District VIII - Adam LeBor - E-Book

District VIII E-Book

Adam LeBor

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Vor dem Keleti-Bahnhof in Budapest wacht Simon Nazir, ein Flüchtling aus Aleppo, in seinem Schlafsack auf. Er und seine Frau warten seit Tagen darauf, in einen Zug nach Deutschland zu steigen. Das ist das endgültige Ziel, das viele Hunderte Vertriebener zu erreichen hoffen, die sich in der gleichen Lage wie Simon befinden. Die ungarische Regierung verweigert ihnen die Durchreise. Simon erkennt jemanden aus Aleppo und lässt seine schlafende Frau zurück, um ihm zu folgen. Er wird es nicht nach Deutschland schaffen. Als Balthazar Kovacs, Kriminalbeamter bei der Budapester Mordkommission, eine Nachricht erhält, dass am Platz der Republik 26, dem ehemaligen Sitz der Kommunistischen Partei, eine Leiche gefunden wurde, ist diese bei seinem Eintreffen verschwunden. Kovacs begibt sich auf eine Reise tief in die dunkle Schattenseite Budapests, eine Reise, die ihn zwingen wird, zwischen dem Gesetz und der Realität der Flüchtlinge zu wählen. Hinter den Kulissen wird viel Geld mit der Krise verdient.

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Seitenzahl: 519

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Adam LeBor

District VIII

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Herausgegeben von Wolfgang Franßen

Polar Verlag

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung gültig sind.

Originaltitel: District VIII

Copyright: Adam LeBor, 2017

First published by HEAD OF ZEUS

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2023

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Mit einem Nachwort von Carsten Germis

© 2023 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Nadine Helms

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: elena-misnic-EyeEm / Adobe Stock

Autorenfoto: Zoltan Tuba

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-66-6

eISBN: 978-3-948392-67-3

In Erinnerung an meinen Vater Maurice LeBor,der Budapest sehr liebte.

»Du kannst nicht geradeaus gehen, wenn der Weg krumm ist.«Sprichwort der Roma

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Danksagungen

Wanderer zwischen den Welten

Prolog

Keleti-Bahnhof, Freitag, 4. September 2015, 6:05 Uhr

Er lag auf dem Rücken, den Schlafsack zwischen den Beinen verheddert, das Nylon feucht auf seiner Haut. Ein Lautsprecher knisterte mehrere Sekunden, verstummte, feuerte dann eine lange Salve scheinbar wild durcheinandergewürfelter Vokale und Konsonanten ab und verstummte wieder. Er hatte einen trockenen Mund und eine belegte Zunge, sein T-Shirt war völlig durchgeschwitzt. Wo war er?

Er drehte sich auf die Seite, schaute sich um und erinnerte sich. Ein Junge mit einem schmalen Gesicht, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, lag zusammengerollt unter einer braunen Kunstfaserdecke, seine schmutzige Hand hielt einen zerrissenen Rucksack. Eine Mutter und ihr Baby lagen auf einem Stück Wellpappe neben seinen Füßen. Das Kind wimmerte leise, während die Mutter davon nichts mitbekam und leise schnarchte, ihr pausbackiges Gesicht im Schlaf ruhig und gelassen.

Simon Nazir legte die Hand auf den Rücken seiner Frau, spürte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, ließ die Finger durch ihr schwarzes, lockiges Haar gleiten, spürte die Wärme ihrer Haut und schloss die Augen. In seinem Kopf war er immer noch in Aleppo: Er hörte das Lachen der Ladenbesitzer im Basar, den Ruf des Muezzins, roch die Mischung aus altem Staub, Kaffee und Kardamom. Er atmete durch die Nase ein. Der warme Viehgestank ließ ihn beinahe würgen. Er schlug die Augen auf, griff nach der Flasche Wasser und nahm einen tiefen Schluck. Die Flüssigkeit war abgestanden und schmeckte nach Plastik. Die Sonne war bereits aufgegangen, und der türkisfarbene Himmel mit seinen feinen weißen Wolkensträhnen versprach einen weiteren heißen und schmutzigen Tag des Wartens.

Nazir versuchte vergeblich, eine zumindest etwas bequemere Stellung zu finden, sich auszustrecken, ohne gegen einen anderen ausgestreckten Körper zu stoßen. Die menschliche Flut breitete sich in alle Richtungen aus, füllte den Platz vor dem Haupteingang des Keleti-Bahnhofs und ergoss sich weiter entlang der Seiten. Die belebte Kreuzung einer europäischen Hauptstadt war jetzt ein riesiges Flüchtlingslager. Der Boden war übersät mit weggeworfenen Lebensmittelverpackungen, Zigarettenkippen, halb aufgegessenen Sandwiches, vergammeltem Obst, leeren Mineralwasserflaschen und Schuhen, die für die Nacht abgestreift worden waren. Die Glücklicheren unter ihnen hatten Zelte, Geschenke von Touristen und Musikfans, die ein paar Wochen zuvor Mitte August das Budapester Sziget-Festival besucht hatten. Über den Platz verteilt und inmitten der Schlafenden standen ein halbes Dutzend weißer Transporter, auf deren Seiten die Namen verschiedener Fernsehsender prangten; riesige Antennen und Satellitenschüsseln waren zum Himmel gerichtet. Noch war es zu früh für die Journalisten, aber gegen zehn Uhr würden scharenweise Reporter auf dem Platz sein. Nazir betrachtete einen Mann mittleren Alters, einen Ingenieur, den er von zu Hause kannte, der im Schlaf zuckte und seine zehnjährige Tochter im Arm hielt; vor ihnen ein kleiner Koffer.

Die synthetische Stimme dröhnte immer noch monoton im Hintergrund – die Bahnhofsdurchsagen in ungarischer Sprache waren ein ständiger Teil der Geräuschkulisse –, aber es waren menschliche Geräusche, die in seinen Schlaf eingedrungen waren. Eine Stimme, die er kannte, die er nie wieder hören wollte. Nazir warf einen Blick nach rechts. Etwa zwanzig Meter entfernt bewegte sich etwas, ein Mann saß in der Hocke, Gemurmel.

Nazir ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten, ganz ruhig zu bleiben, gefasst, klug. Hier war er in Sicherheit. Er war umgeben von Menschen, Polizisten und bald auch Reportern. Es konnte nichts Schlimmes passieren, außer noch mehr lange Tage unterwegs. Er und Maryam saßen nun bereits seit fünf Tagen am Keleti fest, nur ein Zwischenstopp auf einer Reise, die bereits drei Wochen dauerte. Sie waren nachts aus Aleppo geflüchtet, hatten die Front überquert, ein Taxi nach Damaskus genommen, ein weiteres nach Beirut, waren von dort nach Istanbul geflogen, dann auf dem Landweg weiter mit dem Bus und schließlich zu Fuß durch Bulgarien, Serbien und Ungarn.

Hier versuchte wenigstens niemand, sie zu vergasen oder zu erschießen oder auch nur festzunehmen. Sie hatten es nach Europa geschafft, noch nicht ganz in den Westen, aber definitiv nach Mitteleuropa. Der gelbe Anstrich des Bahnhofs verblasste, der Wartebereich war dunkel und trostlos, das Dach hatte Risse. Aber der Keleti war immer noch Symbol eines Weltreichs und signalisierte, dass Budapest im Herzen des Kontinents lag. Vor einigen Tagen hatten er und Maryam stundenlang auf die Tafel mit den Abfahrten gestarrt und von einem neuen Leben im Westen geträumt. An einem normalen Tag fuhren von hier Züge nach Berlin, Wien, Paris und München. Aber es waren keine normalen Zeiten. Vor vierundzwanzig Stunden hatte die Regierung die Westgrenze für Flüchtlinge geschlossen. Sämtliche internationalen Zugverbindungen waren gestrichen worden, die Inlandsverbindungen verkehrten jedoch weiterhin. Was für die Migranten aber keine Rolle spielte, da sie sich ohnehin nicht im Bahnhofsgebäude aufhalten durften. Bereitschaftspolizisten standen in einer langen Reihe vor dem Eingang. Alle paar Minuten traten sie beiseite, um frühmorgendliche Pendler durchzulassen, dann kehrten sie an ihren Platz zurück, die Arme verschränkt, die Gesichter teilnahmslos.

Nazir leerte die Wasserflasche, hörte wieder die Stimme des Mannes und lag dann sehr still da. Der Kampfanzug, die Pistole und der lange Bart waren fort. Jetzt war er glatt rasiert, trug Jeans, blaue Nike-Turnschuhe und ein T-Shirt, in der Hand ein iPhone; er hätte jeder x-Beliebige von Hunderten Männern mittleren Alters aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan sein können, die auf ihrem Marsch durch Europa vor dem Keleti kampierten. Aber er war es – die wulstige Narbe über dem rechten Ohr, die Erinnerung an eine Brandbombe, entschied die Sache.

Maryam bewegte sich, als würde sie Nazirs Unruhe spüren, murmelte etwas, tauchte dann wieder ganz in den Schlaf ein. Nazir rutschte tiefer in seinen Schlafsack, verbarg sein Gesicht. Er versuchte zuzuhören, konzentrierte sich, bekam den speziellen Tonfall mit, typisch für den Akzent Aleppos, den der Mann sprach, nicht jedoch seine Worte. Nazir verfolgte mit halb geschlossenen Augen, wie die beiden Männer, mit denen der Mann sprach, sich erhoben und ihre Rucksäcke aufnahmen. Wohin gingen sie?

Nazir sah zu der Reihe Taxis hinüber, die vor dem Seiteneingang des Bahnhofs standen. Die Fahrt zur österreichischen Grenze kostete 500 Euro. Er kannte drei Familien, die das Geld bezahlt hatten. Zwei waren irgendwo auf dem Land dreißig Meilen außerhalb von Budapest abgesetzt worden, wo die Polizei sie aufgriff und umgehend in ein Auffanglager schickte. Die dritte Familie war fünfzehn Meilen vor der Grenze zurückgelassen worden. Sie waren ebenfalls verhaftet worden, kamen aber wieder frei, nachdem sie der Polizei weitere 500 Euro zahlten, und hatten es schließlich auf die andere Seite geschafft. Vor zwei Tagen hatte der ältere Sohn aus Wien eine SMS geschickt.

Für den Moment blieb vor dem Keleti nichts weiter zu tun, als abzuwarten und zu beobachten. Er bemerkte, dass eine der Taxifahrerinnen ebenfalls zu den drei Männern hinübersah. Sie war Nazir bereits am zweiten Tag aufgefallen. Zum einen, weil sie eine Frau war und gleichzeitig die einzige Frau zu sein schien, die hier am Bahnhof arbeitete. Sie war etwa Anfang dreißig, schätzte Nazir, groß, hatte schulterlanges dunkelblondes Haar, braune Augen und ein unbeschwertes, freundliches Lächeln. Zum anderen, weil sie anscheinend nie einen Fahrgast hatte. Wann immer Nazir hinschaute, war sie da, rauchte, lachte und plauderte mit den anderen Fahrern. Und sie war ungewöhnlich freundlich. Nazir hatte einige Male Höflichkeiten mit ihr ausgetauscht, wenn er spazieren ging. Ihr Name, sagte sie, sei Ildikó. Nazir war in Aleppo Silberschmied gewesen. Der billige Schmuck – Ringe und Reifen –, den Ildikó trug, passte irgendwie nicht zu ihr. Bei ihrem letzten Gespräch fiel ihm auf, dass sie überraschend gut über die Vorgänge im und am Keleti informiert war, über die klare Gebietsaufteilung in Araber, Afrikaner und Afghanen, und sogar über die Streitereien unter den verschiedenen syrischen Oppositionsgruppen.

Er sah, dass die drei Männer jetzt standen, die Rucksäcke auf dem Rücken. Nazir strich reflexartig über seine linke Hand, berührte die Narbe, dort, wo sein kleiner und der Ringfinger gewesen waren, und spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Er beobachtete, wie sie sich umdrehten und im Begriff waren, die Bahnhofshalle zu verlassen. Er lag noch auf der Seite, aber dachte jetzt nicht länger über die Taxifahrerin Ildikó nach, sondern zog entschlossen den Reißverschluss seines Schlafsacks auf und schob sein Handy in die Tasche seiner Jeans. Er beugte sich zu Maryam, kritzelte schnell mit zitternder Hand eine Nachricht auf einen Zettel, zog eine Rolle Banknoten aus seiner Tasche und legte beides in ihren Schlafsack.

»Simon«, murmelte sie.

»Ich gehe Essen besorgen. Ich bin bald zurück«, flüsterte er ihr ins Ohr und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Kopf. Maryam griff im Schlaf nach ihm. Er umarmte sie durch ihren Schlafsack und drückte seine Brust an ihren Rücken, sie verschränkte ihre Finger mit seinen. Selbst jetzt noch duftete sie nach Seife und Lavendel, ihr Atem war morgens immer noch wunderbar. Er wollte nichts anderes tun, als sie in die Arme zu schließen und nie mehr loszulassen, hatte nie etwas anderes gewollt. Er küsste ihren Nacken und schaute dann wieder zu den drei Männern auf. Sie entfernten sich inzwischen vom Bahnhof, hatten jetzt den Platz Baross tér überquert und gingen weiter zur Straße Rákóczi út.

Sein Herz klopfte, seine linke Hand pochte. Er schloss kurz die Augen, inhalierte begierig ihren Duft, schluckte schwer und stand auf.

Dreißig Meter entfernt ließ die blonde Taxifahrerin ihre Zigarette fallen, trat sie mit einer schnellen Drehung des Fußes aus und begann, ihm zu folgen.

Eins

Platz der Republik, Freitag, 4. September, 9:45 Uhr

Die Leiche war fort.

Balthazar Kovács stand in der Mitte des Grundstücks und suchte erneut seine Umgebung ab. Das Gelände war übersät mit Backsteintrümmern, zerbrochenen Betonplatten, durchzogen von rostigem Armierungsstahl und schartigen Brocken Putz. Fliegen summten über einer Pfütze mit schmierigem, stehendem Wasser, den Überbleibseln einer Party in der Nähe: rußgeschwärztes Holz, ein leeres Päckchen Kondome und eine viertel volle Plastikflasche Vörös asztali bor, roter Tafelwein, der nur sehr selten eine Tafel zu sehen bekam. Verkohlte, maschinengeschriebene Blätter, vom Alter vergilbt, und stockfleckige Bücher waren über den Schutt verteilt. Das Einzige, was hier noch stand, war der untere Teil der hinteren Wand, bedeckt mit Graffiti.

Er nahm ein großes, schwarzes gebundenes Buch in die Hand. Die Bindung war gebrochen und die Seiten wellig, aber die geprägten goldenen Buchstaben vorn waren immer noch lesbar: Bericht des 26. Nationalkongresses der Kommunistischen Jugendorganisation, 1983. Er blätterte durch die steifen Seiten voller Fotos ernster junger Menschen in Hemden mit breiten Kragen und ausgestellten Hosenbeinen, die stolz unter den Flaggen von Marx, Engels und Lenin standen, dazwischen Artikel über die Rolle der Jugend beim Aufbau des Kommunismus.

Er legte das Buch fort und spürte die Schweißtropfen, die ihm über den Hals liefen. Ein friedlicher Freitagmorgen im September in den Seitenstraßen Budapests, doch die Temperatur fühlte sich bereits an, als wäre sie gar nicht mehr messbar. Vogelgezwitscher in den Bäumen. Eine Frau Mitte sechzig in einem rosa Hosenanzug ging vorbei, eine Zigarette in der einen Hand, einen kläffenden Terrier an einer Leine in der anderen. Kinderlachen wehte vom Spielplatz über den Park. Dort hing ein neues Plakat der Opposition, stellte er fest, das zwei Etagen der Seitenwand eines nahe gelegenen Wohnhauses bedeckte. »Kirúgjuk a komcsikat!, Schmeißen wir die Roten raus!«, hieß es da unter einem Foto, das den Ministerpräsidenten, sein Kabinett und Verbündete aus der Wirtschaft zeigte, geschmückt mit roten Fahnen und in einem Spinnennetz miteinander verbunden.

Die SMS war um 9:05 Uhr, genau während seiner ersten Tasse Kaffee eingetroffen. Es waren drei Worte, 26 Köztársaság tér, und ein Foto. Also war er am richtigen Ort. Aber wo war der Tote? Das Foto zeigte einen dünnen, braunhaarigen Mann von Ende zwanzig, Anfang dreißig. Er lag auf der Seite, halb bedeckt mit Ziegeln und Staub, entweder tot oder bewusstlos. Falls er tot war, was wahrscheinlich erschien, da seine Augen offen waren, war er dann hier getötet oder hergebracht worden? Er wirkte nur stümperhaft zugedeckt, als wäre jemand dabei gestört worden.

Balthazar blickte kurz zu der halb eingerissenen Wand hinüber und trat näher. Es war ganz sicher die gleiche Wand. Das Graffiti war so frisch, dass die Farbe noch glänzte. »Bevándorlók haza« stand da, »Migranten zurück nach Hause«, daneben das Bild eines Mannes mit Turban, der an einem Baum hing. Der Baum war kunstvoll wiedergegeben, der Stamm knorrig, die schwarzen Äste erinnerten an Venen. Dem gehängten Mann hing eine rote Zunge aus dem Mund und seine Augen quollen hervor. Darunter in Rot, Weiß und Grün, den Farben der ungarischen Fahne, drei Buchstaben: MNF, Magyar Nemzeti Front, Ungarische Nationalfront.

Er machte einen weiteren Schritt und bückte sich, um den Boden genauer zu untersuchen. Da waren Spuren im Staub, als ob etwas Schweres durch den Dreck gezogen worden wäre. Er nahm sein Handy heraus und machte schnell ein Video von der Stelle, dann ein weiterer Schwenk, zoomte die Stelle heran, wo der Mann gelegen hatte, und fing dann mit mehreren normalen Aufnahmen ein Panoramabild ein. Er schob das Handy zurück in die Tasche, als ihm am Rande des Blickfelds etwas auffiel, das in der Morgensonne glitzerte. Er kniete sich hin und betrachtete den Gegenstand genauer. Eine SIM-Karte, groß, altmodisch, halb von Staub bedeckt. Er warf einen Blick in seinen Rucksack: ein Beweismittelbeutel und eine Pinzette. Mit der Pinzette hob er die Karte auf, ließ sie in den Beutel fallen und verharrte einen Moment reglos, während er über seinen nächsten Schritt nachdachte.

Jeder der zweiundzwanzig Budapester Bezirke hatte eine eigene, lokal zuständige Polizei. Hier befand er sich am Rand des VIII. Bezirks, eines der größten der Stadt und bekannt dafür, Budapests wichtigstes Roma-Viertel zu sein. In den meisten Mordfällen wurde die Leiche von zuständigen Streifenpolizisten gefunden. Sie sperrten den Bereich ab und verständigten die Teams der Spurensicherung und Gerichtsmedizin, die dann nach Indizien suchten. Dann wurde der Fall an die Ermittlungsgruppe des Bezirks weitergereicht. Natürlich wollten sie Morde gern selbst ermitteln, aber in neun von zehn Fällen wurden sie der gesamtstädtischen Mordkommission übergeben, was unweigerlich zu ewigen Zuständigkeitskonflikten führte. Das war gut für die Mörder, weniger gut jedoch für ihre Opfer. Komplikationen führten zu Pannen. Akten verschwanden, Berichte wurden verzögert, manchmal wurden Beweise »versehentlich« vernichtet oder gingen auf dem Weg von A nach B verloren. Aber hatte es hier wirklich einen Mord gegeben oder überhaupt ein Verbrechen? Bislang hatte er nicht mehr als eine Textnachricht und ein Foto. Vielleicht war der Mann ja nicht mal tot, sondern nur bewusstlos oder betrunken; vielleicht hatte er sich erholt und war nach Hause gehumpelt. Ganz sicher war er nicht mehr hier.

Balthazar sah einen bärtigen Hipster auf einem altmodischen weißen Fahrrad vorbeiflitzen, die Luther utca hinunter zum Rákóczi út. Er wollte den Beweismittelbeutel schon in seinen Rucksack stecken, überlegte es sich dann jedoch anders. Als er den Beutel samt Pinzette in seine Gesäßtasche stopfte, spürte er, dass er beobachtet wurde. Er drehte sich um und sah einen drahtigen Burschen von elf oder zwölf Jahren mit pfiffigen Augen, der ihn scharf taxierte und sofort kalkulierte, ob er eine Bedrohung darstellte oder etwas nutzen konnte. »Du bist ein Bulle«, verkündete der Junge mit Überzeugung.

Balthazar wusste, dass lügen zwecklos war. Wer sonst würde schon ein Stück Plastik aufheben und in einen Beutel stecken? Und sowieso konnten Roma-Straßenkinder einen Polizisten auf hundert Meter riechen. Der Junge hatte struppige schwarze Haare, eine kaffeebraune Haut, hellbraune Augen und einen Ziegelstein in der rechten Hand. Er trug ein zu großes, schmuddeliges blaues T-Shirt, schmutzige, abgeschnittene Jeans und abgewetzte Nikes. Balthazar lächelte; eine Ausgabe von ihm selbst vor fünfundzwanzig Jahren, aber der plötzliche Schmerz in seinem Bauch war mehr als nur eine Erinnerung.

»Schuldig.« Balthazar sah auf den Ziegel. »Willst du mich damit schlagen, oder was?«

Der Junge sah auf seine Hand. »Nein. Nein, natürlich nicht.« Er schien weglaufen zu wollen, hielt ein paar Sekunden inne und legte dann den Kopf schief, als er Balthazar von oben bis unten musterte. Die Verwirrung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Aber du bist ein Rom.«

»Zwei von zwei«, sagte Balthazar. Er streckte die Hand aus und stellte sich auf die ungarische Art vor, den Familiennamen zuerst. Es war ein alter Trick und funktionierte fast immer. Ungarn waren sehr höflich und hatten überhaupt kein Problem damit, sich selbst vorzustellen. Tatsächlich sogar galt es als unhöflich, es nicht zu tun, wenn man neuen Leuten begegnete. Nicht zu reagieren, wenn jemand sich vorstellte, wäre eine ausgesprochen feindselige Geste.

Der Junge streckte ernst eine kleine Hand aus. »Szia, hi, Józsi vagyok, ich bin Józsi.«

»Du kannst mich Tazi nennen.« Balthazar drückte leicht die schmale Hand. Die Finger des Jungen waren mit rötlich braunem Staub überzogen. Balthazar deutete auf den Ziegelstein. »Zeig mir den mal.«

Józsi runzelte die Stirn. »Den hab ich nicht geklaut. Der lag einfach nur rum.«

»Alles gut. Ich will ihn nur mal ansehen.«

Józsi gab ihm den Backstein. Balthazar lächelte, als sein Finger in einer Ecke über ein eingeprägtes Zahnrad strich. Józsi hatte ein gutes Auge. Baumaterial aus kommunistischer Zeit, die Überbleibsel des alten Regimes, waren nun bei Innenarchitekten sehr geschätzt. Der Ziegel könnte vielleicht 300 Forint bringen, das entsprach etwa einem Euro, bevor er in einer Villa auf den Hügeln Budas endete oder eine schicke neue Loftwohnung in der Innenstadt zierte. Ein Straßenschild aus der Zeit vor 1989 vom Lenin körút oder dem Karl Marx tér, beide längst umbenannt, war Hunderte Euro wert.

Das hier war ein guter Ort für die Suche. Der Trümmerhaufen war alles, was von der früheren kommunistischen Parteizentrale übrig war. Es war schwer vorstellbar, dass dieses Gebäude, das sich früher über einen halben Block erstreckte, einmal einer der wichtigsten Orte des Landes gewesen war. Der Platz der Republik, ungarisch Köztársaság tér oder kurz Köztér, war wie viele Wahrzeichen umbenannt worden, in diesem Fall nach Papst Johannes Paul zum II. János Pál pápa tér. Ungarns Regierungen waren geradezu manisch davon besessen, Straßen und Plätze umzubenennen, als könnte eine Änderung der Bezeichnung wegwaschen, was dort geschehen war. Aber wie immer man den Platz auch nannte, es war ein verwunschener Ort. Während des Aufstands 1956 hatten dort Revolutionäre versucht, die Parteizentrale zu erobern. Die Kämpfe damals waren, wie alle Bürgerkriege, unmenschlich. Der Mob lynchte Beamte des ÁVH, der verhassten Geheimpolizei, hängte sie mit dem Kopf nach unten an Laternenmasten und zündete sie an. Ortsansässige Schlägertypen warfen Molotowcocktails auf russische Panzer, verbrannten die Soldaten bei lebendigem Leib und ließen ihre verkohlten Leichen auf den Straßen liegen. Nach langer Belagerung war eine Gruppe sehr junger ÁVH-Rekruten mit erhobenen Händen aus der Parteizentrale gekommen. Ein britischer Fotograf hatte Bild für Bild dokumentiert, was dann folgte.

Balthazar legte den Ziegel vorsichtig auf den Boden und stellte einen Fuß darauf.

»Hey«, sagte Józsi empört. »Das ist meiner.«

»Ich weiß. Du bekommst ihn zurück.« Er nahm sein Handy heraus und zeigte Józsi die Aufnahme des toten Mannes. »Hast du den gesehen? Weißt du irgendwas?«

Józsi starrte auf den Bildschirm, dann sah er wieder Balthazar an, jonglierte zwischen seinem tief sitzenden Misstrauen gegenüber der Polizei und dem Wunsch, den Stein zurückzubekommen. »Der ist weg.«

»Das sehe ich auch. Wann? Wie?«

Józsi starrte auf den Boden. »Nem tom, keine Ahnung.« Ich weiß es nicht hieß auf Ungarisch Nem tudom, der Straßenslang verkürzte es.

Balthazar ging in die Hocke, sodass er auf Augenhöhe mit Józsi war, nahm den Ziegel und bewegte ihn mit der rechten Hand hin und her. Der Junge wusste etwas, da war er sicher. »Kéz kezet mos, eine Hand wäscht die andere.«

Józsi runzelte die Stirn, dachte kurz nach. »Männer sind gekommen, um ihn wegzubringen. Sie hatten einen Transporter.«

»Was für Männer?«

»Männer. Ich weiß nicht, wer die waren. Wirklich nicht.«

»Uniformen? Waren es Bullen? Gendarmen?«

»Nein.«

»Was für ein Transporter?«

Józsi zuckte mit den Achseln. »Nem tom. Ein weißer Transporter.«

»Wann?«

»Kurz nach dem Frühstück, also gegen Viertel nach acht.«

»Woher weißt du das alles?«

Józsi trat einen Schritt zurück, kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Ich wohne hier in der Nähe.«

»Wo?«

Der Junge machte einen weiteren Schritt zurück. »In der Nähe.« Józsi deutete auf den Backstein. »Kann ich den jetzt zurückhaben, bitte?«

»Klar«, sagte Balthazar. »Verrat mir doch bitte nur, wo du wohnst. Keine Angst. Du steckst nicht in Schwierigkeiten. Du kannst meinetwegen so viele Ziegel mitnehmen, wie du willst.« Ein Misstrauen allen Behörden gegenüber, Generationen alt und in das kollektive Gedächtnis seines Volkes eingebrannt, bedeutete, dass Józsi nicht viel mehr sagen würde. Ein schwarzer Transporter hielt am Bürgersteig, parkte. »Gendarmerie« stand auf der Seite.

Das Fahrzeug glänzte wie ein Obsidian, Windschutzscheibe und Heckscheiben waren durch dicke Drahtgitter geschützt. Die Hecktür wurde geöffnet, und sechs Männer kamen heraus. Alle trugen schwarze Kampfhosen, schwarze langärmelige T-Shirts und Stichschutzwesten, dazu schwarze Skihelme. Handschellen, Schlagstöcke, Pfeffersprays und schwere Maglite-Taschenlampen ragten aus Taschen an ihren Multifunktionsgürteln.

Balthazar drehte sich um. Józsi war bereits verschwunden. Er schaute zu, wie der Trupp auf ihn zumarschierte; ihr Anführer hielt einen langen Metallschlagstock in der Hand, eine schwarze Wrap-Around-Sonnenbrille bedeckt seine Augen.

Balthazar konnte natürlich gehen, wann immer er wollte, indem er seinen Polizei-Dienstausweis zeigte. Aber er hatte es nicht eilig. Ganz im Gegenteil. Selbst mit der Sonnenbrille erkannte er den Mann mit dem Schlagstock sofort wieder.

Die Gendarmerie war erst seit einem Monat aktiv. Die neu gebildete Nationalpolizei war betraut mit »Sonderaufgaben zum Schutz der nationalen Ordnung« und um die »Würde der Regierung und der ungarischen Nation zu hüten«. Proteste von Anwälten, Menschenrechtsgruppen und Oppositionsparteien, dies sei ein Blankoscheck, um jeden zu verhaften, der politisch unbequem war, waren beiseitegeschoben worden. Gleiches geschah mit den pointierten Erinnerungen ranghoher Polizeibeamter, dass Ungarn bereits eine nationale Polizei besäße, die sich um Verfassungsschutz und Terrorismus kümmerte. Jüdische Gruppen protestierten, der Name riefe schreckliche Erinnerungen wach – die ursprüngliche Gendarmerie hatte während des Holocausts Juden zur Deportation zusammengetrieben und war 1945 aufgelöst worden. Diplomaten der Europäischen Union und der Europäischen Kommission hatten ihre »Besorgnis« über die neue Polizeiorganisation vorgebracht. Am nächsten Tag erschien ein Artikel in der Magyar Világ, einer finanziell vom Staat unterstützten, regierungsnahen Tageszeitung. Der Artikel berichtete, dass die regierende Sozialdemokratische Partei in Erwägung ziehe, alle Migranten vor dem Keleti zusammenzutreiben, sie mit Bussen an die österreichische Grenze zu bringen und dort abzusetzen. Botschafter von EU-Ländern veröffentlichten noch am selben Nachmittag eine zweite Stellungnahme, in dem sie ihr »vollstes Vertrauen in die ungarische Rechtsordnung und die Zusage des Landes zum Schutz der Menschenrechte« zum Ausdruck brachten.

Anders als die örtliche Polizei, die in die Zuständigkeit des Innenministeriums fiel, unterstand die Gendarmerie unmittelbar dem Büro des Ministerpräsidenten. Die üblichen Aufsichtsbehörden, die Parlamentsausschüsse und der Beauftragte für Bürgerrechte besaßen keinerlei Vollmacht, ihre Aktivitäten zu kontrollieren. Faktisch verfügten die Regierungspartei und der Ministerpräsident nun über eine eigene paramilitärische Truppe, die niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig war. Warum interessierte sich die Gendarmerie für einen Toten auf einem Baugelände? Allein ihre Anwesenheit wies darauf hin, dass hier etwas passiert war. Aber was? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Balthazar stand auf und wartete.

Die sechs Gendarmen marschierten weiter und bauten sich um ihn herum auf: zwei Gruppen à zwei Mann links und rechts, eine dritte direkt hinter ihm. Die Hände der Männer schwebten über Pfefferspray und Handschellen. Balthazar rührte sich nicht. Der Befehlshaber schob seinen Schlagstock zurück in die entsprechende Halterung am Gürtel und nahm die Sonnenbrille ab. »Hallo, Tazi«, sagte er.

»Tiszteletem, Attila«, erwiderte Balthazar mit trockener Stimme. Ungarn kannten drei Stufen der Förmlichkeit. Tiszteletem, ich erweise Ihnen die Ehre, war die förmlichste Anrede. Oder die respektloseste, wenn man sie ironisch benutzte.

Attila Ungar trat vor, schien ihm die Hand schütteln zu wollen, sah seine Männer an, entschied sich dann dagegen. Stattdessen fragte er: »Was machst du hier?«

»Das könnte ich dich auch fragen. Was macht der Kommandant der Gendarmerie auf der Straße? Solltest du nicht in deinem netten Büro beim Parlament sitzen?«

»Ich bin lieber auf den Straßen. Da pulsiert doch das Leben. Wo ist der Junge? Wer war er?«

Balthazar zuckte die Achseln. »Welcher Junge?«

»Der, mit dem du gerade geredet hast.«

»Wer weiß?« Er drehte sich um, tat so, als suchte er Józsi.

»Hör mit der Scheiße auf, Tazi«, sagte Ungar.

Ungar war drei Jahre lang Balthazars Partner gewesen, sie hatten aber bereits ein Jahrzehnt zusammengearbeitet und waren beide vom Streifenpolizisten im VIII. Bezirk zur städtischen Mordkommission aufgestiegen. Sie hatten prügelnde Ehemänner, Straßenräuber, gewalttätige Räuber, Kneipenschläger und wenigstens einen Mafiakiller hinter Gitter gebracht. Eines Tages vor etwa zwei Monaten lud Ungar Balthazar dann nach der Arbeit auf ein Glas ein und teilte ihm mit, dass er kündigen werde. Ungar war Balthazars Fragen ausgewichen und hatte behauptet, er benötige einfach mal einen Tapetenwechsel, müsse ein paar Monate freinehmen. Balthazar hatte geargwöhnt, dass Ungar einem Disziplinarverfahren aus dem Weg gehen wollte, nachdem mehrere Tatverdächtige behauptet hatten, dass er sie in ihren Arrestzellen zusammengeschlagen habe. Ungar bestritt alles, aber nur wenige glaubten ihm, vor allem da die Verdächtigen erhebliche Prellungen vorweisen konnten und die Überwachungskameras rätselhafterweise immer dann ausgefallen waren, wenn er sich im Zellenbereich befand. Ungar war kahl geschoren, muskelbepackt und gerade mal eins fünfundsechzig groß und in seiner Freizeit Gewichtheber. Seit Balthazar ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien er noch mehr in die Breite gegangen zu sein. Schwarze Krallen schoben sich seitlich seinen Hals hinauf.

»Ich mache doch gar nichts. Nettes Tattoo«, sagte Balthazar.

Ungar trat näher. »Ja, nicht? Tazi, wir kennen uns schon ziemlich lange. Deshalb liegst du jetzt auch nicht mit Handschellen auf dem Boden. Oder führst ein nettes kleines Schwätzchen mit meinen Kollegen hier im Laderaum des Transporters.«

»Weil ich auf einer Baustelle stehe?«

Ungar lächelte, eine winzige Bewegung seiner Lippen, die seine Augen nicht erreichte. »Unbefugtes Betreten von Staatsbesitz.«

Ungar warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war eine Rolex Oyster, wie Balthazar bemerkte, ein ziemlicher Sprung von der digitalen Casio aus Plastik, die Ungar getragen hatte, als sie noch zusammenarbeiteten.

»Tazi, du musst gehen. Jetzt.«

»Warum?«

»Ich hab’s doch gerade gesagt. Unbefugtes Betreten von Staatsbesitz.«

Ungar gab seinen Männern ein Zeichen. Sie traten näher. Balthazar rührte sich nicht. Gebrülle in der Ferne hallte von den benachbarten Wohnhäusern zurück. Ein Fenster wurde geöffnet, die Geräusche der Zehn-Uhr-Nachrichten des staatlichen Rundfunks wehten heraus. Er konnte nicht alle Schlagzeilen verstehen, aber mehrere Floskeln wehten herüber: Migrantenflut, Grenzen überrollt, Terrorbedrohung.

»Was ist da in dem Rucksack?«, fragte Ungar und deutete auf Balthazars Schulter. Sein Atem stank nach Tabak und Kaffee.

»Geht dich nichts an.«

»Gib ihn her.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil du dabei beobachtet worden bist, wie du einen Tatort manipuliert hast.«

»Ziemlich viel los bei mir heute Morgen. Unbefugtes Betreten. Manipulation. Und dabei ist es erst zehn. Allerdings sehe ich keinen Hinweis auf ein Verbrechen.« Er sah die Gendarmen an. »Mal abgesehen von Drohverhalten.«

»Wenn kein Verbrechen vorliegt und es keine Leiche gibt, was hat dann die Budapester Mordkommission hier zu suchen?«

»Es ist mein freier Tag.« Balthazar sah zu der Mauer hinüber, zeigte auf die Graffiti. »Ich sehe mir hier Kunstwerke an. Die rote Zunge ist doch eine hübsche Note, findest du nicht auch?«

Ungars blaue Augen wurden eiskalt. Balthazar machte ihn vor seinen Männern lächerlich. »Immer der Klugscheißer. Besonders für einen …«

Balthazar lachte. »Ja, war ich. Bin ich immer noch. Besonders für einen von denen. Klug genug, um zu wissen, dass du hier keinerlei Befugnis besitzt.«

»Oh, das sehe ich aber anders. Liest du die Verordnungen der Regierung nicht? Unser Zuständigkeitsbereich ist überall.« Er zeigte auf Balthazars Rucksack. »Selbst da.«

»Das denke ich nicht«, sagte Balthazar und schüttelte den Kopf.

Ungar gab den Gendarmen bei ihm ein Zeichnen. Sie traten noch näher, rückten Balthazar so nahe, dass er ihre Körperwärme spüren konnte. Der Gendarm rechts neben Balthazar war groß, breitschultrig und hatte eine Messernarbe unter dem rechten Auge. Er schnupperte betont laut, bevor er sprach. »Merkst du das nicht?«, fragte er niemand im Besonderen. Er schnupperte wieder, was den anderen Gendarmen ein Lachen entlockte. »Dieser Gestank. Jedes Mal, wenn ich in den VIII. Bezirk komme.« Er sah Balthazar mit säuerlicher Miene an. »Heute ist es ganz besonders schlimm.« Er nahm das Pfefferspray von seinem Gürtel und hielt es Balthazar direkt vors Gesicht. »Wie wär’s mit ein bisschen Deo?«

»Gute Idee«, sagte Balthazar. Der Gendarm mit der Narbe verströmte einen intensiven Körpergeruch, eine Mischung aus stinkendem Schweiß und saurer Milch. »Oder vielleicht müsste Ihre Uniform auch mal wieder gewaschen werden? Es ist ziemlich heiß.«

Der Gendarm sagte nichts und steckte das Spray wieder zurück an seinen Gürtel. Seine Finger ballten sich zu zwei großen Fäusten. Er hatte Schwielen auf den Knöcheln. Seine Augen verloren ihren Fokus und schienen mit einem dünnen Film überzogen zu sein. Balthazar kannte diesen Blick. Er hatte ihn viele Male auf Ungars Gesicht gesehen, wenn er ihn von einem Verdächtigen wegziehen musste.

Balthazar wusste sich zu behaupten. Er war in dieser Gegend aufgewachsen, nicht weit weg, auf der József utca, damals wie heute im Herzen des Rotlichtbezirks, hatte seine frühen Jahre in einer Dreizimmerwohnung ohne Bad verbracht, die das Zuhause für zehn Leute aus drei Generationen war. Er hatte gelernt, sich nach der Schule seinen Nachhauseweg zu erkämpfen, so hart und schmutzig wie nötig, und am Ende hatte er sich den Respekt der harten Kerle des Viertels verdient. Als zwei Skinheads seinen jüngeren Bruder Gáspár verhöhnt hatten, da hatte er zuerst ihre Köpfe gegeneinander und anschließend beide k. o. geschlagen. Nach diesem Zwischenfall hatten die Loddel und Prostituierten ihn unter ihren Schutz genommen. Heute machte er regelmäßig Sport im Fitnessstudio der Polizei und trainierte zwei- oder dreimal wöchentlich Kickboxen. Aber Balthazar wusste auch, wann er klar unterlegen war. Manche Kämpfe sind nicht zu gewinnen. Besonders nicht die gegen eine neue paramilitärische Polizeitruppe mit rechtlicher Carte blanche.

Ungar warf ihm einen Blick zu, der so viel sagte wie: »Willst du das jetzt wirklich durchziehen?«

Balthazar trat einen Schritt zurück, streifte den Rucksack ab und gab ihn Ungar. Die Pinzette und das laminierte Plastikstück in seiner Hosentasche fühlten sich größer und verdächtiger an, und drückten fest auf seine Haut. Was könnte er tun, falls sie ihn filzten? Seine Taschen umdrehten? Nicht viel. Sie waren zu sechst, er war allein. Die Gendarmerie hatte sich bereits mit gutem Grund den Ruf verdient, gesetzlos zu sein und Gewalttätigkeiten zu provozieren. Trotzdem, es war eine Sache, linksradikale Protestler und Menschenrechtsaktivisten herumzuschubsen, eine völlig andere Sache, einen Polizeibeamten zu verprügeln.

Ungar warf einen Blick in Balthazars Tasche, drehte sie um. Es kam nichts heraus. Das Gesicht des Gendarmen verzog sich verärgert. Er streckte eine Hand aus. »Handy.«

Balthazar griff in seine Hosentasche und nahm ein kleines blaues Ericsson-Handy heraus, das mindestens zehn Jahre nicht mehr modern war.

Ungar sah das Handy an. »Sehr witzig. Dein richtiges Telefon.«

»Das ist ein richtiges Telefon. Ich zeig’s dir.« Balthazar drückte die Taste der Freisprechfunktion und rief die Notrufnummer 112 an. »Balthazar Kovács hier, Mordkommission Budapest. Code eins. Ja, Code eins. Ort: 26 II. János Pál pápa tér. Ja, die alte Parteizentrale. Dringend. Ja, es sind Waffen im Spiel. Ja, jetzt.«

Balthazar hielt das Handy auf seiner Handfläche. Die Stimme der Person kam aus dem Lautsprecher, forderte sofortige Hilfe an und dirigierte alle Fahrzeuge in der Gegend um den Bahnhof Keleti pályaudvar direkt zur Luther utca. Sekunden später ertönte eine Sirene, die konstant lauter wurde, während sich eine zweite in der Ferne dazugesellte.

Ungar trat einen Schritt zurück, gab seinen beiden Männern mit einer Geste zu verstehen, dass sie zu ihrem Fahrzeug zurückkehren sollten. Er starrte Balthazar an. Er war vor den Augen seiner Untergebenen gedemütigt worden. Dieser Zwischenfall, das war klar, würde nicht vergessen werden. »Erinnerst du dich an deinen Geschichtsunterricht, Tazi? Wie war das, was ist noch mal 1956 mit diesen ÁVH-Jungs passiert?«

»Ich erinnere mich, dass du meine Hausaufgaben abgeschrieben hast.«

»Wie ich schon sagte, ein richtiger Klugscheißer.« Seine Stimme wurde hart. »Diese ÁVH-Jungs waren noch Kinder, einfach Jungs vom Lande, frischgebackene Rekruten, die zum Dienst bei der Geheimpolizei verpflichtet wurden. Sie wussten nicht, was sie taten. Sie ergaben sich, kamen mit erhobenen Händen heraus. Sie hätten festgenommen werden sollen.«

Ungar trat noch einen Schritt näher. »Sie wurden am helllichten Tag niedergemäht. Einer nach dem anderen. Dann hat man sie angezündet. Sie hatten es nicht verdient, so zu sterben. Es war Mord. Aber sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Und das ist immer ein schlimmer Fehler.«

Er stockte, seine Augen funkelten. »Wir sehen uns noch, Tazi.«

Zwei

Polizeipräsidium Budapest, Teve utca, 11:00 Uhr

Sándor Takács sah auf einen frisch ausgedruckten Polizeibericht hinunter, der auf mehreren Aktenmappen lag. »Code eins?«, sagte er fordernd. »Beamter in Gefahr?«

»Ich war in Gefahr«, sagte Balthazar. »Ich war von sechs bewaffneten Gegnern umgeben.«

»Und wessen Schuld ist das?«, sagte ein aufgebrachter Takács. »Was hatten Sie überhaupt dort zu suchen?«

»Ich hab in einem Mordfall ermittelt.«

»Nein, haben Sie nicht. Mordfälle ermitteln Sie hier, unter meiner Aufsicht. Sie gehen dorthin, wohin ich Sie schicke. Ich habe Sie nicht zum Platz der Republik geschickt, oder wie auch immer der heute heißt.« Takács legte den Bericht beiseite und schob die Aktenmappen über den Schreibtisch. »Kommen Ihnen die hier bekannt vor, Kommissar?«

Balthazar nahm die oberste Akte von dem Stapel. »Ildikó Nagy« stand auf einem weißen Aufkleber. Das Foto eines pummeligen Teenagers mit Wuschelkopf war an den Karton geklemmt. Er nahm die nächste Akte. Márton Kelemen, ein glatzköpfiger Mann von Ende fünfzig starrte ihm finster entgegen.

»Ja«, sagte Balthazar. »Warum liegen die nicht auf meinem Schreibtisch?«

»Weil Sie nie da zu sein scheinen. Ich denke darüber nach, Sie zurück in den Streifendienst zu versetzen. Im XXII. Bezirk.«

Der XXII. Bezirk lag am äußeren Stadtrand, ein unglaublich langweiliger Vorort. Takács fuhr fort. »Da können Sie dann gestohlene Fahrräder aufspüren. Ladendiebe verhaften. Vielleicht gibt’s sogar einmal im Monat einen Einbruch.«

Takács’ Verärgerung war echt, würde aber auch wieder verschwinden, wie Balthazar wusste. Der Form halber musste er dennoch angemessen Respekt zeigen. Er verbeugte leicht den Kopf. »Tun Sie das bitte nicht, Chef.« Er legte seine Hand auf den Aktenstapel. »Ich arbeite die hier durch. Versprochen.«

Takács wirkte skeptisch. »Wirklich? Helfen Sie mir doch gerade mal auf die Sprünge, bitte, an wie vielen Fällen arbeiten Sie gerade?«

Balthazar zählte im Geiste mehrere Sekunden lang. »Sechs.«

»Und wie viele haben wir vorübergehend auf Eis gelegt? Wegen fehlender Hinweise, Zeugen und Ressourcen?«

»Ungefähr noch mal so viele.«

»Das macht dann konkret zwölf Tote, deren Mörder Sie noch finden müssen.«

Balthazar griff in seine Tasche, nahm sein iPhone heraus, holte das Foto auf den Bildschirm, das ihm geschickt worden war, und reichte das Gerät Takács. »Dreizehn.«

Takács warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. »Zwölf.«

»Heute Morgen lag ein Toter auf dem Platz der Republik. Es ist unsere Aufgabe, seinen Mörder zu finden.«

»Diesmal nicht, nein.«

»Aber –«

»Kein Aber, Tazi.«

»Nein? Wirklich?«

Takács atmete laut aus, unterbrach ihn. »Aber … Attila Ungar.«

»Oh. Die Gendarmen arbeiten an der Sache.« Balthazar schwieg einen Moment. »Dann gibt es also einen Fall?«

Takács legte Balthazars Handy ab und griff nach einem Päckchen Zigaretten neben seinen Unterlagen. Es waren Sobranie, die billigste und härteste Marke. Er nahm eine Zigarette heraus und hielt das Ende unter seine Nase, schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus. Takács hatte früher vierzig pro Tag geraucht. »Nicht hier, nicht in diesem Gebäude. Und ganz sicher nicht für Sie.«

Balthazar verfolgte, wie Tabakkrümel auf Takács’ Unterlagen fielen. »Und wir lassen die einfach machen?«

»So wurde ich angewiesen.«

»Warum?«

»Csak«, sagte Takács und wischte die Krümel fort. Csak, ausgesprochen tschack, bedeutete wörtlich nur, aber auf diese Weise benutzt, bedeutete es: weil ich es sage, und damit Ende der Diskussion, als würde ein Elternteil ein lästiges Kind zurechtweisen. Er drückte die nicht angezündete Zigarette in einem großen Glasaschenbecher aus und fügte sie einem aschefreien Haufen zerdrückter Filter, Papierröhrchen und Tabakkrümel hinzu.

Der Chef der Mordkommission der Budapester Polizei war klein und dick. Zwei kleine braune Augen schauten aus einem rundlichen Gesicht hervor, unter schütter werdendem grauem Haar, das sorgfältig über eine kahle Stelle an Takács’ Hinterkopf gekämmt wurde. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht, und unter den Achseln des weißen Hemdes befanden sich bereits feuchte Flecken. Es war ein Zeichen von Takács’ Verdruss, dass er hinter seinem Schreibtisch in seinem Büro auf der zehnten Etage saß, während sein Untergebener sich auf einem Stuhl davor niedergelassen hatte. Normalerweise unterhielten sie sich in einer Ecke, wo an einem kleinen Couchtisch zwei Sessel standen.

Als Chef der Budapester Mordkommission stand Takács ein Eckbüro mit großen Fenstern zu. Ausstattung und Mobiliar entsprachen dem Amtsstandard: hellblaue Wände, Laminatboden und ein verstellbarer Schreibtischsessel von Ikea. Aber der Ausblick war spektakulär: Auf der einen Seite überspannte die Árpádbrücke die Donau, ein sechsspuriger Betonstreifen mit Straßenbahngleisen in der Mitte, an der Spitze der Margareteninsel, der Margitsziget; auf der anderen Seite erstreckten sich die grünen Hügel von Buda, bis in die Ferne übersät mit weißen Villen. Heute waren die Panoramafenster kein Bonus. Das Polizeipräsidium von Budapest war in einem modernen Hochhaus aus Stahl und Glas untergebracht. Das Sonnenlicht flutete herein und heizte den Raum bereits den ganzen Morgen unaufhaltsam auf. Die Klimaanlage des Gebäudes, völlig überlastet dank der kánikula, der sommerlichen Hitzeperiode, hatte schließlich kapituliert. Ein Standventilator in der Ecke schwenkte von einer Seite zur anderen und brachte kaum Erleichterung.

Die drückende Sommerhitze war nicht weiter ungewöhnlich für Anfang September. Ungewöhnlich war jedoch, bemerkte Balthazar, Takács’ Schreibtisch. Die ständig schwankenden Stapel von Berichten, Memos, Akten und herausgerissenen Zeitungsartikeln waren ersetzt worden durch einen Eingangs- und einen Ausgangskorb, die beide nahezu leer waren. Daneben befand sich ein kleiner, ordentlicher Stapel Unterlagen. Was war hier los?

Takács warf einen Blick auf die aktuelle Ausgabe der Magyar Világ, die bei ihm immer deutlich sichtbar lag. »Terrorgefahr durch Keleti-Migranten« verkündete die Schlagzeile der Titelseite über einem Bild, auf dem eine Kolonne erschöpft aussehender männlicher Geflüchteter unter einem Schild an der Grenze vorbeitrottete, auf dem stand: »Magyar Köztársaság, Republik Ungarn«. Der zweite Artikel verkündete: »Ministerpräsident empfängt Investoren aus Golfstaaten«.

Er runzelte die Stirn, schob die Zeitung fort. Er dachte kurz nach. »Und was haben wir hier überhaupt? Ein Foto, das vielleicht einen Toten zeigt, vielleicht aber auch nicht, eine Textnachricht auf Ihrem Handy und einige widerwärtige Graffiti. Wer hat die Nachricht an Ihr Telefon geschickt? Vielleicht Ihre Freunde von Hazifiu.hu, die mal wieder für Unruhe sorgen wollen. Vergessen Sie die Gendarmen. Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihr schon bestehendes Pensum. Auf wirkliche Tote.«

Balthazar erschien häufig in Fernsehnachrichten und Talkshows, wurde gern von der Pressestelle der Polizei als Beleg für die Selbstverpflichtung der Polizei zur sozialen Inklusion vorgeführt. Was ihn zu einem bevorzugten Ziel von Hazifiu.hu machte, der extremsten rechts außen stehenden ungarischen Website. Hazifiu bedeutete »Patriotenjunge«. Letzten Monat hatte das Nachrichtenportal sein Foto, die E-Mail-Adresse und Handynummer veröffentlicht, was eine Flut an Hassnachrichten und Drohungen ausgelöst hatte. Balthazars Privatanschrift, versprach die Website, komme als Nächstes. Am folgenden Tag hatte die Polizei Razzien des Büros der Website und der Wohnung des Herausgebers durchgeführt. Seitdem war Balthazar nicht mehr erwähnt worden. Die meisten Drohungen waren harmlos, stammten von den Wütenden, Verbitterten und Arbeitsunfähigen, die beim Systemwechsel zurückgelassen worden waren. Aber galt vielleicht nicht für alle. Balthazar hatte sich Hilfe von einem Freund beim Nationalen Sicherheitsdienst geholt, einem ehemaligen Hacker, der heute Sicherheitsexperte war. Er hatte mehrere IP-Adressen der E-Mails zu Servern im Parlament zurückverfolgen können.

Balthazar dachte kurz nach. »Vielleicht. Aber dann würden sie auf der Website das Foto des Toten bringen, um zu feiern. Die Nachricht kam von einer blockierten Nummer. Ich habe den Netzbetreiber gefragt. Die haben gesagt, es könnte bis zu einer Woche dauern, etwas herauszufinden, und dann müssten sie die Genehmigung aus dem Büro des Ministerpräsidenten haben, um vertrauliche Informationen preiszugeben. Das sind anscheinend die neuen Vorschriften.«

Takács lachte. »Die brauchen die Genehmigung vom Büro des Ministerpräsidenten, um morgens pinkeln zu gehen. Wie heutzutage überhaupt jeder.«

Balthazar beugte sich vor. »Sehen Sie sich bitte das Video noch mal an, Chef. Da sind Spuren im Dreck. So weit auseinander wie zwei Füße.«

Takács nahm das Handy und drückte auf den Wiedergabe-Button. »Das genügt nicht. Zu einem Mordfall gehört eine Leiche. Wir haben aber keine.«

»Sehen Sie sich die Graffiti an, unter dem Baum mit dem Gehenkten.«

Takács wischte nach rechts und vergrößerte das Foto, las laut die Buchstaben darunter. »MNF – Unwesentlich. Könnte alles bedeuten.« Er schüttelte den Kopf und gab Balthazar das Handy zurück. »Gab es Zeugen?«

Balthazar nickte. »Ein Junge. Er sagte, er habe gesehen, wie Männer die Leiche in einem weißen Transporter weggebracht haben.«

»Was für Männer?«

»Keine Ahnung.«

»Typ und Fabrikat des Transporters?«

Balthazar schüttelte den Kopf. »Das war’s. Er wollte mir gerade mehr erzählen, als die Gendarmen auftauchten. Er hat sich bei ihrer Ankunft sofort aus dem Staub gemacht.«

»Kluges Kind. Sein Name?«

»Józsi. Ein Rom.«

»Nachname?«

»Den hab ich nicht.«

Takács lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammen. »Dann haben wir also, abgesehen von Ihrer Telefonnachricht, nur Józsika, den kleinen Józsi, irgendwo aus den ärmeren Gegenden des VIII. Bezirks, der sagt, er hätte gesehen, wie Männer eine Leiche fortgeschafft haben. Nun, das engt die Sache natürlich ein.« Er errötete und sah Balthazar an. Józsi, kurz für József, war ein unter Roma gängiger Name. »Ah. Äh … Sorry, Tazi … Ich …«, nuschelte er, während seine Röte tiefer wurde.

Balthazar lachte. »Vergessen Sie’s, Chef.« Seine Stimme wurde wieder ernst. »Tatsächlich haben wir doch etwas.«

»Was?«

Balthazar griff in seine Hosentasche, nahm den Beweismittelbeutel mit der SIM-Karte heraus und reichte ihn Takács. »Das hier.«

Gerade als Takács in den Beweismittelbeutel schaute, klopfte es wie aufs Stichwort an der Tür. Balthazar beobachtete verblüfft Takács’ Reaktion. Nicht nur, dass sich sein Chef in einen Ordnungsfanatiker verwandelt hatte, er war zudem noch ein Highspeed-Ordnungsfanatiker. Takács reagierte zunächst nicht auf das Anklopfen. Stattdessen schob er Akten und Unterlagen zu einem einzigen Stapel zusammen, drehte den Code-eins-Bericht um, sodass jetzt nur noch die leere Rückseite zu sehen war, legte sämtliche Unterlagen in den Eingangskorb und die Tageszeitung obendrauf. Balthazar sah, wie Takács’ Wurstfinger schnell und effektiv über die Tastatur huschten, während er sein Mailprogramm und den Browser schloss und einen Bildschirmschoner aktivierte. Für einen Mann seiner Generation ging sein Chef überraschend geschickt mit Computern und elektronischer Kommunikation um. Erst dann sagte Takács: »Herein.«

Balthazar drehte sich um und sah eine korpulente Blondine von Ende vierzig eintreten. Sie trug ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee, zwei Flaschen Mineralwasser und einen Teller mit Schokoladenkeksen zu Takács’ Schreibtisch. Balthazar warf Takács einen Blick zu. Der Beweismittelbeutel lag noch auf Takács’ Schreibtisch. Takács hatte es ebenfalls bemerkt. Balthazar verstand instinktiv, dass diese Frau, wer immer sie war, ihn nicht sehen sollte. Er starrte Takács an, der ratlos aus der Wäsche schaute, dann den Beutel, dann wieder Takács, machte ein Gesicht, um Dringlichkeit auszudrücken, stand dann auf, um der Frau die Sicht auf den Schreibtisch seines Chefs und den weiteren Weg nach vorn zu versperren.

Balthazar stellte sich vor. Die Frau trug ein enges, blaues, zweiteiliges Kostüm aus Polyester mit protzig goldfarbenen Knöpfen an der Jacke und einen knielangen Rock. Sie wirkte verwirrt und leicht gereizt – Warum stellte sich diese Person ausgerechnet jetzt vor und versperrte ihr den Weg? –, antwortete aber, wie der gute Ton es verlangte. »Szilagyi Ilona«, sagte sie und drehte sich widerstrebend zu ihm um. Sie hatte braune, heftig mit Mascara geschminkte Augen und gefärbte blonde Haare, die sie stark toupiert hatte. Sie senkte den Blick auf ihr Tablett, wie um anzudeuten, dass sie ihm gerade nicht die Hand schütteln konnte.

Balthazar spürte eine Bewegung am Rande seines Blickfelds. Er trat zur Seite, als Ilona vor Takács’ Schreibtisch stehen blieb und ihn begrüßte, als sie die Getränke abstellte.

Balthazar folgte ihrem Blick, der über Takács’ Schreibtisch wanderte. Sie starrte auf Takács’ Computerbildschirm und runzelte kurz die Stirn, als sie den animierten Bildschirmschoner des ungarischen Parlaments sah. Der Beweismittelbeutel war fort.

»Bitte entschuldigen Sie Kommissar Kovács«, sagte Takács. »Er ist einer meiner besten Beamten. Wenn er Befehle befolgt.«

Ilona lächelte unsicher, ihr Blick pendelte zwischen den beiden Männern hin und her, und Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben, während sie versuchte, sich über ihre Beziehung klar zu werden. Machte Takács Witze? Wie konnte jemand seinem Chef trotzen? »Soll ich Milch und Zucker hinzufügen?«, fragte sie.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ilona«, sagte Takács, »aber nicht nötig, danke.« Er hörte auf zu reden, ließ die Stille intensiver werden. Ilona machte keine Anstalten zu gehen, ihr Blick wanderte ein zweites Mal über Takács’ Schreibtisch.

»Danke sehr, Ilona«, sagte Takács mit mehr Nachdruck. Sie zögerte einen Moment, während ihr Lächeln verblasste, dann verließ sie den Raum.

Balthazar wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ilona?«

»Ja. Ilona«, sagte Takács und seufzte, bevor er drei Löffel Zucker in seinen Kaffee schaufelte und einen Schuss Milch dazugab. »Soll ich Sie bemuttern? Ich kann auch Ilona rufen …«

Balthazar nahm seine Tasse. »Nicht nötig. Schwarz ist wunderbar. Warum haben Sie ihn nicht einfach ausgeschaltet, als Sie ihr Klopfen gehört haben?«

»Das wäre wohl ein wenig auffällig gewesen, finden Sie nicht?«

»Wahrscheinlich. Wo ist Erzsi?« Erzsi néni, Tante Erzsi, hatte fast zwanzig Jahre für Takács gearbeitet. Beide Männer vertrauten ihr vollkommen.

Takács deutete auf das Tablett. »Darum habe ich nicht gebeten, und ich habe auch nicht um Ilona gebeten. Gestern Morgen um elf Uhr wurde Erzsi eine freiwillige Entlassung angeboten: sechs Monate Gehaltsfortzahlung plus eine lebenslange Pension in voller Höhe. Eine Pension, die steuerlich nicht berücksichtigt würde, falls sie einen anderen Job annehmen sollte. Sie hatte zwei Stunden für ihre Entscheidung. Sie wollte nicht gehen.« Er nahm seinen Kaffee, probierte das Getränk und verzog das Gesicht. »Es gab eine Menge Tränen. Ich habe ihr gesagt, sie solle das Angebot annehmen. Das tat sie dann auch. In zwei Wochen veranstalten wir für sie ein Abschiedsessen im Gundel.« Gundel war das berühmteste historische Restaurant Budapests. Takács fuhr fort. »Sie werden natürlich auch kommen. Ilona nicht. Sie ist heute eingetroffen, um Punkt neun. Mit einem Schlüssel zu meinem Büro. Zum Glück hatte ich einen Hinweis erhalten, dass sie kommt. Ich war als Erster hier.«

»Ein Hinweis von wem?«

Takács lächelte. »Von einem Freund.«

»Einem einflussreichen Freund?«

»Einflussreich genug.«

»Und wer hat Ilona geschickt?«

Takács stellte seine Tasse ab. »Derselbe Teil der Regierung, der Erzsi ihre Altersversorgung angeboten hat. Ilona ist vom Büro des Ministerpräsidenten abgestellt worden. Es gibt ein neues Programm für altgediente Angestellte im Staatsdienst; sie nennen es Loyalitätsbelohnung. Wie bei einer Fluggesellschaft. Sie werden durch verschiedene Abteilungen geschickt, um ihre arbeitsbezogenen Kompetenzen zu erweitern. Anscheinend ist es eine Belohnung, für mich zu arbeiten.«

Balthazar lachte. »Das hab ich schon immer so gesehen, Chef.«

Takács neigte den Kopf. »Freut mich, dass Sie das auch so sehen. Ich hätte natürlich Nein sagen können. Aber der Vorzug von Ilona ist, wie Sie selbst gesehen haben, dass sie nicht wirklich subtil ist. Hätte ich Nein gesagt, dann hätten die mir jemand anderen geschickt.«

Balthazar schaute aus dem Fenster. Ein Kreuzfahrtschiff fuhr gerade unter den Betonbögen der Árpádbrücke hindurch, eine schwarz-rot-goldene deutsche Fahne flatterte am Bug. Die Schiffe begannen ihre Reise in Deutschland, schlängelten sich durch Österreich und Ungarn, bevor es weiter Richtung Süden nach Serbien und Rumänien und zum Schwarzen Meer ging. Das Schiff war lang und weiß, drei Etagen hoch, und jede Kabine hatte riesige Panoramafenster. Er sah, wie das Personal im Oberdeck das Mittagessen servierte. Balthazars Magen knurrte. Er hatte außer einer Banane bisher noch nichts gegessen, hatte viel zu viel Kaffee getrunken und nicht genug Wasser.

»Woher wissen Sie, dass sie’s nicht getan haben?«, fragte Balthazar.

Takács runzelte die Stirn. »Was nicht getan haben?«

»Zusätzlich noch jemand anderen geschickt? Vielleicht ist sie ja nur eine Ablenkung, damit Sie nicht auf den eigentlichen Spion achten.«

Takács wirkte nachdenklich. »Ja, vielleicht ist sie eine Ablenkung. Und vielleicht überschätzen Sie unseren Ministerpräsidenten.« Er nahm die Tageszeitung von den Fallakten und tippte auf den Haufen. »Inzwischen haben wir jede Menge zu tun, auch ohne uns über Ilona den Kopf zu zerbrechen. Oder uns in Revierkämpfe mit der Gendarmerie zu verstricken.«

Balthazar nahm die Akten in die Hand und blätterte sie durch. Die siebzehnjährige Schülerin Ildikó Nagy war von ihrem ehemaligen Freund im The Dubliner erstochen worden, einer auf irischen Pub getrimmten Kneipe in der Nähe des Nyugati pályaudvar, des Westbahnhofs. Márton Kelemen hatte von seiner Frau in der gemeinsamen luxuriösen Buda-Villa einen Schlag mit einer Flasche auf den Kopf bekommen, nachdem sie Texte sexuellen Inhalts von seiner Sekretärin fand. The Dubliner besaß Videoüberwachung, die Kameras funktionierten tatsächlich auch, und der Freund benutzte seinen Facebook-Account immer noch. Ein Nachbar hatte gehört, wie Kelemen ihren Mann anschrie, drohte, ihn umzubringen, gefolgt von dem Geräusch zersplitternden Glases. Frau Kelemen war flüchtig. Sie hatte ihr Telefon weggeworfen, benutzte aber anscheinend weiter ihre eigene Bankkarte. Balthazar wusste, dass er beide Tatverdächtige innerhalb von ein oder zwei Tagen finden könnte.

Takács nahm ein zerknülltes Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe Ungar noch nie gemocht. Er ist ein Schlägertyp. Wenn ich versucht habe, ein Disziplinarverfahren gegen ihn einzuleiten oder ihn zu suspendieren, wurde ich jedes Mal von oben abgeblockt. Jetzt hat er seinen Platz gefunden.«

Ohne die Anwesenheit von Ilona im Raum war die Atmosphäre deutlich entspannter. Balthazar trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Aber wir sind die Mordkommission. Der Tote vom Platz der Republik sollte unser Fall sein.« Das Getränk war lauwarm und leicht bitter ‒ so, wie Kaffee über Jahrzehnte in Regierungsämtern serviert worden war. Er stellte die Tasse fort. »Und außerdem, wieso interessiert sich die Gendarmerie dafür?«

»Zehntausende von Menschen, Wirtschaftsmigranten, Flüchtlingen, Terroristen, weiß der Teufel was noch, strömen über unsere Grenzen. Und dann taucht einer als Leiche in der Nähe des Keleti auf. Natürlich interessiert sich die Gendarmerie dafür. Die müssen ja was zu tun haben. Um ihre Existenz zu rechtfertigen. Ihre Ausrüstung. Ihren Etat.« Takács starrte in die Ferne. »Was wir alles damit machen könnten –«

Balthazar setzte sich auf, war jetzt hellwach. »Er war ein Migrant? Woher wissen Sie das?«

»Tue ich nicht, zumindest nicht sicher. Er wurde in der Nähe des Keleti gefunden, das ist schon mal eines. Aber warum sonst sollte die Gendarmerie sich dafür interessieren? Die übernehmen jeden Fall, der etwas mit dem Ausland zu tun hat.« Er stockte. »Sind Sie sicher, dass Sie den Fall wollen?«

»Natürlich. Und ich möchte mir von Attila Ungar und seinen Schlägern wirklich nicht vorschreiben lassen, was ich zu tun habe. Wenn die Gendarmerie den Fall übernimmt, werden wir beide in sechs Monaten keinen Job mehr haben. Es wird keine Mordkommission mehr geben. Sie wird aufgelöst und geschluckt. Wahrscheinlich wird es nicht mal mehr eine Polizei geben, weder in Budapest noch sonst wo. Nur noch die Gendarmerie. Und wir beide werden uns bei privaten Sicherheitsdiensten um Jobs bewerben.«

»Vielleicht. Bis es so weit ist, müssen Sie sich etwas ansehen.« Takács winkte Balthazar zu sich hinter den Schreibtisch, neben seinen Stuhl. Er drückte die Leertaste auf seiner Tastatur, und sein Monitor schaltete sich ein. Das Browserfenster zeigte 555.hu, Ungarns beste Website für investigativen Journalismus.

»Sehen Sie sich das mal an«, sagte Takács. »Es wurde vor zwanzig Minuten online gestellt.«

SCHLEUSER VERKLEIDEN MIGRANTEN ALS ROMA, UM GRENZKONTROLLEN ZU ENTGEHEN

Von Eniko Szalay

Schleuser verkleiden Flüchtlinge und Migranten als Roma, damit sie problemlos durch die ungarischen Grenzkontrollen kommen und in den Westen weiterreisen können. Die Schleuser arbeiten mit den Führern von Clans zusammen, die ihnen für einen Teil des Geldes, das Flüchtlinge den Schleusern zahlen müssen, echte Personalausweise und Reisepässe von Männern, Frauen und Kindern der Roma samt der passenden traditionellen Kleidung dieser Bevölkerungsgruppe leihweise zur Verfügung stellen. Nachdem die Migranten in Österreich eingereist sind, werden die Ausweispapiere und Kleidungsstücke zurückgegeben, um dann erneut benutzt werden zu können.

Viele Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen Osten haben eine dunklere Hautfarbe und gehen von daher als Roma durch. Die Menschenschmuggler lassen Frauen und Mädchen farbenfrohe Röcke und Kopftücher anziehen. Die Männer bekommen abgetragene Seconhandjacken und -hosen. Man sagt ihnen, beim Grenzübertritt nicht ihre Muttersprache zu benutzen. Manche erhalten sogar Musikinstrumente und führen Geigen und Akkordeons bei sich, um ihre falschen Identitäten zu unterfüttern.

Grenzschutzbeamte in Hegyeshalom und an anderen Übergängen nach Österreich haben Anweisung erhalten, nach Migranten und Flüchtlingen die Augen offen zu halten. EU-Bürger können jedoch weiterhin hin- und herreisen. Da sowohl Ungarn und auch Österreich Teil der Schengenzone sind, gibt es keine Grenzkontrollen, und Fahrzeuge mit österreichischen, ungarischen oder rumänischen Nummernschildern werden für gewöhnlich nicht angehalten.

Die Schleuser arbeiten ungehindert in den Seitenstraßen und Parks um den Keleti pályaudvar, der inzwischen das Epizentrum der europäischen Flüchtlingskrise geworden ist. Trotz der großen Polizeipräsenz vor dem Bahnhof, der jetzt für internationale Zugverbindungen gesperrt ist, konnten gestern noch Schleuser offen ihren Geschäften nachgehen und akzeptierten Zahlungen in US-Dollar, Euro oder Kuwait-Dinar. Zwei wohlbekannte Roma aus der Budapester Unterwelt mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen schienen von einem Café in Bahnhofsnähe aus zu arbeiten.

Aus westlichen Diplomatenkreisen erfuhr 555.hu: »Es handelt sich um ein organisiertes Netzwerk mit Stützpunkten in Wien und Budapest und besten Verbindungen in den Nahen Osten. Die Hintermänner machen enorme Profite mit menschlichem Leid. Wir haben wiederholt die österreichischen und ungarischen Behörden gebeten, einzuschreiten, aber anscheinend ist nichts unternommen worden.

Der Rest des Artikels beschrieb detailliert, wie Eniko drei vor dem Keleti kampierende Flüchtlinge gebeten hatte, mit den Schleusern zu sprechen und sich dann wieder bei ihr zu melden. Allen war ein Preis von 2.000 Euro pro Person genannt worden, um nach Wien zu gelangen, mit der Zusicherung einer Rückerstattung, falls sie zurückgeschickt werden sollten.

Balthazar las bis zum Schluss des Artikels. »Sehr ausführlich. Sie ist eine ausgezeichnete Reporterin.«

Takács warf Balthazar einen schiefen Blick zu. »Ja, nicht? Ich mochte Eniko. Haben Sie noch Kontakt?«

Balthazar schüttelte den Kopf, ignorierte die Gefühle, die sich beim Anblick ihres Namens immer noch regten. »Nicht direkt. Wir haben gemeinsame Freunde.«

Takács redete weiter. »Trotzdem, das muss das erste Mal sein, dass jemand Geld dafür bezahlt hat, sich als Roma auszugeben. Normalerweise ist’s doch andersherum.« Beunruhigung huschte über sein Gesicht. »Darf ich das sagen?«

Takács war die letzten paar Jahre Balthazars Förderer gewesen, hatte sich bei Kämpfen unter den Abteilungen für ihn eingesetzt, hatte auf seine Beförderung gedrängt, hatte immer zu ihm gestanden. Aber Balthazar akzeptierte ebenfalls, dass Sándor Takács trotz seiner besten Bemühungen und der Teilnahme an einem viertägigen Diversitäts- und Inklusionstraining der Metropolitan Police in London ein Mann eines gewissen Alters war, der sein ganzes Leben in einer politisch sehr unkorrekten Gesellschaft gelebt hatte, ganz besonders, soweit es Roma betraf.

Takács ging auf die sechzig zu und konnte jederzeit in den Ruhestand gehen, wenn er das wollte. Er war in einem Dorf in der Nähe der serbischen Grenze aufgewachsen, wo das Schmuggeln ein fester Bestandteil des Lebens war.

Es hätte leicht passieren können, dass er selbst ein Krimineller geworden wäre, aber ein scharfsichtiger Funktionär der Kommunistischen Partei hatte seine Intelligenz bemerkt und ihn zum Studium nach Budapest geschickt. Balthazar hatte fünf Jahre für ihn gearbeitet, kannte seine Launen und Marotten, seine Schwächen und seine Stärken. Mehrere Fotos an der Wand zeigten Takács, wie er von jedem ungarischen Ministerpräsidenten seit Zusammenbruch des Kommunismus 1990 eine Medaille erhielt. Pál Pálkovics, der aktuelle Ministerpräsident, grinste mit dem Arm um Takács’ Schulter in die Kamera.

Eine weitere Fotogruppe zeigte Takács auf verschiedenen Seminaren und internationalen Treffen mit ranghohen Polizeibeamten, Politikern und Würdenträgern. Daneben hingen gerahmte Urkunden von Kursen, die Takács beim New York Police Department, dem FBI und der London Metropolitan Police absolviert hatte. Aber Takács größtes Geschick hatte sich in vier Jahrzehnten Polizeiarbeit beim Lesen der Zeichen und Omen entwickelt, die einen Wechsel des Reichs, der Regierung, der herrschenden Partei, ja, sogar Ideologie ankündigten. Wie der archetypische Ungar konnte Takács eine Drehtür hinter jemandem betreten und dennoch als Erster vorn rauskommen.

Balthazar lachte. »Ja, Chef. Das können Sie sagen. Es gibt ein Polizeirevier am Keleti. Warum verhaften die nicht einfach diese Typen?«

»Ist das eine ernst gemeinte Frage, Kommissar Kovács?«

Balthazar trank einen weiteren Schluck Kaffee. Die bittere Brühe war tatsächlich ungenießbar. Er stellte die Tasse ab. »Nein, Chef. Nicht bei 2.000 Euro pro Person. Welchen Anteil bekommen sie?«

»Das Übliche. Ungefähr fünfzehn Prozent.« Takács hielt inne, überlegte, wie er seinen nächsten Gedanken formulieren sollte. »Tazi, sie schreibt was von Clanchefs der Roma. Helfen Sie mir bitte auf die Sprünge. Könnte dazu auch …«

»Mein Bruder Gáspár gehören? Ja, vielleicht. Er holt einige seiner Mädchen vom Balkan. Er kennt die Schleuser. Er kennt die Routen, er weiß, wen er schmieren muss und wo.«

Takács nahm das Päckchen Zigaretten, zog eine heraus und zwirbelte sie zwischen den Fingern. »Glauben Sie, er hat damit zu tun?«

»Mit dem Mord an Migranten? Nein. Mit dem Menschenschmuggel – wahrscheinlich.«

»Würde er uns helfen?«

»Vielleicht. Aber Sie wissen selbst, wie es bei Zuhältern läuft. Nichts ist umsonst. Die Sitte hängt ihm überall auf der Pelle, weil er ihnen nicht genug zahlt.«

»Gehen Sie zu Gáspár. Falls er etwas mit dem Tod dieses Mannes zu tun hat, gibt es keine Gefälligkeiten. Falls aber nicht, und er weiß etwas, können wir über einen Handel nachdenken. Ich werde mit der Sitte sprechen. Apropos Familie, wie geht es Alex? Wie alt ist er jetzt?«

»Zwölf. Dreizehn, nächsten Monat. Ich bin dieses Wochenende dran. Er kommt morgen Nachmittag zu mir und bleibt über Nacht.« Balthazar nahm sein Telefon, rief ein Foto auf und gab Takács das Handy. Auf dem Bildschirm war ein magerer, braunhaariger Junge mit grünen Augen und einem breiten Lächeln mit Zahnlücke zu sehen.

»Sieht gut aus, der Bursche. Bringen Sie ihn doch mal mit her. Vielleicht wird er auch mal ein Bulle, wenn er groß ist.« Er stockte kurz. »Falls es dann noch Bullen gibt …« Er gab Balthazar das Handy zurück. »Sarah?«

»Die Scheidung ist durch. Ich bekomme ihn einen Tag jedes zweite Wochenende und zwei Stunden an einem Abend in der Woche. Dafür, dass er dieses Wochenende über Nacht bleiben darf, musste ich auf drei Tage unter der Woche verzichten.«

»Ich weiß nicht, warum diese Frauen sich so aufführen. Wie kann es für einen Jungen gut sein, keinen Vater zu haben?«

Balthazar lächelte trocken. »Vielleicht ist Sarah der Ansicht, dass zwei Mütter vollauf genügen.«

»Vielleicht liegt es an ihrer …« Takács schaute einen Moment zur Decke auf, suchte nach dem richtigen Wort. »… Partnerin. Vielleicht stachelt die sie gegen Sie auf.«

»Nein, glaube ich nicht. Mit Amanda komme ich gut zurecht. Nur eben nicht mit Sarah. Sie ist immer so böse auf mich. Sie kämpft immer noch mit harten Bandagen, obwohl sie mich verlassen hat. Und das ist jetzt schon fast drei Jahre her.«

»Solche Situationen haben keine Logik. Vielleicht machen Sie ihr ein schlechtes Gewissen, also wird sie wütend und lässt es an Ihnen aus. Aber nehmen Sie sich vor Sarah in Acht. Sie hat sich ein sehr gutes Dach gebaut.«

Dach war Unterwelt-Slang für Schutz. »Wer?«

»Der amerikanische Botschafter. Sarah war letzten Monat zweimal dort zum Abendessen. Anscheinend war der Botschafter mit Sarahs Mutter auf demselben College. Sie sind immer noch eng befreundet. Im Moment liegt eine anglo-amerikanische Investition in Höhe von 100 Millionen US-Dollar auf dem Tisch, für Sicherheitsausrüstung, Personal und Ausbildung für die neuen Grenzzäune. Falls der Botschafter wegen eines aufdringlichen Polizeibeamten, der eine amerikanische Staatsbürgerin belästigt, ein Hilfeersuchen an das Büro des MP stellt, wird das nicht auf taube Ohren fallen. Vor allem nicht, nachdem Sie offiziell …«

»Ja«, unterbrach Balthazar Takács. »Und? Wo stehen wir? Offiziell?«