Doktor Robert - Markus Vieten - E-Book

Doktor Robert E-Book

Markus Vieten

0,0
3,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Doktor Robert hat ein neues Hobby - die Sterbehilfe. Aus einem eher zufälligen letzten Dienst an einer Patientin entwickelt sich eine schwarze Leidenschaft. Immer skrupelloser verschafft er sich seinen Kick. Doch er hat nicht mit Ella Schuh gerechnet, die immer versucht, ihrem großen literarischen Vorbild Kay Scarpetta nachzueifern. Kommt sie hinter Lucas Roberts dunkle Geheimnisse?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 353

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Markus Vieten

Doktor Robert

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

___

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

Impressum neobooks

___

Für Wolfgang.

Prolog

Wie lang er selbst wohl noch hatte? Keine schöne Frage, aber angesichts des kalten, dunklen Lochs, das sich vor ihm auftat, war dieser Gedanke unausweichlich. Es hatte sich schon einiges an Erde und Blumen auf dem Sarg angehäuft, sodass nur noch seine Ränder in der Tiefe des Grabes sichtbar waren. Ein Kiefermodell, achthundert Euro oder so. Für die alte Rahn viel Geld, aber darunter ging es kaum. Er hatte nicht erwartet, dass sich so viele Menschen zu ihrer Beerdigung einfinden würden. In der Zeit, in der er sie als Hausarzt zunächst in der Praxis und dann, als nichts mehr ging, mit Hausbesuchen versorgt hatte, war ihm nie jemand anderes begegnet, als ihre Tochter und die Enkelin, die auf derselben Etage gewohnt und sie gepflegt hatten.

Lucas Robert war einer der letzten, der sein Schäufelchen Erde in das offene Grab warf. „Ruhen Sie in Frieden“, murmelte er lautlos, bevor er sich dann abwandte, um den Weg zum Grab für die Wartenden freizugeben.

Dem Anlass angemessen nieselte es bereits seit den Morgenstunden. Die Trauernden standen in kleinen Gruppen unter ihren Regenschirmen zusammen. Wie riesige schwarze Champignons, dachte Lucas. Ein Traum für Viren – viele Menschen in trauriger Stimmung und schlechter Abwehrlage, denen es aus Augen und Nasen läuft, während sie sich ständig umarmen und die Hände schütteln.

Die Stimmung war friedlich, kein Wehklagen oder Schluchzen. Alle wussten, dass es höchste Zeit für die alte Rahn gewesen war. Erlösung, Frieden und erfülltes Leben waren die Begriffe, die man aufschnappte, wenn man sich zwischen den Pilzen hindurchbewegte.

Lucas kondolierte zum letzten Mal Frau Rahns Tochter, die sich erneut für seine Hilfe über die Jahre bedankte, und verließ dann den Friedhof. Sein kleines großes Geheimnis nahm er mit, und niemand würde je erfahren, dass letztlich er für die heutige Zusammenkunft an diesem friedvollen Ort verantwortlich war.

Es war nicht einmal eine Woche her, dass Lucas Frau Rahn diesen letzten Dienst erwiesen hatte, denn das war es zunächst gewesen: ein letzter Dienst als ihr Arzt.

1

Er schloss gerade seine Praxis ab, als das Telefon klingelte. Bereits als er die Tür wieder öffnete, verfluchte er sich genau dafür. Warum tat er das? Eigentlich war er nicht mehr da. Nur einen Moment später hätte er das Telefon nicht mehr gehört.

Er griff über den Anmeldetresen und schnappte sich den Hörer.

„Gut, dass ich Sie noch erwische, Doktor, Luci Bauer, bin die Pflegerin von Frau Rahn. Es geht ihr nicht gut. Ich krieg sie nicht richtig abgesaugt. Können Sie kommen oder soll ich den RTW rufen?“

Warum konnte er nicht einfach die Finger vom Hörer lassen!?

„N´ Abend, Frau Bauer. Das war zu erwarten. Ist es akut? Ich bin gerade…“

„Sie muss unbedingt besser abgesaugt werden. Ich weiß, Sie haben ein Händchen dafür, Doktor. Wenn ich den Notarzt rufe, steckt er sie ins Krankenhaus...“

„Und Sie wissen, dass das ihr Ende wäre“, schwang in den drei unausgesprochenen Punkten mit. Leider gab es immer noch keine Patientenverfügung, mit der die Klinikeinweisung hätte verhindert werden können. Aber ohne das hatte er schlicht keine Wahl.

„Ich weiß was Sie meinen. Haben Sie vielen Dank für die Infos. Ich mach´ mich auf den Weg. Wollte sowieso gerade Schluss machen.“

„Ist gut, ich warte so lange, damit ich Sie hereinlassen kann.“

Er hatte den Schwarzen Peter. Es würde also wieder spät werden. Aus dem Auto rief er kurz Pia an, um Bescheid zu geben, die ihn bat, noch Bio-Eier zu besorgen. Das Essen würde also noch länger auf sich warten lassen und ihm knurrte schon jetzt der Magen. Konnte Pia nicht einmal auf normale Eier zurückgreifen oder einfach improvisieren!?

Als er bald darauf mit dem Arztkoffer in der Hand auf das Mietshaus zuging, in dem Frau Rahn wohnte, winkte ihm die Pflegerin vom offenen Fenster zu und ließ den Türöffner surren, noch bevor Lucas auf die Klingel drücken konnte.

„Gut, dass Sie da sind, Doktor, ich bekomme ihre Atemwege einfach nicht frei. Es geht ihr jetzt doch viel schlechter.“

Die alte Frau war oft für Stunden allein, denn die Tochter nebenan arbeitete und die Enkelin ging zur Schule. Im Grunde war die Situation unhaltbar. Aber keiner in der Familie war bereit, über einen Heimplatz auch nur nachzudenken.

„Ich werd´ sie mir mal ansehen“, sagte Lucas, während er an Luci vorbei die Wohnung betrat.

Er war zwei Wochen nicht mehr hier gewesen. Es roch penetrant nach Eukalyptus und Waschlotionen, die den Geruch von Sputum, Inkontinenz und alten Polstermöbeln nur unzureichend überdeckten. Lucas war diese Kombination an Gerüchen bereits so vertraut, dass selbst der frische Eukalyptus für ihn nach Verfall und Tod roch.

Im Flur war es eng und stockfinster. Am seinem Ende zweigte das Wohnzimmer ab, in dem Isabella Rahn in ihrem Pflegebett lag. Er hörte ihr hilfloses Röcheln.

Sie hatte schwer nachgelassen seit seinem letzten Besuch. Zwischen Kissen, Beatmungsgerät und Schläuchen war sie kaum zu erkennen. Er stellte seine Tasche ab und nahm einen frischen, steril verpackten Absaugkatheter heraus.

„Ähm, Herr Doktor“, sprach ihn Luci Bauer von hinten an, „ich bin schon sehr spät dran und habe noch vier Patienten vor mir. Kommen Sie alleine zurecht?“

„Wie? Ja, ja... Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte Lucas, „Ich komme schon klar, vielen Dank. Wiedersehen.“

Sie konnte hier nichts mehr tun. Er hatte in seiner Klinikzeit so viele Atemwege abgesaugt, dass es ihm keine große Mühe bereitete. Für die meisten Pflegenden war es hingegen der reinste Horror. Denn die Erstickungsängste während der Prozedur konnte auch eine leidgeprüfte Patientin wie Isabella Rahn nicht unterdrücken.

„Hallo, Frau Rahn“, sagte er sanft und legte eine Hand auf ihren mageren Unterarm, „Ich bin es, Doktor Robert.“

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und schloss für einen Moment die Augen. Ihr Mund formte ein paar stumme Worte. Er beugte sich ein wenig zu ihr herab und nahm den süßlichen Geruch der kranken Lunge wahr. Aber außer den rasselnden Sekreten in ihren Lungen konnte er nichts hören. Sie würde es nicht schaffen. Ein paar Tage noch, vielleicht zwei oder drei Wochen, höchstens, dann hatte sie endlich Frieden.

„Ich muss Sie noch mal absaugen“, sagte er.

Frau Rahns Augen sahen ihn flehend an. Sicher hatte die Pflegerin es auch schon einige Male versucht. Er musste es jetzt richtig machen.

„Sie wissen, es führt kein Weg daran vorbei. Mir ist klar, dass Sie das sehr mitnimmt, Frau Rahn. Ich werde es so kurz wie möglich machen.“ Ihr Blick war so traurig.

Es war grausam. Er wusste, was er tun würde, wenn es mit ihm jemals so weit käme – sofern er es dann noch selbst in der Hand hätte. Frau Rahn hatte diese Gelegenheit jedenfalls schon verpasst.

Er verband den Katheter mit dem Absauggerät und schaltete es ein. Ein zischendes Geräusch zeigte den Sog auf dem dünnen Schlauch an. Lucas nahm die Sauerstoffsonde von ihrer Nase und bat sie, den Mund zu öffnen. Als sie nicht gleich reagierte, übernahm er es mit routinierten Handgriffen selbst. Die alte Frau war nur noch ein armseliges, wehrloses Geschöpf. Er schob den Schlauch in ihren Mund und gleich zügig weiter vor, um in die Luftröhre zu gelangen. Frau Hahn würgte kurz und wurde dann sehr unruhig, während der Schlauch bereits zähen, gelben Schleim förderte, den die Patientin aus eigener Kraft nicht mehr abhusten konnte. Danach würde sie wieder für einen Tag etwas Ruhe haben, dachte Lucas, und schob den Schlauch noch weiter vor. Sie versuchte zu husten, Tränen traten ihr in die Augen, wegen der Reizung, wegen des Leids oder wegen beidem. Mehrfach bäumte ihr Körper sich auf. Die ganze Prozedur dauerte keine Minute, für Isabella Rahn eine halbe Ewigkeit. Dann zog Lucas den dünnen Schlauch wieder heraus.

„So, Sie haben es überstanden. Jetzt ist es wieder besser, oder?“

Das Rasselgeräusch aus ihrer Lunge war deutlich schwächer. Frau Rahn sah wieder etwas wacher aus, aber das war eher ihrer Anstrengung und der Angst zuzuschreiben als der verbesserten Atmung.

Professionell lächelte Lucas sie an, während er das Absauggerät ausschaltete und den Katheter entsorgte. Isabella Rahn versuchte erneut, etwas zu sagen. Lucas beugte sich abermals zu ihr hinunter.

„Ich kann das nicht mehr“, hörte er sie schwach sagen, „Helfen Sie mir!“

Er wollte etwas Aufmunterndes erwidern, wie er es immer tat, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er schaute in ihre Augen. Da war dieses Flehen, das ihm schon vor dem Absaugen aufgefallen war.

„Bitte!“, sagte sie laut und deutlich und ihm war mit einem Mal klar, was sie wollte und dass es ihr ernst war. Nicht dass es ihn gewundert hätte… Jeder konnte es sehen und jeder dachte, der Tod ist eine Erlösung für sie. Aber zum ersten Mal spürte er, dass er es auch tun wollte, er sah es deutlich vor sich.

Sie waren allein. Niemand konnte etwas sehen. Und ob Sie heute oder zwei Tage später sterben würde, machte nur für sie selbst einen Unterschied. Sie hatte ihre Wahl getroffen.

Ohne ein weiteres Wort, ohne noch einmal nachzudenken, hob er vorsichtig ihren Kopf an und zog das große Kissen hervor. Er nahm es fest in beide Hände und drückte es auf ihr Gesicht. Er hörte ein kurzes, schwaches Stöhnen, dann war es still. Die ersten Sekunden waren ganz leicht. Als ihm bewusst wurde, was er tat, kroch ein Glühen langsam seinen Rücken hinauf. Sein Atem ging immer schneller, der Druck auf das Kissen erhöhte sich. Er war kurz davor aufzuhören, als die alte Frau plötzlich begann, um sich zu schlagen und mit den Beinen zu strampeln. Ihr Infusionsschlauch trommelte in einem bizarren Rhythmus gegen den Nachtschrank. Verschiedene Pflegeutensilien und das Notrufgerät auf dem Tisch setzten sich in Bewegung und drohten, vom Tisch zu fallen. Einmal traf ihn ihre Hand, und er glaubte einen Moment lang, dass ihn die Infusionskanüle auf ihrem Handrücken am Auge verletzt habe. Lucas erhöhte abermals den Druck und stützte sich jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf das Kissen, das ihr Gesicht vollständig unter sich begrub. Sein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung, er atmete schwer. Das Glühen hatte zu einem Brennen unter seiner Schädeldecke geführt. Endlich ließ das Schlagen und Strampeln nach, um dann abrupt zu enden.

Er hätte unmöglich sagen können, wie lange es gedauert hatte. Es konnte kaum mehr als eine Minute gewesen sein, vielleicht weniger, aber er fühlte sich wie nach einem Tausendmetersprint. Langsam nahm er den Druck vom Kissen und hob es von ihrem Gesicht ab.

Ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, der Mund stand weit offen. Ein Büschel grauer, dünner Haare klebte auf ihrer Stirn fest. Lucas wich ein Stück zurück. Den Anblick hatte er erwartet – und erhofft. Er hielt immer noch das Kissen in beiden Händen, und noch während er sie ansah, dachte er daran, ihren Tod noch medizinisch korrekt überprüfen und dokumentieren zu müssen.

Er hatte gerade das Kissen auf das Bett gelegt, als Frau Rahn sich leicht aufrichtete und einen lauten und tiefen Seufzer tat.

Lucas schrie auf, Adrenalin jagte durch seinen Körper. Er griff sofort nach dem Kissen und drückte es wieder auf ihr Gesicht, jetzt mit aller Kraft, die er hatte. Er drückte und presste, fluchte und schimpfte, als ginge es um sein eigenes Leben. Sein Herz schlug und hämmerte wie wild, er schwitzte und fror zugleich. Seine Körpertemperatur musste deutlich gestiegen sein. Nach weiteren endlosen zwei Minuten ließ er von ihr ab. Er war vollkommen außer Atem. Als er das Kissen wieder fortnahm, hatte sich ihr Gesicht abermals verändert. Augen und Mund waren geschlossen, so als schliefe sie tief – und friedlich.

Lucas ließ sich auf einen Stuhl fallen und begrub sein Gesicht in den Händen. Er roch seinen eigenen Stressschweiß.

Er war völlig durcheinander. Was hatte er nur getan!? Hatte sie es wirklich gewollt? Aber natürlich. Sie konnte nichts anderes gemeint haben, und dass sie sich wehrte, war eine Reaktion ihres Stammhirns, ihres ganzen Körpers, für den der Tod keine Option war. Während er sich allmählich wieder beruhigte, dachte er nach, versuchte sich darauf zu konzentrieren, was jetzt zu tun war, keine Fehler zu machen. Aber wer sollte auch schon vermuten, dass hier etwas anders als erwartet verlaufen war?

Lucas fühlte sich, als habe jemand an beiden Ohren eine Tür geöffnet, wodurch sein Gehirn in einem regelrechten Durchzug stand. Seine Gedanken waren mit einem Male so klar, so scharf und hell. Er war absolut beschwingt, er hätte Bäume ausreißen können! So musste es auch nach nach einer Achterbahnfahrt oder nach einem Bungee-Sprung sein. Ein irres Gefühl, ein wahrer Rausch, und Lucas hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Er erschrak über sich selbst und versuchte, ein bedrücktes Gesicht zu machen, so als wäre jemand im Raum, den es von seiner Unschuld zu überzeugen gelte.

Als er sich wieder beruhigt hatte, untersuchte er das Kopfkissen von allen Seiten, ob sich vielleicht irgendwelche Blutspuren darauf fanden. Aber da war nichts. Er legte das Kissen wieder zurück unter ihren Kopf und tat das so vorsichtig, als könnte Frau Rahn noch etwas spüren. Dann schloss er ihre Lider und zog die Decke über ihr Gesicht.

Er nahm an dem Tisch mit der Brokatdecke in der Zimmermitte Platz. Um den Totenschein ausfüllen zu können, musste er zunächst Absaugkatheter, ungeöffnete Post und ungelesene Zeitungen zur Seite räumen.

Lucas trug Frau Rahns Personalien ein, schrieb die wichtigsten Diagnosen auf und kreuzte „natürliche Todesursache“ an. Damit war die Sache mit Sicherheit erledigt. Eine Obduktion gab es nur, wenn er „nichtnatürliche Todesursache“ angekreuzt hätte. Dann wäre die Polizei gekommen, um Ermittlungen anzustellen, und man hätte den Leichnam der Länge nach aufgeschlitzt. Der Erstickungstod hinterließ keine allzu offensichtlichen Spuren. Manchmal konnte man an der Bindehaut der Augen oder an den Schleimhäuten von Mund und Rachen kleine punktförmige Blutungen entdecken. Doch dafür musste man speziell nach ihnen suchen, wenn sie in diesem Fall überhaupt vorhanden waren. Genau das wäre auch sonst Lucas Aufgabe als Arzt gewesen, der einen Todesfall dokumentiert. Er drückte noch einmal die Lider der toten Augen auf. In der Tasche des rechten Unterlides fand sich eine kleine Blutung, aber das bewies gar nichts, selbst wenn sie jemand entdecken sollte.

Er drückte alle weiteren Gedanken beiseite und gab sich den Routineaufgaben hin. So benachrichtigte er zunächst Frau Rahns Tochter über Handy. Dabei gab er vor, ihre Mutter läge noch im Sterben. Als die Tochter eine Viertelstunde später eintraf, war es dann leider bereits zu spät. Er versicherte ihr, dass die Mutter ganz friedlich eingeschlafen sei. Er berichtete, dass der Pflegedienst sich Sorgen gemacht hatte und seine Ankunft noch abgewartet habe. Er selbst habe gleich gesehen, dass es zu Ende ging.

„Sie konnte nichts mehr sagen. Aber ich weiß, wie sehr sie Sie und auch ihre Enkelin geliebt hat und wie dankbar sie dafür war, dass Sie sie weiter zu Hause pflegten. Ich glaube, dass sie es trotz ihrer schweren Krankheit hier bei Ihnen sehr gut gehabt hat.“ Lucas nahm die Frau in den Arm und tröstete sie etwas. Bald schon würde die Erleichterung die Oberhand gewinnen.

2

„Hallo Schatz! Hast Du an die Bio-Eier gedacht?“

„Ja, hab ich“, rief Lucas aus dem Flur in Richtung Küche. Eine rhetorische Frage von Pia. Ohne Bio-Eier hätte es kein Abendessen gegeben, und mit gewöhnlichen Eiern hätte er sich nicht nach Hause getraut. Glückliche freilaufende Eier, womit er nicht nur die Tiere und sich mitsamt der ganzen Familie rettete, sondern gleich auch die Zukunft ihrer Tochter Lena, das Klima, den Planeten und vielleicht auch ein klein wenig die Titanic. Wer wusste das schon so genau!? Pia jedenfalls war sich sicher, dass all die Anstrengungen, die Umwege mit dem Auto und die glücklichen Hühner die Mühe wert waren.

„Du bist spät“, sagte sie, während sie ihn flüchtig auf den Mund küsste. Zugleich hantierte sie noch mit dem Küchenhandtuch herum, musste hier noch etwas abtrocknen und da noch etwas einräumen. Für Lucas sah eigentlich alles tipptop aus, aber Pia musste immer fleißig wirken. Hatte er es auch nur ein einziges Mal erlebt, dass er nach Hause kam und sie mit irgend etwas beschäftigt war, nur weil es ihr Spaß machte? Er konnte sich nicht erinnern. Nicht einmal jetzt, wo er „spät“ war.

„Du bist spät“ war wesentlich mehr als eine nüchterne Feststellung. Der Vorwurf, der mitschwang, war so klein und so geschickt in den Taschenfalten ihrer Stimmbänder versteckt, dass Lucas ihn auch einfach hätte überhören können, aber dann hätte er ihn auf eine andere Weise aufs Butterbrot bekommen.

„Frau Rahn ist gestorben“, sagte Lucas, ein wenig beiläufig, damit ihr der Vorwurf nach Möglichkeit im Halse stecken blieb. Er schwang sich auf die Anrichte und ließ die Beine baumeln, so wie er es oft gemacht hatte, wenn er bei seiner Mutter in der Küche gesessen hatte.

„Ohje, du Armer! Sie war bettlägerig, oder? Wahrscheinlich besser so.“ Pia machte sich jetzt daran, die Eier zügig mit der Füllung des Gemüseauflaufs zu vermischen, für die sie anscheinend unerlässlich waren. Sie schob den Auflauf in den Ofen, stellte den Wecker und legte die Schürze ab. „So, in zwanzig Minuten können wir essen.“ Sie stellte sich vor Lucas und nahm ihn tröstend in den Arm. „War es schlimm für Dich? Du hast sie gemocht, oder?“

Lucas widerstand so gerade noch dem Impuls, sie fortzustoßen. Er hatte überhaupt nicht das Gefühl, getröstet werden zu müssen. Alles war so routiniert und einstudiert. Manchmal fragte er sich, ob er vielleicht in Wahrheit mit einem hochwertigen Cyborg zusammenlebte. Es gab da doch diesen Film mit den Hausfrauen, die in Wahrheit von den Ehemännern konstruierte Roboter waren oder so ähnlich. Am liebsten hätte er sie mal aufgeschnitten, um nachzusehen, ob noch ein Herz in ihr steckte.

Es war nicht einmal zwei Stunden her, und er stand noch völlig unter dem Eindruck dessen, was passiert war. Er hätte gerne mit jemandem geredet, aber Trost brauchte er nicht. Früher wäre das mit Pia möglich gewesen, als er ihr noch vertraut hatte, als sie noch eine Ehe führten, die den Namen verdiente und ab und zu noch Sex hatten.

„Ja, es war sicher eine Erlösung. Die Pflegerin rief an. Als ich kam, hatte die Rahn kaum noch Kraft zum Atmen. Ich hab dann noch die Tochter alarmiert. Die kam zwar schnell, aber da war sie schon gestorben. Hatte einfach keine Kraft mehr und ist friedlich eingeschlafen.“ Er gab den mitfühlenden Arzt. Das war in etwa das, was Pia hören wollte und auch nicht diskutiert werden musste. Heucheln konnte er. Er hatte ja eine gute Lehrerin. Wie er inzwischen ihr Gutmenschentum hasste. Jeder Joghurtdeckel, jede Currywurst und jede Fahrt zum Supermarkt stand im Zeichen der Weltenrettung. Aber so sehr sie die Natur auch zu lieben vorgab, wenn es um ihre eigene Natur ging, war schnell Schluss. Lena war inzwischen so pubertär, dass sie für gemeinsame Spaziergänge und Ausflüge nicht mehr zu gewinnen war. Wie gerne hätte Lucas es noch mal mit Pia im Freien getrieben, aber dann war es ihr zu hart, zu kalt, zu weich, zu feucht, zu trocken oder zu warm.

Sie tätschelte noch einmal seine Hand, bevor sie wieder irgendetwas in der Küche zu tun fand.

Lucas konnte eigentlich zufrieden mit sich sein, dachte er. er hatte spontan eine schwere und einsame Entscheidung getroffen, von deren Richtigkeit er zutiefst überzeugt war. Er musste dies jedoch für immer für sich behalten. Tatsächlich durchpflügte eine Sorge seinen Verstand, wie ein Hai das Wasser, ohne dass er sich bisher einmal an der Oberfläche gezeigt hätte.

3

Jetzt war die alte Rahn also unter der Erde und er musste nicht mehr tun, als niemals jemandem davon zu erzählen. Es gab keinen Menschen, der auch nur im Entferntesten daran gedacht hätte, von einer Tötung auszugehen. Warum auch? Alle, einschließlich ihrer selbst, hatten sich den Tod für sie als Befreiung von ihren Leiden gewünscht.

Abgesehen von der Beerdigung war es ihm ganz gut gelungen, nicht ständig darüber nachzudenken, was er getan hatte. Er hatte einfach weiter gemacht, als sei nicht mehr und nicht weniger als der erwartete Tod eines Patienten eingetreten.

An diesem Nachmittag standen wieder verschiedene Hausbesuche auf dem Programm, die er routiniert erledigte. Einer davon führte ihn zu Paul Krott. Die Wohnung lag in der Mitte eines Laubengangs.

Lucas klingelte kurz. Eine kleine, runzelige Frau mit gescheitelten, strähnig grauen Haaren öffnete prompt und schaute Lucas misstrauisch an. Sie trug eine Wolljacke, deren Knöpfe schon mehrfach ausgetauscht worden waren. Etwas ungeschickt hatte sie Make-up auf ihre Wangen gelegt. Lucas war kurz versucht, den Finger auszustrecken, um die Tünche besser zu verteilen.

Statt dessen stellte er sich vor. „Ich bin Doktor Robert und möchte gerne zu Ihrem Mann.“

„Ach, Sie sind das. Wie nett, dass Sie Zeit gefunden haben. Bitte kommen Sie doch herein.“ Ihre Züge hellten sich auf, und mit kleinen Trippelschritten rückwärts machte sie Platz, um Lucas einzulassen.

Es hing noch der Geruch nach Braten und irgendeinem Gemüse in der Luft, das Lucas gerade nicht zuordnen konnte.

Sie führte ihn durch den Flur in ein kleines Wohnzimmer mit zwei großen Fernsehsesseln vor einer Regalwand aus Eiche. Über einen verblichenen Perserteppich gelangten sie in das Schlafzimmer, wo Herr Krott das große Ehebett ganz für sich alleine hatte. Es roch etwas muffig. Offenbar war den ganzen Tag über noch nicht gelüftet worden. Neben dem Bett stand ein Infusionsständer, da Krott viele Medikamente über einen Zugang bekam. Gelegentlich lief darüber auch eine Nährlösung.

„Herr Doktor. Gut, dass Sie da sind.“ Krott war ein kleiner, hagerer Mann mit wenigen dünnen und grauen Haaren, der übel gelaunt aussah. Lebermetastasen störten seinen Galleabfluss, die Galle trat ins Blut über und seine Augen und seine Haut waren ganz gelb. Ein Versuch, sich aufzurichten, blieb im Ansatz stecken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel er wieder zurück. Lucas nahm seine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Sie waren gleichmäßig warm, die Kraft normal.

„Hol dem Doktor mal ’nen Stuhl“ knurrte Krott seine Frau an. Frau Krott holte einen Stuhl herbei, und Lucas setzte sich an die Seite des Bettes.

„Ach, würden Sie vielleicht einen Moment das Fenster öffnen“, bat Lucas die alte Frau so normal wie möglich.

„Selbstverständlich“, murmelte sie. Sie schritt rasch zum Fenster, riss die Vorhänge auf und öffnete dann beide Flügel. Ein kühler Wind ließ die Vorhänge weit in den Raum hineinwehen.

„Das zieht!“, rief Krott seiner Frau vorwurfsvoll entgegen.

Rasch drückte Sie beide Fensterseiten wieder zu und kippte sie statt dessen.

„Drehen Sie sich bitte mal zur Seite“, sagte Lucas, zog Krotts Nachthemd bis zur Schulter hinauf und begann, mit dem Stethoskop Herz und Lunge abzuhören.

„Wie fühlen Sie sich denn heute“, fragte Lucas, als er fertig war.

„Die Schmerzen sind auszuhalten, aber mit der Verdauung klappt es gar nicht mehr“, sagte Krott mit verkniffenem Gesicht, während er sich wieder zurückrollte.

Lucas war zum ersten Mal bei Krott zu Hause. Er hatte ihn erst vor wenigen Monaten von einem Kollegen übernommen, weil Krott der Weg zu seinem bisherigen Hausarzt zu weit geworden war. In der Praxis hatte er ihn ein paar Mal gesehen, aber jetzt benötigte er Hausbesuche. Er hatte höchstens noch wenige Wochen, aber ins Krankenhaus wollte er nicht. Da hätte man ohnehin nichts mehr für ihn tun können. Die Suche nach dem Primärtumor war schon frühzeitig aufgegeben worden. Die Verdauungsprobleme waren - wenig überraschend - den Morphinen geschuldet, die Krott gegen die Schmerzen erhielt. Das kannte jeder Junkie von der Straße.

„Ich werde Ihnen ein Abführmittel hier lassen. Sie sollten aber unbedingt versuchen, sich zu bewegen, auch im Bett. Damit beugen Sie der Verstopfung am besten vor. Vielleicht sollten wir aber trotzdem die Morphin-Dosis erhöhen.“

Die alte Krott stand am Fußende des Bettes und verfolgte das Gespräch.

Krott selbst blickte Lucas stumm an und schaute dann zu seiner Frau rüber, die nervös ihre Hände knetete.

„Martha, mach mir `nen Tee. Aber nicht so heiß!“, forderte Krott.

Wortlos verließ sie den Raum. „Und mach die Tür zu! Von außen!“

Lucas schaute ihr nach, wie sie wie ein Kind gehorchend den Raum verließ und die beiden alleine ließ.

Krott wandte sich wieder Lucas zu.

„Ich muss mal mit Ihnen alleine sprechen.“

Er winkte Lucas näher zu sich heran. Lucas beugte sich etwas vor.

„Ich mach´ mir keine Illusionen über meinen Zustand. Ich bin jetzt 84, und wenn ich nicht todkrank wäre, würde ich wohl gar nicht mehr leben. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange habe, und, um ehrlich zu sein, auf den Rest bin ich nicht mehr scharf, wenn Sie wissen, was ich meine. Mit Doktor Siem konnte ich darüber nicht sprechen. Er hat immer abgewunken. Aber Sie scheinen irgendwie aus einem anderen Holz zu sein. Helfen Sie mir!“

Lucas zuckte zusammen. Ein Kribbeln durchströmte ihn von oben bis unten. Er hatte das Gefühl, rot zu werden. „Tut mir leid“, sagte er, „Ich kann Ihnen da nicht helfen. Ich darf das nicht. Außerdem haben wir die Möglichkeiten Ihrer Schmerzbehandlung noch nicht ausgeschöpft.“

„Ihre Schmerzbehandlung ist mir scheißegal!“, rief Krott mit nur mühsam unterdrückter Stimme und schmiss die Tageszeitung im hohen Bogen durch die Luft. „Ich krepiere! Ich verlasse dieses Zimmer nur noch im Leichenwagen, das wissen Sie so gut wie ich. Als Arzt haben Sie die verdammte Pflicht zu helfen. Also helfen Sie jetzt gefälligst mir!“

Lucas schluckte. Mit der professionellen Distanz war es vorbei. Wut stieg in ihm hoch. Er atmete kurz durch und hoffte, dass Krott seine Gefühlswallung nicht mitbekommen hatte.

„Aber Herr Krott“, sagte er und legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm, „mit einer Dosiserhöhung können Sie noch ein paar schöne Wochen erleben.“

Lucas hatte „Monate“ sagen wollen, ganz sicher, aber es waren „Wochen“ daraus geworden. Es klang für ich selbst schon wie bitterer Hohn. Eigentlich wunderte sich Lucas, dass Krott überhaupt noch lebte, in diesem Alter mit dieser Krankheit, aber der Mann war ein zäher Hund.

Krott hielt sich einen Moment lang mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch, aber er hätte Lucas auch einfach ins Gesicht spucken können, das hätte keinen Unterschied gemacht.

Der kleine, quittengelbe Greis starrte ihn drohend an und ballte beide Fäuste in der Bettdecke.

„Ich verlange, dass Sie beim nächsten Mal etwas mitbringen! Ich zahle auch dafür“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Ein volles Tablett mit den Händen balancierend kehrte seine Frau wieder in das Schlafzimmer zurück. Lucas sprang auf, um ihr zu helfen.

„Trinken Sie eine Tasse mit uns?“, fragte sie mit ausgesuchter Freundlichkeit.

„Der Doktor muss schon wieder los“, bellte Krott, bevor Lucas auf andere Gedanken kommen konnte.

„Tja, leider“, bestätigte Lucas, „ich muss schon wieder.“ Er notierte rasch die Erhöhung der Morphindosis auf einem Zettel, „Aber ich komme übermorgen wieder. In der Zwischenzeit passen Sie die Dosis so an, wie ich es hier aufgeschrieben habe.“ Er kramte ein stärkeres Abführmittel aus der Tasche und reichte es Frau Krott zusammen mit dem Zettel. Dann räumte er seine Sachen wieder in die Tasche und war bereit zu gehen.

„Ich bringe Sie noch zur Tür.“

„Und denken Sie daran, mir etwas von diesem neuen Medikament mitzubringen“, rief Krott ihm hinterher.

Als Frau Krott die Tür geöffnet hatte, trafen sich ihre Blicke für einen Moment. Lucas hatte den Eindruck, dass sie noch etwas sagen wollte, doch sie blieb stumm.

„Also, wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Sonst sehen wir uns übermorgen. Auf Wiedersehen.“

Jahrelang war er darum herumgekommen, sich mit dem Thema Sterbehilfe auseinandersetzen. Unter seinen Kollegen wurde es gerne gemieden. Jeder kochte da sein eigenes Süppchen. Doch jetzt, wo er es einmal getan hatte, war es, als stünde es mit Großbuchstaben auf seiner Stirn.

Krott hatte es einfach gefordert, als hätte er ein Recht darauf. Lucas war stinksauer. Er knallte die Tür seines Wagens zu und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Er hasste es, herumkommandiert zu werden. Er war der Arzt. Der Patient hatte sich nach ihm zu richten und nicht umgekehrt. Außerdem hatte er keinen Bock, sich strafbar zu machen. Mit der Rahn war das etwas Anderes gewesen. Das war spontan, von einem Moment auf den anderen. Aber das hier wäre eine geplante Geschichte mit richtiger Vorbereitung. Vorsatz, kein Affekt, wenn es so etwas bei Sterbehilfe überhaupt gab.

Sein Vorgänger hatte es schließlich auch nicht gemacht. Ihm gegenüber war Krott sicher nicht so frech geworden. Wahrscheinlich hielt er ihn für einen Grünschnabel, der vor ihm kuschen würde. Aus Krotts greiser Perspektive mochte das ja so sein, aber so ließ Lucas nicht mit sich umspringen. Er lamentierte eine Weile gegen das Autoradio an. Dann beruhigte er sich etwas. Was sollte er tun?

Am ersten Stopplicht überlegte er, dass sich die Frage in ein paar Wochen sowieso erledigt hatte. Man konnte Geld darauf setzen, dass Krott den nächsten Jahreswechsel nicht mehr erleben würde, aber keiner der bei Verstand war, würde dagegen halten.

Doch bereits an der zweiten roten Ampel zog der Hai wieder durch seinen Verstand. Daa-damm, daa-damm, da-damm, da-damm, dadamm-dadamm…! Doch Lucas wollte mehr. Er gab dem Hai,der sein Maul weit aufgerissen hatte, um ihn zu verschlingen einen Hieb auf die Nase (das hatte er mal in einem Survival-Buch gelesen), und er drehte ab. Lucas wollte der Herr über seine Gedanken und Fantasien sein, nicht ihr Spielball. Und der Gedanke, den autoritären Greis mit Gewalt ins Jenseits zu befördern, war keine üble Fantasie. Ein wenig Demut stünde ihm sicher ganz gut zu Gesicht, bevor er seinem Schöpfer gegenübertrat. Allerdings eignete sich ein erfüllter Wunsch nur schlecht als Denkzettel, so bizarr er auch war.

Als Lucas schließlich endgültig im Feierabendstau feststeckte und es weder vor- noch zurückging, gab er sich den Gedankenspielen hin. So etwas wie bei der alten Rahn ginge nicht. Sie war allein und schwach gewesen. Krott hingegen war zwar todkrank, aber im Vergleich viel stärker. Er würde in der Agonie reflexartig um sich schlagen, wenn man ihm ein Kissen aufs Gesicht drückte. Außerdem wäre seine Frau zumindest in der Nähe, was diesen Plan undurchführbar machte. Man würde also auf einen tödlichen Medikamentencocktail zurückgreifen, wie es bei der Sterbehilfe in anderen Ländern gemacht wird. Ein Barbiturat oder Insulin in entsprechender Dosierung wäre wohl geeignet.

4

Als er zuhause ankam, war das Haus dunkel und verlassen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel für ihn. „Bin beim Yoga, der Salat steht im Kühlschrank. – Kuss“. Lena hatte darunter ergänzt: „Schieb dir lieber gleich `ne Pizza rein. Ich bin im Kino und um 11 zurück“.

Lena blieb immer öfter abends länger weg, normal in ihrem Alter. Dadurch würde er zwangsläufig häufiger mit Pia allein sein. Das hieß auch, er brauchte dringend weitere Hobbys. Das wöchentliche Bowling war schön und gut, aber einfach zu wenig.

Lucas haute sich rasch ein paar Stücke Putenbrust in die Pfanne und öffnete seine Post. Dann schenkte er sich ein Glas Rotwein ein, legte die Putenstücke zu dem Salat und klickte sich während des Essens durch eine Nachrichtenseite. Der Salat war gar nicht so schlecht, wie Lenas Kommentar hatte vermuten lassen, doch Pia konnte ihr derzeit gar nichts recht machen.

Nach dem Essen trieb es ihn hinab in den Keller in sein Arbeitszimmer. Früher hatte er einmal ein hübsches Zimmer unter dem Dach mit schöner Aussicht gehabt. Aber als Lena größer wurde, hatte er es ihr abgetreten. Sie brauchte in dem Alter einfach mehr Platz für sich. Er war ohnehin den ganzen Tag außer Haus und in ein paar Jährchen, würde sein altes Dachzimmer wohl auch wieder frei werden. Jetzt standen ein kleiner Schreibtisch, seine Fachliteratur und der PC in einem kleinen Kellerraum, den sie eigentlich als Gästezimmer hatten umbauen lassen.

Er nahm das Glas und die angebrochene Flasche mit und holte ein paar dicke Fachbücher hervor. Darunter auch ein altes Buch von seinem Vater, ein richtiges Schätzchen der Rechtsmedizin mit wirklich gruseligen Bildern. Sein Vater hatte ihm irgendwann nach der Auflösung seiner Chirurgiepraxis alle Bücher vermacht, und ein paar hatte Lucas tatsächlich aufgehoben. Er las über Erstickungstod und Gifte, Letaldosen und Totenzeichen, Agonie und Leichenschau. Die meisten Themen konnte er nur anreißen, doch mit jeder Seite wuchs seine Faszination. Aus diesem Blickwinkel hatte Lucas die Medizin noch nie richtig betrachtet.

Eine Entscheidung nahm Formen an. Er würde Krott helfen. Warum sollte er ihn unnötig leiden lassen? Der Mann hatte keine Chance mehr und keine Aussicht auf Besserung. Seine letzten Tage oder Wochen – das war abzusehen – würden eine einzige Qual. Und was Krotts Pöbeleien anging, würde er einfach darüber stehen. Er betrachtete diese Aufgabe von nun an als medizinische Herausforderung. Einen derart aufregenden Ablauf wie bei Frau Rahn hatte er nicht zu erwarten. Bei Insulin oder einem Barbiturat in einer Infusion würde Krott friedlich wegdämmern und nie mehr aufwachen.

Lucas konzentrierte sich jetzt auf die Barbiturate für Herrn Krott. Diese waren stärker als einfache Schlafmittel. Krott würde keine Schmerzen spüren, sondern einfach nur einschlafen. Der Blutdruck würde dann in den Keller gehen und es käme zum Sauerstoffmangel mit Atem- und Herzstillstand. Im Internet fand Lucas für das Barbiturat seiner Wahl die Angaben für die erforderliche tödliche Dosis. Eigentlich war es ganz einfach. Er konnte die Aktion bereits beim nächsten Besuch durchführen.

Nach einem weiteren Glas Wein sah Lucas kurz entschlossen in Krotts Akte nach der Telefonnummer und rief ihn an. Seine Frau nahm ab. Im Hintergrund hörte er den Fernseher.

„Hier ist Doktor Robert, guten Abend Frau Krott. Könnte ich noch einmal ihren Mann sprechen, bitte?“

„Ja, einen Moment. ich sehe mal nach, ob er schläft.“

Lucas hörte Türen, leises Gemurmel. Sie reichte ihrem Mann das Telefon.

„Ja“, meldete sich Krott schläfrig und schlecht gelaunt.

„Hier ist Doktor Robert. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich mich um Ihren Wunsch gekümmert habe. Wir können es übermorgen machen, wenn Sie bereit sind. Vielleicht möchten Sie ja erst noch das Eine oder Andere regeln.“

Einen Moment lang hörte Lucas nur Krotts angestrengtes Atmen. Wahrscheinlich bedeutete er seiner Frau, den Raum zu verlassen. Dann hörte Lucas durch das Telefon das Schließen einer Tür.

„Nein, nein, da gibt es nichts zu regeln. Ich bin bereit. Aber wehe, Sie kneifen!“

„Gut, ich werde eine Infusion mitbringen. Das ist am sichersten. Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich keine Zeugen dabei haben möchte.“

„Ich schicke meine Frau weg. Wann werden Sie da sein?“

„Ich bin um Viertel nach Sechs bei Ihnen.“

„Und nehmen Sie was, das nicht wehtut. Man hat mich lange genug unter Schmerzen gelassen!“

„Nein, nein. Sie werden einschlafen, träumen und nicht mehr aufwachen“, sagte Lucas ruhig.

„Hoffentlich träume ich nicht von meiner Frau“, sagte Krott und legte auf.

Lucas nahm noch einen Schluck und lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück. Das mit dem Träumen hatte er sich ausgedacht. Aber wer wusste das schon so genau.

In zwei Tagen sollte es also passieren. Er hätte sich selbst belügen müssen, um sich die Aufregung darüber nicht einzugestehen. Es würde weniger spektakulär verlaufen als bei Frau Rahn, aber die Vorstellung ließ ihn von diesem Moment an nicht mehr los.

Wenig später hörte er Pia an der Haustür. Das vernehmliche Plumpsen der Sporttasche verriet ihre Erschöpfung. Irgendwann hatte Lucas begriffen, dass Yoga auch anstrengend sein konnte.

„Ich bin hier unten!“, rief er und war sich sicher, dass sie nicht kommen würde, da sie wie üblich erst duschen und dann essen wollte.

„Ist gut“, rief sie zurück, „Wo ist Lena?“

„Im Kino, ich glaub´ mit Julia.“

„Wann kommt sie zurück?“

„Um 11 oder so.“ Das Geschreie durch’s ganze Haus ging ihm mächtig auf die Nerven. Die Hälfte von dem, was Pia dann sagte, verstand er nicht. Hauptsache, sie ging duschen. Eigentlich war 11 Uhr ganz schön spät für eine 15-Jährige, dachte Lucas, aber Lena sah wie viele ihrer Freundinnen eher älter aus, sodass sie abends meist problemlos ins Kino kamen, und dann gingen die Filme eben so lange. Auch wenn Lena nur auf ihrem Zimmer blieb, war im ganzen Haus mehr Leben. Ohne sie war nur die Stille mit Pia laut.

Das Anfangsglück ihrer Ehe war nach gut zehn Jahren längst verflogen. Sein familiäres Leben war bis ins Kleinste von einer vorstädtischen Vorhersagbarkeit durchwirkt. Nicht dass ihm dieser Umstand an sich größeres Kopfzerbrechen bereitete. Der größte Teil der Menschheit hätte wohl liebend gern mit ihm getauscht. Aber er war ohne Leidenschaft und vom Leben betrogen.

Manchmal hatte er das Gefühl, sich gerade erst die Zähne geputzt zu haben, und schon saß er wieder mit Pia vor den Tagesthemen. Er wusste bereits während eines Themas, welchen Kommentar Pia anschließend abgab. Nach dem Wetterbericht bewegte er sich wie ferngesteuert ins Bad. Pia war dann irgendwo vor, neben oder hinter ihm. Auch die nächsten Minuten, die vor ihm lagen, lagen schon tausendfach hinter ihm. Er würde als Erster ins Bad gehen, weil er nicht so lange brauchte, würde die Türe hinter sich schließen, sich fertigmachen und stumm über die Zahnseide fluchen, die in seine Finger schnitt. Die Zahncreme war immerhin angenehm minzig.

Von Jahr zu Jahr wurde es langweiliger an Pias Seite. Die ehemals strahlende Antlitz der Tage, der ewige Frühling, hatte sich zu einer hässlichen Fratze entwickelt. Nach dem Ausziehen streckte die Hose über dem Stuhl ihm die Zunge heraus, seine Socken verströmten reine Schadenfreude und sein Nachthemd überzog ihn mit Häme.

Doch an diesem Abend war etwas anders.

Nachdem er eine Weile in seinem mäßig spannenden Krimi gelesen hatte, legte er das Buch zur Seite und schaltete das Licht aus. Nicht weil er, wie üblich eingenickt war, sondern weil er viel lieber darüber nachdenken wollte, wie er vorzugehen hatte, um Krott eine professionelle Sterbehilfe zu geben, die ihn ohne Schmerzen und zusätzliches Leid genau dieses in seinen letzten Wochen ersparen sollte. Er widmete sich eine ganze Weile diesen Gedanken, während er mit offenen Augen ins Dunkle starrte.

5

Lucas war am nächsten Tag schon nervös aufgewacht. Die Zeit in der Praxis hatte er irgendwie und nicht sehr konzentriert hinter sich gebracht. Wenn das Telefon klingelte und seine Helferin sich meldete, lauschte er mitunter gebannt, ob es wohl Krott war, der einen Rückzieher machte und es vorzog, im Laufe der nächsten Wochen selbst zu sterben.

In den freien Minuten und auch nach Praxisschluss befasste er sich mit dem Sterbehilfethema im Internet. in einigen Ländern hatte man es da schon leichter. Lucas malte sich aus, wie es wohl sein musste, die Top-Praxis für Sterbehilfe zu sein. Für jeden Patienten den besten, individuell abgestimmten Cocktail zusammenzumixen, aber dafür hätte er schon auswandern müssen.

Dem Abend sah Lucas schon etwas gelassener entgegen. Er traf die Jungs zum Bowling – der einzig nennenswerte Sozialkontakt, den er noch pflegte. Fünf Freunde, nicht von Enid Blytons Gnaden, sondern übrig geblieben aus gemeinsamen Studententagen. Außerhalb des wöchentlichen Bowlings beschränkte sich ihr Kontakt auf Geburtstagsfeiern und ähnliche Anlässe. Alle waren viel beschäftigt, hatten Familien und Verpflichtungen, in der Tiefe ihrer Gespräche konnte man gut stehen. Da waren Karl, der Kahle, Stefan, der Stete, Philipp, der sich nichts nachsagen ließ, und Carsten, Pias Ex. Das Spiel war wie immer spannend und ein paar Bier taten ein Übriges, um Lucas für einige Stunden auf andere Gedanken zu bringen. Trotzdem musste er in den Pinkelpausen immer wieder an den kommenden Tag denken. Ein Gedanke, der ihn wieder wacher werden ließ, aber auch ablenkte. Entsprechend waren auch seine Ergebnisse auf der Bahn. Philipp, der sich nichts nachsagen ließ, hätte an diesem Abend auch blind werfen könne. Er traf einfach alles. Lucas wurde nur deshalb nicht Letzter, weil Carsten wieder seinen mangelnden Ehrgeiz zelebrierte, wofür Lucas ihm ab und an gerne einmal mit der Bowlingkugel den Schädel eingeschlagen hätte.

Später im Bett hatten ihn die Gedanken an den nächsten Tag wieder. Er ging den Ablauf immer wieder durch. Die Zeit würde knapp sein, wenn er seine Frau zum Einkaufen schickte. Er würde gleich nach der Begrüßung loslegen müssen. Die Infusion an sich war keine große Sache. Er hatte zur Sicherheit die Dosierung erneut recherchiert und dann noch mal dreißig Prozent draufgeschlagen.

Am nächsten Morgen war er früh wach, hellwach. Er lag im Bett und wartete darauf, dass der Wecker klingelte und Pia aufstand. Danach würde auch er aufstehen, wie immer. Er fühlte sich an diesem Tag vom ersten Moment an quicklebendig und voller Energie. Ein wenig schämte er sich dafür, dass der anstehende Tod eines Menschen ihm einen solchen Schwung gab.

Gegen Nachmittag entspannte er sich langsam. Die Nervosität wich einer kühlen sachlichen Ruhe, doch er spürte immer noch den hohen Puls. Es hatte etwas von einer Prüfung. Schon im Studium war er im Gegensatz zu seinen Kommilitonen oft in der Lage, bei großer Nervosität große Ruhe einkehren zu lassen. Damit war er wie geschaffen für einen Chirurgen-Job. Hatte er wohl von seinem Vater geerbt, doch die Vorstellung, auch diesen Weg einzuschlagen und sich auch weiterhin anhören zu müssen, was er alles nicht konnte und wie großartig Robert senior doch als Chirurg gewesen war, machten alle chirurgischen Fächer für Lucas zu einer No-go-Area.

Er beendete seine Sprechstunde pünktlich und entließ die Mitarbeiter nach Hause. Dann kontrollierte er in Ruhe seine Arzttasche. Infusionsbesteck und Totenschein waren da und auch eine Packung mit Barbiturat-Ampullen. Er war gespannt, ob Krott immer noch bereit war und ob es mit seiner Frau keine Probleme geben würde. Er spürte, wie sich sein Herzschlag langsam beschleunigte und sein Blutdruck stieg. Er wurde jetzt richtig heiß auf den Kick. So fühlte sich vielleicht jemand, dem sein erster Bungee-Sprung bevorstand. Die Adrenalindepots waren prall gefüllt, und es fehlte nur noch der letzte Anstoß, um den ganzen Körper damit zu fluten. Sein Stammhirn hatte die Herrschaft übernommen. Lucas bewegte sich wie von selbst. Er hatte gar nicht mehr das Gefühl, anders handeln zu können. Warum sollte er auch? Solange er seine Sterbehilfe gegenüber sich selbst und anderen rechtfertigen konnte, spielte es doch keine Rolle, ob er Vergnügen daran hatte oder nicht. Schließlich konnte er in seinem Kopf machen, was er wollte. Und dass ein baldiger schmerzloser und friedlicher Tod für Krott ein Segen war, stand außer Frage.

Als Lucas den Laubengang des Hauses betrat, sah er sie bereits in der Tür stehen. Sie trug einen Mantel und hielt eine Einkaufstasche in der Hand.

„Endlich sind Sie da.“ Sie trat aus der Tür und hielt sie für Lucas fest, bis er übernehmen konnte. „Ich muss rasch noch etwas besorgen. Er will heute Abend unbedingt Spargelcremesuppe“, sagte sie etwas gereizt und verdrehte dabei leicht die Augen.

„Ist gut, vielen Dank. Lassen Sie sich nur Zeit, ich bin ja jetzt da.“

Als Lucas die Tür hinter sich schloss, blieb er einen Moment stehen und horchte in die Wohnung hinein. Es war schon jetzt totenstill. Erst als er beinahe in Krotts Zimmer stand, hörte er dessen flache Atmung. Viel war nicht mehr los mit ihm. Er tat ein gutes Werk.