Miss Harkness und das Damengambit - Bradley Harper - E-Book

Miss Harkness und das Damengambit E-Book

Bradley Harper

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Beschreibung

England, 1897. In London bereitet man sich auf das Diamantene Thronjubiläum Queen Victorias vor. Zur selben Zeit wird die Schriftstellerin (und gelegentliche Detektivin) Margaret Harkness von ihrem Freund Professor Joseph Bell, dem realen Vorbild für Sherlock Holmes, aufgesucht, der ihre Unterstützung braucht. Bell soll einen anarchistischen Spion entlarven und bittet um ihre Hilfe. So beginnt ein verhängnisvolles Katz-und-Maus-Spiel zwischen Terroristen und Spionen, zwischen revolutionärem Eifer und wissenschaftlichen Schlussfolgerungen. Das Leben der Queen steht auf dem Spiel. Wird ein mysteriöser Attentäter bei den Feierlichkeiten zum Thronjubiläum zuschlagen? Der Nachfolgeroman von "Doktor Doyle jagt Jack the Ripper" spielt in der historischen Atmosphäre des viktorianischen Großbritanniens, inmitten von Gaslaternen und Kutschen, Spionen und Ministern, und ist ein historischer Roman, wie er spannender nicht sein könnte... und tödlicher.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover

St Paul’s Cathedral, Haupteingang und Umgebung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Epilog

Nachwort

Menschen

Erzherzog Franz Ferdinand

Königin Victoria

Police Commissioner Sir Edward Bradford

Luigi Parmeggiani

Peter Kropotkin

Hermann Ott/Viktor Scheljabow

Professor Joseph Bell

Margaret Harkness

Sonstiges

Das Girandoni-Luftgewehr

Das Internat für den Knabenchor

Die Krüger-Depesche

Danksagungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Derek,

Ohne das erste Buch hätte es kein zweites Buch gegeben, und ohne dich hätte es kein erstes Buch gegeben.

St Paul’s Cathedral, Haupteingang und Umgebung

1. Kutsche der Königin

2. Internat, Fenster im zweiten Stock

Prolog

St. Petersburg, Russland, Dienstag, 1. März 1881, nachmittags

Viktor zitterte in der Nachmittagssonne, sowohl wegen der Kälte als auch wegen seiner wachsenden Aufregung. Obwohl der Himmel wolkenlos war, verhinderte der ständige Nordwind, dass die schwachen Sonnenstrahlen so nahe am Polarkreis viel bewirken konnten. Der Schnee lag fast einen Meter hoch am Straßenrand, als Sofia und er auf dem Bürgersteig neben dem Katharinenkanal auf und ab liefen, mit den Füßen stampften und sich tief in ihre dicken Wollmäntel verkrochen, während sie auf ihre Chance warteten, die Welt zu verändern.

Die drei Bombenwerfer waren hundert Meter weiter unten auf der Straße und taten ihr Bestes, um geschäftig zu erscheinen. Sofia hatte einen von ihnen gescholten, weil er an diesem Morgen seine Salami und sein Brot mit Wein heruntergespült hatte. Er hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt, wenn dies seine letzte Mahlzeit sei, solle sie froh sein, dass er Wein und nicht Wodka trinke.

Plötzlich kam die royale Kutsche mit den Kosaken-Leibwächtern auf sie zugerast, und Sofia hatte gerade noch genug Zeit, den Bombenwerfern mit ihrem erhobenen Taschentuch ein Zeichen zu geben.

Der erste Attentäter schätzte die Geschwindigkeit der Kutsche falsch ein, und seine Nitroglyzerinbombe fiel zwischen die nachfolgenden Kosaken und explodierte mit einem Blitz, der von den Schreien der verwundeten Pferde und Männer begleitet wurde.

Viktor fluchte und fürchtete, der Zar würde entkommen. Die Narodnaja Wolja, oder der »Volkswille«, hatte es schon zweimal versucht, und es sah so aus, als würde ihre »Propaganda der Tat« erneut scheitern.

Doch auf einen aus dem Inneren des Wagens gebellten Befehl hin kam die kugelsichere Kutsche zum Stehen. In einen dicken Pelzmantel gehüllt stieg Alexander aus und ging zu den Verwundeten, um sie zu trösten, während er sich nach seinen Angreifern umsah. Der Polizeichef von St. Petersburg, der im nachfolgenden Schlitten saß, rief: »Gott sei Dank!«, als er seinen Monarchen unverletzt herauskommen sah.

Viktor biss die Zähne zusammen, als ihr Zielobjekt unversehrt auf der Straße stand. Als Sofia und er jedoch näherkamen, sah er einen kleinen Jungen mit blutbesudelter Kleidung, der sich am Straßenrand krümmte, und plötzlich hatte Viktor den Drang, sich zu übergeben.

Aus der versammelten Menge heraus reckte der zweite Attentäter die Hand in die Höhe, rief: »Es ist zu früh, um Gott zu danken!«, und schleuderte seine Bombe auf den Boden direkt vor die Füße des Zaren. Die zweite Explosion warf Viktor aus zwölf Metern Entfernung zu Boden, und als er sich erhob, sah er den russischen Monarchen auf dem festgefahrenen Schnee liegen, die Eingeweide zwischen seinen Beinen ausgebreitet. Jetzt wurde Viktor von seiner Übelkeit überwältigt und würgend kniete er in einem Graben, während die Wachen den schwer verletzten Mann auf einen Schlitten hoben und zum Palast fuhren. Vergeblich.

Innerhalb einer Stunde war Alexander II. tot. Schnell setzte Alexander III. alles daran, die Mörder seines Vaters zu finden und ihre Organisation für immer zu zerschlagen.

In der allgemeinen Verwirrung entschlüpften Sofia und Viktor in ihre Wohnung und bereiteten sich auf die nächsten Schritte vor. »Pack deine Tasche, Viktor, unsere Zeit ist knapp«, sagte Sofia. »Die Ochrana wird losgeschickt und, sie werden wie entfesselte Jagdhunde überall nach uns suchen. Dein Alter wird dich nicht schützen, also schicke ich dich dorthin, wo sie dich nicht finden können. Wir brechen in fünf Minuten auf.«

Fünf Minuten waren reichlich Zeit. Ein einfacher Stoffsack mit seinem Ersatzhemd, einer Hose, einem Taschenmesser, zwei Flanell-Fußlappen und der Taschenuhr seines Vaters, und schon war er fertig. Die Uhr hatte sein Bruder Andrei als ältester Sohn nach dem Tod des Vaters bekommen, aber Andrei hatte sie Viktor »zur sicheren Aufbewahrung« gegeben, als sie in St. Petersburg ankamen. Jetzt gehörte sie ihm, sicher oder nicht.

Am Bahnhof drückte Sofia ihm ein dickes Bündel Rubel und einen falschen Pass in die Hand. Dann umarmte sie ihn heftig und gab ihm einen Zettel: »Präge dir diesen Namen und diese Adresse ein, dann vernichte ihn und denke dir einen neuen Namen für dich selbst aus. Ich will ihn nicht wissen, falls ich gefangen genommen werde. Ich muss schon zu viel vergessen. Geh jetzt!«

Sofia verschwand in der Menge, und Viktor sah auf das zerknitterte Papier und den Pass in seiner Hand. Der Pass wies ihn als Vanna Petkovic aus und auf dem Zettel stand:

Herr Thomas Vogel, Invalidenstraße 471, Berlin.

Passwort: Paris

Viktor sprach etwas Englisch und ein wenig Französisch, aber kein Deutsch, deshalb war es schwierig, sich den Namen und die Adresse zu merken und unmöglich, beides auszusprechen. Dafür ist später genug Zeit, dachte er.

Der blasse Junge mit den ruhigen grauen Augen wusste, dass der kürzeste Weg nach Berlin über Polen führte. Er wusste auch, dass dies der Ochrana bekannt sein würde, sollte Sofia zusammenbrechen, also kaufte er eine Zugfahrkarte ins nahe Helsinki. Von dort aus konnte er eine Fährpassage nach Kiel an der norddeutschen Küste buchen und dann einen Zug Richtung Süden nach Berlin nehmen. Er war dankbar, dass sein Bruder darauf bestanden hatte, dass er Geografie lernte.

Viktor machte sich Sorgen um seinen Bruder Andrei, der seit einer Woche ein Gefangener der Ochrana war. Die Tatsache, dass die Attentäter bis heute nicht verhaftet worden waren, bewies, dass Andrei bei den Verhören nicht zusammengebrochen war, aber nun, da der Zar tot war, würde man ihm gegenüber keine Zurückhaltung mehr üben. Viktor schauderte bei dem Gedanken daran, was das bedeutete, aber er konnte nichts tun. So sehr er seinen Bruder auch liebte, so wusste er doch, dass er ihn nur im Gefängnis und dann am Galgen wiedersehen würde.

Als Viktor allein im Zug saß, blickte er wieder auf das Stück Papier mit der Adresse in Berlin und fragte sich, wer oder was ihn dort erwartete. Er sah, wie seine Heimat, die Rodina, an seinem Fenster vorbeizog, während der Zug Richtung Finnland fuhr. Am nächsten Tag würde er ein Schiff nach Deutschland und in eine ungewisse Zukunft nehmen.

Zwei Tage später steuerte ein dünner, erschöpfter junger Mann auf die Adresse in der Invalidenstraße und das Waffengeschäft von Herrn Thomas Vogel zu. Als er eintrat, ölte ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren, das etwas älter als Viktor war, eine Jagdflinte mit einem Schaft aus edlem Mahagoni und Läufen aus Damaszenerstahl. Als es ihn fragte, ob es ihm helfen könne, brachte er nur den Namen ihres Vaters und »bitte« hervor. Verwundert bedeutete sie ihm, zu warten und holte ihren Vater von seiner Drehbank im Hinterzimmer. »Ja? Was darf es sein?«, fragte er. Viktor hatte keine Ahnung, was er gefragt wurde, er schaute auf seine Füße und murmelte: »Paris.«

Herr Vogel schürzte einen Moment lang die Lippen. »Astrid, mach ihm ein Bett auf dem Dachboden über der Werkstatt. Er wird mein neuer Lehrling sein.«

Astrid warf ihr Haar zurück und betrachtete den jungen Mann genauer. Dünn, fast schon am Verhungern, und dennoch war er im letzten Jahr schnell gewachsen, angesichts der Handgelenke und Knöchel, die aus seiner Kleidung herausragten. Seine Hände waren nicht rau. Ein Student. Oder ein ehemaliger.

Sie wollte sich gerade umdrehen und ihn auf den Dachboden führen, als er den Blick hob, und das kühle Grau in seinen Augen ließ ihren Herzschlag einen Moment aussetzen. Sie stellte sich die Farbe des Winterhimmels vor, kurz bevor der Schnee fiel, doch sein Blick berührte sie auf eine Weise, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte. Seine Wimpern waren von einem warmen Braun, und der Kontrast ließ seine Augen tief darunter schimmern. Astrid führte ihn zu seinem neuen Zuhause, und in dieser Nacht fiel es ihr schwer, einzuschlafen. Sie stellte sich vor, wie diese Augen nebenan in der Werkstatt im Kerzenschein leuchteten.

Herr Vogel bemerkte davon nichts. Er konnte die Flugbahn eines Geschosses auf zweihundert Meter berechnen; die von Amors Pfeil war für ihn unsichtbar.

Viktor versuchte in dieser Nacht, sich unter der dünnen Bettdecke zu wärmen, die Frau Hilda Vogel ihm widerwillig gegeben hatte. Er dachte an die goldhaarige junge Frau, die ihn die Treppe hinaufgeführt hatte. »Ich muss schnell Deutsch lernen«, schwor er sich, »wenn ich mit ihr reden will.«

Zur selben Zeit, als er am nächsten Morgen erwachte, wurden Sofia und sein Bruder Andrei im Gefängnis wieder zusammengeführt. Viktors Name wurde bei ihrem groben Verhör kurz erwähnt, aber in der Eile, einen ungeduldigen neuen Zaren mit ihrer Hinrichtung zu besänftigen, wurde er bald vergessen. Sofia war die erste Frau, die seit Menschengedenken in Russland gehängt wurde.

Von diesem Morgen an gab es auch den jungen Viktor Scheljabow nicht mehr. Er hatte den Namen des Kapitäns der Fähre nach Kiel aufgeschrieben und wurde so zu Hermann Ott. Wenigstens konnte er ihn aussprechen.

Kapitel 1

Buckingham Palace, London, Mittwoch, 10. März 1897

Der Kämmerer war so steif wie sein Kragen. »Ich bitte um Verzeihung, Madam, aber ich sehe Ihren Namen nicht im Kalender Ihrer Majestät. Vielleicht waren Sie für einen anderen Tag vorgesehen?« Seine hochgezogene Augenbraue deutete an, für wie unwahrscheinlich er diese Möglichkeit hielt. Ich wusste, dass es fast unmöglich war, ein Interview mit der Königin zu bekommen, aber wenn man quasi mittellos ist, kommt der Zeitpunkt, an dem man alles versucht.

»Nein, Sir, ich habe weder für heute noch für einen anderen Tag einen Termin, aber ich hatte gehofft, Sie könnten mir einen Termin in naher Zukunft geben, an dem Ihre Majestät und ich miteinander sprechen könnten.«

»Ich verstehe.« Die Augenbraue senkte sich majestätisch auf ihre ursprüngliche Höhe, während sich die Nase hob, ein kleiner Akt der Gesichtsakrobatik, den ich nur bewundern konnte.

»Es tut mir leid, Miss Harkness, aber Ihre Majestät hat weder heute noch in absehbarer Zukunft Zeit für ein Interview. Bitte gehen Sie Ihrer Wege.«

Ich biss die Zähne zusammen. Zwar hatte ich gewusst, dass es am wahrscheinlichsten war, vor die Tür gesetzt zu werden, aber die überhebliche Art des Mannes hinterließ einen schalen Geschmack in meinem Mund. »Jawohl, Sir«, gelang es mir zu sagen, ohne bissig zu klingen. Als letzten Akt meines Bittgesuchs präsentierte ich ihm meine Karte. »Sollte es im Terminplan Ihrer Majestät eine unerwartete Lücke geben, bitte ich Sie, mein Anliegen zu überdenken.«

Ich bezweifle, dass der Mann die Karte angenommen hätte, wenn er keine Handschuhe getragen hätte, und ich befürchtete, dass sie bald im nächsten Mülleimer landen würde, aber das Leben ist von unerwarteten Glücksfällen geprägt. Die Kosten für eine einzige Karte würden den Einsatz wert sein, wenn er sie weitergeben würde.

Als ich den Raum verließ, hörte ich aus dem Salon der Königin eine Stimme nach dem Mann rufen, und ich war schon fast am Fuß der Treppe, als seine keuchende Stimme mich rief:

»Miss Harkness! Einen Moment, bitte.«

Hätte ich dem Mann gesagt, dass ich Schweiß auf seiner Stirn sah, wäre er wohl vor Verlegenheit gestorben. Er räusperte sich, während er um seinen Atem und seine Würde rang, dann richtete er sich auf und verkündete in überlautem Tonfall: »Ihre Majestät wird Sie jetzt empfangen.«

Ich knickste und musste lächeln, wobei ihm sein Kragen noch enger vorkommen musste.

»Danke«, brachte ich heraus, ohne zu lachen. Offenbar hatte er seine Grenzen überschritten und seine Herrin hatte ihm eine Lektion erteilt – zu meinem Vorteil.

»Hier entlang, Miss.«

Demütig folgte ich ihm, meine Handflächen waren plötzlich feucht. Pass auf, wenn du dir etwas wünschst, dachte ich. Es war allgemein bekannt, dass die Königin Dummheiten nicht leichtfertig hinnahm, wenn sie es überhaupt tat. Ich war im Begriff, mit der Herrscherin eines Reiches, das die halbe Welt umspannte, ein Gespräch zu führen, und ich erinnerte mich an den Rat, den man mir als Schülerin bei einer Schulaufführung gegeben hatte: »Merke dir deinen Text und stoße nicht gegen die Möbel.« Vielleicht keine tiefgründige Philosophie, aber für den Moment würde es reichen.

Ihre Majestät war ganz in Schwarz gekleidet, die einzige Farbe, die sie seit dem Tod ihres geliebten Albert vor Jahrzehnten trug. Ich war noch nie in der Gegenwart einer royalen Persönlichkeit gewesen, also knickste ich vor der kleinen Frau, die vor mir saß, und hoffte, dass ich es richtig gemacht hatte: »Eure Majestät. Danke, dass Sie mich empfangen.«

Die Königin neigte den Kopf und fuhr fort, den Spitz auf ihrem Schoß zu streicheln.

»Tee«, äußerte sie, ohne den Kämmerer anzuschauen.

»Ja, Eure Majestät«, sagte er. Jetzt, da er sich wieder auf terra cognita befand, zeigte das Gesicht des Kämmerers die Maske eines loyalen Dieners, doch ich hatte keinen Zweifel daran, dass er mein Getränk vergiftet hätte, wenn es möglich gewesen wäre.

Ihre Majestät deutete auf einen kleinen Beistelltisch in der Nähe, an dem ein Stuhl für mich stand, und der Kämmerer servierte uns beiden eine Tasse dampfenden Tee. Nachdem diese Formalitäten erledigt waren, schickte sie den Mann fort mit der Anweisung: »Wir möchten uns vor den Terminen am Nachmittag kurz ausruhen, aber sorgen Sie dafür, dass Wir in der nächsten halben Stunde nicht gestört werden.«

Der Mann verbeugte sich und warf mir einen Seitenblick zu, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, wobei er die Tür leise schloss.

Die Mundwinkel Ihrer Majestät deuteten kurz ein Lächeln an, bevor sie sich wieder mir zuwandte. »Normalerweise sind Wir nicht geneigt, uns mit Journalisten zu treffen, schon gar nicht mit Frauen, die in die Arbeitswelt der Männer eindringen, aber Wir waren der Meinung, dass der junge Mann eine Erinnerung daran braucht, wem er dient und welche Rolle er in Unserem Haushalt spielt.« Wieder zuckten die Mundwinkel. »Sie haben zwanzig Minuten Zeit.«

Ich begann unser kurzes Interview mit einem Thema, das ich für harmlos hielt. »Danke, Eure Majestät. Wie ich hörte, waren Sie eine begeisterte Leserin der Sherlock-Holmes-Geschichten in The Strand.«

Ihre königliche Nase schnupperte, als sie ihre Teetasse an die Lippen hob. »Wir mochten die Geschichten sehr. Mr. Holmes ist ein Musterbeispiel für britische Ritterlichkeit, und seine mutwillige Ermordung durch Dr. Doyle an den Reichenbachfällen hat Uns sehr verärgert. Sie können Uns direkt zitieren und, sollten Sie den Mann zufällig treffen, beschwören Sie ihn bitte, den lieben Mr. Holmes für seine Königin wieder auferstehen zu lassen. Im Laufe der Jahre wurde Uns vieles von dem, was Wir einmal hatten, genommen. Die Geschichten von Holmes’ Eskapaden waren eines der wenigen Vergnügen, die Uns geblieben sind. Nun hat er Uns und seinen Legionen von Lesern auf grausame Weise dieses literarischen Schatzes beraubt.«

Sie hielt ihre Tasse, als wolle sie ihre Hände wärmen. »Da Sie selbst Schriftstellerin sind, ist es möglich, dass Sie den Mann kennen?«

Ich zögerte. Ich erinnerte mich an eine innige Umarmung im Nebel neun Jahre zuvor. Die Erinnerung verging so schnell, wie sie gekommen war. »Ja, Eure Majestät, obwohl ich ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen habe. Wir verkehren nicht in denselben gesellschaftlichen Kreisen.«

Sie schaute mich mit ihren dunklen, ausdrucksstarken Augen an. »Dann sagen Sie ihm – sagen Sie es der Welt, wenn Sie wollen – dass er seine Monarchin sehr enttäuscht hat.« Ihre Teetasse klapperte leicht, als sie sie auf die Untertasse stellte und sie seufzte. »Es würde Uns sehr freuen, wenn dieses Interview die Auferstehung des edlen Sherlock Holmes bewirken könnte, aber jetzt sind Wir müde. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Nachmittag.«

Die betagte Königin läutete eine Glocke, und der Kämmerer, der wohl draußen gelauscht hatte, trat mit einer Schoßdecke für Ihre Majestät ein. Er hob den Spitz, der sich kaum rührte, sanft hoch, und nachdem er sowohl die Decke als auch den Hund nach ihren Wünschen arrangiert hatte, führte er mich hinaus, während sie sich auf ein Nickerchen vorbereitete.

»Guten Tag, Miss Harkness«, sagte er mit großer Präzision, als die Tür geschlossen war und wir außer Hörweite seiner Herrin waren. »Kommen Sie nicht wieder.«

Ich lächelte. Ich konnte es mir nicht leisten, mir den Mann zum Feind zu machen, aber ohne darüber nachzudenken, erwiderte ich: »Das haben Sie nicht zu entscheiden, aber ich freue mich immer, davon zu profitieren, wenn Sie sich vergessen.« Ich knickste zum Abschied, er schniefte, und unsere Wege trennten sich.

Ich war so zufrieden mit dem Verlauf des Interviews, dass ich mir ein Essen in einem Café gönnte. »Ein Tisch für eine Person«, sagte ich dem Kellner. Er nickte und führte mich an einen kleinen Tisch in der Ecke neben der Küche. Sie versuchen immer, mich außer Sichtweite zu platzieren. Ich seufzte. Vermutlich, um die anderen Kunden nicht zu vergraulen.

Ich knirschte mit den Zähnen, als ich hörte, wie auf der gegenüberliegenden Seite Geschirr und Besteck abgeräumt wurde. Der grelle Schein der nun bloßen Tischdecke schmerzte in meinen Augen. Ich könnte auch ein Schild anbringen, dachte ich. Alleinstehende Frau, Vorsicht!

Der leere Platz auf der anderen Seite des Tisches war, wenn nicht ein alter Freund, so doch zumindest ein langjähriger Bekannter.

Mein Name ist Margaret Harkness, und wie die meisten Menschen, die es wert sind, kennengelernt zu werden, bin ich ein vielseitiger Mensch. Zunächst einmal bin ich eine Frau in einer Männerwelt. Alles, was ich in meinem Leben erlangt oder erreicht habe, geschah mit wenigen Ausnahmen ohne männliche Unterstützung und oft gegen deren Widerstand. Ich bin auch eine Suffragette. Frauen werden von den Männern an der Macht erst dann als gleichberechtigt angesehen, wenn wir sie abwählen oder – zu ihrem großen Entsetzen – ablösen können.

Ich bin Schriftstellerin, aber eine Schriftstellerin ohne eine Geschichte ist so nutzlos wie ein Sänger ohne ein Lied.

Ich bin auch eine christliche Sozialistin. Ich sehe es als meine Berufung an, als mein Lied, wenn Sie so wollen, den Schleier der Ignoranz zu zerreißen, den die Wohlhabenden gegenüber den Ärmsten der Gesellschaft aufrechterhalten. Meine politischen Ansichten haben mich von meiner Familie entfremdet, und mein Bedürfnis, meine eigene Karriere zu verfolgen, hat mich einmal eine Verlobung gekostet. Meine Bücher und anderen Werke müssen mein Vermächtnis, meine »Kinder« sein, denn Romantik und Ehe sind längst begrabene Träume.

Meine Bücher haben jedoch nur eine begrenzte Anhängerschaft, und ich ergänze mein Einkommen durch freiberuflichen Journalismus. Die männlichen Redakteure der großen Zeitungen zögern, Werke einer weiblichen Schriftstellerin zu veröffentlichen, so dass ich oft meinen Stolz herunterschlucken und den nom de plume John Law annehmen muss.

Als ich mich meinem vierzigsten Lebensjahr näherte, stellte ich fest, dass meine Kräfte nachließen. Nachdem ich verschiedene Ärzte aufgesucht hatte, wurde bei mir eine dem Lupus ähnliche Krankheit diagnostiziert. Die genaue Diagnose war eine akademische Mutmaßung, aber da es keine wirksame Behandlung für irgendeine Form dieser Krankheit gibt, ist es wirklich egal, wie sie genannt wird. Lupus wird genügen. Meine Gelenke versteifen, ich werde leichter müde, und ich muss mich jeden Morgen dehnen, um beweglich zu bleiben.

Keiner der Pfeife rauchenden Ärzte, die ich aufsuchte, konnte mir eine Heilung versprechen, aber einer schlug vor, dass ein Umzug in ein wärmeres Klima das Fortschreiten meiner Krankheit verlangsamen könnte. Deshalb tat ich nun alles in meiner Macht Stehende, um Mittel für die Auswanderung nach Australien zu beschaffen. Ich hatte dort 1891 eine kurze Zeit als Auslandskorrespondentin für die Pall Mall Gazette gearbeitet und wusste von meinen Kontakten, dass es für die Zeitungen schwierig war, Journalisten zu halten. Es schien, dass ein Reporter, sobald er in den Goldfeldern ankam, die Schreibmaschine gegen Hacke und Schaufel tauschte, in der Hoffnung, sein Glück zu machen.

In den weniger strukturierten Gesellschaften der Bergbaugemeinden gibt es für Frauen nicht so viele Einschränkungen, so dass ich kaum Schwierigkeiten haben sollte, eine Arbeit zu finden. Während ich mich abmühte, die Mittel für meine Überfahrt zusammenzukratzen, bedauerte ich mehr als einmal, dass wir keine Gefangenen mehr dorthin verbannten. Leider würde mir ein einfacher Raub nicht mehr die einfache Reise in das ferne Land ermöglichen, obwohl ich die Fesseln an meinen Handgelenken wohl bald als lästig empfinden würde.

Mein Interview mit der Königin war nicht von großer Bedeutung, aber trotz seiner Kürze war ich sicher, dass ich es an jede der großen Londoner Zeitungen verkaufen konnte. Die Meinung Ihrer Majestät über meinen Freund Doctor Doyle war im gesamten britischen Empire weit verbreitet, und er hatte bereits viel öffentliche Verachtung für den Tod seines beratenden Detektivs in einem dramatischen Kampf an den Reichenbachfällen erfahren. Ein bisschen mehr könnte er sicher noch ertragen – obwohl es vielleicht ein Glück für den Schöpfer von Mr. Holmes ist, dass die britische Monarchin die Hinrichtung eines Mannes nicht mehr per königlichem Dekret anordnen kann.

Ich hatte mich zusammen mit Doyle und Professor Joseph Bell – Doyles Inspiration für Holmes – als das, was wir lachend »Die drei Musketiere« nannten, großen Gefahren gestellt. Im Jahr 1888, also vor etwa neun Jahren, jagten wir Jack the Ripper, nur um festzustellen, dass er mich für seine rechtmäßige Beute hielt. Aber das ist eine andere Geschichte. Es genügt zu sagen, dass wir, obwohl wir getrennte Wege gegangen sind, eine Wärme und Zuneigung bewahrt haben, die unter Veteranen einer gemeinsamen Gefahr üblich ist. Nur Bell und ich wagen es, unseren Musketier-Kollegen bei seinem nom de guerre zu nennen, den Bell ihm gegeben hat: »Porthos«.

Kapitel 2

Berlin, Sonntag, 4. April 1897

Es war ein kühler, aber sonniger Frühlingstag, perfekt für ein Picknick. Hermann und Astrid, die seit sieben Jahren verheiratet waren, gingen in der Nähe der Werkstatt an der Spree entlang, einen Korb mit Essen und eine Flasche Riesling unter Hermanns Arm. Unter einem Baum am Fluss fanden sie einen Platz und Astrid legte eine verblichene Steppdecke auf den Boden. Hermann half ihr sich hinzusetzen, denn ihr geschwollener Bauch zeigte, dass aus den beiden bald drei werden würden. Frau Vogel war niemals mit Hermann warm geworden, bis Astrid schwanger wurde. Jetzt sang Hermanns Schwiegermutter in der Küche, während sie das Abendessen zubereitete, und achtete darauf, dass ihre Tochter nie hungrig war, und sogar Hermann gab sie lächelnd eine Extraportion Strudel.

»Ich liebe die Kirschbäume, Hermann, du nicht auch?« fragte Astrid. »Eines von Vaters Lieblingsliedern handelt von ihnen. Er hat es mir immer vorgesungen, als ich noch klein war. Er hat eine schöne Stimme, ob du es glaubst oder nicht. So seltsam es klingt, er war Chorknabe, bevor er Anarchist wurde.«

Astrid begann ein langsames, trauriges Lied auf Französisch zu singen. Ihre Stimme war sanft und weich, und Hermann legte sich hin und schloss die Augen, um besser zuhören zu können. Er spürte eine leichte Brise, das Rauschen des Flusses, den Geruch von feuchter Erde und die Kirschblüten, die sanft auf den beiden landeten, er atmete die Stimme seiner Frau ein und war in diesem Moment wahrscheinlich der glücklichste Mann in Berlin.

»Ich habe es dich schon einmal singen hören. Es ist so schön und doch traurig. ›Le temps des cerises‹ … die Zeit der Kirschen?«, fragte Hermann.

»Ja, es stammt von der Pariser Kommune aus dem Frühjahr 1871. Zehn Wochen lang wurde die Stadt Paris vom Volk regiert. Alle erwachsenen Männer und Frauen hatten das Wahlrecht. Frauen erhielten für ihre Arbeit den gleichen Lohn wie Männer. Es gab keine Todesstrafe und eine vollständige Trennung von Kirche und Staat. Es war ein Traum. Der gemeine Mann und die gemeine Frau waren vor dem Gesetz jedem Aristokraten gleichgestellt, außer natürlich all den Aristokraten, die geflohen waren. Die französische Regierung brach am Ende des Deutsch-Französischen Krieges zusammen, aber das Pariser Volk weigerte sich, zu kapitulieren.«

»Das würden die Aristokraten niemals zulassen!«

»Nein, mein Lieber. Die Könige in ganz Europa hatten solche Angst, dass sich diese Ideen verbreiten würden, dass die preußische und die französische Armee, die gerade einen Krieg beendet hatten, bei der Niederschlagung der Kommune zusammenarbeiteten. Die Preußen blockierten die Ostseite, während die französische Armee von Westen her anrückte. Es dauerte eine Woche, la semaine sanglante, »die Blutwoche«, um die Stadt einzunehmen. Das ist unser Erbe als Anarchisten, Hermann. Und ich werde unserem Kind ›Le temps des cerises‹ vorsingen, in der Hoffnung, dass der Traum eines Tages Wirklichkeit wird und wir alle vor dem Gesetz gleich sind.«

Sie sang das Lied langsam weiter, wobei sie von Zeit zu Zeit eine Pause machte, um zu übersetzen. »Les belles auront la folie en tête et les amoureux du soleil au coeur.«

» ›Die Mädchen werden Torheiten im Kopf haben‹ «, sagte sie, » ›und die Liebenden den Sonnenschein im Herzen.‹ Den Rest werde ich ein andermal übersetzen. Es ist ein bisschen trauriger, und ich will diesen schönen Tag nicht verderben.«

Nach dem Mittagessen legte Hermann seinen Kopf sanft auf Astrids wachsenden Bauch und döste, während sie an einem Baum lehnte und ein Buch von einer ihrer Lieblingsschriftstellerinnen, einer Engländerin namens Margaret Harkness, las.

Herr Vogel hatte darauf bestanden, dass Hermann Englisch lernte, damit er mit ihren wohlhabenden britischen Kunden verhandeln konnte. Astrid erzählte Hermann von ihren Lieblingspassagen, wenn es nicht viel zu tun gab und er daran arbeitete, den Zündmechanismus eines Gewehrs einzustellen. Sie konnte Hermann jedoch nie dazu bringen, mehr zu lesen als gelegentlich einen Groschenroman. Er hatte eine Vorliebe für amerikanische Western und Mark Twain, obwohl er vor seiner Flucht aus Russland eine gute Ausbildung genossen hatte.

Hermann war ein geschickter Büchsenmacher, und Herr Vogel hoffte, das Geschäft an ihn weitergeben zu können, aber Hermann vergaß nie das Bild des blutenden Jungen auf der Straße oder die Eingeweide des Zaren, die zwischen seinen Beinen lagen. Er war ein mehr als guter Schütze, und manchmal nahm ihn sein Schwiegervater mit zu einem Schießstand außerhalb Berlins, um einem potenziellen Kunden ein Jagdgewehr vorzuführen. Hermann genoss die Konzentration, die innere Ruhe, die ein Fernschuss erforderte, und solange die Ziele aus Papier waren, war es nichts anderes als eine Übung in Meditation. Er begann langsam und tief zu atmen und kam bald in einen Zustand völliger Ruhe, als Finger und Abzug eins wurden.

Aber Hermann sah sich selbst als einen Mann der Zukunft. Einer der größten Kunden des Ladens, Herr Herbst, war Elektroingenieur, und er stellte Hermann als Lehrling ein. Schon bald war Hermann damit beschäftigt, Kabel zu verlegen und Beleuchtungen im nahe gelegenen Reichstag und anderen Regierungsgebäuden zu installieren. Abends und an den Wochenenden arbeitete er immer noch im Waffengeschäft, aber da er dazu beitrug, die Dunkelheit der Nacht zu vertreiben, wurden seine Arbeitszeiten immer länger. Astrid murrte wegen der langen Arbeitstage, vor allem als der Zeitpunkt ihrer Entbindung näher rückte, und Hermann überredete Herrn Herbst, ihn für die Geburt des Kindes freizustellen.

Herr Vogel traf sich unterdessen regelmäßig mit »Weggefährten« aus der anarchistischen Gemeinschaft. Bismarcks sozialistische Reformen während seiner Zeit als Reichskanzler hatten ihre Aktivitäten auf einem niedrigen Niveau gehalten, aber sie hielten engen Kontakt zu ihren geschäftigeren Genossen in Paris und Genf. Eines Abends, nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war, rief Herr Vogel Hermann in den Laden.

»Ich möchte dir etwas zeigen, mein Junge, worauf ich sehr stolz bin und ich möchte, dass du es am Sonntag testest.«

Er holte einen Lederkoffer hervor, der dem einer kleinen Posaune ähnelte. Ehrfürchtig nahm Herr Vogel drei Teile heraus: In zusammengebautem Zustand ergaben sie einen Lauf, ein Röhrenmagazin und einen hohlen Metallkolben mit einem Gewindenippel aus Messing. Der Messingkolben wurde mit dem zusammengesetzten Magazin und dem Lauf verbunden und bildete den Gewehrkolben. In dem Koffer befanden sich zwei weitere Messingkolben und ein schlanker Metallstab, dessen Zweck unklar war und der an der Unterseite des Laufs befestigt war.

»Was ist das für ein Gewehr, Herr Vogel?«

»Ah, Hermann, das ist mein Meisterstück! Die beste Waffe, die ich je hergestellt habe. Es ist ein Luftgewehr mit großer Reichweite. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass es in den Händen eines geübten Scharfschützen« – er klopfte Hermann auf die Schulter – »bis zu zweihundert Meter weit schießen kann. Wir müssen es dieses Wochenende testen. Ich habe es auf Wunsch von jemandem in unseren Kreisen angefertigt. Ich kenne den Verwendungszweck nicht, aber wenn es auf eine Krone zielt, hätte ich nichts dagegen.«

Hermann bewunderte die Verarbeitung, fragte sich aber, warum die schönsten Geräte, die Menschen im Laufe der Jahrhunderte geschaffen hatten, fast immer Waffen waren. Er bestaunte es, wie man eine Kobra bestaunt, die vor dem Schlangenbeschwörer tänzelt, aber er liebte es nicht so wie Herr Vogel. Es war ein Werkzeug. Ein Werkzeug, für das er keine Verwendung hatte.

»Sehr gut, Vater. Wir werden dieses Wochenende sehen, was Ihr Gerät kann.«

»Gerät? Mein Sohn, du verletzt mich. Dies ist eine Waffe, die Helden würdig ist. Befreiern. Ja! So werde ich sie nennen. Liberator!«

Am folgenden Sonntag, dem elften April, nahmen Hermann und Herr Vogel ihre Frauen mit zum Jägerverein außerhalb Berlins. Es war ein milder Frühlingstag und die Damen packten ihren Picknickkorb mit einer ordentlichen Portion Gurken, Käse und Wurst. Herr Vogel war nicht wohlhabend genug, um Mitglied des Vereins zu sein, aber er durfte den Schießstand benutzen, wann immer er wollte, da er mehrere Kunden unter den wohlhabenden Mitgliedern hatte. Befreier (Liberator) steckte in seinem Reisekoffer, als die beiden Männer zur Schießlinie gingen, während die Damen zehn Meter weiter hinten auf den Bänken unter den Bäumen saßen.

Hermann stellte fest, dass die Teile gut zusammenpassten. Es dauerte etwa zwanzig Sekunden, das Magazin einzubauen. Einem Soldaten im Kampf würde das Nachladen zu lange dauern, aber dies war eine Waffe für Jäger oder Scharfschützen.

Das kleine Röhrenmagazin lief an der rechten Seite des Laufs entlang, und der Büchsenmacher griff in eine Ledertasche, um zwanzig Bleikugeln vom Kaliber .44 in die Röhre zu schieben, bis sie voll war. »Die Flasche reicht, wenn sie voll ist, für ein ganzes Magazin. Du wirst bei jedem Nachladen zwanzig neue brauchen.«

»Wie lade ich sie auf?«

»Ach, hier . . .« Vogel deutete auf den Metallstab, der unter dem Lauf befestigt war. Er zog ihn heraus, befestigte den Sockel an einer Ersatzflasche und erklärte, dass der Stab eine Pumpe sei. »Angesichts ihrer geringen Größe braucht sie fünfzehnhundert Hübe, um eine Flasche voll aufzuladen.« »Fünfzehnhundert? Das ist Wahnsinn!«

»Ich habe eine größere Pumpe in der Werkstatt. Diese wird nur im Notfall vor Ort benutzt. Du solltest sie nie benutzen müssen. Lass mich einmal schießen, um dir zu zeigen, wie sie funktioniert.«

»Ich weiß, wie man ein Gewehr abfeuert, Vater.«

Herr Vogel klopfte seinem Schwiegersohn auf die Schulter. »Ja, das weißt du, deshalb bist du ja hier. Aber das Laden dieses Gewehrs ist anders als alles, was du jemals gesehen hast.«

Der Büchsenmacher stellte auf einer Länge von zweihundert Metern Zielscheiben aus Papier in jeweils fünfzig Metern Abstand auf, kehrte dann an die Schusslinie zurück und richtete das Gewehr auf die nächstgelegene Scheibe, wobei er den linken Fuß vorstellte. Er hob den linken Daumen und sagte: »Beobachte.«

Er drückte mit dem linken Handballen auf eine schlanke Metallstrebe und schob einen kleinen Block im Verschluss nach rechts, während er den Lauf des Gewehrs leicht anhob. Hermann hörte, wie die Kugeln klapperten, als eine in die Mulde des Blocks fiel. Als Herr Vogel die Strebe losließ, glitt der Klotz lautlos zurück in den Verschluss: Das Gewehr war geladen.

»Denke nur daran, den Lauf beim Nachladen leicht anzuheben. Eine leichte Neigung reicht aus.«

Herr Vogel feuerte, die Entladung war ein hohler Knall. Er war nicht leise, aber anstelle des scharfen Knalls einer Schießpulverentladung war er weicher und von längerer Dauer, so dass das Geräusch vielleicht doppelt so lange zu hören war. Herr Vogel ließ die Waffe sinken und lächelte zufrieden, als er sah, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte.

Er wandte sich Hermann zu und reichte ihm das Gewehr. »Du bist dran.« Er stellte sich hinter Hermann und richtete sein Spektiv ein. »Neu laden, und los geht's.«

Das Gewehr war gut ausbalanciert, obwohl die runde Form der Flasche verhinderte, dass es sich bequem auf die Schulter legen ließ. Tatsächlich war der Kolben, die Quelle des Treibgases, die Achillesferse der Waffe. Bei grober Behandlung konnte der Hals an der Einmündung in die Schusskammer brechen. Dieses tödliche Gerät musste so sanft wie ein Baby behandelt werden.

Nachdem Hermann den Lauf gekippt und nachgeladen hatte, legte er sich hin und ging in Schussposition, wobei er den Lauf auf Sandsäcken abstützte. Er begann mit seiner Atemübung und richtete das Visier aus. Wenn er einatmete, hob sich das Visier, wenn er ausatmete, senkte es sich wieder. Er atmete langsam aus, und als sich das Visier dem Zentrum der Zielscheibe näherte, drückte er vorsichtig den Abzug. Der Schuss ertönte mit einem leisen Knall. Zu früh. Das Einschussloch war zehn Zentimeter zu hoch.

»Der Abzug ist sehr empfindlich«, sagte Hermann.

»Ach, ich hätte dich warnen sollen. Sie hat keinen Schlagbolzen, sondern nur ein Ventil, das die komprimierte Luft in die Schusskammer entlässt. Drück den Abzug erst, wenn du schussbereit bist.« Die nächsten drei Schüsse trafen genau ins Schwarze und lagen nur drei Zentimeter voneinander entfernt. Auf hundert Meter betrug seine Schussgruppe immer noch beachtliche fünf Zentimeter.

Herr Vogel holte ein Zielfernrohr hervor und schraubte es geschickt an.

Nach einigen Anpassungen traf Hermann das Ziel wieder genau, jetzt mit einer Abweichung von drei Zentimetern.

»Der Lauf ist nicht einmal warm!« Hermann staunte.

»Keine schmutzigen Explosionen«, sagte Herr Vogel mit Stolz. »Kein Rauch, kein Blitz und sehr wenig Lärm. Ein Scharfschütze wäre schwer zu finden. Befreier macht seinem Namen alle Ehre.«

Auf einhundertfünfzig Meter lagen die Löcher in der Zielscheibe noch innerhalb von fünf Zentimetern, aber auf zweihundert Meter vergrößerte sich der Abstand auf zwölf.

Herr Vogel schnalzte mit der Zunge. »Eng genug für einen Schuss in die Brust, aber wenn die Genauigkeit nachlässt, wird auch die Durchschlagskraft geringer. Ich glaube, wir haben, was wir wollten. Hilda wird ziemlich wütend auf mich sein, wenn wir den ganzen Nachmittag mit dieser schönen Dame spielen und sie und Astrid ignorieren.«

Nachdem er die Waffe zerlegt und wieder im Koffer verstaut hatte, wischte sich Hermann die Hände ab. »Ihr Liberator hat eine sanfte Stimme, Vater.«

»Manchmal, Hermann, musst du flüstern, wenn du willst, dass man dir zuhört.«

Kapitel 3

Berlin, Dienstag, 20. April

Die Geburt dauerte lange und war kompliziert, aber der kleine Immanuel (benannt nach dem deutschen Philosophen Immanuel Kant) war, wenn man nach der Lautstärke seines Geschreis urteilen konnte, ganz gesund.

Zur Feier des Tages lud Herr Vogel Hermann zu einer Runde Getränke und einer Mahlzeit in eine Kneipe ein. »Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte Herr Vogel. »Er wollte dich unbedingt kennenlernen, aber da du so sehr mit Astrid beschäftigt warst, wusste ich, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war. Nun hat er einen Vorschlag für dich, wenn du es gestattest.«

»Ich kann mir niemanden vorstellen, der mich treffen möchte, es sei denn, ich schulde ihm Geld«, meinte Hermann. Seine gute Laune darüber, dass es Astrid und dem Kind so gut ging, wurde durch Misstrauen getrübt. Er wusste, dass dies etwas mit der Sache zu tun haben musste, von der sein Schwiegervater immer wieder sprach, auch wenn Hermann deutlich gemacht hatte, dass seine Tage als Revolutionär vorbei waren.

»Keine Sorge, Hermann. Wenn überhaupt, kannst du etwas Geld damit verdienen. Ich verspreche dir, dass es nicht um Waffen oder Bomben geht, aber das sollte ich ihn erklären lassen. Da kommt er schon. Herr Grüber! Hier, bitte!«

Herr Grüber war der bestgekleidete Sozialist, den Hermann je gesehen hatte. Sein dunkelgrüner Wollanzug und seine rote Krawatte waren mit Abstand die teuersten Kleidungsstücke an diesem Ort. Trotz seiner teuren Kleidung drängelte sich Herr Grüber unbeirrt durch die Menge der Arbeiter, mit einem leicht watschelnden Gang, der Hermann an eine Ente erinnerte. Er lächelte auf Herrn Vogels Einladung hin, bedeutete der rotgesichtigen Kellnerin, ihm ein Bier zu bringen und ließ sich dann auf dem Stuhl gegenüber den anderen beiden Männern nieder.

»So, Herr Vogel, das ist also unser junger Elektriker, der Licht in die Dunkelheit bringt.« Grüber wandte sich an Hermann und sagte: »Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte von Prometheus? Sein Lohn für eine ähnliche Arbeit war nicht so großzügig. Ich hoffe, ich kann Ihnen mehr bieten.«

Herr Karl Grüber war stämmig – kein Wunder, angesichts der Art und Weise, wie leicht er seinen Ein-Liter-Krug in einem Zug zur Hälfte leerte. Obwohl er immer noch misstrauisch war, konnte Hermann nicht anders als sich für die lockere Art des Mannes zu erwärmen, wie er mit denen sprach, die gesellschaftlich unter ihm standen. Dieser Mann fühlte sich mit jedem wohl, weil er sich mit sich selbst wohl fühlte. Hermann sagte: »Guten Tag, mein Herr. Darf ich fragen, warum Sie mit mir sprechen wollen? Muss bei Ihnen eine elektrische Arbeit gemacht werden?«

Herr Grüber lächelte Hermann an, und sein ganzes Gesicht begann zu strahlen. »Arbeit? Auf jeden Fall! Um Elektrizität geht es auch, aber nicht so, wie Sie denken. Ich bin vor kurzem beauftragt worden, Telefone im Reichstag und anderen wichtigen Regierungsgebäuden in Berlin zu installieren. Männer mit Ihrer Erfahrung sind schwer zu finden, und ich möchte Sie anstellen, um meine Telefonanlagen zu installieren und zu warten.«

Grübers Augenbrauen hoben sich im Einklang mit seinen Mundwinkeln, als er hinzufügte: »Mit einer beträchtlichen Erhöhung Ihres derzeitigen Gehalts.«

»Und woher wollen Sie wissen, wie hoch mein derzeitiges Gehalt ist, Herr Grüber?«

»Ich weiß es nicht, und es spielt auch keine Rolle. Ich kann Sie einsetzen, sobald Sie Ihren derzeitigen Arbeitgeber ehrenhaft verlassen können. Reicht eine Woche aus?«

Herr Vogel hüstelte höflich. »Und die andere Angelegenheit, Herr Grüber?«

Grübers Lächeln schwand nicht, aber seine mächtigen Augenbrauen zogen sich zusammen: »Das werden wir an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt besprechen, wenn Ihr Schwiegersohn so klug und loyal ist, wie Sie sagen.«

Hermann runzelte die Stirn, während er mit der Sorgfalt eines Chirurgen im Operationssaal eine dünne Scheibe getrocknete Wurst abschnitt. »Mit einer wachsenden Familie wäre eine Gehaltserhöhung willkommen, mein Herr, aber ich würde gerne wissen, welche anderen Einsatzmöglichkeiten Sie für mich im Sinn haben, bevor ich ja sage. Herr Vogel kennt meine Abneigung gegen Blutvergießen. Ich bin kein Metzger.«

»Bleiben Sie ruhig, mein Freund. Ich will Schmieröl an Ihren Händen, kein Blut. Ich werde hier nicht ins Detail gehen, aber für den Moment reicht es, wenn ich sage, dass ein Wort, das einmal gesprochen wurde, an viele Orte gelangen kann. Sind wir uns einig?«

Hermann legte das Messer weg, stand auf und streckte seine Hand aus. »Dann haben wir eine Vereinbarung. Ich werde mich in einer Woche bei Ihnen melden. Wo kann ich Sie finden?«

Herr Grüber griff nach Hermanns Hand und überreichte ihm seine Visitenkarte. Hermann schluckte den Rest seiner Wurst hinunter, bevor er nach Hause eilte, um Astrid die gute Nachricht zu überbringen. Dass Herr Grüber darauf bestand, das Essen zu bezahlen, verstärkte nur noch seine gute Laune.

Kapitel 4

Büro des deutschen Reichskanzlers, Berlin, Freitag, 21. Mai

Die Augen von Chlodwig Carl Viktor, Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Kanzler von Deutschland und Ministerpräsident von Preußen, blitzten vor Wut. Die beiden Männer, die ihm an dem kleinen Tisch gegenübersaßen, schauten auf ihre Hände und versuchten, der Wut im Blick des Kanzlers auszuweichen.

»Erklären Sie mir, meine Herren«, sagte er, wobei seine langsame, exakte Sprache den Tonfall nachahmte, den man gegenüber einem dummen Kind anschlagen würde, »wie können unsere Agenten eine Operation monatelang planen, nur um dann festzustellen, dass das Nest der Verräter leer ist? Schon dreimal hatten wir genaue Informationen über den Aufenthaltsort dieser Anarchisten, nur um festzustellen, dass sie durch die Maschen geschlüpft sind. Gibt es einen Spion in unserer Mitte?«

Oberst Adler, der Leiter des Sicherheitsdienstes, drehte seinen Hut in den Händen. Er schaute aus dem Fenster und beobachtete einen vorbeifliegenden Vogel, bevor er antwortete: »Ich habe die Listen aller Teilnehmer studiert, die bei den Besprechungen über die Operationen anwesend waren, und die einzige Person, die in jedem Fall dabei war,« – er schaute nach unten und drehte seinen Hut noch heftiger – »war ich.«

Der Kanzler schnaubte. »Dann sind Sie entweder der schlechteste Doppelspion in der Geschichte oder der klügste, um sich in aller Öffentlichkeit zu verstecken. Welche Erklärung gibt es sonst?«

Adler breitete die Hände vor sich aus. »Ich habe keine, mein Herr. Ein Zufall ist höchst unwahrscheinlich. Irgendwie bekommen sie Informationen aus meinem Büro, sind aber zu ungeschickt, um diese Tatsache wirksam zu verbergen.«

Herr Schork, der Privatsekretär des Kanzlers, hatte bis jetzt geschwiegen. Er räusperte sich. Die beiden älteren Herren sahen ihn an, als hätte das Mobiliar gerade gesprochen. »Meine Herren, ich habe einen Vorschlag zu machen, wenn ich darf.«

Sein Vorgesetzter rümpfte die Nase, nickte aber. »Nun gut. Eine neue Idee wäre willkommen.«

»Ich denke, wir brauchen jemanden von außerhalb, der unseren Spion sucht. Jemanden, der in unseren üblichen Kreisen nicht bekannt ist und eigenständig vorgehen könnte.«

»Aber auch jemanden, dem wir vertrauen können!« fügte Adler hinzu. »Wo kann man eine solche Person finden?«

Der Kanzler unterbrach: »Herr Oberst, da Sie ein Verdächtiger sind, bitte ich Sie, den Raum zu verlassen, bevor Schork und ich das Gespräch fortsetzen. Wenn Sie die Identität unseres ›Beraters‹ kennen, wäre es verdächtig, wenn Sie entlastet werden.«

Adlers Kiefer straffte sich, als er Schork anblickte, dann erhob er sich und verließ den Raum so schnell, wie es seine Würde erlaubte.

Nachdem sich die Gemüter über den Abgang des Sicherheitschefs beruhigt hatten, sah der Kanzler Schork mit neuem Respekt an. »Sie wissen natürlich, dass es unwahrscheinlich ist, dass Sie jemals wieder mit Adler zusammenarbeiten können, sobald diese Angelegenheit geklärt ist? Aber keine Sorge. Wenn Sie dieses Problem zu meiner Zufriedenheit lösen können, werden Sie befördert. Wenn nicht, haben Sie sich Adler natürlich zum erbitterten Feind gemacht, ohne dass Sie selbst davon profitiert hätten. Nun, der Name dieser bemerkenswerten Person?«

Schork schluckte angesichts der Bedeutung dessen, was der Kanzler geäußert hatte, dann sagte er: »Ich nehme an, Sie kennen die fiktive Figur Sherlock Holmes?«

Der Fürst von Hohenlohe schlug auf den Tisch, bevor er antwortete: »Sie wollen einen Phantasiedetektiv engagieren?«

»N-Nein, mein Herr!«, stotterte Schork. »Aber der Mann, der als Inspiration für diese Figur gedient hat, ist sehr real. Er hat der Polizei in mehr als einem Fall geholfen. Ich schlage vor, dass wir Professor Joseph Bell, den echten Sherlock Holmes, hinzuziehen!«

Kapitel 5

London, Dienstag, 25. Mai

Ich stöhnte, als ich aufstand. Jeden Morgen brauche ich fünfzehn Minuten Dehnübungen, um die Steifheit aus meinen Gelenken zu vertreiben. Ich kann immer noch normal gehen, und mir wurde geraten, ich solle aktiv bleiben, um meine Mobilität so lange wie möglich zu erhalten. Die Ärzte sagten, dass zwar jeder Lupus-Fall anders sei, dass aber alle eine Gemeinsamkeit hätten, nämlich das Fortschreiten der Krankheit. Obwohl ich mein Interview mit der Königin verkauft hatte, war die billigste Passage nach Australien immer noch unerreichbar für mich. Ich brauchte noch einen weiteren gut bezahlten Artikel, bevor ich mich auf den Weg machen konnte.

Nach einem mageren Frühstück schaute ich in den Briefkasten und lächelte, als ich einen Brief mit einer Absenderadresse aus Edinburgh sah. Professor Joseph Bell war ein guter Freund, aber ein seltener Korrespondent.

Liebe Margaret,

ich hatte gerade ein interessantes Gespräch mit dem deutschen Konsul hier in Edinburgh. Ich habe mich bereit erklärt, die deutsche Regierung in einer heiklen Angelegenheit zu unterstützen, unter der Bedingung, dass ich mir meinen Übersetzer selbst aussuchen darf, und dass ich sowohl finanziell als auch mit einer Gastprofessur für Chirurgie an der medizinischen Fakultät in Heidelberg entlohnt werde.

Ich erinnere mich, dass Sie mit der Sprache vertraut sind, und da ich jemanden an meiner Seite haben möchte, den ich kenne und dem ich vertraue, biete ich Ihnen den Posten an. In Anbetracht der Dringlichkeit der Anfrage gehe ich davon aus, dass unser Honorar großzügig ausfallen wird.

Obwohl ich nicht erwarte, dass diese Unternehmung gefährlich ist, wird es, sollte ich falsch liegen, beruhigend sein, jemanden an meiner Seite zu haben, der sich in schwierigen Situationen als unerschütterlich erwiesen hat. Bitte antworten Sie mir innerhalb von zwei Tagen nach Erhalt dieses Briefes per Telegramm. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich in gleicher Weise antworten, um unsere Reise zu arrangieren.

In Anbetracht der jüngsten Verstimmungen zwischen Deutschland und unserem Heimatland in Bezug auf Transvaal halte ich es für klug, unsere Regierung vor unserer Reise nach Berlin über dieses Vorhaben zu informieren. Da viele im Unterhaus für einen Krieg plädieren, um die Rechte der britischen Bürger dort zu sichern, dürfen wir auf keinen Fall als ausländische Agenten angesehen werden. Deshalb werde ich unterwegs einen kurzen Zwischenstopp in London einlegen, und wir können uns wie in der Vergangenheit im Marlborough Club treffen.

Es wäre zwar großartig, wenn Doyle uns bei dieser Eskapade begleiten würde, aber ich fürchte, er ist zu bekannt, um unerkannt zu bleiben, und zu sehr mit seiner Schriftstellerei beschäftigt, als dass er sich ein weiteres Abenteuer mit den Drei Musketieren gestatten würde.

Ich erwarte Ihre Antwort so bald wie möglich.

JB

Der Brief rief sowohl Erinnerungen an die beiden anderen Musketiere wach als auch an Molly, meine Mitbewohnerin und Gefährtin, als ich Doyle und Bell zum ersten Mal traf. Mollys Leben wurde durch Bells Großzügigkeit und chirurgisches Geschick vor einer schlimmen Phosphornekrose gerettet, und danach konnte ich sie als Köchin in einen Haushalt vermitteln. Sie verließ mich zusammen mit unserem Terrier Johnny, da die beiden unzertrennlich geworden waren.

Ich schüttelte den Kopf, um den Nebel der bittersüßen Erinnerungen zu vertreiben. Nein, es schien, als würde unsere kleine Truppe nie wieder gemeinsam einer Gefahr trotzen. Dennoch wäre es ein Segen, auch nur einen kleinen Fischzug mit meinem alten Freund zu unternehmen. Ich warf einen Blick auf die Schiffsfahrpläne, die ich neben meinem Schreibtisch aufbewahrte. Vielleicht würde dies meine Einwanderung nach Australien möglich machen.

Ich schlug mein Notizbuch voller Eselsohren auf und schrieb nach kurzem Nachdenken meine Antwort wie gewünscht per Telegramm:

EINVERSTANDEN STOP WANN STOP MARGARET

Kein Grund, lange zu reden, zumindest nicht, bis jemand anderes bezahlte.

Kapitel 6

London, Donnerstag, 27. Mai

Der ältere Herr an der Rezeption nickte dem bescheiden gekleideten, schlanken Herrn vor sich zur Begrüßung zu. Ich hoffte, dass mein geputzter Zwicker und meine schlanke Statur mir das Aussehen eines Angestellten oder Akademikers verliehen.

»Willkommen im Marlborough Club, Sir«, sagte er.

»Ist Professor Joseph Bell da? Er erwartet mich.«

»Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Pennyworth. Joseph Pennyworth.«

»Ich glaube, er ist im Lesesaal. Soll ich Sie begleiten?«

»Nein, danke. Ich war schon mal hier.«

Professor Bell war auf eine gute Art älter geworden, seit ich ihn vor neun Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Seine Stirn war etwas ausgeprägter, aber er war gepflegt und seine Augen blitzten noch genauso, als er von seiner Lektüre aufschaute. Sein Lächeln war so warm wie immer. »Ah, Mr. Pennyworth. Wie schön, dass Sie vorbeikommen. Die Brille ist eine neue Errungenschaft.«

»Ja«, antwortete ich und erwiderte sein Lächeln. »Ich kann nicht mehr als junger Mann durchgehen, also lässt mich die Brille wie ein Bücherwurm im besten Alter aussehen. Das Glitzern der Gläser führt auch dazu, dass die Leute wegschauen und weniger auf mein Gesicht achten. Aber zum Geschäftlichen. Mit wem treffen wir uns vor der Reise nach Deutschland?«

»Wir sind heute Nachmittag um ein Uhr mit Inspector James Ethington von der Special Branch bei Scotland Yard verabredet. Die Special Branch ist für die Spionageabwehr in Großbritannien zuständig, und da diese Angelegenheit eine ausländische Macht betrifft, hielt ich es für das Beste, mit jemanden aus seiner Behörde zu sprechen, damit wir nicht selbst in den Verdacht geraten, ausländische Agenten zu sein. Seine Vorgesetzten haben für heute ein kurzes Gespräch angesetzt bezüglich der Vereinbarung, dass wir nach unserer – ich meine Ihrer – Rückkehr einen vollständigen Bericht abgeben, denn ich werde nach Heidelberg weiterreisen, sobald wir unsere Arbeit in Berlin abgeschlossen haben. Ist das in Ordnung?«

»Vollkommen. Haben Sie unser Honorar schon vereinbart, oder muss das noch festgelegt werden? Ich habe Pläne mit der Entlohnung, wenn sie so großzügig ist, wie Sie annehmen.«

»Zwanzig Pfund pro Tag für mindestens zehn Tage. Für jeden von uns. Ich habe in diesem Punkt sehr nachdrücklich darauf bestanden. Wenn wir unsere Aufgabe früher erfüllen, erhalten wir trotzdem die Bezahlung für die gesamte Zeit. Alle Unkosten werden erstattet. Ich habe jetzt fünfzig Pfund als Vorschuss für Sie.«

Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann los. Lassen Sie uns diesen Inspector Ethington treffen.«

Bell lachte. »Ich habe bereits unsere Fahrkarten für den Zug nach Dover und weiter nach Berlin für Sonntag, den Dreißigsten, gekauft. Warum leisten Sie mir nach unserem Gespräch mit dem Inspector nicht Gesellschaft beim Mittagessen hier im Club?«

»Ich hoffe, das Beef Wellington ist nicht mehr so blutig wie früher«, scherzte ich und erinnerte mich daran, wie Bell, Doyle und ich uns nach Abschluss unserer Jagd auf den Ripper das letzte Mal hier getroffen hatten. »Obwohl die Gesellschaft es mehr als wettgemacht hat.«

Inspector Ethington kam eine Viertelstunde zu spät. Er schien Mitte vierzig zu sein, wie man aus dem vornehmen Silber in seinem hellbraunen Haar schließen konnte. Sein trauriges Lächeln und die freundlichen braunen Augen mit feinen Fältchen in den Augenwinkeln verrieten, dass er Mühsal kannte. Ich bewunderte seine gepflegte Erscheinung und seine aufrechte Haltung, als er den Raum betrat. Schon immer habe ich mich zu selbstbewussten Männern hingezogen gefühlt, zumindest dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass ihr Selbstvertrauen wohlverdient war, und trotz seiner Verspätung hatte ich einen positiven Eindruck, bis ich eine Spur von Whisky in seinem Atem roch. Ich verzog keine Miene, begann mich aber zu fragen, was die Special Branch so »besonders« machte.

»Ich wurde hergeschickt, um etwas über die Art Ihrer Geschäfte mit der deutschen Regierung zu erfahren«, sagte Ethington, nahm vorsichtig seinen Hut ab und hielt ihn in seinem Schoß. »Bitte fassen Sie sich kurz, Gentlemen, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Wer von Ihnen ist Professor Bell?«

Ich wurde rot bei dieser Frage und schämte mich für den Inspector, dass er eine so offensichtliche Frage stellte, aber Bell nickte nur. »Das bin ich. Ich war es, der Ihre Vorgesetzten über unseren Vertrag informiert hat. Ich hoffe, dass ich offen und ehrlich sein kann und nicht beschuldigt werde, etwas zu tun, was der Regierung Ihrer Majestät schaden könnte.«

»Ich verstehe, Professor. Wir haben nicht immer das beste Einvernehmen mit dem Kaiser, aber wir arbeiten mit den Deutschen in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zusammen. Nichtsdestotrotz erwarte ich einen vollständigen Bericht, wenn Sie zurückkehren. Aber Sie haben die Art Ihrer Unterstützung nicht spezifiziert.«

»Mir wurde gesagt, dass ich wegen der sensiblen Natur der Aufgabe erst nach unserer Ankunft vollständig unterrichtet werde. Man hat mir versichert, dass dieses Unternehmen in keiner Weise die britischen Interessen gefährdet. Sollte ich zu irgendeinem Zeitpunkt den Verdacht haben, dass dies nicht der Fall ist, werde ich unsere Vereinbarung beenden und Sie informieren.«

Ethington nickte. »Sehr zufriedenstellend, Professor. Ich freue mich darauf, Ihren Bericht zu lesen. Wir wissen nicht viel über unsere deutschen Kollegen, nicht einmal die Namen ihrer wichtigsten Mitarbeiter. Alles, was Sie uns sagen können, wird nützlich sein.«

Dann wandte er sich mir zu und sagte: »Aber Sie haben Ihren Begleiter nicht vorgestellt. Wer sind Sie, Sir, und welche Rolle spielen Sie in dieser Sache?«

»Joseph Pennyworth, Inspector«, antwortete ich. »Ich werde der Übersetzer des Professors sein. Wir haben schon einmal zusammengearbeitet, und ich freue mich darauf, dies wieder zu tun.«

Bell und ich hatten Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, als Ethington seine Augen verengte. »Ich habe den Verdacht, dass mehr in Ihnen steckt, als man auf den ersten Blick sieht, Mr. Pennyworth, aber mir fehlt im Moment die Zeit, weitere Nachforschungen anzustellen.« Er reichte jedem von uns seine Karte und schloss mit den Worten: »Melden Sie sich, wenn Sie zurück sind. Das ist für den Moment alles.«

Damit stand der Inspector vorsichtig auf und ging seiner nicht näher bezeichneten, aber dringenden Angelegenheit nach, die, wie ich vermutete, mit einer bestimmten braunen Flüssigkeit zu tun hatte. »Wenn dies das Beste ist, was London zu bieten hat, dann ist es gewaltig bergab gegangen, seit Inspector Abberline im Ruhestand ist«, sagte ich.