Doktor Doyle jagt Jack the Ripper - Bradley Harper - E-Book

Doktor Doyle jagt Jack the Ripper E-Book

Bradley Harper

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Beschreibung

September 1888. Der 29-jährige Arthur Conan Doyle erhält von der Metropolitan Police das Angebot, sie einen Monat lang als "Berater" bei der Jagd nach dem Serienmörder zu unterstützen, der bald unter dem Namen Jack the Ripper bekannt werden wird. Doyle akzeptiert unter der Bedingung, dass sein ehemaliger Dozent für Chirurgie, Professor Joseph Bell – Doyles Inspiration für Sherlock Holmes – mit ihm zusammenarbeitet. Zu den beiden gesellt sich Miss Margaret Harkness, eine im East End lebende Schriftstellerin, die mit einer Pistole umzugehen weiß und die beiden als Führerin und Begleiterin unterstützt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Chere,

»Die Frau« in der Geschichte meines Lebens

London East End, 1888

Anmerkungen des Autors

Die Zeit der Ripper-Morde im Jahr 1888 war für Arthur Conan Doyle sowohl als Schriftsteller als auch als Arzt von Bedeutung. Er hatte eine erfolgreiche Praxis als Allgemeinmediziner in Portsmouth, und einige kleine historische Romane waren von eher unbedeutenden Verlagen angenommen worden, hatten aber nicht viel Aufmerksamkeit erregt. Sein erstes Holmes-Werk, Eine Studie in Scharlachrot, das im April 1886 fertiggestellt wurde, war sein bis dahin größtes und ehrgeizigstes Werk. Er schickte es an verschiedene Verlage und war unglücklich über die »Rundreise« seines Manuskripts, wie er es bezeichnete. Zum Glück zog Jeannie Bettany, die Frau des Chefredakteurs von Beeton’s Christmas Annual, das Manuskript aus dem »Schrottstapel« im Büro ihres Mannes heraus und überzeugte ihn davon, es zu kaufen. Sie boten Doyle fünfundzwanzig Pfund, was er als beleidigend empfand, da sie auch das volle Urheberrecht verlangten, aber letztendlich stimmte er zu. Für den Rest seines Lebens versäumte Doyle nie zu erwähnen, dass jene fünfundzwanzig Pfund alles waren, was er jemals bekommen hatte, um der Welt seinen beständigsten Charakter vorzustellen.

Im Juli 1887 begann er einen historischen Roman mit dem Titel Die Abenteuer des Micha Clarke über den englischen Bürgerkrieg. Als Scharlachrot im Christmas Annual erschien, wurde es ein durchschlagender Erfolg und war nach einer positiven Rezension in der Times innerhalb von zwei Wochen ausverkauft. Doyle, verbittert über sein mageres Honorar für die Geschichte, arbeitete an der Fertigstellung von Clarke, was ihn ein Jahr lang beschäftigte. Der zweite Holmes-Roman, Das Zeichen der Vier, wurde erst im Februar 1890 veröffentlicht, etwa fünfzehn Monate nachdem der Ripper sein letztes Opfer getötet hatte und fast vier Jahre nach Scharlachrot. Die Ripper-Morde fanden also in der Zeit zwischen Scharlachrot und Zeichen statt.

Alle Ripper-Morde ereigneten sich 1888, aber es wird immer noch darüber diskutiert, welche der in diesem Jahr ermordeten Frauen dem Täter zugeschrieben werden können. Es sind jedoch fünf, über die sich alle Experten einig sind, beginnend am 31. August 1888 und endend mit dem letzten »kanonischen« Opfer am 9. November. Diese fünf Morde, die sich über siebzig Tage innerhalb der engen Grenzen des Londoner East Ends ereigneten, waren so brutal, dass sie Jack the Ripper zu einer unsterblichen Figur der Grausamkeit und Angst machten.

In jedem von uns steckt eine tiefsitzende Liebe zur Grausamkeit um ihrer selbst willen, auch wenn die Kultivierten sie nur durch beißende Worte und schneidende Bemerkungen zeigen. Man soll also den Abschaum nicht für schlimmer halten als den Rest. Der Abschaum ist brutal, der Kultivierte ist bösartig.

Margaret Harkness, In Darkest London, 1890

Der Karton

1. Januar 1924, Windlesham

Der kleine Pappkarton kam letzten Monat aus Florenz und stand bis heute ungeöffnet auf meinem Schreibtisch. Da ich weiß, dass er die letzte Nachricht von einer Person enthält, mit der zusammen ich sehr gefährliche Situationen erlebt habe und der meine bleibende Zuneigung gilt, habe ich gezögert, mich diesem endgültigen Abschied zu stellen. Vielleicht ist es töricht von mir, aber solange der Karton geschlossen bleibt, kann ich so tun, als sei sie noch am Leben. Wenn ich ihn jetzt öffne, ist es, als ob ich sie zu Grabe trage, obwohl sie dort schon seit einigen Monaten liegt.

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, sinnt man naturgemäß über seinen eigenen Lebensweg nach, man erinnert sich an gemeinsame Erlebnisse und denkt über den Weg nach, der nun ohne diesen Menschen vor einem liegt. Ich habe mich zwar nie als einen nach innen gerichteten Menschen empfunden, stelle aber fest, dass diese Tendenz sich im Laufe der Zeit stärker ausprägt. Die Kameraden, denen ich geschworen habe, über die Ereignisse, von denen ich hier berichte, Stillschweigen zu bewahren, haben nun, mit ihrem Tod, eine Grenze überschritten, und ich glaube, wenn wir uns wiedersehen, werden sie mir meinen Wunsch verzeihen, von ihrem Mut und ihrem edlen Geist zu erzählen.

Meine demnächst erscheinenden Memoiren, Erinnerungen und Abenteuer, enthalten keinen Hinweis auf meine Beteiligung an den Ripper-Ermittlungen oder darauf, warum ich jetzt weiß, weshalb er seine lüsternen Morde an den »gefallenen« Frauen Londons so plötzlich beendete, wie er sie begonnen hatte. Ich bin mir unschlüssig, ob dieser Bericht jemals veröffentlicht werden soll, aber die Ankunft dieses Kartons hat mich angespornt, meine Erinnerungen aufzuzeichnen, solange ich noch kann. Vielleicht überlasse ich es am Ende meiner lieben Frau Jean, über das Schicksal dieser Memoiren zu entscheiden, wenn ich mich meinen Gefährten auf der anderen Seite angeschlossen habe.

Kapitel 1

Der Kurier

Donnerstag, 20. September 1888

Alles begann im September 1888, dem Monat, in dem der Herbst sich bereits ankündigt. Ich war gerade dabei, meine Praxis in Portsmouth zu schließen, als unangemeldet ein mir fremder Mann erschien. Ich fragte ihn nach seinen Beschwerden und war überrascht, zu hören, dass er nicht wegen einer medizinischen Untersuchung gekommen war, sondern als Gesandter. Er überreichte mir seine Karte, die ihn als Major Henry Chambers auswies, einen (pensionierten) Sergeant, nun in der Rolle eines Kuriers.

Sein aufrechter Gang und seine gepflegte Erscheinung entsprachen ebenso seinem früheren Beruf und seinem Rang wie seine gut geschnittene, aber unauffällige Kleidung. Als ich ihn nach seiner Botschaft fragte, übergab er mir einen dicken, an mich adressierten Umschlag.

Darin fand ich neben einer Zehn-Pfund-Note einen Brief, der auf dickes Bond-Papier geschrieben war und den Briefkopf des früheren Premierministers William Gladstone trug.

Sehr geehrter Dr. Doyle,

bitte betrachten Sie diesen Brief als Angebot für eine Beratertätigkeit über einen Zeitraum von bis zu einem Monat. Die Art meines Anliegens sollte am besten persönlich besprochen werden. Als Geste meines guten Willens habe ich eine Zehn-Pfund-Note beigefügt, damit Sie nach London reisen können, um sich meinen Vorschlag anzuhören. Sollten Sie mein Angebot ablehnen, dürfen Sie das Geld behalten, wenn Sie akzeptieren, wird es von künftigen Vergütungen abgezogen. Der Kurier hat keine Kenntnis von der Angelegenheit, er benötigt lediglich Ihre Antwort. Wenn Sie zusagen, wird er mein Büro telegrafisch über das Datum und die Uhrzeit Ihrer Ankunft unterrichten und ich werde dafür sorgen, dass ein Mitglied meines Stabs Sie abholen wird.

Ich bitte Sie dringend, meine Einladung anzunehmen, Sir, da möglicherweise viele Menschenleben davon abhängen.

Hochachtungsvoll

William Gladstone

Ich konnte mir nicht erklären, woher Mr. Gladstone mich kannte, und warum er mich aufsuchen wollte. Auch wenn ich mich für einen fähigen Allgemeinmediziner hielt, gab ich doch bereitwillig zu, dass es in London eine Menge Ärzte gab, die mindestens so kompetent waren wie ich und sicher über mehr Erfahrung verfügten. Zwar war ich nicht mittellos, aber die versprochenen zehn Pfund Reisegeld waren sehr verlockend, zumal ich leicht an einem einzigen Tag hin- und auch zurückfahren konnte. Meine Frau Louise war mit unserem ersten Kind schwanger, deshalb konnten wir das Geld gut gebrauchen.

Ich musste nicht lange überlegen, um zuzusagen, wobei meine Neugier sicher genauso groß war wie die Aussicht auf die Zehn-Pfund-Note, war sie doch mehr Geld, als ich zu jener Zeit in zwei Wochen verdiente. Außerdem wäre ein kurzer Urlaub von der täglichen Arbeit in der Praxis sicher erholsam.

Der Kurier hatte ein Exemplar des Zugfahrplans, so wählte ich einen Zug, der zwei Tage später um ein Uhr mittags am Bahnhof Waterloo ankommen sollte. Ich teilte ihm mit, dass ich einen geölten Segeltuchmantel über einer karierten Weste tragen würde, um bei meiner Ankunft leicht erkennbar zu sein.

Ich informierte Louise über meine bevorstehende Abwesenheit, hängte ein Hinweisschild auf, dass ich die Praxis zwei Tage später schließen würde und vereinbarte mit meinen Kollegen, während meiner Abwesenheit nach meinen Patienten zu sehen. Bis heute kann ich nicht sagen, ob ich die Einladung angenommen hätte, wenn ich damals gewusst hätte, worum es sich handelte. Auch wenn mein Geldbeutel davon erheblich profitierte, ging doch ein Großteil meiner vorgefassten Meinung über die Gesellschaft im Allgemeinen und die Menschlichkeit im Besonderen verloren. Ich überlasse es Ihnen, lieber Leser, am Ende meiner Geschichte zu beurteilen, ob ich darüber hinaus etwas gewonnen habe.

Ich kam pünktlich um ein Uhr am Bahnhof Waterloo an und war erleichtert, dass mich jemand abholen würde, denn zu jener Zeit kannte ich mich in London kaum aus. Tatsächlich hing über meinem Schreibtisch mehrere Jahre lediglich der einfache Stadtplan eines Postamts, an dem ich mich orientierte, wenn ich meine Holmes-Geschichten schrieb und den ich nun bei mir hatte. In den folgenden sechs Wochen sollte er oft benutzt werden.

Mein Blick fiel auf einen blassen, gut gekleideten Gentleman, der offensichtlich zwischen den aussteigenden Fahrgästen jemanden suchte. Er war Anfang zwanzig und von kaum durchschnittlicher Größe. Nachdem ich meinen Mantel geöffnet hatte und meine karierte Weste zum Vorschein kam, bemerkte er mich und begann zu strahlen.

»Dr. Doyle?«, fragte er. Sein leichter Akzent klang, als käme er vom Kontinent.

»Genau«, erwiderte ich und reichte ihm die Hand. »Können Sie mir sagen, worum es hier eigentlich geht?«

»Ich sehe, Sie verlieren keine Zeit, Sir«, antwortete er, wobei er meine Hand ein wenig zu enthusiastisch ergriff. »Mr. Gladstone hat mich in dieser Angelegenheit zu seinem Bevollmächtigten ernannt. Mein Name, Sir, ist Wilkins. Jonathan Wilkins. Ich bin Mr. Gladstones Privatsekretär.«

»Mr. Gladstone ist also nicht der Patient?«, fragte ich. Es verwirrte mich, dass er das Wort »Bevollmächtigter« benutzte.

»Ich entschuldige mich für die Ungenauigkeit unserer Korrespondenz, Dr. Doyle, aber Mr. Gladstone bittet Sie nicht in medizinischer Hinsicht um Hilfe.«

»Warum, um Himmels willen, bin ich dann hier?«, fragte ich, irritiert von seiner ungenauen Antwort.

Mr. Wilkins sah sich um, dann flüsterte er mir mit heiserer Stimme ins Ohr: »Mord, Dr. Doyle oder genau genommen Morde … die Morde von Whitechapel.« Mit normaler Stimme fügte er hinzu: »Aber ich schlage vor, dass wir jede weitere Diskussion verschieben, bis wir in Mr. Gladstones Club sind. Dort erwartet Sie eine bequeme Unterkunft, die bereits im Voraus bezahlt wurde.«

Mr. Wilkins nahm meine Tasche und wie betäubt folgte ich ihm zu einer wartenden Droschke. Auch wenn Portsmouth nicht das Zentrum des Britischen Empires ist, so hatten doch auch unsere Lokalzeitungen über die widerwärtigen Taten zu jener Zeit berichtet, die ein Verrückter begangen hatte, der nur »Lederschürze« genannt wurde. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass man mich bitten würde, als beratender Detektiv in die Rolle meiner fiktiven Figur Sherlock Holmes zu schlüpfen. Ich beschloss, Mr. Wilkins anzuhören, höflich abzulehnen und mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. Für zehn Pfund konnte ich ihm sicher ein paar Minuten Gehör schenken.

Schweigend fuhren wir zum Club, wofür ich sehr dankbar war, denn im Geiste suchte ich bereits nach passenden Formulierungen, um Mr. Wilkins’ anstehende Bitte abzulehnen.

Der Marlborough Club war tatsächlich recht komfortabel. Er war günstig in der Pall Mall Nr. 52 gelegen und erfüllte sein erklärtes Ziel »ein bequemer und angenehmer Treffpunkt für eine Gesellschaft von Gentlemen« zu sein. Zu seinen Mitgliedern zählten vor allem wohlhabende Anwälte und Börsenmakler. Im Vergleich zu ihren maßgeschneiderten Anzügen wirkte meine Reisekleidung schäbig. Ich bestand darauf, dass Wilkins mir sein Angebot unterbreitete, bevor ich auspackte, denn vermutlich würde es sich dann als unnötig erweisen. Er begleitete mich in den Lesesaal und schenkte jedem von uns ein Glas Wasser aus einer Kristallkaraffe ein, bevor er begann.

»Also gut«, erklärte Wilkins. »Ich konnte an Ihrer Reaktion erkennen, dass Sie von den grausamen Morden wissen, die im vergangenen Monat an drei Frauen in Whitechapel verübt wurden. Martha Tabram am siebten August, Mary Ann Nichols am einunddreißigsten und vor vierzehn Tagen, am achten September, Annie Chapman. Alle drei wurden ermordet, während nur wenige Meter entfernt Menschen schlafend in ihren Betten lagen.«

Mr. Wilkins schauderte leicht und trank einen Schluck aus seinem Glas, bevor er fortfuhr.

»Mr. Gladstone hat sich immer wohltätig gegenüber der Gemeinschaft der gefallenen Frauen in Whitechapel verhalten und eine Abordnung dieser Damen ist nun mit der Bitte um Unterstützung an ihn herangetreten, um diese Schreckensherrschaft zu beenden.«

»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte ich, in der Hoffnung, er würde nun zur Sache kommen.

»Ich habe mit großem Interesse Ihre Geschichte Eine Studie in Scharlachrot gelesen, die im vergangenen Dezember veröffentlicht wurde«, fuhr er unbeirrt fort. »Die Anwendung wissenschaftlicher Analysemethoden zur Ermittlung des Mörders erschien mir sehr vernünftig, und so habe ich Mr. Gladstone davon überzeugt, Sie als unseren beratenden Detektiv zu berufen. Ihre Aufgabe wäre es, die Arbeit der Polizei zu überprüfen und Ermittlungsansätze vorzuschlagen, die übersehen wurden.«

Er holte tief Luft, und bevor ich antworten konnte, beendete er sein offensichtlich gut vorbereitetes Angebot.

»Die Vergütung beträgt drei Pfund pro Tag, die Unterkunft wird hier im Club gestellt, und alle anfallenden Ausgaben werden erstattet. Nehmen Sie den Auftrag an, Dr. Doyle? Dadurch bietet sich Ihnen die Möglichkeit, Ihre Theorien über die Rolle der Wissenschaft bei der Verbrechensbekämpfung zu testen. Die Bezahlung ist nicht unbeträchtlich, und die Erfahrung könnte Ihnen bei zukünftigen Geschichten von Nutzen sein. Was sagen Sie dazu, Sir?«

Ich saß fassungslos da, überwältigt von der Tragweite der Aufgabe, die mir zu Füßen gelegt wurde. Ich habe mich immer als Verfechter der Gerechtigkeit gesehen, aber ich wollte mir keine Kompetenz anmaßen, die über meine Fähigkeiten hinausging. Sollte ich versagen, was sehr wahrscheinlich war, würde mein Ruf darunter leiden, und meine unbeholfenen Bemühungen die Arbeit anderer, die fähiger waren als ich, behindern. Ich sah nicht einen Grund, diesen seltsamen Auftrag anzunehmen, dafür aber gleich mehrere, ihn abzulehnen.

»Es tut mir leid, Mr. Wilkins. Ihr Anliegen ist berechtigt, aber ich bin nicht Sherlock Holmes«, antwortete ich. »Er ist eine fiktive Figur mit Kenntnissen und Fähigkeiten, die ich nicht besitze. Meine Inspiration für diese Person ist mein alter Professor für Chirurgie, Joseph Bell. Obwohl ich seine Methoden sorgfältig studiert habe, fehlen mir sein scharfer Verstand und seine Fähigkeit, vom Kleinen auf das Große zu schließen. Ich empfehle Ihnen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, auch wenn ich bezweifle, dass er seine Praxis in Edinburgh für eine solche Donquichotterie verlassen wird.«

Mr. Wilkins lehnte sich in seinem bequemen Ledersessel zurück und dachte mit besorgtem Stirnrunzeln über meine Worte nach. Zuversichtlich wartete ich darauf, damit entlassen zu werden und war über seine Antwort mehr als erstaunt.

»Sehr wohl, Sir. Da ich weiß, wie sehr Mr. Gladstone an einer Lösung dieser Angelegenheit interessiert ist, werde ich Professor Bell dasselbe Angebot machen. Bitte verstehen Sie es so, dass ich es Ihnen beiden als Team anbiete. Professor Bell hat vielleicht die deduktiven Fähigkeiten, aber Sie werden seine Stimme sein. Ich werde den Professor nur akzeptieren, wenn Sie bereit sind, mit ihm zusammenzuarbeiten. Einen Kollegen zu haben, mit dem man seine Ergebnisse diskutiert, macht ein Team stärker als die Summe seiner Teile. Ist das annehmbar?«

Ich erinnere mich genau an meine Gedanken in diesem Moment: Bestimmt würde Professor Bell dem niemals zustimmen; somit wäre ich davon befreit, dies auf mich zu nehmen und könnte um zehn Pfund reicher wieder abreisen, ohne einen mächtigen Mann zu verärgern. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen, als ich mir zu meinem geschickten Ausstieg gratulierte.

»Einverstanden«, sagte ich mit falscher Herzlichkeit. »Ich werde Professor Bell sofort telegrafieren. Da heute Samstag ist, erwarte ich eine Antwort nicht vor morgen, vielleicht auch erst am Montag. Die Unterkunft ist durchaus akzeptabel; ich nehme an, die tägliche Vergütung beginnt sofort?«

»Jawohl«, erwiderte Wilkins.

»Dann muss ich jetzt ein Telegramm aufsetzen und die Koffer auspacken. Wie soll ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn ich die Antwort des Professors erhalte?«

»Der Portier des Clubs hat drei Straßenjungen, die er als Kuriere einsetzt; er wird dafür sorgen, dass alle Nachrichten an mich sofort überbracht werden. Mr. Gladstone zieht es vor, sich nicht mit Ihnen zu treffen, bevor diese Angelegenheit abgeschlossen ist. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass seine christliche Nächstenliebe gegenüber diesen Frauen im Laufe der Jahre seinen Feinden schon immer ein Dorn im Auge war, und er möchte nicht von den laufenden Ermittlungen ablenken, indem er die Aufmerksamkeit auf Sie lenkt.«

»Also gut«, erwiderte ich. »Erwarten Sie meine Nachricht innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden.«

Wilkins ging, und ich widmete mich der Formulierung meines Telegramms an Bell. Schließlich entschloss ich mich zu Folgendem:

GRÜSSE AUS LONDON STOP SOFORTIGER BERATUNGSAUFTRAG FÜR DREI PFUND PRO TAG STOP EINZELHEITEN HIER NICHT MÖGLICH ABER GELEGENHEIT MEHRERE LEBEN ZU RETTEN UND GERECHTIGKEIT ZU DIENEN STOP ANTWORT SCHNELLSTMÖGLICH MIT ANKUNFTSZEIT UND -ORT FALLS EINVERSTANDEN STOP DOYLE

Ich hatte das Gefühl, dass ich meinem potenziellen neuen Arbeitgeber gegenüber loyal genug gewesen war und verbrachte den Rest des Tages guten Gewissens mit einem Spaziergang durch London mit all seinen Sehenswürdigkeiten und Geräuschen. Obwohl ich die großartige Metropole in späteren Jahren als anstrengend empfand, stimmte ich an diesem Tag mit Dr. Samuel Johnson überein, dass, ein Mann, wenn er Londons überdrüssig ist, des Lebens überdrüssig ist. So kehrte ich mit leichtem Herzen rechtzeitig zum Abendessen in den Club zurück, wo mich an der Tür eine Antwort von Bell erwartete:

INTERESSIERT STOP MUSS ANGELEGENHEITEN HIER ABSCHLIESSEN STOP ANKUNFT MONTAG DREI UHR BAHNHOF KINGS CROSS STOP BELL

Ich las diesen kurzen Text mehrmals. Wie sehr ich es auch drehte und wendete, es gab nur eine mögliche Erklärung: Bell kam hierher und damit war ich mit von der Partie.

Widerwillig schickte ich eine Nachricht an Wilkins, dass Bell zugestimmt hatte, aß zu Abend, ohne zu wissen, was ich zu mir nahm und ging dann in mein Zimmer. Kurz vor dem Schlafengehen erhielt ich Wilkins’ Antwort:

Ausgezeichnet! Morgen früh um acht Uhr treffe ich mich mit Ihnen zum Frühstück, um Sie bei der Aufnahme Ihrer Ermittlungen zu unterstützen. J. Wilkins

Ich befürchtete, dass ich wenig Appetit auf ein Frühstück welcher Art auch immer haben würde und verbrachte eine ruhelose Nacht, in der ich darüber nachgrübelte, wie das Schicksal und lediglich ein Ausflug in die Romandichtung mich in diese Situation gebracht hatten.

Kapitel 2

Erste Eindrücke

Sonntag, 23. September

Das Frühstück mit Wilkins am nächsten Tag war aufschlussreich. Er gehörte zu diesen beflissenen Personen, die man oft im Gefolge großer Männer findet. Sie können nützlich sein wie ein Blindenhund für einen blinden Mann, aber zur Gesellschaft beim Essen eignen sie sich nicht. Während ich kräftig zulangte, nippte Wilkins an seinem Tee und sprach in seiner offensichtlich üblichen geschäftstüchtigen Art, die mir inzwischen vertraut war.

»Hier ist eine gestern von Mr. Gladstone unterzeichnete Notiz, die besagt, dass Sie in Bezug auf die Whitechapel-Morde als sein Bevollmächtigter fungieren, und dass alle Informationen, die Sie erhalten, streng vertraulich behandelt werden. Er verlässt sich darauf, dass Sie alles tun werden, damit die Presse nichts von Ihrer und folglich auch von Mr. Gladstones Beteiligung an dieser Angelegenheit erfährt.«

Ich nickte zustimmend.

»Ich schlage vor, dass Sie sich, während wir auf die Ankunft von Professor Bell warten, mit einigen Personen treffen, die Ihnen helfen können, sich zu orientieren, sowohl vor Ort als auch in Bezug auf den Stand der Ermittlungen. Was die Ortskenntnis angeht, so habe ich die Adresse einer Miss Margaret Harkness. Sie hat sich bereit erklärt, Sie heute Nachmittag zum Tee zu empfangen. Sie ist Autorin und gehört zur neuen Sorte der »emanzipierten Frauen«. Derzeit wohnt sie in Whitechapel, um sich mit dem täglichen Leben der armen arbeitenden Bevölkerung vertraut zu machen, die sie in ihren Romanen porträtiert.«

Wilkins zog leicht angewidert die Augenbrauen hoch. »Sie wohnt in einem Mietshaus, Tür an Tür mit Tagelöhnern, die sich nur diese ärmlichen Unterkünfte leisten können. Ich persönlich kenne mich im East End nicht aus, aber nachdem ich ihre letzten Arbeiten gelesen habe, glaube ich, dass sie eine akzeptable Führerin sein wird. Gestern habe ich mich kurz mit ihr getroffen und eine Führung für Sie vereinbart, um Sie mit der Gegend vertraut zu machen. Ich empfehle Ihnen dringend, nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr in dieser Umgebung unterwegs zu sein, zumindest nicht allein.«

Wilkins bemerkte mein Unbehagen bei dem Gedanken, die Wohnung einer alleinstehenden Frau ohne Begleitung zu besuchen, und ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel verriet, dass er sich über mein Anstandsgefühl amüsierte. Bevor ich Einspruch erheben konnte, sprach er weiter: »Sie hat eine Untermieterin und hat mir versichert, dass diese Frau Ihnen Gesellschaft beim Tee leisten wird.«

Solche Empfindlichkeiten erscheinen heute altmodisch, aber ich war ein Mann meiner Zeit. Der Gedanke, allein mit einer Frau in ihrer Wohnung zu sein, die nicht meine Frau oder ein Familienmitglied war, war inakzeptabel. Nachdem die Angelegenheit geklärt war, fuhr Wilkins fort.

»Eine zweite Person, die sie treffen sollten, ist Inspector Abberline von der Section D, also der Kriminalpolizei, der für die Verbrecherjagd in Whitechapel zuständig ist. Er wurde vorübergehend von seinen Aufgaben abgezogen und wieder der H Division im East End zugeteilt, da er über gute Ortskenntnis verfügt und zudem Kontakte ins kriminelle Milieu hat. Er kann Ihnen Zugang zum Leichenschauhaus und zu den Tatorten verschaffen, sollte es, Gott bewahre, zu weiteren Morden kommen.«

»Ich bin beeindruckt, dass der Polizeipräsident solche Mittel einsetzt, nur um zu verhindern, dass ein paar Straßendirnen ermordet werden, ungeachtet der Brutalität.«

Wilkins zuckte die Achseln. »In der letzten Zeit gab es einen Zustrom von Juden vom Kontinent, und sie stießen im East End auf große Ablehnung. Es gibt Stimmen in Whitechapel, die behaupten, ein Jude müsse dafür verantwortlich sein, wohlgemerkt, ohne dies beweisen zu können. Die Behörden befürchten einen Massenaufstand, falls es weitere Morde gibt.«

Dann reichte Wilkins mir ein Blatt, das er aus seinem Notizbuch gerissen hatte. Darauf standen die Adresse des Polizeireviers der H Division in der Commercial Street in Whitechapel sowie die der Wohnung von Miss Harkness in der Vine Street. Während er weitersprach, warf ich einen kurzen Blick auf die Adressen, dann verstaute ich den Zettel in meinem Jackett.

»Am besten gehen Sie entweder sehr früh oder sehr spät zu seinem Büro, denn er wird tagsüber größtenteils auf den Straßen unterwegs sein. Ich bezweifle sogar, dass er heute zu Hause ist, aber vielleicht möchten Sie mit Ihrem Besuch bis zur Ankunft von Professor Bell warten, damit er Sie beide auf einmal kennenlernen kann.«

»Wie bleiben wir in Verbindung?«, fragte ich. »London ist sozusagen terra incognita für mich. Würde ein Telegramm ausreichen oder bevorzugen Sie eine direktere Kommunikation?«

»Sie können mit mir wie bisher über den Portier hier im Club korrespondieren. Ich erwarte einmal in der Woche einen Bericht über Ihre Fortschritte, aber Sie können mir jederzeit Anregungen oder Anforderungen für zusätzliche Mittel senden.«

Er griff in seinen Mantel, holte eine prall gefüllte Brieftasche aus Seehundfell hervor, wobei er mir erklärte, dass Mr. Gladstone sowohl ein sehr großzügiger als auch vertrauensvoller Arbeitgeber sei, und mit zufriedener Miene zählte er den Rest meines ersten Wochenlohns ab.

»Hier sind sechsundzwanzig Pfund, elf Pfund für Sie, was zusammen mit den zehn Pfund, die Sie bereits erhalten haben, einundzwanzig ergibt, und fünfzehn für Professor Bell. Ich werde Sie jeden Samstag für eine Woche im Voraus bezahlen. Das erlaubt uns ein regelmäßiges persönliches Treffen, um mich über den Fortschritt Ihrer Untersuchung zu informieren. Sie können Ihre Erkenntnisse natürlich mit Inspector Abberline besprechen, aber alles, was Sie an höhere Stellen weitergeben wollen, sollten Sie am besten über mich abwickeln. Ich weiß am besten, wie ich Informationen vertraulich weitergeben kann, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Das ist sozusagen mein Daseinszweck.«

Mr. Wilkins war zwar nicht charmant, aber gründlich. Nach der Auszahlung überreichte er mir seine Visitenkarte aus elegantem cremefarbenem Karton mit dem Namen J. Wilkins in filigranen Goldbuchstaben. Die Adresse, von der ich annahm, dass es sich um den Wohnsitz von Mr. Gladstone handelte, befand sich in einer der vornehmsten Gegenden Londons.

Wilkins riet mir, seine Karte zu benutzen, wenn es nötig sei, meine Glaubwürdigkeit zu beweisen, aber sparsam damit umzugehen, um das Wissen von Gladstones Interesse an dieser Angelegenheit in Grenzen zu halten.

Da ich ihn im Moment nicht weiter benötigte, verabschiedete er sich.

Ich fürchte, ich schenkte den ausgezeichneten Bücklingen nicht die volle Aufmerksamkeit, die sie verdienten, denn mein Geist versuchte immer noch, all das zu begreifen, was in den letzten drei Tagen geschehen war, angefangen mit einer mysteriösen Ladung von einem Mann, der dreimal das Privileg hatte, die Regierung Ihrer Majestät zu führen.

Ehrlich gesagt, fühlte ich mich der Aufgabe nicht gewachsen, aber ich hatte schon immer eine ausgeprägte Neugier, und so beschloss ich, mir für die Ermittlungen eine Woche zuzugestehen. Zumindest war ich durch diese Erfahrung bereits um einundzwanzig Pfund reicher, und der direkte Einblick in Polizeiermittlungen konnte mir von großem Nutzen sein, sofern ich mich entschließen würde, weitere Kriminalgeschichten zu schreiben. So etwas war damals außerordentlich gefragt, und in der Tat haben solche Geschichten bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Das sagt viel über die menschliche Natur aus, auch, wenn ich fürchte, nichts Gutes.

Nachdem ich einen Brief an meine Frau Louise verfasst hatte, in dem ich ihr mitteilte, dass ich weiterhin in London blieb, hatte ich bis zum Tee noch etwa sechs Stunden Zeit und so beschloss ich, meine Umgebung zu erkunden.

Mr. Wilkins’ Warnung, nicht ohne Begleitung durch Whitechapel zu gehen, wollte ich nicht missachten, aber es war Sonntag, die Sonne schien mit voller Kraft, und ich fühlte mich innerlich und äußerlich stark genug, um niemanden in Versuchung zu führen, der auf irgendeine Schurkerei aus wäre. Ich liebte lange Spaziergänge und dachte, es sei nun an der Zeit, dass ich mir eine zweite Portion Bücklinge verdient hätte. Offenbar war meine frühere Befürchtung, dass dieses Abenteuer meinen Appetit schmälern würde, unbegründet gewesen.

Es ist eine gewaltige Herausforderung, denjenigen, die in diesem moderneren zwanzigsten Jahrhundert geboren sind, das East End von damals zu beschreiben. Im Jahr zuvor, im Juni 1887, hatte unsere Nation die großartigen fünfzig Jahre seit der Thronbesteigung unserer glorreichen Monarchin, Königin Victoria gefeiert. Die Sonne ging über dem britischen Empire niemals unter, und der Reichtum ferner Länder strömte in unser Land. Jeder britische Bürger betrachtete Wohlstand als sein unveräußerliches Recht. Das Londoner West End wimmelte von Geschäften, bequemen Wohnungen und noch bequemeren Einwohnern.

Das East End dagegen war der Abladeplatz für die Armen und Besitzlosen. Dieses Gebiet am Rande Londons und der »feinen« Gesellschaft zählte bis zu sechsundsiebzigtausend Einwohner. Die Bevölkerung bestand aus einer Mischung aus armen Iren und Briten sowie einem kürzlich erfolgten beträchtlichen Zustrom von Juden aus Osteuropa, die vor der Verfolgung in ihren Heimatländern geflohen waren. Es gab große Spannungen zwischen dem East End und dem Rest Londons, die nur noch von der Feindseligkeit übertroffen wurden, die die armen Iren und Briten ihren neu angekommenen jüdischen Nachbarn entgegenbrachten.

Unter den verschiedenen Elendsvierteln war Whitechapel aufgrund der stärksten Überbevölkerung und der höchsten Sterblichkeitsrate das schlimmste. Bei der Volkszählung von 1891 lag die Bevölkerungsdichte in den Außenbezirken bei fünfundzwanzig Einwohnern pro 0,4 Hektar, im wohlhabenden West End bei fünfzig. Whitechapel wies eine Dichte von achthundert Einwohnern pro 0,4 Hektar auf. Ich wiederhole diese Zahl, um die Bedeutung zu verdeutlichen: achthundert. Das Bild, das mir in den Sinn kommt, ist das einer riesigen Ameisenkolonie.

Diese erstaunliche Dichte an Menschen war nur möglich, weil etwa die Hälfte Kinder waren und die Menschen in jeden erdenklichen Raum eingepfercht wurden, oft bis zu acht Personen pro Zimmer. Wer ein regelmäßiges, wenn auch mageres Einkommen hatte, konnte eine Ecke eines Zimmers mieten. Einige Obdachlosenunterkünfte waren auf Menschen mit unregelmäßigen Arbeitszeiten ausgerichtet und berechneten den Preis im Acht-Stunden-Takt. Als Anreiz für potenzielle Kunden verkündeten sie stolz, dass das Bett vom vorherigen Benutzer noch warm sei.

Die meisten Einwohner übernachteten in Obdachlosenunterkünften mit unterschiedlichen Preisen. Ein Doppel- oder Ehebett kostete acht Pence, ein Einzelbett vier Pence. Für zwei Pence konnte man sich an eine Wand lehnen, ein Seil über den Körper gespannt, um aufrecht stehenzubleiben und zu schlafen, so gut es eben ging. Es war nicht ungewöhnlich, eine ganze Familie zu sehen, die gemeinsam unruhig vor sich hindöste wie Soldaten, die ihre Wache vernachlässigt hatten. Diejenigen, die sich nicht einmal diese dürftigen Unterkünfte leisten konnten, verbrachten ihre Nächte damit, durch die Straßen zu ziehen, um sich warmzuhalten, und schließlich in Hauseingängen oder Treppenhäusern zu schlafen, wenn die Erschöpfung sie überkam.

Natürlich konnten nicht alle achthundert Menschen gleichzeitig auf der Straße sein. Dennoch kann ich das Durcheinander nicht vollständig beschreiben, das tagsüber herrschte, wenn die meisten Bewohner unterwegs waren, sich darum stritten, wer Vortritt hatte, kauften und verkauften oder auf dem Weg zur Arbeit und zurück waren und sich die Straßen mit den unterschiedlichsten Pferdefuhrwerken teilten. Alles in allem war es umso schwerer zu begreifen, dass inmitten dieser Menge die Morde unbemerkt geblieben waren.

Schon vor dem Erscheinen des Mannes, den man später den Ripper nannte, war man sich bei der Metropolitan Police einig, dass in Whitechapel ein Ausmaß an Laster und Schurkerei herrschte, das auf den britischen Inseln seinesgleichen suchte. Ich schäme mich zu sagen, dass ich in diesen Straßen Armut und menschliche Erniedrigung gesehen habe, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie in meinem Heimatland gab. Hätte man mir die Augen verbunden und mich dann diesen Szenen ausgesetzt, hätte ich leicht glauben können, ich wäre in Moskau oder Krakau.

Es gab Prostituierte jeden Alters, jeder Hautfarbe und jeder Sprache, doch alle hatten die gleichen leeren Augen verzweifelter Seelen. Die Pubs waren durchgehend geöffnet und schenkten jedem, der einen Penny in der Tasche hatte, den übelsten Gin aus. Man glaubte, dass Alkohol vor Geschlechtskrankheiten schützte, und die Damen von Whitechapel konsumierten ihn ausgiebig.

Ich war mit der Absicht aufgebrochen, mich in den Jagdgründen meines Gegners zu orientieren, aber die emotionalen Auswirkungen menschlichen Leids in einem so großen Ausmaß machten mich fassungslos.

Der Gedanke an eine Teemahlzeit war zwar höchst verlockend, aber innerhalb der Grenzen dieser elenden Gemeinschaft daran teilzunehmen, war ausgesprochen unattraktiv. Ich nahm mich jedoch zusammen und nach ein paar falschen Abzweigungen fand ich mich vor einem baufälligen und übelriechenden Mietshaus wieder, das sich als Adresse von Miss Harkness in der Vine Street entpuppte.

Ich atmete tief durch. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Zeit meine Führerin zu treffen.

Kapitel 3

Jackentaschen

Sonntag, 23. September, Fortsetzung

Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, welche Art von Frau sich freiwillig für ein Leben in solchem Elend entschied, aber ich stellte mir eine streng blickende Jungfer mit einem dicken Zwicker vor; dass eine Literatin mir in dieser Umgebung von Nutzen sein könnte, machte mich skeptisch. Das Beste, was ich mir von ihr erhoffen konnte, war eine detaillierte Karte und ein paar Informationen über die Ereignisse rund um die Morde; ich hatte nicht die Absicht, mich mit der Verantwortung für ihre Sicherheit zu belasten, während wir durch die dunklen Gassen und Innenhöfe von Whitechapel liefen.

Es gab keine Briefkästen oder Namen im Eingangsbereich, also stapfte ich die dunkle und rutschige Treppe in den dritten Stock hinauf und klopfte an eine unscheinbare Tür, die der Adresse 3A entsprach, unsicher, wie man mich empfangen würde.

»Einen Moment«, sagte eine gedämpfte Stimme auf der anderen Seite. Ich hörte das Knarren eines Riegels, und ein Auge lugte durch den Schlitz, den eine schwere Kette freigab. »Wer ist da?«, fragte dieselbe Stimme, jetzt deutlicher.

»Dr. Doyle«, antwortete ich.

Die Tür schloss sich, die Kette rasselte, und die Tür öffnete sich wieder. Der Rücken einer schlanken Gestalt schritt vor mir in das gedämpfte Licht und wies mich, ohne innezuhalten, an, die Eingangstür hinter mir zu sichern.

Nervös verschloss ich die Tür, unsicher, ob oder von wem ich empfangen würde und betrat ein kleines, schwach beleuchtetes Wohnzimmer. Auf der entfernten Seite, wenn ein so kleiner Raum überhaupt eine »entfernte« Seite haben kann, saß ruhig eine Frau. Sie konnte irgendwo zwischen dreißig und fünfundsechzig sein, und die Spuren in ihrem Gesicht verrieten ein Leben voller Entbehrungen. Sie hielt sich einen gelblichen, fleckigen Lappen vor den Mund, auf ihrem Schoß lagen eine halb fertig gestrickte Socke und Nadeln. Neben ihr stand ein schlanker, mittelgroßer junger Mann, der Arbeitskleidung und eine abgenutzte Melone trug. Die Frau schaute mich mit mäßigem Interesse an, aber der stechende Blick des jungen Mannes verriet, dass er den stämmigen Herrn vor sich eher amüsant fand, während er mir ziemlich unhöflich erschien.

»Verzeihen Sie die Unterbrechung«, sagte ich und tat mein Bestes, um ruhig zu wirken, »aber ich habe gehört, dass eine junge Frau namens Margaret Harkness hier wohnt. Sie hat mich erwartet.«

»So ist es«, antwortete der junge Mann. »Die bin ich.«

Meine Reaktion muss so gewesen sein, wie sie es erwartet hatte, denn sie lächelte süffisant. Heutzutage würde eine Frau, die sich als Mann verkleidet, vielleicht die Blicke der anderen auf sich ziehen, aber damals war es ein Skandal.

»Verzeihen Sie meinen kleinen Spaß, Dr. Doyle«, begann sie, »aber meine Arbeit erfordert es oft, dass ich nachts und allein durch diese Straßen gehe. Ich habe festgestellt, dass ich mich als Mann gekleidet unbemerkt und damit sicherer bewegen kann. Ihre Reaktion braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Ich bin daran gewöhnt, wenn mich Männer zum ersten Mal in meiner »Kluft« treffen, also nicht in der traditionellen Kleidung.«

Mein Gesicht muss inzwischen ziemlich scharlachrot gewesen sein, doch sie störte sich nicht im Geringsten an meiner Verlegenheit. Um unser Gespräch voranzubringen und dem Unbehagen zu entgehen, wandte ich mich an die Frau neben ihr.

»Und Sie, Madam, Sie s-sind mir gegenüber im Vorteil«, brachte ich es fertig zu stammeln. Die Frau nickte langsam, nahm den Lappen vom Gesicht und verzog das Gesicht zu einer lächelnden Grimasse, die eine eiternde Wunde am rechten Kiefer offenbarte.

»Molly«, antwortete sie langsam und achtete darauf, jede Silbe zu artikulieren.

»Miss Jones ist meine Untermieterin, mein Prüfstein und meine Freundin«, antwortete Miss Harkness. »Sie hört sich meine Texte an und sagt mir, ob sie wahrhaftig klingen. Im Gegenzug gewähre ich ihr einen sicheren Schlafplatz und einen fairen Anteil an meinen mageren Mahlzeiten. Sie hat in den Streichholzfabriken gearbeitet, bis sie eine Phosphornekrose bekam. Wir lernten uns während des Streichholzmädchenstreiks im Juli dieses Jahres kennen.«

Miss Harkness und ihre Untermieterin tauschten einen Blick aus, bevor sie fortfuhr:

»Ich kann mir die Operation nicht leisten, die notwendig ist, um den verfaulten Knochen in ihrem Kiefer zu entfernen, aber ich kann ihr Unterkunft und Freundschaft bieten. So ist die Welt, die Sie betreten haben, Dr. Doyle, und ich soll Sie darin herumführen.«

Sie lächelte mich an, und ich fragte mich, ob sie mir gegenüber ähnliche Gedanken hegte wie ich, als ich sie mir als Jungfer mittleren Alters vorgestellt hatte, die meines ständigen Schutzes bedurfte.

»Ich bin Schriftstellerin und wie ich höre, schreiben Sie auch, Sir«, fuhr Miss Harkness fort. »Vielleicht haben Sie von meinem jüngsten Roman Out of Work oder von meinem im letzten Jahr veröffentlichten Werk A City Girl gehört?«

Ich schüttelte den Kopf, immer noch erstaunt darüber, dass ich mich zwanglos mit einer als Mann verkleideten Frau unterhielt, als wäre das nichts Ungewöhnliches.

»Sie sind in der Überzahl«, meinte sie achselzuckend. »Um meinen Leserkreis zu erweitern, habe ich meine letzten beiden Werke unter dem Pseudonym John Law veröffentlicht. Es scheint, dass die meisten Männer sich entweder bedroht oder verachtet oder beides fühlen, wenn sie auf eine fähige Frau mit festen Überzeugungen treffen. Die meiste Zeit verdiene ich meinen Lebensunterhalt als Journalistin, die von verschiedenen Zeitungen dafür bezahlt wird, dass sie über die Geschehnisse hier im East End berichtet, denn kein »seriöser« Journalist traut sich hierher. In der Tat gibt es einige Straßen in Whitechapel, die selbst Polizeibeamte so sehr fürchten, dass sie sie nicht betreten, wenn sie nicht wenigstens zu viert sind, während ich in meiner ärmlichen Kleidung wie ein Geist zwischen ihnen umhergehe.

Seien Sie versichert, Doctor, trotz meiner derzeitigen Kleidung habe ich nicht den Wunsch, ein Mann zu sein; das einzige, worum ich das männliche Geschlecht beneide, ist die Menge an Taschen, die Ihre Mode erlaubt.« Sie reckte ihr Kinn vor, als wolle sie mich herausfordern, ihre »Kluft« zu kritisieren, aber ich hütete meine Zunge und sie fuhr fort:

»Ich speichere meine Erfahrungen hier, um sie für zukünftige, hoffentlich nachhaltigere Arbeiten zu nutzen. Derzeit recherchiere ich über die Heilsarmee, um meinen nächsten Roman vorzubereiten.« Dann sah sie mir in die Augen und fragte mich herausfordernd: »Und was ist mit Ihnen, Sir? Gibt es irgendwelche Schriften von Ihnen, die ich gelesen haben könnte?«

Leider trübte ihr unverschämter Ton unsere erste Begegnung. Ich erwiderte, ich habe einen Kriminalroman geschrieben, woraufhin ich gebeten worden sei, die »Lederschürzen«-Morde zu untersuchen. Ich war es nicht gewohnt, von einer Frau so grob ins Kreuzverhör genommen zu werden, und ich hatte das Gefühl, dass sie sich bei einem Gentleman, den sie gerade erst kennengelernt hatte, unangemessene Freiheiten herausnahm. Ich begann, Mr. Wilkins’ Klugheit, sie als meine Navigatorin zu wählen, infrage zu stellen, aber ich beschloss, höflich zu bleiben.

»Lederschürze, wie? Das erklärt alles. Mr. Wilkins sagte nur, dass ein Gentleman, ein Schriftsteller von außerhalb Londons, einige Wochen im East End arbeiten würde und dass er mir zwei Pfund zahlen würde, damit ich Sie herumführe und Ihnen einige der Nutten vorstelle. Ich habe bei den Recherchen für meine Heilsarmee-Geschichte mehrere Straßendirnen kennengelernt, und da zwei Pfund für mich das Einkommen von fast zwei Wochen sind, habe ich keine weiteren Fragen gestellt. Eine Dame oder Damen«, sie streckte den Arm aus, um Molly einzuschließen, »müssen essen.«

Ich schreckte zusammen, als sie Wilkins’ Forderung erwähnte, ich solle mich mit einer Straßendirne treffen. »Wozu soll das gut sein? Ich kann mir nicht vorstellen, worüber wir uns unterhalten sollten.«

Miss Harkness lächelte über mein offensichtliches Unbehagen. »Ich kann nicht für ihn antworten, aber Sie wären überrascht, was Sie über das Leben im East End erführen, wenn Sie zuhörten.«

Sie rückte ihre Ärmel zurecht. »Nun, wollen wir einen Spaziergang machen?«

»Jetzt?«, erwiderte ich. »Es wird bald dunkel, und ich möchte Sie nicht unnötig in Gefahr bringen.«

Sie lachte. »Sie, mein lieber Herr, werden sehr viel stärker gefährdet sein. Ihr Akzent, Ihre wohlgenährte Taille und Ihre gepflegte Kleidung, all dies macht Sie zu einem Außenseiter. Es ist durchaus üblich, dass unsere wohlwollenden Nachbarn aus dem West End uns wegen der Fleischeslust besuchen. Nur wenige wohlhabende Gentlemen sind bereit, ihren Frauen zu erklären, wie es dazu kam, dass sie in unseren Gassen ausgeraubt wurden, weshalb sie sich oft weigern, einen Diebstahl zu melden.

Ich werde als Ihre Führerin und Dolmetscherin dienen, also überlassen Sie mir das Reden, es sei denn, ich fordere Sie auf. Kommen Sie!« Sie winkte, als ob wir gleich ins Theater gehen würden. »Das East End bei Nacht ist die Welt, die Sie betreten müssen, wenn Sie die Höhle des Monsters begreifen wollen.«

Ich stimmte zögernd zu. Zwar wollte ich eine Dame nicht in eine so gefährliche Umgebung bringen, aber ich musste zugeben, dass sie höchstwahrscheinlich Recht damit hatte, wer von uns beiden in größerer Gefahr schwebte. Dennoch hatte ich mir als junger Schiffsarzt auf der SS Hope während einer arktischen Wal- und Robbenjagdexpedition den Respekt erfahrener Matrosen durch meine Fähigkeit verdient, ihnen bei Sparringkämpfen ein blaues Auge zu verpassen. Da ich noch nicht ganz dreißig Jahre alt war, war ich zuversichtlich, dass man mit mir rechnen konnte, falls dies nötig sein würde. Ich war entschlossen, in der Gegenwart dieser eher unhöflichen Frau nicht zögerlich zu erscheinen und würde ihr folgen, wohin auch immer sie mich führte, wenn auch nur, um deutlich zu machen, dass ich genauso starke Nerven hatte wie sie.

Ich merkte bald, welch hohen Anspruch ich damit an mich selbst stellte.

Kapitel 4

Willkommen im East End

Sonntag, 23. September, Fortsetzung

Wir machten uns auf den Weg, während die länger werdenden Schatten den Sonnenuntergang ankündigten. Miss Harkness’ Wohnung in der Vine Street lag in der Nähe des Bahnhofs Fenchurch Street, und wir steuerten in nordöstlicher Richtung auf die Whitechapel Road zu. Sie erklärte, dies sei die Hauptverkehrsader im East End. Wenn ich diese Straße kennen würde, sagte sie, hätte ich immer einen Bezugspunkt in diesem Labyrinth.

Während wir liefen, erfuhr ich etwas über ihre persönliche Geschichte. Sie erzählte mir, sie sei in Worcestershire als Tochter eines konservativen Geistlichen aufgewachsen. Als junge Frau kam sie nach London, um Krankenschwester zu werden und arbeitete schließlich in der Arzneibestellung auf den Krankenstationen. Nach einigen Jahren empfand sie jedoch das Leben, das ihr Vater für sie geplant hatte als zu einschränkend, sodass sie sich auf eigene Faust aufmachte, um eine Karriere als Schriftstellerin zu verfolgen und als freiberufliche Journalistin und Autorin zu arbeiten. Miss Harkness versicherte mir, ohne eine Spur von Bedauern, dass ihre jetzige Karriere von ihrer konservativen, bürgerlichen Familie nicht gebilligt wurde.

Ich hätte mich gerne noch weiter erkundigt, wie es dazu gekommen war, dass eine Frau mit einer so anständigen Erziehung sich in Männerkleidung im East End herumtrieb, aber je persönlicher meine Fragen wurden, desto schneller wurde ihr Tempo, und ich hatte bald kaum noch Luft für ein Gespräch.

Einige der Prostituierten nickten Miss Harkness kurz zu, als wir vorbeigingen, während sie mich neugierig anstarrten. Offenbar war sie mit vielen bekannt.

»Nutten sehen alles«, erwiderte meine Begleiterin, als ich dies erwähnte. »Sie sind immer auf der Suche nach einem möglichen Kunden und schätzen die Gefahr ab. Ich sage voraus, dass sich unser Lederschürzenkerl, wenn er gefasst wird, als ein eher bescheidener Mann mit sanftem Gemüt entpuppen wird. Sonst würden diese Damen nicht so schnell zustimmen, sich mit ihm in einer dunklen Gasse oder einem unbeleuchteten Treppenhaus auf einen »Vier-Penny-Quickie-an-der-Wand« zu treffen.«

Ich war dankbar, dass Miss Harkness wegen der Notwendigkeit, uns durch die überfüllten Straßen zu manövrieren, nicht darauf achtete, welch intensive Gesichtsfarbe ihre letzte Bemerkung bei mir hervorgerufen hatte. Ich war solche Ausdrücke nicht gewohnt, schon gar nicht von einer Dame von respektablem Stand und Bildung, wie sie es offensichtlich war. Der Kontrast zwischen ihrer offensichtlich guten Erziehung und dem burschikosen Gebrauch solch grober Anspielungen machte mich sprachlos, aber faszinierte mich auch. Es wurde mir klar, dass die Zeit in ihrer Gesellschaft nicht langweilig sein würde.

»Sehen Sie sich um, Doctor.« Miss Harkness machte eine Armbewegung nach vorn und deutete auf die unüberschaubare Menge unterernährter Menschen. »Das East End verhungert. Die im West End sind verrückt, das zu übersehen, aber eines Tages werden sich diese Unglücklichen wie misshandelte Hunde über sie hermachen, und es wird eine Armee brauchen, um sie niederzuschlagen!«

Ich sah Verzweiflung und Resignation in den Gesichtern der Männer, Frauen und Kinder um mich herum – keinen Widerstand. Ich vermutete, dass es mindestens drei herzhafte Mahlzeiten brauchen würde, bevor sie die Kraft finden würden, sich gegen irgendetwas aufzulehnen. Wir kamen an Kindern vorbei, die im Müll spielten und deren nackte Füße mit Blut aus den nahe gelegenen Schlachthöfen verschmutzt waren. Der Geruch ungewaschener Menschen, vermischt mit Rauch und billigem Gin, durchdrang die Luft. Ich bemühte mich, mir vorzustellen, wie ihr Alltag aussehen musste, und ich muss gestehen, dass es mir nicht gelang. Im Nachhinein betrachtet lag es vielleicht weniger an der Vorstellungskraft als am mangelnden Willen.

Vieles von dem, was Miss Harkness mir zeigte, ist im Laufe der Zeit verschwommen, aber ich erinnere mich, dass ich darum bat, die Schauplätze der beiden letzten Morde aufzusuchen. Mir war natürlich klar, dass alle möglichen Hinweise längst entfernt worden waren, aber der Schriftsteller in mir wollte sich den Augenblick der Tat und den Ort, den der Mörder gewählt hatte, um seine Opfer anzugreifen, so deutlich wie möglich vorstellen.

Meine Führerin stimmte bereitwillig zu. »Wie Sie schon sagten, gibt es jetzt nicht mehr viel zu sehen, aber für zwei Pfund würde ich bis nach Cornwall und zurück laufen. Folgen Sie mir.« Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits in der Nähe des Royal London Hospitals, und so gingen wir weiter zur nahe gelegenen Buck’s Row, dem Ort, an dem Mary Nichols starb.

Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, seit die Gassen Londons vom Blut der ermordeten Frauen rot gefärbt waren, dass die meisten von Ihnen, die dies lesen, diese schrecklichen Zeiten nicht miterlebt haben. Erlauben Sie mir daher, Ihnen kurz zu schildern, wie sie ums Leben kam.

Um drei Uhr vierzig am Morgen des einunddreißigsten August entdeckte ein Fuhrmann namens Charles Cross ein kleines Bündel auf dem Fahrweg nahe der alten Internatsschule, die dort heute noch steht. Es lag in einer Einfahrt zu seiner Linken, und da er es für eine weggeworfene Plane hielt, die er vielleicht gebrauchen konnte, ging er näher heran und entdeckte, dass es sich um eine Frau handelte, die dort auf dem Boden lag.

Als Cross sich über sie beugte, hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um und erkannte Robert Paul, einen weiteren Fuhrmann, der ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit war. Cross rief ihn herbei. Sie sahen, dass die Frau auf dem Rücken lag, ihr Kleid war bis zur Taille hochgezogen. Später sagte Cross, dass ihr Gesicht warm, ihre Hände aber kalt gewesen seien. Paul sagte aus, dass er schwache Atmung in ihrer Brust wahrgenommen habe. Sie zogen ihren Rock herunter, um ihre Schicklichkeit zu wahren, und da sie der Meinung waren, dass sie nichts mehr für sie tun konnten, ging jeder seines Weges und versprach, den ersten Polizisten zu benachrichtigen, dem er begegnete. Bei der späteren Untersuchung der Leiche wurden Zweifel an Pauls Vermutung laut, dass Mary Nichols noch gelebt hatte, denn ihre Halswunde war so schwer, dass sie beinahe enthauptet worden war.

Nur wenige Augenblicke nach ihrem Aufbruch entdeckte der Police Constable John Neil unabhängig davon die Leiche. Er gab später an, dass er dreißig Minuten zuvor an der Stelle vorbeigekommen sei, aber weder zu dem Zeitpunkt noch als er sie entdeckte, dort jemanden gesehen habe. Da er eine Laterne bei sich hatte, bemerkte er die Halswunde und stellte fest, dass der Arm oberhalb des Ellbogens noch warm war. In diesem Moment erblickte er den Police Constable John Thain, der am Ende der Straße vorbeikam und ließ seine Blendlaterne aufblitzen, um ihn zu alarmieren.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Während Thain postwendend loslief, um den Polizeiarzt Dr. Llewellyn zu holen, traf PC Mizen ein, der von den beiden Fuhrmännern über die Leiche informiert worden war. Neil schickte Mizen los, um Verstärkung zur Sicherung des Gebiets sowie den Ambulanzwagen der Polizei zu holen.

Dr. Llewellyn traf gegen vier Uhr ein, nur zwanzig Minuten nachdem der erste Fuhrmann die Frau gefunden hatte. Llewellyn erklärte die Frau für tot und stellte fest, dass die Hände und Handgelenke nun kalt, der Körper und die Beine aber noch recht warm waren. Er vermutete, dass der Todeszeitpunkt nicht mehr als dreißig Minuten zurücklag.

Die Nachricht von dem Mord verbreitete sich schnell in der Nachbarschaft. Einer der neugierigen Zuschauer war Patrick Mulshaw, ein Nachtwächter bei Kanalarbeiten in der Nähe. Er gab an, dass gegen vier Uhr vierzig ein Passant zu ihm gesagt habe: »Wachmann, Kumpel. Ich glaube, jemand ist die Straße runter ermordet worden«, woraufhin Mulshaw sich umgehend auf den Weg zur Buck’s Row machte. Spätere Versuche der Polizei, diesen mysteriösen Informanten ausfindig zu machen, blieben erfolglos.

Die immer größer werdende Menschenmenge machte Dr. Llewellyn nervös. Als der Ambulanzwagen der Polizei eintraf – eine hochtrabende Bezeichnung für einen einfachen hölzernen Handwagen – ordnete er an, die Leiche in die Leichenhalle zu bringen, wo eine ordnungsgemäße Untersuchung ohne laute Kommentare von Schaulustigen durchgeführt werden konnte.

Erst als Inspector Spratling das Opfer in der Leichenhalle untersuchte, wurde festgestellt, dass der Bauch der Frau aufgeschlitzt worden war. Ich schreibe dieses Versäumnis den beiden biederen Fuhrmännern zu, die den Unterleib bedeckt hatten sowie dem Wunsch Dr. Llewellyns, die Leiche schnell aus der wachsenden Menschenmenge zu entfernen. Während der gerichtlichen Untersuchung zeigte der Ermittlungsrichter jedoch kein Verständnis für die Verzögerung bei der Entdeckung der Bauchwunden und führte dies als Beweis für die allgemeine Inkompetenz sowohl von Dr. Llewellyn als auch von Inspector Spratling an.

Miss Harkness und ich kamen gegen acht Uhr am Tatort an. Zu diesem Zeitpunkt war die Sonne bereits vollständig untergegangen, und es war nicht schwer, Bewegungen in der Dunkelheit zu erahnen. Als ich mich umschaute, war ich entsetzt darüber, dass der Mörder die Dreistigkeit besessen hatte, in einem so dicht besiedelten Gebiet einen so brutalen Angriff durchzuführen. Die tödliche Verletzung musste mit einer solchen Wildheit, aber auch Genauigkeit ausgeführt worden sein, dass sein Opfer sofort außerstande war, sich zu wehren. Ich starrte lange auf die ramponierten Pflastersteine, die erst kürzlich mit dem Blut einer Frau bedeckt worden waren.

Wir wollten gerade zum zweiten Tatort gehen, als unser Abend eine unerwartete Wendung nahm und ich eine andere Seite meiner gebildeten und durch Veröffentlichungen bekannten Begleiterin kennenlernte. Aus der Dunkelheit, die ich kurz zuvor noch als bedrohlich empfunden hatte, tauchte plötzlich ein großer Mann auf. Im selben Moment nahm ich seinen Gestank nach Gin wahr und nach einem Körper und Kleidung, die seit mindestens zwei Wochen kein heißes Wasser mehr gesehen hatten. Seine Absicht war offensichtlich, noch bevor er sprach. In seiner rechten, leicht zitternden Hand hielt er ein Rasiermesser. Ein anzügliches Grinsen lag auf seinem blassen Gesicht, das durch seine graue Hautfarbe in der Dunkelheit noch verstörender wirkte.

»N’Abend, die Herr’n! Hier, um ein bisschen Blut zu riechen und Gänsehaut zu kriegen? Wie wär’s, wenn ihr mir eure Brieftaschen gebt, damit ihr euren Kumpels ’ne tolle Geschichte erzählen könnt, wenn ihr nach Hause kommt? Wenn nicht, könnte es schlecht für euch laufen, und ihr könnt überhaupt keine Geschichten mehr erzählen!«

Ich wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, um mich zwischen diesen Schurken und Miss Harkness zu stellen, als sie sich wie ein Schatten an mir vorbeibewegte. Sie drückte ihm eine kleine Handfeuerwaffe so schnell an den Hals, dass es ihm wie von Zauberhand erschienen sein musste.

»Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen meinen guten amerikanischen Freund, Mr. Derringer, vorzustellen. Er kennt nur zwei Worte, aber auf diese Entfernung sollte eines ausreichen. Ich schlage vor, Sie gehen jetzt, bevor er sagt, was er denkt. Oh, und Sie können das Rasiermesser, das Sie offensichtlich selten benutzen, als Zeichen Ihres guten Willens fallen lassen.«

Unser ursprünglicher Angreifer ließ seine Klinge mit einem entsetzten Gesichtsausdruck auf den Gehweg fallen, wobei er eine vage Entschuldigung murmelte. Miss Harkness trat zurück und beobachtete ihn, bis er wieder in der Dunkelheit verschwand. Als er weg war, bückte sie sich, hob seine Waffe auf, klappte sie sorgfältig zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Dann wandte sie sich mir zu.

»Nun, Dr. Doyle«, sagte sie, »jetzt hatten Sie einen gebührenden Empfang im East End. Ich schlage vor, dass wir für heute Abend Schluss machen, denn ich glaube, Sie hatten einen anstrengenden Tag.« Ich bat darum, die Waffe zu sehen, mit der sie den Raubüberfall auf uns vereitelt hatte.

Ich hatte wenig persönliche Erfahrung mit Schusswaffen und war von dieser kleinen Ausführung fasziniert.

Miss Harkness erklärte, dass es sich um eine doppelläufige Pistole des Kalibers 41 handelte, die gemeinhin als »Muff Gun« bekannt war, da sie leicht in einem Pelzmuff einer Dame versteckt werden konnte. Auf die Frage, warum sie eine so kleine, aber tödliche Waffe besitze, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte, es sei klug, bei nächtlichen Spaziergängen im East End »Vorsichtsmaßnahmen zu treffen«.

(Schriftsteller sind die schamlosesten aller Diebe. Ich war von dem Ausdruck »Vorsichtsmaßnahmen zu treffen« im Zusammenhang mit dem Tragen einer Schusswaffe so fasziniert, dass ich ihn in späteren Jahren zu dem Codewort machte, das Holmes in Telegrammen an Watson verwendete, um ihn anzuweisen, seinen Dienstrevolver mitzubringen).

Unsere traditionellen Rollen – der Mann als Beschützer und die Frau als Beschützte – waren für den Rest des Abends vertauscht (obwohl sie es, wenn ich zurückdenke, die ganze Zeit über waren), da Miss Harkness mich zum nächsten Ort führte, wo eine Droschke verfügbar war. Vielleicht hätte ich mich schämen sollen, von einer Frau gerettet worden zu sein, aber in diesem Moment war mein einziges Gefühl Dankbarkeit. Ich tröstete mich mit einem Gedanken, als wir uns auf den Rückweg zur Whitechapel Road machten: Miss Harkness war definitiv nicht langweilig. Als ich eingestiegen und sicher war, verbeugte sie sich leicht, wobei sie ihre maskuline Fassade aufrechterhielt, und schlüpfte zurück in das dunkle, lärmende Labyrinth des East Ends, als wäre sie nie da gewesen.

Kapitel 5

Verstärkung

Sonntag, 23. September bis Montag, 24. September

Als ich das East End verließ, sann ich über das endlose Labyrinth aus dunklen Straßen und Höfen nach. Ich schüttelte den Kopf, als ich an die Aufgabe dachte, einen Mörder ausfindig zu machen, der sich in einer solch abscheulichen und verwinkelten Umgebung entfalten konnte.

Im Club beschaffte ich mir so schnell wie möglich einen Platz am Feuer und einen Brandy. Danach vergrub ich mich in der einladenden Gemütlichkeit meines Bettes und fiel prompt in einen tiefen Schlummer.

Am nächsten Tag wachte ich später als sonst auf und beschloss, mir einen ruhigen Morgen zu gönnen, bevor ich um drei Uhr Professor Bell traf. Vielleicht war ich nach den Abenteuern der vorangegangenen Nacht etwas aufgewühlt, aber ich redete mir ein, dass ich schon so viel erreicht hatte, wie es ohne seine scharfsinnige Unterstützung nur möglich war. Es ist leicht, sich eine Vielzahl von Gründen ausdenken, warum man sich für eine bestimmte Handlungsweise entscheidet, deshalb gestatten Sie mir jetzt eine ehrlichere Erklärung.