Zwischen den Korridoren - Adam LeBor - E-Book

Zwischen den Korridoren E-Book

Adam LeBor

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Zwischen den Korridoren ist der zweite Teil der Danube-Reihe um den Roma-Kommissar Baltazár Kovács und setzt wenige Tage nach der Handlung von "District VIII" ein. Am frühen Donnerstagmorgen wird Baltazár zu einem Bordell gerufen, das seinem Bruder gehört, wo es einen Zwischenfall im VIP-Raum gegeben hat. Dort erwartet ihn die Leiche eines katarischen Finanziers. Womöglich ein Herzinfarkt. Die Indizien hingegen scheinen manipuliert zu sein. Die Videoaufzeichnungen des Bordells aus der Nacht wurden aus der Ferne gelöscht, und jemand überwacht Baltazár und das Etablissement mit Drohnen. Es stellt sich heraus, dass der Katarer zu einem Frühstückstreffen mit der neuen Premierministerin verabredet war, um eine Investition zu besprechen, die zur Umgestaltung Ungarns beitragen könnte. Auf den Korridoren der politischen Macht begegnet Kovács erneut dem organisierten Verbrechen.

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Adam LeBor

Zwischen den Korridoren

Aus dem Englischen von Jürgen BürgerHerausgegeben von Wolfgang Franßen

Polar Verlag

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung gültig sind.

Originaltitel: Kossuth Square

Copyright: © Adam LeBor, 2019

This translation of Kossuth Square, first edition is published by Polar Verlag by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2024

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Mit einem Nachwort von Günther Grosser

© 2024 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Nadine Helms

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Harsányi András / Adobe Stock

Autorenfoto: © Zoltan Tuba

Stadtplan Budapest: Der Stadtplan Budapest basiert auf dem Design von max776 (Image # 22495452 auf VectorStock.com). Der Übersichtsplan basiert auf der Budapest districts map by Droo, Public domain, via Wikimedia Commons.

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-90-1

eISBN: 978-3-948392-91-8

Für Kati, Daniel und Hannah

»Es gibt so etwas wie falsche Wahrheiten und ehrliche Lügen.«Sprichwort der Roma

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Epilog

Danksagungen

Lesen die Leute bei den Einwanderungsbehörden oder im Innenministerium keine Thriller?

Prolog

Budaer Berge, 1995

Sie stand am Nebeneingang der Villa und schaute dem Wagen ihres Vaters auf dem Weg den Berg hinunter Richtung Margit híd nach; grauer Qualm kam aus dem Auspuff der verrosteten blauen BMW-Limousine. Es war das einzige Auto auf der Straße. Das Haus war in einem dunklen Gelb gestrichen, und die Wände leuchteten golden im sanften Licht der Abenddämmerung. Aus dem Haus drangen die Geräusche einer Party: gedämpfte Stimmen, fernes Gelächter, Musikfetzen. Die Luft war frisch und kühl, selbst hier im Park merklich frischer als zu Hause. Sie war sechzehn und zum ersten Mal in ihrem Leben, zumindest soweit sie sich erinnern konnte, allein. Sie schaute sich um. In der Ferne bellte ein Hund, aber die Gehwege waren leer. Wo waren alle? Wohnten in diesen Häusern wirklich Leute? Bis zu ihr nach Hause in der József utca im VIII. Bezirk waren es mit dem Auto kaum zwanzig Minuten, aber sie fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber durchaus nicht unangenehm. Es sprangen keine großen oder kleinen Geschwister auf ihr herum und verlangten, dass sie etwas vorlas oder mit ihnen spielte. Keine Eltern, die einem Hausarbeiten aufdrückten. Sie musste nicht kochen oder den Tisch abräumen, kein Geschirr spülen, keine Aschenbecher leeren, keine Kinder waschen und ins Bett bringen. Kein Brüllen, Heulen, Lachen. Auch kein Lieblingscousin – na ja, entfernter Lieblingscousin, entfernt genug, damit auch alles anständig war –, der ihr geheimnisvoll zulächelte oder schmachtende Blicke zuwarf.

Der BMW verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie berührte wieder unnötigerweise ihr langes schwarzes Haar. Frisch gewaschen fühlte es sich so weich und seidig an. Eine Haarwäsche war ein seltener Genuss. Zu Hause gab’s kein fließend heißes Wasser. Stattdessen hatten anyu, Mama, und Márta néni, Tante Márta, den größten Topf der Küche mit Wasser gefüllt, es auf dem Herd zum Kochen gebracht und ihre langen Locken gewaschen, während sie sich über das Spülbecken beugte und die Seifenlauge ihren Rücken hinunterlief. Sie drehte sich zur Tür um. Sie war dunkelbraun, massiv und glänzend lackiert. Es gab einen polierten, schimmernden schweren Messingtürklopfer. Sie hatte noch nie ein Haus wie dieses gesehen, geschweige denn eines betreten. Es gab zwei Gärten, und sie konnte beide sehen. Einer lag vor dem Haus mit einem schmalen Weg über einen gepflegten Rasen. Durch Verandatüren gelangte man in einen erheblich größeren Garten hinter dem Haus mit weiteren Rasenflächen und Blumenbeeten. Es gab sogar einen Swimmingpool. Sie konnte nicht schwimmen; selbst seichtes Wasser machte sie nervös.

Jetzt war sie auch nervös, natürlich war sie das. Als sie ging, hatte anyu sie runter zur Tür gebracht, die ganzen fünf Etagen – in ihrem Haus gab es keinen Fahrstuhl. Das war schon was, denn anyu war ziemlich übergewichtig, musste auch wieder bis ganz nach oben gehen und verließ ihre Wohnung ohnehin nur sehr ungern. Anyu hatte ein bisschen geweint, als sie zu ihrem Vater in den Wagen stieg, und sie wollte wissen, warum, aber anyu sagte, es wäre nur, weil sie so stolz auf ihre Tochter sei und ein großes Abenteuer auf sie warte. Sie waren beide schon mal in Buda gewesen, hatten einen Schaufensterbummel in dem neuen Einkaufszentrum gemacht, wo ihnen Wachmänner auf Schritt und Tritt gefolgt waren, aber das waren sie natürlich gewohnt. Sie hatte mit Roma Drom, der Band ihres Onkels Melchior, in mehreren Bars am Moszkva tér gesungen, war aber noch nie so weit oben in den Bergen gewesen. Das jetzt war ihr erster Soloauftritt. Kein Wunder also, dass ihre Mutter stolz war. Es war allerdings sehr ungewöhnlich, dass man sie allein gehen ließ, um ohne Melchior oder einen anderen männlichen Verwandten als Aufpasser vor Fremden zu singen. Aber ihre Eltern hatten es eingefädelt, also war sie sicher, dass alles in Ordnung wäre. Und sie wäre auch nicht völlig allein: Apu, Papa, hatte ihr versprochen, dass auch mehrere von Melchiors Musikern da sein würden, um sie zu begleiten.

Sie betrachtete sich noch einmal kritisch und war zufrieden mit dem, was sie sah. Sie trug ihre beste Kleidung: einen langen schwarz-silbernen Rock mit Blumenmuster, eine schlichte schwarze Bluse und über den Schultern ein schwarzes und silbernes Tuch, dazu silberne Ohrringe mit schwarzen Schmucksteinen. Sie warf einen Blick auf ihren Rock, strich ihn glatt. Der Fotograf hatte an diesem Morgen gesagt, sie sehe wunderschön aus. Sie war noch nie in einem Fotoatelier gewesen und konnte es kaum erwarten, die Aufnahmen zu sehen. Falls ein Mann sie belästigte, würde sie ihren Rock über ihn schwingen und ihn so tisztátalan machen, unrein. Das war eine der schlimmsten Schanden in der Roma-Kultur. Sie runzelte kurz die Stirn. Funktionierte tisztátalan auch bei gadje, Nicht-Roma? Sie war nicht sicher, aber selbst wenn nicht, ihre Brüder und Cousins würden sich um jeden kümmern, der Ärger machte. Und sie hatte große Pläne für die Zukunft, über das Singen hinaus. Ungarn war jetzt ein freies Land. Die alten Sitten änderten sich, und nicht nur für die gadje. Bislang wussten nur zwei Leute von ihrem Traum, Lehrerin zu werden: ihre Mutter und ihr Lieblingscousin. Das Problem würde ihr Vater sein, das wusste sie. Aber selbst ihn, da war sie ganz sicher, würde man überzeugen können.

Sie genoss den Augenblick, die Luft und die Stille, und kontrollierte sich noch einmal kurz, bevor sie hineinging. Ein Hauch Mascara betonte ihre Augen, die grün waren wie Smaragde, das hatte er mal zu ihr gesagt. Sie errötete bei der Erinnerung, zog das Umhängetuch behaglich zusammen und wünschte sich, er wäre hier. Aber er hatte versprochen, wieder mit ihr ein Eis essen zu gehen, um nach ihrer Rückkehr zu feiern. Es würde so viel zu reden geben. Irgendwo in der Nähe trällerte wie zur Bestätigung ein Vogel.

Sie zitterte kurz, vor Erregung vielleicht, und auch, weil die Brise auffrischte und die Luft abzukühlen begann. Durch die Fenster sah sie, dass die Party in vollem Gang war. Alles sah sehr schick aus: Es gab Kellner und Kellnerinnen, die in schwarzen Hosen und grauen Blusen hin- und hereilten, auf Tabletts Getränke und Snacks servierten. Alle Gäste sahen sehr elegant aus. Eine der Verandatüren wurde geöffnet, und ein junges Pärchen trat heraus. Leiser Jazz wehte hinaus in den Sommerabend. Er sah gut aus, war Anfang zwanzig, kam ihr fast bekannt vor. Sie hatte ihn ein paarmal im Fernsehen gesehen, erinnerte sie sich, als er über dies und das redete. Ihr Vater hatte den Fernseher ausgeschaltet, als er bemerkte, wie sie ihm zuhörte, murmelte dabei etwas wie »verlogene gadje-Politiker«. Die Frau, seine Freundin, vermutete sie, da sie Händchen hielten, war jünger, eine sehr hübsche Blondine in einem schwarzen Kleid, in dem sie auf der József utca die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen würde. Die Musik hörte auf, es gab vereinzelten Applaus, was bedeutete, es musste Livemusik gewesen sein. Einen Augenblick lang runzelte sie die Stirn. Melchiors Musiker spielten keinen Jazz.

Egal, dachte sie. Wahrscheinlich tranken sie gerade was oder rauchten irgendwo, warteten auf sie. Es würde gut werden, egal, mit wem sie sang. Sorgen bereitete ihr eigentlich nur die Frage, wie sie an einen so vornehmen Ort passte, zu so vornehmen Gästen? Würden sie auf sie herabsehen, auf das Zigeunermädel aus dem Józsefváros, der Josefstadt, dem VIII. Bezirk? Vielleicht würden sie mit dem Finger auf sie zeigen und tuscheln, ja sogar kichern. Es war ihr egal. Das war sie gewohnt, und Schlimmeres. Und nicht einer von denen, das wusste sie, konnte singen so wie sie, mit einer Stimme, die sich in die Höhe schwingen konnte wie ein Adler, flüstern wie eine Geliebte und jede Unterhaltung im Raum zum Stillstand brachte.

Sie berührte ein letztes Mal ihr Haar, um sich Glück zu wünschen, hob den schweren Türklopfer und schlug ihn zweimal gegen die Tür.

Eins

Lóczy Lajos utca, Donnerstag, 10. September 2015, 6:00 Uhr

Der Tote kniete in der Mitte des Bettes, nackt, immer noch aus der Taille heraus vornübergebeugt. Sein Hintern ragte hoch in die Luft, die Wirbelsäule fiel zu einem Hängebackengesicht ab, das auf einer Seite ruhte. Er hatte eine braune Haut wie Mahagoni und schütteres schwarzes Haar, das zu dunkel schien, um sich natürlich über seine glänzende Kopfhaut zu erstrecken. Unter ihm hatte sich ein dunkler Urinfleck auf dem Seidenlaken ausgebreitet, das die Farbe von Blut hatte.

Baltazár Kovács streifte blaue Latexhandschuhe über, legte zwei Finger unter der Kinnlade auf den Hals des Mannes, wartete eine halbe Minute. Keine Bewegung. Selbst durch den Handschuh war die Haut kalt. Er zog einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche, schob ihn unter den rechten Arm des Mannes, wo Handfläche in Handgelenk überging, und hob die Hand an. Baltazár senkte den Stift, ließ die Hand des Toten wieder aufs Bett sinken und zog den Latexhandschuh der rechten Hand aus, bevor er seine Finger vor Mund und Nase des Mannes hielt. Die Luft bewegte sich nicht.

Baltazár zog den Handschuh wieder an und drehte sich zu der jungen Frau um, die neben ihm stand und ihn beobachtete. »Er ist definitiv tot.«

»Bist du sicher?«

Er nickte. »Ziemlich.«

»Er ist nicht einfach nur bewusstlos oder so was? Vielleicht ist er im Koma«, meinte sie hoffnungsvoll.

»Nein. Er ist tot.«

Kinga Töröks graue Augen weiteten sich. »Hab ich Probleme?«

»Nicht, wenn du mir alles erzählst, was passiert ist. Hat irgendwer dir was gegeben, das du ihm geben solltest?«

Er beobachtete sie aufmerksam, als sie ihm antwortete. Sie trug einen blauen Morgenmantel aus Seide über schwarzer Unterwäsche. Ihr feines blondes Haar war zerzaust, ihre Mascara verschmiert. Aber sie wich seinem Blick nicht aus, die Augen geöffnet und unschuldig wie nur was. »Nein. Nichts. Wirklich.«

»Drogen, Puder, was zu trinken? Es ist viel besser, wenn du es mir jetzt sagst, Kinga.«

»Du meinst, um ihn umzubringen? Natürlich nicht. Warum sollte ich so was tun? Ich verdiene hier mein Geld. Die Hälfte davon schicke ich nach Hause. Das will ich mir doch nicht vermasseln.« Ihre Stimme war selbstsicher, fast schon verächtlich.

Baltazár trat vom Bett zurück, sah den Toten wieder an. Sagte sie die Wahrheit? Dass sie sich nichts vermasseln wollte, stimmte ziemlich sicher. Die Arme des Toten waren gespreizt, fast als hätte er versucht, zu winken oder um Hilfe zu rufen. Ein Mörder im Raum hätte Kinga nicht am Leben gelassen. Todesursache war höchstwahrscheinlich ein Herzinfarkt oder so was wie ein Schlaganfall. Er sah Kinga erneut kurz an. Sie erwiderte seinen Blick, war sicherlich beunruhigt – wer wäre das nicht? –, aber weder besorgt noch ängstlich. Zuerst dachte Baltazár, der Tote könnte ein Rom sein. Dunkel genug war seine Hautfarbe. Baltazár kannte sämtliche Größen und Zuhälter, Geschäftsleute und gerissene Geschäftemacher unter den Roma der Stadt, die sich eine Nacht mit Kinga in der VIP-Suite leisten konnten. Das hier war keiner von denen, aber er könnte von außerhalb sein. Entweder das oder er war Ausländer. Es gab, nahm er mal an, schlimmere Arten, den Löffel abzugeben.

»Weißt du, wer er ist?«, fragte Baltazár.

Kinga zuckte die Achseln. »Nein. Ein Araber vielleicht. Er hat gesagt, ich soll ihn Abdi nennen.«

Baltazár gähnte, fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes schwarzes Haar und spürte, wie die Last in ihm immer schwerer wurde. Abdi, oder wer immer er nun war, war der Grund, warum Eszter, die Geschäftsführerin des Bordells, ihn vor einer Stunde angerufen und ihn um Hilfe gebeten hatte. Baltazár wusste, dass es in dem Bordell schon einige tote Freier gegeben hatte, übergewichtige Männer mittleren Alters, die an Herzinfarkt gestorben waren. Erst vergangenen Sommer hatte ein deutscher Pfarrer auf Besuch in der Stadt in den Armen und Beinen zweier neunzehnjähriger Zwillinge den Geist aufgegeben. Tote Freier waren immer schlecht fürs Geschäft, aber man konnte damit umgehen. Zwanzigtausendforintscheine in ausreichender Zahl hatten die Räder der Behörden geschmiert, um die Leichen aus dem Bordell zu schaffen und die Berichte zu ändern, um den Ruf und das Andenken der Angehörigen zu schonen. Aber ein toter Ausländer war erheblich komplizierter.

»Abdi und weiter?«, fragte Baltazár.

Kinga zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben nicht viel geredet.«

Baltazár warf einen Seitenblick auf die Leiche auf dem Bett. Abdi. Wahrscheinlich kurz für Abdullah. Das hatte vielleicht nichts zu bedeuten. Reiche arabische Touristen kamen heute scharenweise nach Budapest. Die Luxusbordelle der Stadt machten mehr Geschäfte denn je, erheblich mehr als das Etablissement seines Bruders Gáspár. Aber nicht alle arabischen Besucher waren vermögend und konnten sich eine Nacht in der VIP-Suite leisten. Manche kampierten draußen am Keleti-Bahnhof, unterwegs mit falschen Papieren auf ihrer langen Reise in den Westen. Die Grenzen Ungarns waren zusammengebrochen, der Ministerpräsident war inmitten eines Korruptionsskandals zurückgetreten, in den Investoren der Golfstaaten verwickelt waren, und das Justizministerium war in Menschenhandel und einen Schleuserring verstrickt, der islamistische Radikale in den Westen schmuggelte. Vielleicht sagte ihm Abdi, oder sein Tod, etwas.

Baltazár holte sich in die Gegenwart und diesen Raum zurück, sah Kinga an. »Und was hast du gemacht?«

Sie lachte. »Wie viele Details willst du?«

Seine Frage, erkannte Baltazár, hätte besser formuliert sein können. »Ich meine, war irgendetwas merkwürdig oder ungewöhnlich?«

»Nein. Zuerst das Übliche. Er hat mich für die ganze Nacht gebucht. Obwohl, dann wollte er … du weißt schon …« Sie hielt inne, errötete, wirkte plötzlich verlegen, wandte den Blick mehrere Sekunden lang ab. »Er hat mir das Doppelte geboten, aber ich hab gesagt, so was mache ich nicht. Es tut weh.«

Kinga Török war zweiundzwanzig, eine schlanke, hübsche Blondine, die erst vor Kurzem aus einem winzigen Dorf nahe der serbischen Grenze eingetroffen war. Ihr Vater war arbeitslos und ihre Mutter arbeitete als Reinigungskraft. Kinga war klug, ehrgeizig und studierte tagsüber Jura an der ELTE, der Budapester Eötvös-Loránd-Universität. Nachts verdiente sie in wenigen Stunden mehr, als ihre Mutter in einem Monat nach Hause brachte, vor allem, wenn sie die Königin der VIP-Suite war. Der Raum war der teuerste des Hauses. Er war von Wand zu Wand mit dunkelrotem Teppichboden ausgelegt, hatte fast deckenhohe Spiegel auf beiden Seiten des Bettes und einen weiteren an der Decke. Das Bett war ein opulentes Möbelstück im Rokokostil mit geschnitzten und vergoldeten übergroßen Fuß- und Kopfteilen, beide passend zu den Laken purpurfarben gepolstert. Daneben stand ein passendes kleines Schränkchen, auf dem Stapel frisch gewaschener, dicker weißer Handtücher lagen. Ein antiker Biedermeierkleiderschrank stand in einer Ecke, in dem der Freier und seine Gesellschaft ihre Kleidung lassen konnten. Gegenüber stand ein schwarz lackierter japanischer Schrank mit eingebautem Kühlschrank und den Überbleibseln der Nacht obendrauf: zwei Flaschen Moët-&-Chandon-Champagner, eine leer, eine ungeöffnet, zwei Kelchgläser aus böhmischem Kristall, das eine fast voll, das andere leer, sowie ein Päckchen blauer dreieckiger Pillen.

Der Raum mochte luxuriös sein, aber er stank: nach Schweiß und Samen, verschüttetem Alkohol und Urin und der langsamen Reifung eines toten Körpers. Baltazár trat zur Seite und öffnete das Fenster. Er atmete tief durch, als die kühle, frische Luft eines Buda-Morgens hereinsickerte, dann ging er zu dem Schrank und schaute dabei nach oben: Die minimalistische Deckenlampe mit sechs Metallarmen und Metallkolben an den Enden war seltsam modern und passte überhaupt nicht zur übrigen barocken Einrichtung. Baltazár nahm die Folie mit den Pillen in die Hand: Zwei fehlten. Genug für eine Nacht, vermutete er, davon ausgehend, dass es Viagra war.

Baltazár drehte die Pillen um, er trug immer noch den blauen Latexhandschuh.

»Wie viele davon hat er genommen?«

Kinga zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaube, nur die zwei.«

»Essen? Hast du oder hat er irgendwas gegessen?«

»Nein, nichts. Den Champagner hat er fast allein getrunken. Aber ich hab gesehen, wie er die Flasche aufgemacht hat.«

»Hast du auch was getrunken?«

»Nur ein paar Schluck. Wir sollen nichts trinken.«

»Welches ist deins?«

Kinga zeigte auf das dreiviertel volle Glas.

»Sicher?«, fragte Baltazár.

»Definitiv. Ist mir zu trocken.«

Baltazár dachte kurz nach. Es würde schwierig, aber nicht unmöglich sein, etwas in den Champagner zu mischen. Aber dann wäre Kinga ebenfalls betroffen gewesen. »Wie fühlst du dich? Beduselt, schwach oder so?«

»Mir geht’s gut, wirklich.«

»Hat er sonst noch was genommen?«

Er beobachtete sie, als sie antwortete. »Nein«, sagte sie, »nichts«, aber diesmal sah sie kurz nach links, und ihre rosa Zungenspitze fuhr für eine Sekunde über ihre Oberlippe. Baltazár ging zu dem Schränkchen hinüber. Zwischen den Überbleibseln der Party befanden sich mehrere Stellen mit einem feinen weißen Staub. »Komm her, Kinga«, sagte er. Sie ging zu ihm. »Was ist das?«, fragte er.

Sie zuckte die Achseln. »Körperpuder?«

Baltazár drehte sich zu ihr um. Sie roch immer noch nach Sex, ein müffelnder, durchdringender Geruch, fast überlagert von Schweiß. Er sah, wie sich ihr Körper unter dem hauchdünnen Morgenmantel bewegte, den Rand der schwarzen Spitze eines BHs. Er klopfte sich auf die Stirn. »Siehst du hier irgendwas?«

Sie sah ihn verwirrt an. »Nein.«

»Steht da ›blöd‹ oder ›dummer Bulle‹?«

»Nein. Natürlich nicht.« Kinga senkte einen Moment den Blick, dann sah sie ihn direkt an. »Es waren nur ein paar Linien. Er hat sie genommen.«

»Dein Stoff oder seiner?«

»Seiner. Ich habe nichts. Ich mag es nicht. Es macht mich hibbelig. Und Eszter hat gesagt, keine Drogen, ganz besonders nicht heute Abend.«

Baltazár nahm einen Beweismittelbeutel heraus, hielt ihn an den Rand des Schränkchens und wischte das weiße Pulver hinein. Er versiegelte den Beutel, schob ihn in seine Gesäßtasche. »Und der Rest?«

Kinga zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er alles genommen.« Ihre Stimme heiterte sich auf. »Vielleicht ist er daran gestorben.«

»Netter Versuch. Wo ist der Beutel oder die Schachtel oder worin auch immer es war?«

»Hab ich doch schon gesagt. Ich weiß es nicht.«

»Versuch’s noch mal.«

Sie zog den Morgenmantel fester zu. »Was soll das alles hier? Ich dachte, du wärst hier, um das hier in Ordnung zu bringen. Nicht, um mich zu beschuldigen, ich hätte Drogen genommen. Ich habe es dir doch schon mal gesagt, ich mag das Zeug nicht«, sagte sie mit vor Empörung lauter werdender Stimme. »Hör mal, ich weiß doch, was du von mir hältst. Ich mach das hier nur für ein paar Jahre, um meine Familie zu unterstützen und mir etwas Geld beiseitezulegen. Dann gehe ich nach London. Viele meiner Freunde sind schon dort. Ich suche mir einen anständigen Job in einer Anwaltskanzlei.«

Baltazár trat näher. Kinga war eine schlechte Lügnerin. »Davon bin ich überzeugt. Aber derweil kenne ich jemanden, der sechs Monate gekriegt hat, weil er einen einzigen Joint in der Socke hatte. Für Koks gibt’s mindestens das Doppelte, wahrscheinlich sogar das Dreifache. Und wenn es genug ist, um damit zu dealen, werden schnell Jahre draus.« Er hielt inne, sah ihr in die Augen. »Und deine juristische Laufbahn kannst du vergessen.«

Sie funkelte ihn an, ging zur obersten Schublade des Schränkchens, griff in eine Ecke ganz hinten, nahm einen kleinen transparenten Beutel heraus und händigte ihn wortlos aus. Er wiegte ihn auf seiner Handfläche. Mindestens zehn oder zwölf Gramm, Kokain im Wert von etwa 1.000 Euro. Der Preis einer Nacht in der VIP-Suite, wovon Kinga die Hälfte bekam. Er legte den Beutel auf das Schränkchen neben die Viagra-Pillen. »Willst du mir sonst noch was sagen?« Kinga schüttelte den Kopf, strengte sich an, Baltazár direkt anzusehen und seinem Blick standzuhalten. Zu schwer.

Baltazár sah den Toten wieder an. Etwas an ihm … Er trat näher ans Bett und betrachtete wieder die rechte Hand des Mannes. Er nahm erneut seinen Kuli heraus, hob das Handgelenk an und sah genauer hin. Er hatte recht. Das Fleisch des Mittelfingers war an der Wurzel eingedellt, ein heller, etwa einen halben Zentimeter breiter Streifen.

Baltazár senkte das Handgelenk des Toten wieder und drehte sich um. Kinga beobachtete ihn. Er fragte: »Echt jetzt? Von einem Toten?«

Sie bekam einen roten Kopf. »Aber ich hab nicht …«

Schweigend streckte er die Hand aus. Sie griff in die Tasche ihres Morgenrocks und reichte ihm einen großen Goldring mit einem gefassten Onyx in der Mitte. »Wer sollte davon was mitkriegen? Vielleicht ist er vom Finger gerutscht. Wir könnten ihn verkaufen und uns den Erlös teilen.«

Baltazár sagte nichts, legte den Kopf auf eine Seite, hielt die Hand immer noch ausgestreckt. »Versuchst du gerade, einen Polizisten zu bestechen? Das war nicht besonders klug von dir, Kinga, vor allem für eine Jurastudentin. Dieser Ring ist ein Beweisstück. Deine Fingerabdrücke sind jetzt drauf.«

Sie verzog das Gesicht. »Mist. Daran hab ich nicht gedacht. Kannst du ihn vielleicht abwischen?«

»Vielleicht. Erzähl mir, was passiert ist«, sagte Baltazár. »Und jetzt keinen Scheiß mehr.«

Kinga zuckte die Achseln. »Okay. Es war das Übliche eben. Er hat die Pillen eingeworfen, das Koks geschnieft. Wir haben’s ’ne Weile getrieben, nichts Besonderes. Dann ist er für ein paar Stunden eingeschlafen. Ich auch. Er hat mich geweckt, und wir haben weitergemacht.« Sie gestikulierte aufs Bett. »So was wie das da. Er hat einfach immer weiter und weiter gemacht. Mir tat schon langsam alles weh. Also hab ich die Welle gemacht. Normalerweise funktioniert das. Er hat gebrüllt, also hab ich fester gemacht. Dann fing er an zu stöhnen und zu zittern. Ich dachte, das ist es dann. Ich war erleichtert. Mir tat der Rücken weh.«

»Und danach?«, fragte Baltazár.

»Zuerst dachte ich, er wäre … du weißt schon, fertig. Er hat aufgehört, sich zu bewegen. So komplett. Er hat sich schwer angefühlt. Als ich mich umdrehte, lag sein Kopf auf meinen Schultern. Er sagte nichts und war auch ganz schlaff geworden. Ich bin unter ihm rausgerutscht. Er ist nach vorn gesackt, und so ist er dann geblieben.«

Sie lächelte und sah ihm in die Augen, ließ den Morgenmantel ein paar Zentimeter aufspringen. »Ich hab dich im Internet gesehen. Wie du den arabischen Terroristen auf dem Rákóczi út festgenommen hast. Das war irre.«

»Nein, war’s nicht. Das ist mein Job. Konzentrieren wir uns lieber auf das Hier und Jetzt, Kinga. Ein Mann ist über dir gestorben. War er nervös? Fahrig?«

Kinga sah, dass ihr Flirten zu nichts führte. Sie zog den Morgenmantel zu. Für einen Moment sah Baltazár sie als das, was sie war: ein Mädchen vom Dorf allein in der großen Stadt, wo ihr Sex-Appeal sie in tiefes und möglicherweise gefährliches Wasser gezogen hatte. »Hab ich ihn umgebracht?«, fragte sie nervös. »Sitze ich in der Klemme? Ich hab noch nie zuvor einen Freier umgebracht. Was denkst du?«

»Ich denke, du solltest aufhören zu reden. Geh, mach dich frisch und zieh dir was an.«

Er sah Kinga nach, als sie den Raum verließ, warf gedankenverloren erneut einen Blick auf den Toten und den feuchten Fleck auf dem Bettlaken. Nach drei Jahren bei der Budapester Mordkommission hatte er schon reichlich Leichen gesehen: erschossen, erschlagen, vergiftet, halb zerquetscht. Einmal hatte er einen Rumpf ohne Gliedmaßen gefunden. Die Demütigung des Todes, das jähe Aushöhlen eines Körpers, das schnell einsetzende Grau, die Leere, wo zuvor Leben gewesen und jetzt nur noch Stille war, das alles nahm ihn immer noch mit. Er sah wieder den toten Mann an, verspürte ein starkes Bedürfnis, ihn aufs Bett hinunterzudrücken, seinen Körper normal auszurichten. Die Haut des Toten verfärbte sich bereits violett, die Lippen und Fingernägel wurden farblos, während das Blut sich zurückzog. Baltazár sah auf seine Uhr. Es war zehn nach sechs. Eszter, die Geschäftsführerin des Bordells, hatte ihn vor einer Stunde angerufen. Das bedeutete, Abdi war mindestens seitdem tot. In etwa drei Stunden würde die Leichenstarre einsetzen. Vorher musste Abdi hier hinausgeschafft werden, bevor sein Körper arretierte und der jetzt noch erträgliche Geruch überwältigend wurde. Aber wohin?

Fürs Erste jedoch musste er herausfinden, wer Abdi war. Dieses Bordell fragte offensichtlich nicht nach den Namen der Freier, und die meisten bezahlten bar. Aber die meisten Menschen hatten auch irgendeine Art von Ausweis dabei. Baltazár öffnete eine Tür des Kleiderschranks. Ein blauer einreihiger Anzug hing an einem der Kleiderbügel, ein Hemd auf einem anderen. Er ging mit den Fingern durch die Hosentaschen. Keine Spur von einer Brieftasche. Der Stoff schimmerte teuer, aber Baltazár verstand nicht viel von Geschäftskleidung. Er selbst besaß einen Anzug, den er für seinen Uni-Abschluss bei Zara gekauft hatte, dann bei der Aufnahme zur Polizei und bei seiner Hochzeit getragen hatte und der danach mehr oder weniger unangetastet geblieben war. Aber die Art, wie sich der glatte dunkelblaue Stoff anfühlte, wie er durch seine Finger glitt, machte deutlich, dass es sich um ein teures maßgeschneidertes Stück handelte.

Er öffnete die Jacke, sah auf der Innenseite ein dezentes Seidenetikett, das für einen Schneider in der Savile Row warb, und lächelte in sich hinein. Dann war der Tote definitiv kein Rom: Baltazárs Leute bevorzugten bekannte Marken, um ihren Reichtum zu proklamieren, würden die entsprechenden Label wie Plaketten oder Schulterabzeichen tragen, wenn sie könnten. Aber da steckte etwas Steifes in der Brusttasche der Jacke. Er nahm es heraus und trat von dem Schrank zurück. Das Büchlein war ein Reisepass, geprägt mit arabischer Schrift. Er schaute auf den toten Mann und dann wieder auf die Fotoseite. Abdullah al-Nuri. Geboren in Saudi-Arabien, Staatsbürger von Katar. Er schaute wieder auf den Toten. Das war er, gar keine Frage. Baltazár atmete schwer aus. Mr. Nuri bedeutete Ärger. Damit meinte er Konsulate, Diplomaten, ausländische Regierungen, die nicht bestechlich waren. Und was, wenn hier ein Verbrechen vorlag? Das bedeutete, der Raum musste versiegelt, eine ordnungsgemäße Autopsie angeordnet, Spuren gesichert und zur Untersuchung ins Labor geschickt werden. Das alles konnte nicht heimlich gemacht werden. Und das wiederum bedeutete, die Aufmerksamkeit der ungarischen Behörden zu erregen.

Ein paar Minuten später ging die Tür auf, und Kinga kam wieder herein. Sie trug jetzt ein rosa T-Shirt und eine weit geschnittene blaue Baumwollhose, das Haar offen und das Gesicht abgeschminkt. Die Prostituierte war fort und ersetzt durch ein hübsches Mädchen vom Land. Kinga sah jung und unschuldig aus, was, so seine Vermutung, einen Teil ihres Reizes ausmachte.

»Warst du vorher schon mal mit ihm zusammen?«, fragte er.

»Nein.«

»Hast du ihn vorher schon mal gesehen?«

Kinga drehte ihr feuchtes Haar, trat näher. Sie duftete nach Seife und Shampoo. »Nicht hier.«

»Wo?«

»Du wirst es ihnen nicht sagen, hörst du? Dass ich auch noch hier arbeite?«

»Nicht, wenn du endlich aufhörst, in Rätseln zu reden«, erwiderte Baltazár.

Sorgenfalten traten auf Kingas Gesicht. »Ich möchte diesen Job wirklich nicht verlieren. Er ist sehr gut bezahlt. Und da muss ich nichts weiter tun als lächeln und Getränke servieren.«

Baltazárs Stimme verhärtete sich. »Kinga. Du hörst mir jetzt genau zu. In diesem Raum befindet sich ein Toter. Du warst die Letzte, die ihn lebend gesehen hat, du warst mit ihm zusammen, als er noch lebte. Wenn das hier offiziell wird, wirst du automatisch zur Tatverdächtigen. Tatsächlich sogar zur Hauptverdächtigen. Also sag mir jetzt, wo du ihn vorher schon mal gesehen hast.«

»Eine Verdächtige? Aber ich hab doch gar nichts getan.« Ihre Stimme wurde weinerlich. »Es ist nicht meine Schuld. Die haben gesagt, du würdest alles in Ordnung bringen. Und jetzt willst du mich verhaften.«

Baltazár trat einen Schritt vor. »Bitte beruhige dich wieder. Sag mir einfach, was passiert ist.«

»Aber das hab ich doch schon«, sagte sie beinahe flehend. »Das war’s, mehr weiß ich nicht. Ich schwöre. Weißt du, wer er ist?«

Sie sagte jetzt die Wahrheit, dachte Baltazár. Er hatte Kinga lügen sehen, was das Kokain betraf, und sie war keine besonders gute Lügnerin. Und sie hatte Angst. »Ja. Er heißt Abdullah al-Nuri. Also, je mehr du mir sagst, was du weißt, desto schneller können wir das hier regeln. Wo hast du Mr. Nuri das erste Mal gesehen?«

»Letzten Freitag. Ich war Hostess.«

»Hostess?« Dieses Wort hatte, das wusste Baltazár, in Budapest eine Vielzahl von Bedeutungen.

»Ja. Eine richtige Hostess«, sagte Kinga, jetzt wieder mit festerer Stimme. »Konversation machen. Mit Leuten plaudern. Ich spreche Englisch. Und Französisch. Es war ein Empfang für arabische Investoren.«

»Wo?«

»In der Königlichen Burg, im Burgpalast.«

Baltazárs beklommenes Gefühl verstärkte sich. Es gab nur eine Person, die diesen historischen Ort für Bewirtungen nutzen konnte. Der Anruf beim Rettungsdienst und der Spurensicherung würde definitiv warten müssen. »Wer hat diesen Empfang gegeben?«

Kinga lächelte stolz. »Der Ministerpräsident. Der andere. Pál Pálkovics.«

Zwei

Bimbó út, Buda, 6:15 Uhr

Einige Hügel vom Bordell entfernt, in einem Heimfitnessstudio am Bimbó út, prügelte Attila Ungar auf einen schweren schwarzen Sandsack ein, der von der Decke hing. Die schmetternden Gitarren, die wütenden Texte und das stampfende Schlagzeug von Árpád, Ungarns führender nemzeti (nationaler) Rockband, erfüllten den Raum, während der Sandsack hin und her schwang. Je mehr der Sänger über die Verräter von Trianon zeterte, die im gleichnamigen Vertrag vom Juni 1920 mehr als zwei Drittel des ungarischen Territoriums an sich gerissen hatten, und über die dreckigen komcsis – Slang für die Kommunisten –, desto härter drosch Attila auf den schweren Sack ein.

An diesem Morgen trainierte er Schläge auf unterschiedliche Distanzen: eine blitzschnelle Kombination von Jabs und Crosses mit vollständig ausgestreckten Armen, dann einige Haken und Aufwärtshaken aus kürzester Entfernung, bevor er sich nach links und rechts drehte, um eine Salve hoher Roundhouse-Kicks loszulassen, von denen schon einer allein die meisten Erwachsenen niederstrecken würde. Er schloss mit einem Sperrfeuer von Ellbogenschlägen ab, die den Sack hin und her schwingen ließen wie einen Gehängten im Sturm. Keuchend und schweißgebadet trat er zurück, trocknete sich mit einem Handtuch ab und trank fast einen Liter Wasser.

Attila war seit über fünf Jahren geschieden. Er lebte allein in einer geräumigen Wohnung in der obersten Etage eines vierstöckigen modernen Gebäudes in einem der vornehmsten Viertel von Buda. Die Wohnung kostete weit mehr, als er sich mit dem Gehalt eines Polizisten oder selbst eines Kommandanten der Gendarmerie hätte leisten können, aber niemand stellte unangenehme Fragen. Der weiß gestrichene Fitnessraum befand sich im kleinsten der drei Schlafzimmer. Seines war das größte, mit einem Kingsizedoppelbett, von dem eine Hälfte kaum benutzt wurde, außer wenn er eine teure Begleitagentur anrief. Es gab zwei kleinere Gästeschlafzimmer, eines davon mit einem großen Flachbildfernseher und einer Xbox sowie mehreren Schubladen voller Designerklamotten für einen sechzehnjährigen Jungen. Aber Attilas Sohn Henrik kam nur selten zu Besuch und hatte noch nie hier übernachtet. Monika, Henriks Mutter, hatte ihn auf eine progressive Schule unter deutscher Leitung geschickt, die nichts von der Disziplinierung auf Abwege geratener Schüler hielt. Attila hatte Henrik ein iPhone gekauft. Aber als sie sich das letzte Mal kurz in einem Park trafen, benutzte er immer noch ein altes Nokia. Zu Attilas Entsetzen trug er ein T-Shirt mit der Regenbogenflagge. Oft nahm er die Anrufe seines Vaters nicht an und rief ihn auch nur selten zurück.

Ein Regal mit freien Gewichten stand in einer Ecke des Fitnessraums, ein Laufband auf der anderen Seite. Ein kleines Waschbecken und eine Arbeitsfläche befanden sich neben dem Boxsack. Attila ließ das kalte Wasser laufen, hielt die Hände hinein und spritzte sich Gesicht und Hals ab, bevor er sich wieder abtrocknete. Er warf einen Blick auf den Mixer auf der Arbeitsfläche, dessen Glaskrug zu einem Drittel mit braunen, glitschigen Brocken gefüllt war, die neben blassen Fetzen in einer weißen Flüssigkeit herumschwammen. Der Frühstückssmoothie – Hühnerleber und Haferflocken in Milch und Joghurt – konnte warten.

Der Großteil einer Wand war mit einer überdimensionalen Reproduktion eines Plakats bedeckt, das einige Monate zuvor überall in der Stadt aufgetaucht war, als die Regierung ankündigte, dass die Gendarmerie, die Nationalpolizei der Vorkriegszeit, wieder aufgebaut werden sollte. Das Schwarz-Weiß-Plakat zeigte eine Gruppe von Gendarmen zu Pferd, die ihre typischen mit Kokarden verzierten Hüte trugen und im Frühjahr 1944 in einem Dorf eine Gruppe Juden zusammentrieben. Die Gendarmen lachten, die Juden wirkten verängstigt. Auf dem Foto waren in fetter schwarzer Farbe die Worte zu lesen: »Keine Rückkehr zu 1944, Nein zur neuen Gendarmerie.« Doch das Plakat, Teil einer Kampagne von Aktivisten und Oppositionspolitikern aller politischen Richtungen, hatte nichts gebracht. Die neue Gendarmerie war seit etwa einem Monat auf den Straßen, und es gingen bereits Beschwerden von Menschenrechtsgruppen über ihre harte Vorgehensweise ein. Kaum jemand ging davon aus, dass die Beschwerden viel bewirken würden – die Gendarmerie mit ihrem schwammigen Mandat, die »nationale Ordnung zu schützen« und »die Würde der Regierung und der ungarischen Nation zu hüten«, unterstand unmittelbar dem Ministerpräsidenten. Die üblichen Aufsichtsbehörden – der Ombudsmann, der parlamentarische Menschenrechtsausschuss – besaßen keinerlei Befugnisse über die neue Polizeiorganisation.

Attila füllte eine Wasserflasche und ging hinaus auf die lange umlaufende Terrasse, die den größten Teil der Wohnung umgab. Dort stand er einige Augenblicke mit geschlossenen Augen, genoss die kühle, frische Luft und wartete, bis sein Puls sank und seine Atmung ruhiger wurde. Die modernen, brutalistischen Blöcke des Déli pályaudvar, des Südbahnhofs von Budapest, erstreckten sich in der Mitte des niedrigen Geländes, weiter im Stadtzentrum, und die Bahngleise breiteten sich aus wie die Gliedmaßen eines Kraken. Für einen Moment war er wieder ein achtjähriger Junge, der mit dem Zug von Déli nach Siófok am Südufer des Balatons, des Plattensees, fuhr, aufgeregt und überglücklich, dass er zum ersten Mal zusammen mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder im Urlaub war. Bis die Erinnerung wie immer in eine Vision seines Vaters Zénó abrutschte, der betrunken im Hotel saß, die Regierung, die kommunistische Partei, das ganze stinkende System beschimpfte, seinen Teller auf den Boden knallte, bis der Manager drohte, die Polizei zu rufen, wenn sie nicht zahlten und sofort abreisten. Das taten sie und kehrten zurück nach Hause auf die Insel Csepel am Stadtrand von Budapest. Danach gab es keinen Urlaub mehr. Sein Vater wurde am nächsten Tag im Morgengrauen verhaftet. Sie sahen ihn sechs Monate lang nicht, hörten nur Gerüchte, dass er in einer der Villen hoch in den Bergen gesehen worden war, wohin politische Unruhestifter gebracht wurden. Zénó kehrte als gebrochener Mann nach Hause zurück. Innerhalb von zwei Jahren hatte er sich zu Tode gesoffen.

Und wenn seine Eltern gelebt hätten, fragte sich Attila, wären sie für ihn da gewesen? Wenn er in einem richtigen Zuhause aufgewachsen wäre, selbst wenn es in einer kargen Plattenbauwohnung gewesen wäre, statt in einem staatlichen Waisenhaus, würde dann immer noch eine solche Wut in ihm brennen? Er beobachtete den morgendlichen Verkehr in die Stadt und trank das restliche Wasser, als sein Mobiltelefon klingelte. Schnell ging er hinein und nahm das Telefon in die Hand. Der Anruf war kurz, vielleicht dreißig Sekunden lang. Attila nickte, als er zuhörte, dann schrieb er eine Adresse auf und ging hinüber zum Mixer. Dort drehte er den Schalter auf Puls und sah zu, wie die braunen Klumpen förmlich explodierten und immer wieder Blut gegen das Glas spritzte, während rote Fäden innen an den Seiten herunterliefen und die Flüssigkeit sich in einen glatten braunen Brei verwandelte.

Lóczy Lajos utca, 6:30 Uhr

Baltazár drehte sich um, als sich die Tür der VIP-Suite öffnete und Eszter hereinkam. Die Geschäftsführerin des Bordells war eine Romni in den Fünfzigern, deren langes schwarzes Haar mit silbergrauen Strähnen durchzogen war. Sie trug eine himmelblaue Bluse zu einer schicken marineblauen Hose und hatte die forsch-dreiste Ausstrahlung eines Bankdirektors, der gleich einen Darlehensantrag ablehnen wird. Ihre dunkelbraunen Augen hatten schon zu viel gesehen, um noch über die Wechselfälle der menschlichen Natur schockiert zu sein. Sie betrachtete den toten Mann auf dem Bett, schürzte die Lippen und atmete dann aus. »Er ist immer noch da«, sagte sie mit nach jahrelangem Zigarettenkonsum heiserer Stimme.

»Der wird nirgendwo mehr hingehen«, sagte Baltazár.

»Nein. Ich denke nicht.« Sie ging um das Bett herum, betrachtete den Toten aus verschiedenen Blickwinkeln. »Sollten wir ihn nicht flach hinlegen? So ist das nicht besonders … würdevoll.«

Baltazár schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz sicher nicht. Fassen Sie ihn nicht an. Wir wissen noch nicht, woran er gestorben ist.«

Eszter war früher selbst eine örömlány, eine Dirne. Anders als viele ihresgleichen hatte sie weder Drogen genommen noch war sie in die Kleinkriminalität abgerutscht. Sie war es gewohnt, mit Krisen fertigzuwerden. Angesichts der Natur ihres Geschäfts und auch der menschlichen Natur waren sie zu erwarten. Drohungen, Taschendiebstahl durch Prostituierte, Freier, die versuchten, ihre Rechnung nicht zu bezahlen und sich über den Service beschwerten, ja sogar gelegentliche Gewaltausbrüche, all das ließ sich regeln, vertuschen, mit ein paar Geldscheinen, Gratisbesuchen oder mit Drohungen weiterer Gewaltanwendung aus der Welt schaffen. Ein Toter jedoch war erheblich kniffliger, vor allem wenn es ein Ausländer war.

Eszter sah Baltazár an. »Er ist keiner von uns, oder?«

Baltazár schüttelte den Kopf. »Nein. Weder Rom noch Ungar.«

»Und wer ist er dann?«

»Sein Name ist Abdullah al-Nuri.«

Eszter verzog das Gesicht. »Das ist ein Problem.«

Die Tür öffnete sich erneut. Ein stämmiger Rom kam herein, gefolgt von einem zweiten, der noch übergewichtiger war.

»Jó reggelt kívánok, bátyam – guten Morgen, mein älterer Bruder«, rief Gáspár Kovács mit einer Stimme wie Schotter aus, als er Baltazár umarmte. Baltazár inhalierte Gáspárs vertrauten Duft: Schweiß und Tabakrauch überlagert mit dem Geruch von kajszibarack hazipálinka – selbst gebranntem Aprikosenschnaps, den sie von einem Verwandten auf dem Land hatten. Dann trat er einen Schritt zurück und musterte ihn von oben bis unten. Wahrscheinlich war Gáspár die ganze Nacht auf gewesen, sah aber aus, als würde der Abend gerade erst anfangen. Seine langen schwarzen Haare hatte er zurückgegelt. Er trug das für ihn typische schwarze Seidenhemd, das fast bis zum Bauchnabel offen war und locker über seiner beträchtlichen Wampe hing, eine dicke Goldkette und eine schwarze glänzende Trainingshose über rot-weißen Kanye-West-Turnschuhen, die 500 Euro das Paar kosteten. Seine braunen Augen, die tief in seinem teigigen Gesicht lagen, waren klar, wenn man von der leichten Rötung an den Rändern absah.

Die beiden Männer küssten sich viermal, zweimal auf jede Wange, während der zweite Mann zuschaute. Gáspár zeigte auf den Toten. »Keine schlechte Art zu gehen.«

»Kommt ganz drauf an«, erwiderte Baltazár.

»Worauf?«

»Wenn jemand nachgeholfen hat. Deshalb haben wir dich gebeten, zu kommen und mal einen Blick drauf zu werfen.« Die beiden Brüder sahen sich in die Augen.

»Danke, bátyam«, sagte Gáspár, dessen Stimme jetzt ernst war. Gáspár drehte sich zu Eszter und Kinga um und begrüßte sie, diesmal begleitet von einer leichten Verbeugung. Der dicke Vik trug wie üblich sein zu großes weißes T-Shirt und eine graue Trainingshose. Er war noch dicker als Gáspár und hatte eine Glatze, auf der ein feiner Schweißfilm schimmerte. Beide Männer atmeten schwer. Abgesehen von einer gelegentlichen Schlägerei hatte keiner von beiden sich mehr sportlich betätigt, seit sie die Schule verlassen hatten. In dem Haus gab es keinen Fahrstuhl, und die VIP-Suite befand sich ganz oben, im dritten Stock.

Kinga gähnte und wandte sich Baltazár zu. »Werd ich noch gebraucht?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du kannst nach Hause gehen. Aber halt dich in der Nähe und schalte dein Telefon nicht aus.« Die vier warteten, bis Kinga gegangen war.

Gáspár sah Eszter an. »Was soll das ganze Theater? Ist doch nicht das erste Mal, dass ein Freier den Löffel abgibt. Dafür zahlen wir dem Rettungsdienst und den Sanitätern eine Pauschale.«

»Weil ich dachte, er ist Ausländer, und ich hatte recht«, sagte Eszter. »Wenn wir hier einen Ausländer verlieren, musst du das wissen.«

Gáspár zuckte die Achseln. »Okay, dann ist er also Ausländer. Das macht es etwas komplizierter.« Er sah Baltazár an. »Was meinst du, wie lange wird das dauern?«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Darauf, was ›das hier‹ ist. Warum, ocsim, mein kleiner Bruder – hast du es eilig?«

Gáspár warf einen Blick auf seine Uhr, eine vergoldete Rolex. »Also eigentlich, ja.«

»Und warum?«, fragte Baltazár, obwohl er vermutete, die Antwort bereits zu kennen.

Gáspár zuckte die Schultern. »Viel zu tun heute, batyam.«

»Wie viele?«, fragte Baltazár.

»Genug. Genug, dass es sich lohnt. Keine Angst, Tazi. Alles vorbereitet. Die Grenze ist jetzt offen. Man hat jetzt freie Fahrt bis nach Wien. Nem lesz semmí baj. Es wird keine Probleme geben.« Gáspár drehte sich wieder zu dem Toten. »Unterdessen müssen wir das hier regeln.«

Baltazár wandte sich an Eszter. »Hast du die Aufnahmen der Überwachungskameras?«

Sie antwortete nicht direkt, warf Gáspár einen fragenden Blick zu. Er nickte. »Ja«, sagte Eszter. »Das Übliche. Vor dem Haus. Der Eingang.«

»Mit Zeitcode?«, fragte Baltazár. »Dem richtigen Zeitcode?«

Ester nickte. »Ja.«

»Die Korridore? Die Zimmer?«

Baltazár bemerkte, wie eine leichte rosa Tönung auf Eszters Wangen auftauchte. Sie senkte ein paar Sekunden den Blick. Er sah wieder Gáspár an, der immer noch nichts sagte. Baltazár hielt dem Blick seines jüngeren Bruders stand. Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Sie waren noch Jungs, kaum älter als zehn, alberten auf dem Spielplatz auf dem Platz der Republik herum, nicht weit von da, wo sie im Roma-Ghetto im VIII. Bezirk aufwuchsen. Baltazár drehte sich einen Moment fort, um einem Mädchen nachzusehen, das er mochte, als sie mit ihrer Schwester vorbeiging. Als er sich wieder umdrehte, hatten zwei Raufbolde aus diesem Viertel Gáspár mit dem Gesicht nach unten in den Sandkasten gedrückt. Sein Bruder wehrte sich und kämpfte, aber sie waren zu zweit, beide schwerer und stärker. Baltazár wirbelte herum und trat einem in die Rippen, beugte sich vor und boxte dem anderen seitlich gegen den Kopf. Sie ließen von Gáspár ab, jaulten vor Schmerz und liefen weg. Das war vor über zwanzig Jahren. Heute war sein jüngerer Bruder der mächtigste Zuhälter der Stadt, leitete eine ganze Reihe von Bordellen – manche im gehobenen Segment wie dieses hier, andere eher weniger –, mehrere Bars mit Lapdance und ein Netz von Frauen auf dem Straßenstrich. Aber weder er noch Eszter konnten Baltazár anlügen. Zum Teil, weil es der strenge Kodex von Familienloyalität nicht erlaubte, aber auch, weil Baltazár es sofort gemerkt hätte.

Gáspár lächelte. »Falls wir hier filmen würden, wozu würdest du das brauchen?«

Baltazár deutete auf den Toten. Er hielt es für sehr wahrscheinlich, dass in allen Zimmern Kameras versteckt waren. Mehrere Polizeibeamte der Gegend und ein paar Ratsmitglieder durften den Palast gelegentlich kostenlos nutzen. Sie in voller Action zu filmen dürfte die beste Versicherung gegen zukünftige Schwierigkeiten sein. »Ich bin Beamter der Budapester Mordkommission. Das ist mein Job. Würdest du es nicht wissen wollen, wenn jemand deine Kundschaft abmurkst? Und welchen Grund das haben könnte?«

»Also«, sagte Eszter, »ich würde es ganz bestimmt wissen wollen, Gáspár.«

Gáspár sah Baltazár an. »Wie viel brauchst du?«

»Die letzten zwölf Stunden.« Er gähnte wieder und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz durch seinen Kiefer schoss. Schnell schloss er den Mund. Die Schmerzen von der Schlägerei vor dem Keleti am Freitag zuvor ließen nach, aber bei Gelegenheiten wie dieser, wenn er müde war, flammten sie wieder auf. Streng genommen war er seit einer Stunde auf, aber tatsächlich hatte er kaum geschlafen. Der Traum war wieder da, jede einzelne Nacht seit den Ereignissen des vergangenen Wochenendes. Als er auf dem Rücken im Bett lag und der nahende Sonnenaufgang den Himmel zu erhellen begannen, war Eszters Anruf fast schon eine Erleichterung gewesen.

»Okay.« Gáspár wandte sich an Eszter. »Gib’s ihm.« Er rieb sich den Nacken. »Ich brauche eine Massage.«

Der dicke Vik lachte. »Da bist du hier ja genau richtig, brát.«

Gáspár ließ seinen Kopf kreisen, wieder und wieder. »Nicht so eine. Eine richtige Massage.«

»Tatsächlich«, meinte Eszter, »machen wir die auch.«

Gáspár lachte. »Danke. Aber ich hab’s heute eilig.« Er sah Baltazár an. »Diese Aufnahmen. Die bleiben hier, oder? Denn du bist ja schon überall im Internet. Ich möchte nicht, dass es dem Laden hier genauso ergeht.«

»Natürlich nicht, ocsim. Wo ist die Kamera?«

Gáspár schaute zur Lampe auf.

»Welche?«

Gáspár zeigte auf einen der stählernen Arme. Baltazár sah auf. Er unterschied sich in nichts von den anderen. »Clever.«

»Und was jetzt?«, fragte Gáspár.

»Ich denke nach.« Baltazár ging zum Fenster hinüber, schloss die Augen, atmete die saubere Herbstluft in tiefen Zügen ein und atmete durch die Nase wieder aus. Die Brise duftete nach verbrannten Blättern und gemähtem Gras, nach den letzten Tagen des Sommers. Ein Brummen erklang in der Ferne, wurde lauter und legte sich über das Summen des weit entfernten Verkehrs, verklang dann aber wieder. Er rieb sich die Augen und öffnete sie. Buda breitete sich vor ihm aus, sanfte grüne Hügel übersät mit den roten Dächern von Villen, früher mal imposante Herrenhäuser, heute in einzelne Wohnungen aufgeteilt, dazwischen elegante neue Apartmenthäuser mit Sonnenkollektoren auf den Dächern. Die Stadt wurde vom Fluss in zwei Hälften geteilt. Das flache, urbane Pest auf der einen Seite und das grüne Buda auf der anderen. Er war hier geboren und hatte sein ganzes Leben in derselben Stadt verbracht, aber das üppige Rózsadomb, der Rosenhügel, war eine andere Welt verglichen mit den schmalen Gassen, dunklen Innenhöfen und kleinen Seitenstraßen von Józsefváros, wo er aufgewachsen war.

Wieder sah er den toten Mann an. Abdullah al-Nuri. Nachdem er nun einige Zeit in dem Raum gewesen war, hatte sich das Bild in seinem Kopf festgesetzt. Baltazárs Bauch sagte ihm eindeutig, dass nichts hier Zufall war – und genauso wenig war es eine gute Nachricht. Wenn jemand Nuri beseitigen wollte, dann hatte er sich große Mühe gegeben, dafür zu sorgen, dass er in Gáspárs Bordell starb.

Baltazár drehte sich um. Sein Bruder und der dicke Vik standen da und starrten ihn an, als besäße er den Schlüssel, mit dem man Komplikationen und Schwierigkeiten verschwinden lassen könnte. Manchmal war das so. Aber er kannte auch die Grenzen seines Netzwerks, seine Fähigkeit, mit dem System zu spielen, ungelegene Dinge verschwinden und an einem geeigneteren Ort wiederauftauchen zu lassen. Er kannte einen Menschen, der definitiv von dieser Sache wissen wollte und der ihnen vielleicht auch helfen könnte.

»Was jetzt?«, fragte Gáspár.

»Ich muss kurz telefonieren«, antwortete Baltazár.

Drei

Flughafen Budapest Liszt Ferenc, 6:40 Uhr

Der Polizeibeamte schob seinen Pass in ein Lesegerät und starrte mehrere Sekunden lang auf den Monitor. Márton Rónay sah sich um, während er wartete. Bis heute war Berlin der am weitesten östlich gelegene Ort, in dem er je gewesen war. Diese Stadt lag viel näher an Polen, als er gedacht hatte, gehörte aber immer noch zu Deutschland, der zivilisierten westlichen Hälfte des Kontinents. Jetzt befand er sich im Osten, in einem Land, das an die Ukraine und Rumänien grenzte, fast auf dem Balkan lag. Einen Moment lang dachte er an seine Großtante in New Jersey, an die Geschichten, die sie über das »alte Land« erzählte: die Belagerung während des Krieges und der Hunger, die wilden Jugendlichen, die durch die Stadt streiften, die Nächte, die von Schüssen zerrissen wurden, der Bruder, der im Winter 1944, als die Russen vorrückten, Brot holen ging und nicht mehr nach Hause kam.

Doch das war über siebzig Jahre her. Der Kommunismus war 1990 zusammengebrochen. Ungarn war heute eine Demokratie, Mitglied der NATO und der Europäischen Union, aber dennoch war diese makellose Modernität nicht ganz das, was er erwartet hatte. Die Ankunftshalle hatte einen polierten cremefarbenen Marmorboden, weiße Wände und eine Reihe Glaskabinen, in denen die Polizeibeamten saßen. Eine beleuchtete Werbetafel zeigte eine Abfolge von Fotos von Ungarn – er erkannte die Kettenbrücke und den Balaton. Auf einer anderen waren attraktive junge Menschen zu sehen, die mit ihren iPhone X telefonierten oder vergnügt Geld auf Internetbankkonten bewegten. Selbst die Toiletten, von denen er gerade erst eine benutzt hatte, waren makellos. Die Schlange vor der Einreiseabfertigung bewegte sich schnell, zumindest verglichen mit jedem amerikanischen Flughafen, auf dem er je gewesen war. Und dann war da der Mann, der seinen Pass durchblätterte. Der Polizeibeamte war vermutlich Ende zwanzig. Er trug ein hellblaues Uniformhemd, unter dem sich seine breiten Schultern abzeichneten. Schlaffe braune Haare fielen über kühle, prüfende haselnussbraune Augen. Márton schaute auf den Namen auf seinem Hemd: Szilágyi Ferenc, in ungarischer Schreibweise mit dem Familiennamen zuerst. Willkommen in Ungarn, in der Tat.

Ferenc machte die Verspätung fast wieder wett. Er sah auf jeden Fall besser aus als der fette Mexikaner oder was auch immer, der ihn am JFK aus der Schlange herausgezogen, in einen dreckigen Nebenraum geführt, ihn gezwungen hatte, seine Taschen und seinen Rucksack auszupacken, und ihm gefühlte hundert Fragen darüber gestellt hatte, warum er nach Ungarn reisen wollte.

Márton spürte den Blick des Polizisten auf sich, unterdrückte ein Gähnen. Er war erschöpft. Er war in Frankfurt umgestiegen und hatte einen kurzen problemlosen Flug von einer Stunde erwartet. Der Flug war pünktlich abgeflogen und gelandet, aber nach der Landung in Budapest waren alle Passagiere mehr als eine halbe Stunde auf dem Rollfeld aufgehalten worden. Irgendein Problem damit, eine Treppe zu bekommen, hatte der Kapitän gesagt. Márton hatte von seinem Fensterplatz aus beobachtet, wie das Gepäck aus dem Frachtraum ausgeladen und auf Trolleys verladen wurde, bevor man es wegfuhr, obwohl er seinen Koffer nicht darunter entdecken konnte. Er rieb sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Der Druck hinter seinen Augen nahm zu, das Band der Spannung breitete sich aus. Es war definitiv der Beginn von Kopfschmerzen, hoffentlich keine ausgewachsene Migräneattacke mit Sternschnuppen und Lichtexplosionen.

Der Polizist nahm seinen Pass vom Lesegerät und hielt ihn weiter in der Hand. »Was ist der Zweck Ihres Besuchs, Mr. Márton?«, fragte er mit selbstbewussten, klaren Augen. »Geschäftlich oder privat?«

Márton versuchte, seinen Blick zu deuten. Energisch, höflich, professionell. War da noch etwas anderes? Gab es in Ungarn einen Schwulenradar? Bestimmt. Das war ein universeller Mechanismus. »Beides. Ich habe einige Meetings. Aber ich werde mir auch das eine oder andere ansehen«, antwortete er in fließendem Ungarisch. Er hielt inne, lächelte hoffnungsvoll. »Vielleicht können Sie mir einen Guide empfehlen?«

Der Polizist starrte weiter auf Mártons Pass, sein hübsches Gesicht wirkte teilnahmslos. Márton lächelte und nahm seinen Mut zusammen. Selbst wenn er sich irrte, was hatte er schon zu verlieren? Er beugte sich vor. »Oder vielleicht haben Sie auch etwas Zeit. Es ist immer viel besser, wenn ein Einheimischer einem seine Lieblingsorte zeigt.«

Der Polizist erwiderte das Lächeln nicht. »In der Ankunftshalle finden Sie eine Touristeninformation. Dort kann man Ihnen helfen.«

Márton nickte. Ein Schlag ins Wasser. Aber er war noch keine Stunde im Land. Es würde noch viele weitere Gelegenheiten geben, davon war er überzeugt. Ferenc sprach weiter. »Sie sprechen sehr gut Ungarisch. Sie haben einen ungarischen Familiennamen. Haben Sie Verwandte hier?«

Márton hielt eine Sekunde lang inne. Ja, hatte er, aber keine, die er zugeben wollte, und er dachte ganz sicher nicht daran, Ferenc das zu sagen, egal wie gut er aussah. »Meine Eltern haben 1956 das Land verlassen. Zu Hause haben wir Ungarisch gesprochen. Ich habe noch einige entfernte Cousins hier«, sagte er. »Sie kennen uns Magyaren. Wir sind überall. Erobern die Welt.«

Das entlockte zumindest den Hauch einer menschlichen Antwort. Ferenc schien fast lächeln zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren. Er trat von der Glasscheibe zurück, drehte sich kurz zur Seite und kritzelte etwas auf einen Notizblock. Er wandte sich wieder Márton zu, stempelte seinen Pass ab und schob ihn unter das Glas. »Willkommen in Ungarn, Mr. Márton.«

Einen Moment lang überlegte Márton, ihn auf seinen Fehler aufmerksam zu machen, dann besann er sich eines Besseren. Der nächste Passagier hatte sich bereits hinter ihm in Bewegung gesetzt. Er nahm seinen Pass und ging zur Gepäckausgabe. Ein Schwall von Gepäckstücken – überfüllte Rucksäcke, Koffer, die in durchsichtiges Plastik eingewickelt waren, um Langfinger abzuschrecken, schwarze Trolleys, mit Klebeband umwickelte Pappkartons – ergoss sich auf das zweite Gepäckband. In der Halle wimmelte es von Familien, Geschäftsleuten, die auf ihren Smartphones herumtippten, Einzelreisenden und einer Gruppe koreanischer Touristen, die von ihrem Reiseleiter, der eine kleine koreanische Flagge hochhielt, angeführt wurden. Ein Baby fing an zu heulen. Nach etwa einer Minute sah Márton, wie seine Tasche, ein teurer schwarzbrauner TUMI-Trolley, auf das sich drehende Band rutschte. Márton schob sich an mehreren Koreanern vorbei, nahm sein Gepäck, zog den Griff heraus und ging hinter einem glatzköpfigen, schlaksigen Geschäftsmann in schwarzem Anzug durch den grünen Ausgang für Passagiere, die nichts zu verzollen hatten. An den Wänden waren auf beiden Seiten große halb durchlässige Spiegel angebracht. Ein Plakat warnte davor, Haustiere, Pflanzen oder Fleischprodukte ohne Papiere einzuführen. Er achtete auf einen ruhigen Schritt und versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu ignorieren.

Ein gelangweilt wirkender Zollbeamter, ein hochgewachsener Mann in den Fünfzigern mit hängenden Schultern, beobachtete die vorbeigehenden Geschäftsleute. Er drehte sich um und taxierte Márton von oben bis unten. Márton erwiderte seinen Blick für ein paar Sekunden und schaute dann nach vorn. Der Ausgang befand sich auf der rechten Seite, zwei Glastüren, die sich automatisch öffneten. Tief durchatmen, sagte er sich, du hast es fast geschafft, und du hast nichts Verbotenes bei dir. Das gefährliche Zeug befindet sich in deinem Kopf, und es gibt keine Zollbeamten auf der Welt, die dort herankommen können. Die Türen öffneten sich. Eine niedrige Barriere aus gebürstetem Aluminium leitete die eingetroffenen Passagiere in den Ankunftsbereich. Er ging in das Gedränge hinein, und die Müdigkeit erwischte ihn voll. Ein junges Paar fiel übereinander her und küsste sich hungrig, eine Mutter in den Vierzigern umarmte einen schlaksigen, verlegen wirkenden Teenager und weinte. Man hatte Márton gesagt, dass der Fahrer, ein Mann namens László, auf ihn warten würde, dass er ihn erkennen und ihn direkt in die Wohnung bringen würde. Ein drahtiger Mann Ende zwanzig in einem schlecht sitzenden Jeanshemd und mit einer Nase, die aussah, als sei sie gebrochen worden, kam auf Márton zu. Er lächelte selbstbewusst und zeigte eine Reihe schiefer Zähne. »Willkommen in Ungarn. Wie war Ihr Flug?«, fragte er in stark betontem Ungarisch.

»Sind Sie László?«, fragte Márton.

»László, ja, ja, László«, erwiderte der Mann, »Sie müssen viel müde sein. Keine Sorge, ich werde mich um alles kümmern. Hotel, alles.« Márton zögerte einen Moment. Was sollte dieses Gerede von einem Hotel?

»Ich brauche kein Hotel. Ich gehe direkt in die Wohnung«, sagte Márton.

Der Taxifahrer nickte, griff nach Mártons Tasche. »Wohnung, ja, ja. Alles vorbereitet. Sehr schöne Wohnung Innenstadt.«

Márton wollte ihm schon sein Gepäck geben, als er das Schildchen auf der Brust des Mannes sah. Der »Offizielles Taxi«-Ausweis war ganz eindeutig zu Hause gedruckt worden, mit dem unscharfen Foto des Mannes in einer Plastikhülle, wie sie von Konferenzteilnehmern benutzt wurden. Der Name darunter lautete Kiss Sándor. Márton ließ seine Tasche nicht los, schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, vielen Dank.«

Das Lächeln des Taxifahrers verblasste. Er deutete auf seinen Ausweis. »Wo ist Problem, Mister? Ich Offizielles Taxi.«

Wieder griff er nach Mártons Tasche, Márton zog sie fort, trat einen Schritt zurück, während das Adrenalin durch seine Erschöpfung schnitt, und wollte schon anfangen zu debattieren, als ein anderer Mann auftauchte. Er war älter, in den Vierzigern, hatte raspelkurzes stahlgraues Haar und blaue Augen. Er trug eine gut geschnittene braune Lederjacke, einen schwarzen Rollkragenpullover und saubere Jeans und bewegte sich mit einer selbstbewussten Leichtigkeit. Der erste Taxifahrer musterte ihn von oben bis unten, wägte seine Optionen ab. Der Mann in der Lederjacke beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme. Der erste Taxifahrer hörte sofort auf zu reden, entfernte sich und suchte die Ankunftshalle nach leichterer Beute ab.

Der Mann in der Lederjacke streckte seine Hand aus. »Mr. Márton. Entschuldigen Sie das gerade bitte, hier wimmelt es nur so von Schakalen. Ich bin László. Aber Sie können mich Laci nennen.«

Keiner von ihnen bemerkte den hochgewachsenen Geschäftsmann, der ihr Gehen beobachtete und dann telefonierte.

Lóczy Lajos utca, 7:20 Uhr

Baltazár, Gáspár und der dicke Vik standen hinter Eszter an ihrem Schreibtisch, während ihre Finger über die silbern-weiße Apple-Tastatur segelten, um das Programm aufzurufen, mit dem die hausinterne Videoüberwachung gesteuert wurde. Das Büro befand sich am Ende eines Ganges im Erdgeschoss mit Blick auf einen großen Garten. Eszters Arbeitsplatz war aufgeräumt und gemütlich. Die Wände waren in einem hellen Rosa gestrichen, das Stäbchenparkett auf dem Fußboden war in einem diagonalen Muster verlegt. Ein cremefarbenes Sofa mit einer in Regenbogenfarben gemusterten Decke über der Rückenlehne nahm fast eine ganze Ecke ein. In der anderen Ecke stand eine große Yuccapalme. Das Fenster war offen, eine sanfte Brise wehte herein. Der Garten wurde nur von Eszter und ihren örömlányok zwischen den Kundenbesuchen benutzt, war aber dennoch sehr gepflegt, die Rasenkanten sauber getrimmt und mit Rosensträuchern gesäumt. Drei Gartenliegen aus Holz und Rattan standen in der Mitte des Rasens gruppiert um einen niedrigen Couchtisch. Ein gerahmtes Foto, dessen Farben verblassten, zeigte zwei Jungs von vielleicht acht oder neun Jahren, beide in den grün-weißen Trikots von Ferencváros, einem der bekanntesten Fußballklubs der Stadt, die in die Kamera lächelten.

Eszters Söhne waren inzwischen neunzehn: Einer, Miki, saß im Gefängnis, nachdem er dabei erwischt worden war, wie er Leute in der Straßenbahn der Linie 2 bestohlen hatte; der andere, Pál, stand kurz vor seinem Abschluss auf dem Gymnasium, war nie in Schwierigkeiten geraten, wenn man von ein paar Spielplatzschlägereien absah, nachdem er verspottet worden war. Gymnasiale Abschlüsse von Roma-Teenagern waren immer noch selten genug, sodass sie nach einer riesigen Familienfeier verlangten. Einen Moment lang fragte sich Baltazár, ob er wohl eingeladen würde. Eszter, da war er sicher, würde sich freuen, ihn zu sehen. Das Gleiche galt für seine Mutter Márta. Das Problem war sein Vater. László hatte sämtliche Beziehungen zu Baltazár gekappt, nachdem dieser zur Polizei gegangen war. Die beiden hatten seit über acht Jahren nicht mehr direkt miteinander gesprochen, obwohl verschiedene Verwandte mitunter benutzt wurden, um Nachrichten über Familienangelegenheiten und Alex, Baltazárs zwölfjährigen Sohn, auszutauschen.

Baltazár beobachtete Eszter bei der Arbeit, sein Blick wanderte über ihren Schreibtisch. In einem Becher befanden sich mehrere Kulis und Bleistifte, drei gestapelte Körbe waren mit ordentlich abgeheftetem Bürokram gefüllt. Das Bordell wurde als legales Geschäft geführt, als ein Day-Spa, obwohl Eszter eine doppelte Buchführung machte. Die erste befand sich auf dem Computer mit Standard-Office-Software. Eszter verbuchte etwa die Hälfte der Einnahmen des Hauses in Excel-Spreadsheets und führte dafür Steuern ab. Die zweite Buchhaltung mit Aufzeichnungen der tatsächlichen Geldbewegungen wurde handschriftlich in einem Hauptbuch geführt, das in einem Safe aufbewahrt wurde, der in den Fußboden eingebaut war. Das Bordell akzeptierte sogar Kreditkarten, auch wenn, wenig überraschend, die meisten Freier Bargeldzahlung bevorzugten.

Eszter lehnte sich zurück und starrte einen Moment auf den Bildschirm. Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Was ist?«, fragte Gáspár.

Sie tippte wieder mehrmals auf der Tastatur. »Nichts, glaube ich. Das Programm hängt einfach nur. Moment …«

Die linke Bildschirmhälfte füllte sich plötzlich mit den Bildern von einem halben Dutzend Kameras. Gelbe Zahlen am unteren Rand jedes Fensters zeigten das aktuelle Datum und die Uhrzeit. Die Kameras deckten den Eingangsbereich, den Bürgersteig draußen vor dem Haus, das Foyer, den Korridor im Haus, die Rückseite des Hauses und den Garten und die VIP-Suite ab. Baltazár sah mehrere Sekunden auf den Bildschirm – alle Kameras schienen zu funktionieren. Die Kamera der VIP-Suite zeigte ein zerwühltes und jetzt leeres Bett, eine andere das Foyer. Er warf einen Blick auf die Kamera, welche die Straße draußen aufzeichnete: Ein Jogger lief bergab vorbei – ein magerer, kahl werdender Mann, der aussah wie in den Fünfzigern und ein weißes Nike-T-Shirt und graue Shorts trug.

Der private Rettungswagen war, kurz nachdem Baltazár seinen Anruf gemacht hatte, eingetroffen. Sie alle hatten schweigend zugesehen, wie die Sanitäter schnell arbeiteten, als ob ihnen plötzlich bewusst wurde, dass die schlaffe Haut, die schlaffen Gliedmaßen, der klaffende Mund und die toten Augen noch vor ein paar Stunden zu einem lebenden, atmenden Menschen gehört hatten. Die Sanitäter richteten Nuri auf, steckten ihn in einen Leichensack, schoben ihn auf einen Wagen und rollten ihn weg.

»Kannst du in der Aufzeichnung ungefähr eine Stunde weit zurückgehen? Bei allen Kameras?«, fragte Baltazár.

Eszter nickte. »Natürlich.« Ihre Finger flogen über die Tastatur. Für ein paar weitere Sekunden zeigten die sechs Fenster die gleichen Bilder. Dann verschwammen sie und wurden schwarz.

Eszter beugte sich stirnrunzelnd vor. »Das ist merkwürdig.«