinen Wecker und nun auch kein Handy mehr. Damit stellt sich die Frage, wie ich pünktlich wach werden soll. Bevor ich einschlafe, versuche ich mir die Uhrzeit vorzustellen. Sieben Uhr, sieben Uhr, denke ich immer wieder. Die innere Uhr soll bekanntlich gut funktionieren.

Gegen kurz vor acht öffne ich die Augen. Erst will ich sie wieder schließen, aber ich muss aufs Klo. Im Vorbeigehen fällt mein Blick auf die Küchenuhr. Normalerweise würde ich einen Ausraster bekommen, aber heute bin ich nur am Rennen. Die Sporttasche liegt noch genau dort, wo ich sie gestern abgestellt habe. Ohne Frühstück, ohne Zähneputzen stürze ich zwei Minuten später die Treppe hinunter. Nur den Toilettengang habe ich mir gegönnt. Zehn Minuten später laufe ich völlig außer Atem auf dem Sportplatz ein. Die anderen sind bereits umgezogen. Wie ich in die Kabine sprinte, laufe ich sofort dem Trainer in die Arme.

„Max, echt! Wolle ist bereits beim Aufwärmen!“

„Bin schon warm. Hier fühlen sie mal. Alles im Lot, kommt nicht wieder vor. Ehrenwort.“

Ich hasse mich selber für diesen Ausrutscher, ich hasse Unpünktlichkeit.

„Los, beeile dich. Du die erste und Wolle die zweite Halbzeit. Hopp, hopp!“

Wütend schmeiße ich meine Tasche auf die Bank. Mein Trikot liegt bereit. Zügig schlüpfe ich hinein. Die Schnürsenkel meiner Schuhe halten mich am meisten auf.

„Verdammt!“

„Warst wohl zu lange Party machen?“Ich beachte Atze gar nicht, doch er hockt sich direkt neben mich. Endlich bin ich fertig, will nur raus auf den Platz.

„Hey, warte doch mal!“

Atze hält meinen rechten Arm fest. Ich sehe darauf und dann in sein Gesicht, woraufhin er meinen Arm sofort loslässt.

„Lass uns unseren Streit vergessen. Ich bin nicht nachtragend, lass uns gut spielen, okay?“

Ich habe keine Ahnung, was er bezweckt. Im Moment ist mir das auch völlig egal.

„Ich bin spät dran, ich muss raus. Lass uns die Dorftrottel an die Wand spielen“, sage ich und ziehe Atze mit mir.

Wir schlagen uns ab, vergessen zumindest für den Augenblick unsere Differenzen. Eilig laufe ich neben Wolle ins Tor. Der grinst von einem Ohr zum anderen.

„Sag nichts!“

Wir lachen, dann machen wir gemeinsam typische Torwartaufwärmübungen. Werfen uns den Ball aus jeder möglichen Lage zu. Ich schwitze mehr als bei jedem letzten Training. Zusätzlich bin ich echt aufgeregt, dass ist völlig neu und völlig untypisch. In meiner alten Mannschaft kannte ich dieses Gefühl gar nicht mehr.

 

„Echt starke Leistung“, klopft mir Max zur Halbzeit auf den Rücken.

Ich habe einen Elfer und zwei Freistöße gehalten. Trotzdem führen die Gegner 2:1.

„Danke. Aber leider reicht es nicht.“

„Aber doch nur, weil unser Sturm die ganze erste Halbzeit verschläft. Atze, Pascal, Mika? Was macht ihr? Ich schlage so schöne Pässe und ihr guckt nur zu.“

Sie meckern nicht einmal. Ist das geplant? Doch Atzes Gesichtsausdruck ist so verärgert, dass ich diesen Gedanken sofort verwerfe. Ein Spiel wegen mir verkacken? Nein, das wäre doch zu absurd.

„Mein Gott! Wer seid ihr? Wir sind hier nicht beim Ballett oder Tanzmariechen. Atze, was war das vorm Tor? Muss ich dir den Ball auf dem Silberlöffel servieren?“

Viele lachen, doch der Blick des Trainers lässt alle sofort verstummen. Mehrere Minuten schreit und wettert er auf uns ein, ich würde mir am liebsten Kopfhörer aufsetzen. Wie sehr ich schreiende Menschen hasse.

„Max?“

Wir beide sehen sofort zu ihm. Herr Schmidt leiert mit den Augen.

„Stelzer, du bleibst drin. Wolle, tut mir leid. Aber ein Wechsel kommt im Moment nicht in Frage, vielleicht am Schluss.“

Meine Augen wandern zu Wolle, der deprimiert auf die Bank zurücksinkt. Fuck! Langsam gehe ich zu ihm, alle anderen sind schon draußen. Meine Hand legt sich auf seine Schulter.

„Soll ich lieber den Verein wechseln?“Ich grinse. Nach einem zaghaften Lächeln schüttelt er den Kopf.

„Ich nehme dann wohl eher die nicht so ernst zu nehmenden Gegner. Es gibt Spiele, da schießen die Jungs vorne 15 Tore. Was macht es dann, wenn auch mal eins bei uns landet.“

Wolle ist cool. Wir schlagen uns ab und laufen gemeinsam aus der Kabine. Ich wollte nie jemanden den Platz wegnehmen. In Berlin gibt es noch mehr Vereine. Mit den Kumpels zu spielen ist trotzdem schöner. Ich hoffe, Wolle sieht es weiter so entspannt. Außerdem bin ich auch nur der Ersatzmann. Der Stammtorwart kommt nächste Woche wieder.

Auf der Rolltreppe beobachte ich die Leute. Mir tut alles weh, ich bin mehrfach auf meinen rechten Hüftknochen gekracht. In letzter Minute haben wir das Spiel gedreht. Es stand ewig 2:2. Nach dem Abpfiff haben mich Max und Wolle überrumpelt und sich auf mich geworfen. Das wird blaue Flecke geben. Trotzdem war ihr Freudenjubel ein Klasse Gefühl. Wie früher bei meinen ersten Spielen. Wolle war auch nicht sauer, dass er gar nicht spielen durfte. Ich bin stolz auf mich, habe echt gut gehalten. Meine Augen erkennen den Elektronikfachmarkt in der ersten Etage. Jetzt kommt der schlechtere Teil des Tages. Nach meiner Sinnlosaktion gestern oder heute Morgen brauche ich ein neues Handy. Meine alten funktionieren alle nicht mehr. Leider bringen es meine Ersparnisse gerade mal auf 150 Euro. Selbst die, möchte ich nicht unbedingt vollständig ausgeben. Ich hoffe nur, dass meine Kontaktdaten auf der SIM-Karte sind und nicht auf dem Handy. Zielstrebig gehe ich in die Abteilung, wo die Dinger alle ausgestellt sind. Vielleicht ist irgendwas in der Werbung. Natürlich fixiere ich erst die teuren Geräte. Fünfhundert oder sechshundert Euro. Geht’s noch? Die spinnen doch.

„Kann ich helfen?“

Eine Frau mittleren Alters steht neben mir. Ihr Gesicht ist freundlich, ein leicht mütterlicher Ausdruck liegt auf ihr. Verlegen hole ich die Einzelteile meines Handys hervor.

„Das sieht übel aus. Also brauchst du ein neues. Irgendwelche Preisvorstellungen oder besondere Wünsche?“

Ich reibe mir über meine Stoppelhaare.

„Das Günstigste, was sie ihrem Sohn kaufen würden. Ist was in der Werbung?“

Sie lächelt.

„Dann sind wir hier schon mal falsch. Komm, ich zeig dir was. Eins ist tatsächlich in der Werbung, das ist nicht mal schlecht. 120 Euro. Oder noch günstiger?“

„Ne passt schon“, sage ich, während ich ihr folge und meine Augen über die tollen anderen Teile fliegen lasse.

„War das Absicht?“

Sie dreht sich kurz um, sieht mich mit einem Lächeln fragend an. Ich grinse und zucke mit den Schultern.

„Kurzschlussreaktion, heute bereue ich es. Aber es war kein Neues, insofern kann ich es verkraften.“

Sie bleibt stehen und reicht mir ein schwarzes mit einer ganz ordentlichen Größe. Liegt nicht einmal schlecht in der Hand.

„Das ist in der Werbung. 32 Gigabyte, ganz gute Kamera, auch die Systemleistungen sind passabel. Natürlich nicht mit den Premiumgeräten zu vergleichen. Aber irgendwo muss der Preisunterschied ja herkommen.“

Ich prüfe kurz das Display und die Kamerafunktion.

„Noch eine Alternative?“

„Tja, Wiko oder LG. Dann noch ein Klapphandy für Omas…“

Sie lacht. Okay, schon verstanden. Ich grinse, ihre Art gefällt mir.

„Das hab ich auch.“

Ich drehe mich zu der leisen Stimme, sehe in graue Augen, die sofort wegschauen, als ich in sie eintauchen will.

„Hey“, begrüße ich sie lächelnd.

Doch Jule geht zügig weiter. Ich werde leicht hektisch.

„Packen Sie eins an die Kasse? Ich komme gleich wieder.“

Die Verkäuferin nickt mir verständnisvoll zu, ich eile Jule hinterher. Sie ist inzwischen bei den Fernsehern angekommen, läuft vor jedes Gerät und bleibt kurz stehen.

„Du bist auf der Suche nach einem Fernseher?“Ich sehe sie von der Seite an, nehme ihr leichtes Grinsen war. Es ist schön. Eine Antwort bekomme ich nicht. Also folge ich ihr, bleibe mit ihr stehen und beobachte sie. Als wir beim letzten ankommen, blickt sie kurz zu mir.

„Ich mach los.“

„Jetzt warte doch mal. Ich muss nur bezahlen, ich kann dich bringen.“

Etwas überstürzt schließe ich die Lücke, die sich schon wieder zwischen uns gebildet hat. Jule legt ein ordentliches Tempo vor.

„Brauchst du nicht.“

„Aber vielleicht will ich es gerne.“

Unvorsichtig halte ich sie an ihrem Arm fest, damit sie anhält.

„Lass mich sofort los!“

Ihre Stimme überschlägt sich, ihre Augen senden Todespfeile auf mich ab. Ich löse just meinen Griff, sehe sie unsicher an.

„Entschuldige, ich dachte nur…“

„Vergiss, was du gedacht hast. Lass mich bloß in Ruhe!“

Damit dreht sie sich auf dem Absatz um und verschwindet zwischen den Massen. Verwirrt über die Heftigkeit ihrer Reaktion sehe ich ihr nach. Meine Hände wandern so typisch für mich an meinen Hinterkopf. Ich verstehe nur Bahnhof. Warum hat sie mich überhaupt angesprochen? Warum redet sie mit mir, wenn sie doch nichts mit mir zu tun haben will? Oder lag es an der Berührung? Dass ich sie festgehalten habe? Okay, ich kann das auch nicht leiden. Aber sonst wäre sie niemals stehengeblieben. Fuck! Wer soll sich da auskennen? Langsam laufe ich zur Handyabteilung zurück. Die Verkäuferin reicht mir den Kaufbeleg, den ich an der Kasse bezahlen soll. Gleich außerhalb des Einkaufsmarktes sinke ich auf eine nahestehende Bank.

Etwas später habe ich das Handy hochgefahren. Die SIM-Karte enthält glücklicherweise fast alle meiner Kontakte. Natürlich sind meine ganzen Fotos futsch. Milla damit fast gelöscht. Also doch die richtige Aktion. Ich blocke ihren Kontakt, hoffe, dadurch endgültig die Reißleine zu ziehen. Seufzend stecke ich es ein, sehe auf. Rechts neben dem Einkaufscentrum steht eine Gruppe schwarz gekleideter Typen. Jule ist auch dabei. Ihr Blick streift mich, danach dreht sie sich so, dass ich nur noch auf ihren Rücken starre. Eine Ansage. Okay, kannst du haben. Du mich auch! Laut ausatmend erhebe ich mich. Trotzdem finde ich es schade. Aus irgendeinem Grund. Nein, sie gefällt mir. Sie erinnert mich an meine Schwester. Ich habe sie lange nicht gesehen. Wir sind zehn Jahre auseinander. Sie wohnt an der Ostsee, ist längst verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr Mann, den ich nur zur Hochzeit gesehen habe, ist ein Workaholic. Wir schreiben uns, ab und zu kommt sie zu Besuch. Meistens nur zu Weihnachten. Leider. Wir verstehen uns total gut, auch ohne Worte. Früher war sie mein großes Vorbild, jetzt bin ich zu erwachsen, eine Frau als Vorbild? Nein Danke. Dann doch lieber Manuel Neuer von den Bayern. Jule hat genauso schwarze, lange, glatte Haare. Auch dieses blasse Gesicht. Ich bin blond. Ganz untypisch für unsere Familie. Inzwischen weiß ich auch wieso. Ein Ausrutscher, ein Fehltritt. Mit dieser Information fingen die Probleme an. Ich ging meiner Mutter aus dem Weg, hasste sie sogar eine Zeit lang. Fühlte mich minderwertig, weniger geliebt. Mein leiblicher Vater weiß nicht, dass es mich gibt. Das war der Deal, damit mein Stiefvater sich nicht von meiner Mutter trennte. Letztlich hat er es doch getan. Genau vor zwei Jahren. Daraufhin hat sie es mir erzählt, gebeichtet, was auch immer. Leider hat sie keinen Kontakt mehr und ich weiß nicht, ob ich ihn suchen sollte. Nach 18 Jahren. Mein Stiefvater ist okay, war immer sehr streng, aber wem schadet das schon. Im Gegenteil. Meine schlimmste Zeit kam, mit seinem Auszug. Mit dieser neuen Information, den eigenen Vater nicht zu kennen. Ich atme tief durch, weil die Erinnerungen echt hart sind. Partys, ab und zu auch Drogen. Durchzechte Nächte bis zum Abwinken und Mädchen. Mit siebzehn lernte ich Milla kennen. Zuerst waren wir bis über beide Ohren verliebt. Sie gehörte einer anderen Clique an, es war auf einem Konzert. Liebe auf den ersten Blick. Zumindest fühlte es sich so an. In der gleichen Nacht hatte ich zum ersten Mal Sex. Sie führte, sie wusste Bescheid. Danach war ich nur noch bei ihr. Schwänzte die Schule, blieb nächtelang von zu Hause weg. Sie kiffte, sie trank. Ich passte mich an, es gefiel mir. Dieses Leben im Schwebezustand. Wir probierten alles Mögliche aus, nicht nur Drogen, sondern auch im Sex. Milla ist experimentierfreudig. Irgendwann wurde es ihr zu langweilig. Sie wollte in Swingerclubs gehen oder ein zweites Pärchen suchen. Mich überkommen noch die gleichen Gefühle wie damals. Einmal überredetes sie mich. Ihr Ex und seine Freundin. Ich war betrunken, machte mit, obwohl es mich ankotzte. Sie mit ihm zu sehen, war mehr als ich ertragen konnte. Brach mir das Herz. Am nächsten Tag setzte ich ihr ein Ultimatum. Entweder nur ich oder das wars. Sie entschied sich gegen mich. Die ersten beiden Wochen verschanzte ich mich in meinem Zimmer, ließ niemanden herein. Der Alkohol- und Drogenkonsum hatte mir stark zugesetzt. Ich war wie auf Entzug. Verlor fast den Verstand. Dann wurde es besser, mit jedem Tag der verging, mit jedem Tag der mich von Milla trennte. Meine Mutter war froh, dass ich wieder zu Hause wohnte. Umsorgte mich, bekochte mich. Ich sah Milla nie wieder. Später erfuhr ich, dass sie schon viel eher während unserer Beziehung Sex mit anderen hatte. Diese Information war so hart, dass ich mich übergeben musste. Kotzte meinem Kumpel die Schuhe voll. Ich grinse, weil ich sein entsetztes Gesicht vor Augen habe. Milla. So wunderschön, aber völlig abgedreht und wahrscheinlich drogenabhängig. Im Nachhinein bin ich froh. Wäre ich länger mit ihr zusammengeblieben, wer weiß, wo ich jetzt stehen würde. Ich reibe mir wieder einmal über den Hinterkopf. Meine Stoppelhaare erinnern mich. Ich habe noch keine Ahnung, ob ich sie wieder wachsen lasse. Ist ziemlich pflegeleicht. Ich ließ meine Mähne in Neuruppin zurück. Ein Opfer an die Vergangenheit, ein Opfer an die Zukunft. Das Piercing über meiner rechten Augenbraue gehört auch dazu. Ich brauchte einen Neustart. Ohne Milla, ohne meinen Stiefvater. Bisher klappt es ganz gut. Atze, okay hier muss ich abwarten. Aber mit Max und Wolle verstehe ich mich super. Ich biege in meine Straße ein, es wird langsam dunkel. Oben brennt Licht. Vielleicht hat meine Mutter gekocht. Ich könnte ein ganzes Schwein verdrücken.

Als ich die Tür aufschließe, strömt mir tatsächlich herrlicher Bratenduft entgegen. Himmlisch.

„Bin wieder da!“

Ich flagge meine Treter unter die Garderobe und hänge meine Steppjacke an den Haken. Meine Mutter kommt mit einem Küchentuch in den Flur, in ihren Haaren sind diese verrückten Drehdinger. Sie sieht zu komisch aus, weshalb ich grinse.

„Ja, ja. Morgen ist Monatsbesprechung, ich will schick sein. Ihr Männer habt es deutlich einfacher.“

Wir drücken uns, anschließend schiebe ich mich in die Küche.

„Hm, ist das für jetzt?“

Ich hebe die Deckel nacheinander hoch. Rouladen, Kartoffeln und Rotkraut. Lecker.

„Wartet schon seit heute Mittag auf dich, du bist ja nie da. Setz dich, ich mache dir einen Teller zurecht.“

Während ich esse, schaut sie mich immer wieder an. Ich schaufele mir ausgehungert Gabel für Gabel diese fantastische Roulade hinein. Erst, als sich das erste Hungergefühl legt, sehe ich meine Mutter an.

„Spucks schon aus. Irgendwas brennt dir auf der Seele. Dein Gehirn denkt so laut, dabei bekommt man ja Kopfschmerzen.“

Meine Mutter heißt Jeanette, ich rede sie seit ich 16 bin nur noch mit ihrem Namen an. Sie windet sich, scheint nicht die richtigen Worte zu finden. Das macht mich zwar nervös, aber ich bin zu sehr mit Essen beschäftigt. Mein Handy neben meinem Teller summt. Ich schiebe das Display auf. Eine Voice-Nachricht von Max. Die höre ich mir später an.

„Ich habe mit Steve gesprochen.“

Meine Augen wandern automatisch in ihr Gesicht. Ich höre auf die restliche Roulade zu zerschneiden, sondern schiebe den Speckstreifen von einer Seite zur anderen.

„Er ist doch immer noch dein Vater. Er kann am allerwenigsten dafür, wie sich die Dinge entwickelt haben. Triff dich mit ihm.“

Ich schlucke schwer. Kein gutes Thema. Seit ich erfahren habe, dass er nicht mein leiblicher Vater ist, hat sich eine Kluft aufgetan. Eine Kluft aus Verrat und Lüge. Er hätte es mir sagen müssen! Mit offenen Karten spielen. Ich kann es ihm nicht verzeihen.

„Steve liebt dich als wärst du sein leiblicher Sohn. Es ist doch alles meine Schuld.“

Jeanette legt ihre Hand auf meine. Ich lasse augenblicklich die Gabel los, sehe sie mit harten Augen an.

„Und warum ist er dann abgehauen? Er hat mich über ein Jahr auf dem Trocknen sitzen lassen. Jetzt bin ich ihm wieder wichtig?“

Das ist so mies und egoistisch. Wut und verletzter Stolz steigen in mir auf.

„Das ist alles nicht so einfach. Es hatte doch nichts mit dir zu tun. Ich kann dir die Einzelheiten nicht sagen, dass muss er schon selber machen. Bitte ruf ihn an. Seine Handynummer ist immer noch die gleiche.“

Wir sehen uns an. Sie bedauernd und liebevoll, ich verärgert, verletzt. Keine Ahnung, aber meiner Mutter war ich nie böse. Nicht wirklich. Klar, am Anfang dieser Hiobsbotschaft habe ich nach allen Seiten geschlagen. Aber danach war unser Verhältnis wie immer, sie ist und bleibt meine Mutter. Steve hingegen war plötzlich ein Fremder. Ein Stiefvater. Außerdem hat er sich aus dem Staub gemacht. Nur ein paar Postkarten mal dann und wann. Ich weiß nicht.

„Ich denke darüber nach“, sage ich schließlich unverbindlich.

„Danke.“

Sie zieht ihre Hand zurück, räumt in der Küche weiter auf. Den wenigen kalten Rest schaufele ich stumm in mich hinein.

„Bin in meinem Zimmer.“

Ihre Antwort höre ich nur noch leise, ich flagge mich auf mein Bett und höre die Voice-Nachricht ab.

„Dienstag kein Training. Bis morgen.“

Das ist alles? Ist er zu faul zum Schreiben oder was? Vollpfosten. Mit einem Grinsen schicke ich einen Daumen nach oben zurück, suche meine Playlist auf Spotify. Als erstes wähle ich die Techno Version von „Zombie“ von Ran-D. Geiles Ding. Mit den Kopfhörern drehe ich voll auf.

Erschrocken zucke ich zusammen, schlage die Augen auf. Meine Mutter bewegt ihren Mund, zieht ihre Hand zurück und hält mir das Telefon hin. Langsam ziehe ich an dem Kabel zu meinen Kopfhörern.

„…jetzt endlich dieses verdammte Telefon!“

Stumm greife ich das Teil, sehe ihr nach, wie sie die Zimmertür hinter sich schließt.

„Hallo?“

Stille, maximal ein minimales Schnaufen. Will mich jemand verarschen?

„Wer ist denn dran?“, wiederhole ich ungehalten.

Nur noch einen Moment, dann lege ich auf.

„Hi Max.“

What a fuck! Ich schlucke, doch der Kloß, der meine Kehle blitzartig zuschnürt, hängt fest, will nicht weggehen. Ich könnte einfach auflegen.

„Bist du noch dran?“

Ihre Stimme klingt unsicher, ganz anders als die Milla, die ich kenne.

„Bin hier“, antworte ich knapp.

„Du blockst mich, das ist echt mies!“

Meine Augen schließend hoffe ich, dass das nur ein böser Traum ist.

„Was willst du?“

„Dich sehen? Warum lässt du mich so hängen? Ich habe mich entschuldigt.“

Das gibt es doch gar nicht! Ich lache, obwohl mir nach etwas ganz anderem zu Mute ist. Schlimmer geht’s nimmer.

„Entschuldigt? Milla es ist aus. Aus und vorbei. Finito. Verarsche jemanden anderen, aber nicht mehr mich. Ich bin raus aus der Nummer. Kapiert?“Inzwischen stehe ich, weil die Wut aus mir raus will. Ich kann sie kaum noch kontrollieren. Das hier ist unterirdisch. Ich brülle fast, warum macht sie das?

„Nein. Nichts kapiere ich. Du wolltest es doch auch. Warum bin ich jetzt an allem schuld?“

Kann man die Dinge noch mehr verdrehen? Ihre Stimme klingt verzweifelt, das alles geht mir absolut gegen den Strich.

„Milla, lass es. Ich kann nicht, wirklich nicht und es geht auch nicht mehr darum, wer Schuld hat oder wie es passiert ist. Lass es auf sich beruhen. Du hast dein Leben und ich meines jetzt hier in Berlin, okay?“

Leergebrannt starre ich auf das Plakat. Ein BMW M5, geiles Teil in Blau. Mein Traum. Mein Plan für später. Stille hallt mir entgegen. Soll ich auflegen?

„Kann ich nicht mal kommen? Nur so? Auf einen Kaffee?“

Es klingt wie ein Hilfeschrei. Ich reibe mit meiner linken Hand über meine Augen. Halte das für eine beschissene Idee.

„Weiß nicht“, entfährt es mir leise.

Ich sinke vor mein Bett, fummele an den Schlaufen meines Teppichbodens, weil ich wirklich absolut keine Ahnung habe.

„Morgen gegen 13 Uhr? Vielleicht ein Starbucks in der Nähe vom Bahnhof? Ich suche was raus und schreibe dir.“

Scheiß Idee, scheiß Idee. Meine Seele schreit es mir förmlich zu. Doch mein Mund formt dieses Wort.

„Okay.“

Die Leitung ist sofort tot. Eingeholt! Alles wieder da. Der Frust, die Erinnerung. Eine Option bleibt mir. Nicht hinzugehen. Aber Milla wird nicht aufgeben. Niemals. Sie wird alles geben, alles versuchen. So wie immer, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Kann ich das? Bis auf ein Foto sind alle weg, verloren gegangen mit dem alten Handy. Ich suche es, sehe es mir an. Wunderschön, voller Leben, total sexy. Ich werfe das Handy behutsam auf den Boden vor mir. Nur sachte, nicht schrotten wie beim letzten Mal. Anschließend stütze ich meinen Kopf in meine Hände.

Zwei Mädchen aus meiner Schule kommen gerade heraus. Ich hebe grüßend die Hand, ziehe bereits meine Mütze herunter. Sie soll meine Veränderung ruhig sehen. Im Starbucks ist es warm, angenehmer Kaffeeduft strömt mir entgegen. Suchend wandern meine Augen die Tische ab. Es ist nicht besonders voll. Ich erkenne sie, verharre hier an der Tür bis sie aufblickt und langsam ihre Hand hebt. Den Blickkontakt brechend überwinde ich die paar Meter, setze mich langsam in Bewegung. Seit gestern habe ich nichts mehr gegessen. Seit ihrem verschissenen Anruf. Ich bekomme nichts herunter. Ich greife nach dem Stuhl, sinke nicht neben sie, sondern ihr gegenüber.

„Max…“

Bevor sie meine Hand greifen kann, die an meiner Mütze vor mir auf dem Tisch knetet, ziehe ich sie weg. Wir sehen uns an, abwartend, forschend.

„Was ist mit deinen Haaren passiert?“

Milla versucht ihre Überraschung auf meine Reaktion zu verbergen, doch ich erkenne es deutlich in ihren Augen. Sie ist verwirrt.

„Ab. Zurückgelassen in meinem alten Leben.“

Sie fixiert mich, lächelt anschließend.

„Steht dir. Macht dich irgendwie männlicher. Obwohl mir deine weiche Seite immer sehr gut gefallen hat. Zumindest an manchen Stellen.“

Ja, da ist sie wieder. Milla in ihrem Element. Lässt keine Gelegenheit aus, auf etwas anzuspielen. Früher hat mir das gefallen. Nein, es hat mich sogar angemacht. Jetzt starre ich nur vor mich hin.

„Willst du nichts trinken?“

Vor ihr steht eine halbvolle Tasse. Kaffee schwarz sicher. Ich schüttele den Kopf, versuche ihrem bohrenden Blick auszuweichen. Das ist alles so hirnverbrannt. Dann fängt sie an zu erzählen. Von ihren Freunden, die nie meine Freunde waren. Von der Schule, ihrem Ex und wie sehr sie sich verändert hat. Aber besonders von ihrem Schmerz, seit ich gegangen bin.

„Können wir nicht wenigstens Freunde sein?“

Wow! Ist das ihr ernst? Nun blicke ich sie doch wieder an, in dieses wunderschöne Gesicht mit der kleinen Stupsnase, den braunen Rehaugen und diesem sinnlichen Mund. An ihm bleiben meine Augen hängen. Ich seufze.

„Milla, was willst du? Warum kommst du hierher? Um unsere Beziehung in eine platonische umzuwandeln? Du weißt genau, dass wird nie passieren. Nicht bei uns. Das wird niemals gut gehen. Ich kann das nicht. Dafür war das zwischen uns viel zu extrem, zu tief…“

Ich sage mehr, als ich sollte, als ich wollte. Scheiße verdammt! Sie sieht so unglaublich gut aus. Erinnerungen an unsere erste Zeit kriechen in mir hoch. Wir waren total verliebt. Ihre Hand legt sich nun doch auf meine. Früher habe ich sofort reagiert, doch heute ist es nur eine Hand. Warm und doch fremd.

„Genau deshalb bin ich doch hier. Weil ich es auch nicht vergessen kann. Diesmal wird alles anders, besser. Ich verspreche es.“

Wut packt mich, Angst packt mich. Ich stehe abrupt auf, verlasse fast rennend den Laden. Draußen weht ein eisiger Wind, doch ich stehe nur da, vergesse die Mütze, vergesse meine Jacke zu schließen.

„Max…“

Ihr Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld. Auge in Auge. Verzweiflung wischt meine anderen Gefühle Beiseite. Keine Sekunde später spüre ich ihre warmen Lippen auf meinen. Nicht vorsichtig, sondern leidenschaftlich, erotisch. Davor hatte ich Angst, denn alles verschwindet. Meine Hände wandern automatisch an ihr Gesicht. Küssend erinnere ich mich, verfalle ihr. Aber es ist nicht mehr wie früher, viel schneller schaltet sich mein Gehirn wieder ein, so dass ich sie wie von Sinnen von mir schiebe. Schwer atmend starren wir uns an.

„Verschwinde endlich aus meinem Leben! Lass mich in Ruhe, hörst du?“

Tränen laufen aus ihren Augen. Milla schüttelt den Kopf, immer wieder.

„Tue das nicht“, wispert sie leise.

Fuck! Ihr Anblick ist kaum zu ertragen, aber ich bin selber schuld. Warum bin ich nur hierher gekommen?

„Milla bitte! Du musst das verstehen. Du bist nicht gut für mich, du machst mich kaputt. Ich kann das nicht noch einmal…“

Diese verdammte Flüssigkeit flutet meine Augen, drückt mir die Kehle zu. Es ist nicht mehr als ein Krächzen.

„Aber ich bin nicht mehr die Gleiche. Versprochen! Lass es uns doch versuchen. Ich kann treu sein, glaube mir…“

Ich drücke mir fest die Augen, drücke diese eklige Feuchtigkeit heraus. Ich hasse sie dafür, dass sie mir das noch einmal antut, mich so bloßstellt. Mit zusammengebissenen Zähnen versuche ich meine Gefühle niederzudrücken. Ihre Augen flehen mich an, ihr ganzer Körper wirkt verloren.

„Ich wünsch dir ein schönes Leben. Machs gut Milla.“

Ohne auf ihre lauten, verzweifelten Rufe zu achten, gehe ich mit steifen Schritten davon. Jeder Meter bringt Erlösung, jeder Meter befreit mein Herz. Gleichzeitig steigt diese Melancholie wie damals in mir auf. Ich konnte mich nur schwer aus diesem Teufelskreis befreien. Als ich irgendwo auf dem Alexanderplatz ankomme, sinke ich auf einen Pfeiler. Wie kann man sich sein Leben selber nur so verbocken? Ich muss endlich damit abschließen, sie muss mich endlich in Ruhe lassen. Dabei bin ich mir absolut nicht sicher. Milla ist stur, sie will immer ihren Kopf durchsetzen. Sei es auch nur, um sich anschließend auf die Schulter zu klopfen. Dabei sind ihr die Gefühle der anderen scheiß egal. Was mich betrifft, bin ich mir allerdings nicht sicher. War es nur gekonnt geschauspielert? Verdammt! Die Kälte treibt mich hoch, treibt mich in eine Kneipe, in der ich noch nie gewesen bin. Am Tresen bestelle ich mir ein Bier und einen Kurzen. Es ist gerade mal kurz vor 16 Uhr. Ich starre und trinke, trinke und starre. Mein Gehirn ist längst ausgeschaltet, ich sollte gehen.

„Was bin ich schuldig?“, frage ich schwankend.

Nachdem ich bezahlt habe, rutsche ich vom Hocker, falle beinahe, kann mich aber im letzten Moment am Tresen festhalten.

„Verdammt!“

Ich warte kurz, versuche das Schaukeln unter mir zu ignorieren. Die Gruppe schwarzgekleideter Leute amüsiert sich über mich. Können die sich nicht um sich kümmern? Wie viele sind es überhaupt, vier oder acht?

„Kommst du klar, Kleiner?“

Ich blicke auf, der dicke Glatzkopf hinter dem Tresen grinst mich an. Ich nicke nur.

„Ja dann. Bis demnächst.“

Keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Mein Geld ist fast alle, dass bedeutet, kein Taxi. Ich suche mein Handy, finde es in meiner hinteren Hosentasche.

„Bitte verzeih mir doch!“

Ich habe vergessen, ihren Kontakt wieder zu blocken. Scheiß Kuh! Alles wegen ihr.

„Bist du in Ordnung?“

Unendlich langsam sehe ich nach rechts. Zweimal Jule, dreimal Jule. Ich reibe meine Augen, sicher nur eine Halluzination. Doch scheinbar ist sie wirklich hier, denn ihr Gesicht oder was ich davon erkennen kann, sieht mich weiterhin an.

---ENDE DER LESEPROBE---