Freeland - Markus Vieten - E-Book

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Markus Vieten

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Beschreibung

Ein 30 Jahre alter Mordfall, und irgendwann kehrt jeder Täter an den Ort der Tat zurück. Das glaubt zumindest Marijke, die als kleines Mädchen den Mord an ihrer Schwester auf der Insel Vlieland mit anhören musste. – Drei Mitvierziger auf Revivaltour, und die Träume der Jugend sind schon lange verblasst. Das glauben zumindest Sven, Fred und Tom, aber war nicht auf Freeland schon immer alles etwas anders gewesen?

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Seitenzahl: 361

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Markus Vieten

Freeland

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vlieland, Sommer 1983

1

2 Vlieland Sommer 1983

3 Sommer 1983

4

5 Sommer 1983

6

7 Sommer 1983

8

9 Sommer 1983

10

11 Amsterdam, Sommer 1983

12 Vlieland, 1989

13 Amsterdam, Sommer 1983

14 Vlieland, 1992

15

16 Amsterdam, Sommer 1983

17

18

19

20

21

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36

Impressum neobooks

Vlieland, Sommer 1983

Wenn nur endlich die Schreie aufhören würden.

Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu, den Kopf drückte sie in einen Stapel Decken, der neben ihr auf dem Boden lag. Es nützte nichts. Noch immer hörte sie die Schreie ihrer Schwester. Es war reiner Zufall, dass sie hier in der Ecke zwischen ein paar alten Fahrrädern und Kisten hockte. Am morgen hatte Marijke eine kleine Maus gefunden. Ganz zutraulich war sie, aber auch schwach, vielleicht krank. Sie brauchte ihre Hilfe. Sie hasste es, wenn die Eltern Mausefallen aufstellten. Sie hasste auch die Katzen, die Mäusekörper stückchenweise im Haus verteilten. Sie konnte Katzen nicht ausstehen.

Sie hatte sich mitten in der Nacht aus dem Bett geschlichen, um nach ihrer kleinen Freundin zu sehen. Sie musste ganz leise sein. Ihre Eltern durften nichts merken. Aber sie musste diese Maus, ihre Maus, einfach retten. Also ging sie mit einer kleinen Taschenlampe in die Scheune, um nachzusehen, ob die Maus den Käse angenommen hatte, den sie ihr gebracht hatte. Der Käse war weg, aber auch die Maus sah sie nicht, und plötzlich hörte sie Stimmen, die sich rasch näherten.

Erschrocken schaltete sie die Taschenlampe aus. Sie erkannte die Stimme ihrer Schwester Els, die mit jemandem sprach. Sie keuchte. Die Schuppentür wurde aufgerissen. Ein Mann redete auf sie ein. Marijke verstand kein Wort. Es hörte sich an, als würden sie kämpfen. Marijke traute sich nicht hinzusehen. Dann waren da das Keuchen und dann die Schreie. Marijke hatte Angst. Sie fasste all ihren Mut zusammen und lugte vorsichtig um die Ecke des Regals. Els lag vornüber gebeugt auf dem großen Tisch in der Mitte des Schuppens zwischen leeren Marmeladengläsern, Töpfen mit vertrockneter Farbe, alten Lappen und Kartons mit Sachen, die irgendwann irgendwo eingeräumt werden sollten. Marijke verkroch sich wieder hinter dem Regal. Sie hielt sich die Ohren zu und betete, dass es endlich vorbei sein möge. Wie aus weiter Ferne vernahm sie manchmal ein Rumpeln und immer die erstickten Schreie ihrer Schwester. Dann quietschte die Schuppentür und es war total still. Langsam nahm sie wieder die Hände herunter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig schob sie den Kopf vor. Sie konnte die Beine ihrer Schwester sehen, die regungslos über der Werkbank lagen, wie tot.

Sie wollte sich aufrichten, um nach Els zu sehen, als sie erneut Schritte hörte. Vielleicht hatte der Mann sie doch bemerkt und kam jetzt zurück, um auch sie zu töten. Panisch flüchtete sie durch die alte Schweineklappe in der Rückwand der Scheune ins Haus zurück. Wenn sie im Bett einfach die Augen zumachte, wäre morgen früh vielleicht alles wieder gut. So war es bisher immer gewesen. Ihre Maus musste jetzt allein klar kommen.

Marijke riss die Augen auf. Wieder ein Schrei. Schrecklich laut, durch Mark und Bein. Die Angst aus der Nacht war sofort wieder da, es hatte nicht geholfen.

Zuerst glaubte sie, wieder ihre Schwester zu hören, doch dann erkannte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Wie durch Watte hörte sie jemanden über den Platz laufen. Solche festen Schritte machte ihr Vater. Die Neugier war jetzt stärker. Sie stieg aus dem Bett und schaute mit klopfendem Herzen herunter auf den Hof. Alles war in Aufruhr. Der Vater lief hin und her, die Mutter hielt sich den Kopf, als drohe er auseinanderzufallen. Dann sprach ihr Vater mit jemandem, wahrscheinlich am Telefon. Sie hörte die Worte Notarzt und Polizei. Langsam öffnete sie die Zimmertüre. Ihr Vater klang verzweifelt. Els Name fiel.

Als sie zögerlich ein paar Stufen die Treppe heruntergegangen war, erblickte ihr Vater sie und kam ihr entgegen. Er hob sie auf seine starken Arme.

„Es ist etwas Schreckliches passiert, mein Schatz. Die Els…“, doch weiter kam er nicht. Er schluchzte, vergrub sein großes, kratziges Gesicht an ihrem Bauch. Ihr Vater weinte. Er drückte sie so fest, dass sie einen Moment befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf den Fußboden. Sein Gesicht war nass von Tränen.

„Ich muss mich jetzt um einiges kümmern, auch um Mama, Schatz, sei so gut, nimm Dir selbst etwas zum Frühstück." Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt, strich ihr sanft über das blonde Haar. Liebevoll lächelte er sie durch sein tränennasses Gesicht an.

„Papa!“

So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, so stark, so schwach, so traurig. Etwas Schlimmes war passiert, mit Els. War sie wirklich tot?

Er kehrte ihr den Rücken zu und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.

1

Sein Herzschlag langweilte ihn. Er klopfte ewig gleich in seiner Brust, mal im Hals oder in den Ohren. Frau Seipold saß ihm gegenüber, redete und redete, aber er hörte sie nicht. Er setzte einen mitfühlenden Blick auf und versuchte, im richtigen Moment zu nicken und gelegentlich den Kopf zu schütteln. Meistens passte beides, irgendwie. Besonders bei jemandem wie Frau Seipold. Sie wirkte mit ihrer Handtasche, dem grauen Rock und der Einkaufstasche neben sich so alt. Ihr Geburtsdatum auf der Karteikarte verriet jedoch, dass sie nur wenige Lenze mehr auf ihrem beginnenden Buckel hatte, als er selbst, wofür er sie am meisten verachtete. Sie schüttete ihm ihr Herz darüber aus, dass sie den Kontakt zu ihrer Tochter und dem Enkelkind verlor. Diese Frau mit ihrer Osteoporose und ihrer Verstopfung stand für Alter, Leid und Klagen. Damit hatte Fred nichts zu tun, das war ein anderes Leben. Seines hatte doch gerade erst angefangen, dachte er, bis er am nächsten Spiegel vorbeikam.

„Wenn ich mit ihr telefoniere, ist es, als redete ich mit einer Wand.“ Sie schaute auf ihre Hände, die ein unruhiges Eigenleben am Saum ihrer Strickjacke führten.

Fred nickte ernst. In Gedanken war er beim Abendessen. Früher hatte er gerne gekocht, mit Caro in der ersten Zeit auch gerne zusammen, abends, wenn die Kleine im Bett war. Aber jetzt, wo Danni pubertierte, aß sie einem die Haare vom Kopf – Mädchen hin oder her. Und manchmal war am Abend für ihn nur noch der Rest in den ungespülten Töpfen vom Mittag übrig oder es gab ein Fertiggericht. Fred tat dann so, als reichte es ihm. Einer dieser vielen Kompromisse, die ihm allmählich das Leben vermiesten. Vielleicht würde er sich einen dieser großen italienischen Salate kommen lassen. Es war warm draußen, schon fast ein Sommertag, dann schmeckte das Grünzeug besonders gut. Von diesem Gedanken war es auch nicht mehr weit zu seinem Therapievorschlag – intuitive Medizin.

„Ich werde Ihnen ein pflanzliches Präparat verschreiben, damit Sie besser einschlafen können. Und – versuchen Sie daran zu arbeiten”, sagte Fred, wobei er Frau Seipel tief in die Augen blickte.

„Ja, Herr Doktor, vielen Dank. Soll ich dann in zwei Wochen wiederkommen?“

„Ja, unbedingt! Lassen Sie sich vorne von Evelyn einen Termin geben.“

„Ist gut, Herr Doktor, und nochmals vielen Dank.“ Sie ergriff mit beiden Händen seine rechte.

In diesem Augenblick öffnete die Arzthelferin die Türe.

„Ich wollte doch heute etwas früher Schluss machen, Chef….“

„Ja, ja, gehen Sie nur. Ich schließ´ dann alles ab.“

Evelyn führte die Frau zur Anmeldung.

Fred tippte noch ein paar Notizen in den Computer. Wenig später hörte er, wie beide die Praxis verließen.

Dann war es totenstill.

Wieder ein Tag vorbei.

Sein Leben hatte erstaunlich an Fahrt gewonnen. Nicht dass er vom Auf und Ab des Schicksals geschüttelt wäre, im Gegenteil: Seine gleichförmigen Tage schossen pfeilschnell durch die Zeit. Es kam ihm manchmal so vor, als bewegte er sich in der Zeit beliebig vor und zurück – Traum aller Science-Fiction-Fans. Denn obwohl seine Helferin gerade erst fort war, hatte er eigentlich schon wieder die Zahnbürste zwischen den Zähnen, die den Tag beendete. Dazwischen würde auch nichts Überraschendes passieren. Es konnte geradeso gut der Tag davor gewesen sein oder der danach. Seine Wochen bestanden eigentlich nur aus zwei Tagen – einem Arbeitstag und einem freien Tag. „Frei“ bedeutet dann Danni zu ihren Volleyballspielen begleiten, zum x-ten Mal im Jahr die Heck schneiden (laut Caro angeblich nur zweimal im Jahr, er hatte das Gefühl, es mindestens einmal im Monat zu tun; auch diese verdammte Zeitbeschleunigung) und auf irgendeiner Praxiseröffnung mit uninteressanten Leute uninteressante Dinge reden, doch fernzubleiben hieß, einen potenziellen neuen Partner auszuschlagen, dem er Patienten überwies, die dann wieder einen neuen Termin bei ihm brauchten, um die Ergebnisse von dort zu besprechen. Geldmacherei, aber es gab auch eine Reihe Verpflichtungen. Zumindest die Praxis war dank der vielen Kranken gesund. Medizin war ein Geschäft, besondere Talente waren nicht nötig. Es gab keine Fragen, für deren Beantwortung man geboren sein musste (Wie erlangt man Erkenntnisse über höherdimensionale Welten, wenn man selbst in einer niederdimensionalen Welt lebt?) und man benötigte auch keinerlei Kreativität, nur Selbstdisziplin und ein gutes Gedächtnis. Gut, früher hatte er mal viel Gefühl für seine Patienten aufgebracht, aber das war lange her. Jetzt spulte er sein Programm ab. Er konnte sich zu Tränen rühren lassen und gleichzeitig darüber nachdenken, dass er sich die Fußnägel schneiden musste.

Aber es gab noch Hoffnung. Denn er wollte noch mal raus. Nur ein, zwei Wochen, ohne Frauen, ohne Kinder und er hatte eine Idee, seit Wochen schon: Vor 30 Jahren war er mit Sven und Tom losgezogen. Gerade 16, zum ersten Mal allein unterwegs und das Ziel war Vlieland. Das klang damals wie ein verheißener Ort: Sommer, Sonne, Strand, viele Leute aus vielen Ländern, die Musik von holländischen Radiostationen, bei denen die abgefahrenen Platten aus Übersee immer irgendwie zuerst landeten (und dann nicht weitergereicht wurden), entspanntes Grasrauchen und Mädchen, Mädchen, Mädchen. Und weil das alles mehr Freiheit war, als Fred, Tom und Sven kannten, tauften sie die Insel gleich „Freeland“ („Vlieland“ war wahrscheinlich ohnehin einem Aussprachefehler ehemals chinesischer Kolonialherren geschuldet).

Heute ließ sich das schnell „ausgoogeln“: westfriesische Insel, 1100 Einwohner, 4000 Hektar, keine Autos – bis auf einige von Einheimischen. Klickt man auf „Bilder“, hat man schon beinahe alles gesehen und reist nur noch zur Bestätigung dahin, wenn überhaupt. Ein weiterer Link zeigt die Wettervorhersage, ein Satellitenbild und mit der nächsten Fingerbewegung wird eine Webcam aktiviert, die ohne Unterbrechung den Hafen filmt.

Fred blendete das alles aus. Er erinnerte sich genau, welche Platten er damals rauf und runter gehört hatte. So nuschelte er irgendetwas zu Caro und verzog sich dann in sein Arbeitszimmer, wo er die Musik auflegte. Er breitete eine Landkarte aus und fuhr mit dem Finger die geplante Route nach, so wie er es damals gemacht hatte, als die Zukunft nur aus saurem Regen und Atomkrieg bestand, aber die Gegenwart der Hammer war.

2 Vlieland Sommer 1983

Marijke hatte Angst. Els war tot und sie wusste nicht, was das jetzt bedeutete. Keiner schien für sie da zu sein. Alles drehte sich nur noch um Els, obwohl sie nicht mehr da war und nie wiederkommen würde. Und wer kümmerte sich um sie!? Ihre Eltern waren mit Weinen und Schreien beschäftigt, sprachen ständig mit irgendwelchen Leuten, die kamen und gingen, Fragen stellten, fotografierten. Ab und zu sah mal jemand nach ihr, aber wenn sie hinaus wollte, führte ihr Vater sie sanft aber bestimmt zurück. Also schlich sie sich durch die Küche hinten heraus und ging ums Haus herum. Sie hielt sich versteckt, blickte nur kurz um die Hausecke und sah die gleiche Szene, die sie kurz zuvor noch von oben aus ihrem Fenster betrachtet hatte. Dann war es nicht mehr weit bis zum Hintereingang der alten Scheune, wo das Schreckliche passiert war.

Wie ging es wohl ihrer Maus? Wer kümmerte sich um sie? Im Nu war sie am Hintereingang und kroch in die Scheune. Sie hörte die Stimmen durch den alten, vollgestellten Holzverschlag. Sie klangen etwas weiter weg. Das Käsestückchen, das sie ihrer Maus hingelegt hatte, war verschwunden, doch die Maus selbst ließ sich nicht blicken. Bestimmt hatte sie auch Angst bekommen.

Sie schaute sich um. Alles sah so aus wie zuvor, aber es fühlte sich anders an. Sie riskierte einen Blick, sah das Eingangstor. Niemand da. Sie wagte sich aus ihrem Versteck und ging quer durch die Scheune zu der Stelle, wo ihre Schwester gestorben war. Auf dem mit Spänen und Staub übersäten Holztisch waren mit weißer Kreide die Umrisse ihrer Schwester aufgezeichnet worden. Sie erstarrte. Sie konnte den Blick nicht mehr abwenden. Ihr Kopf war leer gefegt, es gab keine Gedanken. Jetzt war doch eigentlich genug Platz da, um das Geschehene aufzunehmen, aber es war zu groß für ihren kleinen Kopf.

Ein Schatten erschien in der Tür, der sie wieder in die Welt zurückholte.

„Was machst Du denn hier?“, sagte die Stimme und der Mann kam auf sie zu, wie ein Schemen im Licht der inzwischen hoch stehenden Sonne. Sie wollte wegrennen, doch ihr Blick fiel auf etwas Buntes am Rand eines Tischbeins im Schmutz zwischen Heuresten, Sägespänen und dem nur nachlässig weggefegten Staub.

Ohne nachzudenken ergriff sie es und rannte wieder nach hinten, um durch die kleine Tür aus der Scheune zu schlüpfen. Die Stimme rief wieder nach ihr, streng und scharf, doch dann sagte jemand, sie sei die Schwester und würde das alles noch nicht verstehen. Der Mann sah sie und lief auf sie zu. Auch ihr Vater stand dort, im Hintergrund, unbewegt, also rannte sie wieder durch die Küche ins Haus und hoch in ihr Zimmer. Sie setzte sich in ihre Höhle aus ein paar Kissen und einer Decke. Da fühlte sie sich sicher. Niemand konnte sie sehen. Sie zog das bunte Bändchen hervor, das sie gefunden hatte, und untersuchte es eingehend: sechs nebeneinander liegende Reihen kleiner bunter Perlen und an beiden Enden zwei Fäden. Damit konnte man es sich wohl umbinden, und zwar um das Handgelenk.

Und jetzt wusste sie auch, wo sie so ein Band schon einmal gesehen hatte. Es war am Tag zuvor gewesen, als sie am Eingangstor gespielt hatte. Da kamen die drei Großen auf den Fahrrädern und waren nett zu ihr gewesen. Einer von ihnen hatte auf jeden Fall so ein Band getragen, vielleicht sogar zwei der Jungs.

Sie mochte nicht mehr an ihre tote Schwester denken. Also rannte sie wieder aus dem Haus, warf noch einen Blick auf ihre weinende Mutter, und dann über den Platz durch das offene Tor, das den Campingplatz von ihrem Privatgrundstück abtrennte. Schon bald gelangte sie zu den ersten Zelten. Ganz nah am Haus campierte fast nie jemand. Die Leute wollten nicht so weit zum Geschäft laufen müssen, das hatte sie schon oft gehört. Aber dann war sie auch schon umgeben von vielen jungen Menschen. Die meisten beachteten sie gar nicht, einige lächelten ihr zu, meistens große Mädchen und manchmal strich auch eine über ihr Haar, fragte nach ihrer Mama oder ihrem Papa. So auch diesmal und Marijke sagte, meine Schwester ist tot. Das Mädchen schaute erschrocken, und sagte dann etwas wie: „Damit macht man aber keine Scherze, hörst du?“ oder so ähnlich, nur um dann gleich wieder zu lächeln. Die drei Jungs sah sie nicht, auch wenn es viele gab, die zuerst so aussahen, aber dann waren sie es doch nicht. Der eine hatte viele dunkle Locken gehabt, das wusste sie noch. Als sie den ganzen Platz überquert hatte, stand sie wieder am Ausgangstor, wo sie die drei getroffen hatte.

An ihre Schwester dachte sie jetzt nicht mehr, sondern nur daran, was sie mit dem Band machen sollte. Dann fiel ihr wieder ein, was sie beobachtet hatte, den vergrabenen Schatz. Ob sie den Platz wohl wiederfinden konnte?

Sie verließ den Campingplatz über den asphaltierten Weg und bog dann rechts in den Waldweg ein, auf den auch die drei mit dem Rad gefahren waren, dann weiter zu der Abzweigung über Sand und Nadeln. Manchmal rutschten einige der Nadeln zwischen Fußsohle und Sandalen. Sie hielt das Bändchen fest in der Hand und betrachtete es immer wieder. Sie verbannte jeden Gedanken daran, wo sie es gefunden hatte und warum ebenso aus ihrem Gehirn, wie die Gedanken an ihre Schwester.

Viel interessanter war jetzt der Schatz. Einen Schatz vergrub man, um etwas sicher zu verstecken und es später einmal wiederzuholen. Also musste sie das Bändchen nur zu dem Schatz legen, und derjenige, der es verloren hatte, würde es dort irgendwann vorfinden. Sie folgte dem Weg, den die drei genommen hatten, und im Gegensatz zu ihnen, musste sie sich nicht die Zahl der Pflöcke rechts und links und der Bäume am Wegesrand merken, um die Stelle zu finden. Jeder Meter war ihr vertraut. Ein heimlicher Blick zwischen den Bäumen hindurch hatte genügt, um sich die Stelle einzuprägen. Eigentlich hatte sie sowieso sofort nachsehen wollen, was sie dort vergraben hatten, aber das durfte sie bestimmt nicht. Wenn sie allerdings etwas dazu legen wollte und zwar mit den allerbesten Absichten, dann wäre es unvermeidlich nachzuschauen, was eigentlich dort versteckt war.

Als sie an der Stelle angelangt war, schaute sie sich nach etwas zum Graben um und fand einen kleinen Ast, der geeignet schien. Sie wusste nicht genau, welche Stelle die Jungs zwischen den Bäumen gewählt hatte und entschied sich einfach für die Mitte.

Also fing sie an, mit ihrem Stück Rinde den weichen und sandigen Boden aufzugraben. Schon bald wurde er etwas feuchter und schwerer, gerade so, als buddele man am Strand. Dann stieß sie auf das Päckchen und holte es heraus. Es war in ein Plastiktütchen eingewickelt und darin in silbriges Schokoladenpapier. Sie drückte darauf. Es fühlte sich ein wenig wie Knetgummi an. Vielleicht etwas zu Essen? Oder etwas Giftiges? Warum sollte man hier so etwas vergraben? Aber die Vorstellung nach etwas zu Essen gefiel ihr gar nicht. Sie hatte sowieso genug Ärger zuhause, weil sie nie das mochte, was Mama kochte. Eigentlich mochte sie nur Fritten.

Sie würde das Band einfach dazulegen und das Ganze wieder zuschütten. Sie konnte das Bändchen auch wie ein zusätzliches Band darum wickeln. Knoten konnte sie schon sehr gut, hatte auch Els immer gesagt. Dann fiel ihr alles wieder ein.

3 Sommer 1983

Nur noch wenige Tage bis zur Abfahrt. Fred hockte wieder über der Landkarte gebeugt auf dem Boden. Er, Tom und Sven planten einen gemeinsamen Urlaub: eine Radtour durch Holland, über Amsterdam nach Vlieland. Kein Jugendlager, keine Betreuer, keine Eltern. Nach langen Diskussionen zwischen Bier, Gyros und Billardtisch hatten sie sich dazu entschieden, kein Dope mit über die Grenze zu nehmen. Zu Gefährlich. Die Grenzen waren noch richtige Grenzen, und beim Thema Haschisch verstanden nur die Kiffer Spaß. „Eigenbedarf“ war allenfalls ein Thema beim Mieterschutzbund.

Aber jetzt war für drei Wochen Schluss mit Grenzen. Schließlich ging es ins Land der unbegrenzten Coffeeshops, wo Tag und Nacht lustige, blondgezopfte Käseverkäuferinnen in Holzschuhen an Grachten saßen und aus kleinen Tonpfeifen Haschisch rauchten.

Bis es so weit war, mussten aber noch einige Kilometer bis Amsterdam zurückgelegt werden. Und bis dahin ohne Dope? Oder schmuggeln? Die Drei hatten das Thema ausgiebig diskutiert. Im Fahrrad verstecken? Da gab es diese Hunde, die Haschischreste noch an Fingernägeln rochen, die schon zweimal abgeknabbert waren. In kleine Glasröhrchen einschweißen? Könnte funktionieren, die wären wohl geruchsdicht. Nur wusste niemand, wie das gehen sollte. Wurde denn überhaupt bei der Einreise nach Holland aus Deutschland kontrolliert? Eulen nach Athen? Man konnte nie wissen.

Tom machte einen Vorschlag, der zunächst wie eine Lösung aussah.

„Wir nehmen ein Stück Seife. Da stecken wir es hinein. Das riechen auch die Hunde nicht!“

„Geil“, sagte Sven.

„Geil“, sagte Fred.

„Aber wie kriegen wir es hinein?“

„Mit so einem Gerät, mit dem man Äpfel entkernt. Haben wir zu Hause.“

„Und dann?“

„Dann holt man einen Seifenstab von etwa sechs oder sieben Zentimetern Länge und einem Zentimeter Durchmesser heraus....“

„... schneidet ihn ab....“

„... und füllt die Seife mit Dope!“

„Genial!“

„Super!“

„Aber, Moment, Tom. Wenn man diesen Seifenzylinder wieder in die Öffnung steckt und alles ausgiebig verreibt, die Seife meinetwegen noch ein paar Mal benutzt, bleibt da nicht immer dieser Ring an der Seite des Seifenstücks, ganz gleich, wie viel Seife man herunterschrubbelt?“

„Und wenn ein Bulle gut sucht und das sieht, haben sie uns.“

„Dann ist der Urlaub vorbei.“

„Das gibt Ärger.“

„Vielleicht fliegen wir von der Schule.“

„Oder Jugendstrafe! Studium ade.“

„Führerschein auch.“

„Dann müssen wir uns wohl von dem Gedanken verabschieden, etwas mit herüber zu nehmen“, fasste Sven die Planungen zusammen, auch wenn Tom noch nicht davon ablassen wollte.

„Ich halte es auch für besser, wenn wir bis Amsterdam warten“, sagte Fred. Damit hatte sich ihre Dreierkonstellation zum ersten Mal bewährt. Wenn sich alle an die Spielregeln hielten, würde es keine Probleme geben. Mehrheitsentscheide waren immer möglich. Biegt man rechts oder links ab? Geht man in die Kneipe oder erst was essen? Kauft man Gras oder Dope? Rein demokratisch gesehen kein Thema.

Fred war das alles im Grunde egal. Mit der Freiheit auf dem Fahrrad würde das kleine, flache Land zu einer einzigen Sehenswürdigkeit werden. Arnheim, sicher eine aufregende Stadt, „De Hoge Veluwe“-Nationalpark, einer der ältesten und größten Nationalparks in den Niederlanden. Wald, Heide, Moorland, mit Sicherheit traumhafte Landschaften, Utrecht, die alte Universitätsstadt, voller Studenten und cooler Typen, und dann – Amsterdam!

Sie hatten eine ganze Wohnung für sich allein, mitten in der Stadt. Keine Jugendherberge, kein billiges Hotel, wo sich im Gang jemand das Zeug in die Venen drückt, während im Nebenzimmer laut angeschafft wurde. Nicht wie bei Christiane F. Nein, eigene vier Wände mit eigenem Schlüssel, Küche, Bad. Das war der Hit! Freds Onkel Lothar war in Amsterdam reich geworden und oft unterwegs. Und wenn jemand seine Wohnung hütete und sich in Amsterdam vergnügte, hatten alle etwas davon. Sie würden Amsterdam unsicher machen, tolle Mädels kennen lernen, viel Gras rauchen und ein paar Tage später hoch nach Freeland!

4

Am liebsten wäre er schreiend wieder aus dem Haus gelaufen, als Caro ihm ihr „Wie war dein Tag?” entgegenzwitscherte. Dann fühlte er sich wie der Hauptdarsteller eines Werbespots. Sie würde ihm ein unnachahmliches Fertiggericht vorsetzen und er würde zehnmal die Packung in die Kamera halten, weil er einfach nicht glauben konnte, dass dieser fantastische Geschmack einem Fertiggericht entstammte.

Manchmal würgte es ihn regelrecht, sich bei der Erfüllung von Caros Familienfantasien zuzusehen. Doch auch wenn er sie längst nicht mehr liebte, fühlte er sich doch für Danni verantwortlich, die Caro mit in die Ehe gebracht hatte, zumindest noch ein paar Jahre, bis sie ihre eigenen Wege ging. Längst war sie zu seiner eigenen Tochter geworden.

Danni war vernarrt in ihn, beide waren sie vernarrt in ihn, und er war auch einmal in beide vernarrt gewesen, aber Caro war ausgeschieden. Ganz am Anfang hatte er geglaubt, sie sei die Richtige, zumindest die Richtige, um Anna zu vergessen. Es gab an Caro wenig auszusetzen – sie sah sehr gut aus – da hatte sie in den letzten zehn Jahren eher noch zugelegt – sie war sehr klug und eine perfekte Hausfrau. Trotzdem war irgendwo seine Liebe zu ihr verloren gegangen. Wenn sie zusammen ausgingen, bemerkte er oft die bewundernden Blicke anderer Männer. Andere Frauen taxierten sie so lange, als wollten sie sich etwas abgucken. Wenn sich nur mal jemand an sie herangemacht hätte. Fred hätte sich ohne Weiteres die Hörner aufsetzen lassen.

Er konnte sie nicht mehr riechen, was durchaus wörtlich gemeint war. Bei den allerersten Malen, wenn sie zusammen geschlafen hatten, fand er ihren beißenden Achselgeruch noch irgendwie erregend, doch das hatte sich rasch erledigt. Caro darauf anzusprechen war im Übrigen vollkommen sinnlos, denn es lag nicht etwa an mangelnder Hygiene oder daran, dass sie kein Deo benutzen würde. Es war einfach ihr persönlicher Geruch, der den Sex mit ihr zu einer echten Herausforderung werden ließ.

Als sie gerade zusammen waren und sich entscheiden musste, ob es eine Affäre war oder ob mehr daraus wurde, bekam er einen einfachen Schnupfen. Doch das Virus hatte ihm für einige Wochen das Riechvermögen geraubt. Alles schmeckte nach Pappe, salzige Pappe, süße Pappe, saure Pappe. Aber beim Sex konnte er sich ganz auf Caro konzentrieren und fand, dass es den Preis wert war. Sein Appetit hatte in den wenigen geschmacklosen Wochen stark abgenommen im Gegensatz zu seiner Libido. Als dann sein Riechvermögen zurückkehrte, nahm er Düfte und Gerüche wahr, die im vorher versagt geblieben waren. Ihm war über Nacht eine neue Nase gewachsen. Das hatte auch Folgen im Hinblick auf Caro, denn ihr nah zu sein war jetzt schlimmer denn je. Lieber hätte er wöchentlich die Umkleide des Eishockeyteams geputzt.

Fred nahm sich ein Bier und setzte sich an den Tisch, den Caro für ihn gedeckt hatte. Danni saß vor dem Fernseher und widmete sich ihren Stars auf MTV.

„Mach bitte etwas leiser”, rief Caro ins Wohnzimmer herüber, und ihr Ton verriet, dass sie das heute schon mehrmals gesagt hatte.

Während Caro ihm beim Essen Gesellschaft leistete und über die Nachbarin auf der rechten Seite her zog – neue Perücke –, dachte er an Danni vor dem Fernseher. Sie hatte ihr Leben noch vor sich, träumte von diesem hüftschwingenden Spanier aus dem einen Clip und wünschte sich zur Erfüllung dieses Traumes selbst den Körper der blonden Hupfdohle aus dem anderen. Ihr Blick war nur auf die Zukunft gerichtet, die sie sich so herbeisehnte. Das Maß ihrer langfristigen Planungen war die Woche.

Fred hatte das alles hinter sich und vermisste es zunehmend. Die viele Zeit, die er früher einmal hatte, zerrann ihm jetzt zwischen den Fingern.

Caro war inzwischen bei den Nachbarn zu ihrer Linken angelangt – der Sohn drohte sitzen zu bleiben –, Freds Teller war fast leer – und in dem Haus gegenüber hatte der Postbote heute wieder geschlagene zwanzig Minuten allein mit Vera Hinze verbracht. Zwanzig Minuten! Caro konnte das Offensichtliche nicht fassen, obwohl es schon mindestens ein Jahr her war, seit Caro „es“ zum ersten Mal beobachtet hatte: Während ihr Mann das Geld verdiente, gab sie sich einem täglichen Stelldichein mit dem Briefträger hin.

„Das war wie immer köstlich“, sagte Fred und machte damit nichts falsch. Der Satz war nicht steigerungsfähig – ein wirklich gutes Essen hätte keine andere Bewertung bekommen können, die mehrheitlich durchschnittlichen Menus mussten aber nicht weiter kommentiert werden. Caro konnte sich herauspicken, was sie wollte.

Während sie den Teller wegräumte, wandte sich Fred zu Danni, die gerade in den Fernseher zu kriechen schien („Ja, i let you be my hero”).

„Wenn ich dich mal kurz von deinem Prinzen loseisen dürfte...”

„Hmmm.”

„Wie wär´s mit einer Runde Tischtennis?”

„Tischtennis!?” wiederholte Danni und betonte es wie „Eiterpickel“. Hinter seinem Rücken nahm Fred einen Moment totaler Stille wahr, in dem Caro offenbar ihre Gedanken sortierte und nicht zugleich auch die Küche aufzuräumen vermochte.

„Das wäre doch wunderbar“, sagte sie dann, „es stehen nur ein paar Kisten Marmelade darauf, die habt ihr schnell weggesetzt.“

Man wartete auf Dannis Entscheidung. Sie schaute noch einmal zum Fernseher.

„Also schön“, sagte sie gnädig, was Fred wohl nur dem Umstand zu verdanken hatte, dass der Latinlover wieder von der Bildfläche verschwunden war. Umso mehr freute es Fred, dass er Danni bewegen konnte. Caro deutete es einfach als gutes Zeichen für irgendwas.

Nach einigen sehr ausgeglichen Spielen schickte er Danni ins Bett. Es gab die üblichen Protestnoten, und mit Caros Hilfe würde sie es wieder um mindestens eine halbe Stunde herauszögern, aber ihm war das gleich. Er meldete sich kurz bei Caro ab, um sich zu waschen und dann endlich wieder der Planung hinzugeben. Er schloss die Zimmertüre hinter sich, nahm die Landkarte und legte die frühen Talking Heads auf.

5 Sommer 1983

Tom betrachtete sich und seine Freunde als rechtmäßige Erben der 68er, auch wenn sie sich nur für Dope, Mädchen und Abenteuer interessierten. Sie hatten sich eben gleich auf die Essenz konzentriert ohne den ganzen Chichi, bei dem langhaarige Typen in endlos verschachtelten Sätzen, die ohne Anfang und Ende schienen, das, was ohnehin jedem klar war, erklärten, nämlich dass es besser wäre, wenn die Armen reicher wären und nicht hungern müssten, zur Not eben auch auf Kosten des Reichtums weniger, und dass es wirklich toll wäre, wenn alle gut zueinander wären und man sich nicht mehr streiten müsste. Aber das hatte 2000 Jahre zuvor schon jemand gut gefunden und damit nur mäßigen Erfolg gehabt. Und dass jeder mit jedem Sex haben sollte, war auch nur solange interessant, bis doch einige Mädchen lieber mit jenem Kerl schliefen als mit diesem und einige Kerle lieber mit einem bestimmten Mädchen. Natürlich fand er Strauß gefährlich, mindestens so gefährlich, wie den NATO-Doppelbeschluss, aber Ho-Tschi Minh war ihm egal. Die Reichen sollten mehr abgeben, fertig.

Freds Idee mit dem Urlaub war super. Er hatte schon seit Tagen Reisefieber. Das Melkweg in Amsterdam war ein einziges Versprechen.

Als seine Eltern ins Bett gegangen waren – „Aber bleib nicht mehr zu lange auf!“– schaute er noch ein wenig fern, bis er sich sicher war, dass sie schliefen. Dann machte er sich ebenfalls bettfertig. Aus den Tiefen seiner Schublade holte er seine kleine Holzpfeife und brach sich einen reiskorngroßen Krümel Dope ab. Ein Feuerzeug hatte er immer in der Tasche, eigentlich ein sinnloses Risiko, denn offiziell rauchte er ja nicht einmal Zigaretten („Wofür brauchst Du denn das Feuerzeug, Tom?“ – „Um rauchenden Mädels, die mich um Feuer bitten, einen Gefallen tun zu können, Mama.“ – „Aber Junge, da muss es doch andere Wege geben. Vielleicht könntest Du dem Mädchen sagen, dass Rauchen ungesund…“ – „Ja, Mama!“). Dann schloss er sich im Gästeklo ein. Er öffnete das Fenster einen Spalt und erwärmte den winzigen Krümel mit dem Feuerzeug auf der Fensterbank. Jetzt ein Windstoß und er war weg! Er bröselte den winzigen Krümel in mehrere Unterkrümel in die Pfeife. Das ergab drei oder vier kleine Züge, deren Rauch er mehrere Sekunden lang in der Lunge festhielt, bevor er ihn dann äußerst zentriert aus dem Fenste blies. Sehr schnell setzte die Wirkung ein und nachdem er noch einmal die Spülung betätigt hatte – damit es sich echt anhörte –, ging er rasch ins Bett. Der Kopfhörer und der U-Comix lagen schon bereit. Für diesen Zweck kamen nicht alle Platten infrage, am besten war etwas leichtere Reggae-Kost. Er setzte sich den Hörer auf. Die Musik hatte bereits eingesetzt, als er wieder lag. Blöd, dass es keine Fernbedienungen für Plattenspieler gab. Als die Musik in Stereo über beide Ohren den Weg in sein halluzinogen verändertes Bewusstsein fand, öffnete sich eine Welt, in die er völlig versank. Die Figuren in dem Comic schienen sich plötzlich zu bewegen, wurden ganz plastisch. Manche Witze zerrissen ihn fast. Es war wie waches Träumen, aber die Bilder liefen nicht in Sekundenbruchteilen davon, sondern ließen sich anhalten, betrachten und nach Belieben weiter bewegen, und wenn er genau hinsah, bewegten sich sogar die Brüste der Blondine.

Als die Platte nach weniger als einer halben Stunde zu Ende war, legte er das Heft beiseite und stand noch ein letztes Mal auf, um eine andere aufzulegen. Jetzt sollte es etwas sein , bei dem er von Anna träumen konnte, die er seit zwei Wochen im Kopf hatte, obwohl sie scheinbar hauptsächlich Augen für den dicken Klaus hatte, der als Sitzenbleiber schon etwas älter war und ein Auto fuhr. Er hatten sich ein paar Mal unterhalten, in den Pausen und nach der Schule. Sie hatte große Augen, einen Strubbelkopf und drehte immer eine Haarsträhne um den Finger, und wenn sie lächelte, ging die Sonne auf. Aber so nervös, wie er sich in ihrem Beisein fühlte, so wirkte sie auch, wenn er sie mit Klaus sah. Mit ihm hingegen schien sie völlig entspannt. Tom wertete das als kein gutes Zeichen, wie immer. Viele Mädchen fanden ihn mit seinen schwarzen Locken süß und er war sportlich, aber auch ein wenig klein. Darauf führte er es auch zurück, dass er immer noch Jungfrau war.

Aber jetzt wollte nicht daran denken, sondern stellte sich Anna vor und mit einigen halbverstandenen Textfetzen träumte er sich eine gemeinsame Liebe herbei und schlief dabei ein. Der Plattenspieler lief irgendwann aus. Meist wurde er dann mitten in der Nacht wach, weil der „superleichte und supergünstige“ Kopfhörer ihm die Ohren ins Hirn gedrückt hatte.

Eine Woche später stand die Party bei Mike an. Sven und Fred kamen mit und ein großer Teil der Stufe war auch zu erwarten. Ein Wochenabschluss ganz nach Toms Geschmack, der die Zeit bis zur Abreise etwas verkürzte. Zudem waren bei Mike auch immer Leute und vor allem Mädchen aus anderen Dunstkreisen zu erwarten, weil Mike viel Zeit in einem Tennisclub verbrachte, der hauptsächlich Schüler eines anderen Gymnasiums anzog. Also durften sie sich Hoffnung auf ein paar nette Kontakte machen, späteres Knutschen nicht ausgeschlossen. Sven war da etwas zurückhaltender. Er hatte gerade etwas mit Beate laufen, war sich aber nicht sicher, wie lange noch. Hing wohl davon ab, ob und was sich am Abend ergeben würde. Tom war da viel offener. Seinen Fantasien um Anna ging so langsam die Luft aus. Von ihrer Seite kam zu wenig. Das brachte nichts. Seine letzte Knutscherei lag auch schon länger zurück und er wollte endlich eine feste Freundin. Es musste sich dringend was ändern. Man konnte es überall beobachten: Hatte man erst einmal eine Freundin gehabt, auch nur kurz, lief es danach wie von selbst viel besser.

Er legte sich den ganzen Abend über mächtig ins Zeug, redete, witzelte, tanzte, und nach und nach zeichnete sich ab, dass mit Ina was gehen könnte. Sie war sehr hübsch, trug langes blondes Haar mit Pony und einem hinreißenden Lachen. Er hatte sie bisher nie auf dem Radar gehabt, weil sie eher der Popper-Fraktion angehörte und auf jeden Fall ziemlich langweilige Hitparaden-Musik hörte. Aber jetzt hatten sie zusammen getrunken und viel Spaß dabei. Man berührte sich hier und da, stupste sich an, noch mal tanzen und zusammen eine Rauchen. Sven hatte er inzwischen aus den Augen verloren, vielleicht hatte er sich schon schlafen gelegt. Er machte das manchmal. Legte sich während einer Party für zwei Stunden irgendwo ab und gab danach bis zum Morgengrauen den Partylöwen. Fred diskutierte wieder angeregt in einer Ecke mit einem Mädchen, das ihm unbekannt war. Er war zwar auch wieder solo, hatte aber ein paar Monate mit Petra hinter sich. Wahrscheinlich würde da für ihn heute was gehen.

Die Party war mit Übernachtung und Ina würde zum Frühstück bleiben, soviel war klar. Doch in der letzten halben Stunde hatte sich Mark aus der B zu ihnen gesellt und bezirzte Ina bildlich und auch ganz wörtlich von der anderen Seite, und plötzlich saßen, tanzten, lachten sie zu Dritt. Das ging so eine ganze Weile, bis Fred allmählich seine Felle davonschwimmen sah. Die ganze Aufmerksamkeit, die Ina ihm hatte zukommen lassen, verteilte sich jetzt auf ihn und Mark. Eine Vorliebe ihrerseits war nicht zu erkennen, und als sie schließlich meinte, jetzt doch ziemlich groggy zu sein und eindeutig Tom und Mark fragte, ob sie sich nicht zusammen einen Schlafplatz suchen wollten, stimmten beide zu und Tom war plötzlich auch sehr, sehr müde. Und so landeten sie mit ihren Schlafsäcken zu Dritt auf dem Boden irgendeines Bürozimmers in der oberen Etage des Hauses, das Mikes Eltern offenbar vollständig freigegeben hatten – oder auch nicht, aber das war nicht sein Problem.

Man machte es sich nebeneinander bequem, Ina in der Mitte und sehr schnell ging das Geschmuse los und schließlich knutschte sie mit Tom und Mark. Die Hitze stieg, es war beinahe stockfinster, die Schlafsäcke waren längst zu Unterlagen geworden, und Ina genoss spürbar das Stöhnen in Stereo, bis sie plötzlich inne hielt:

„Moment mal, ihr beiden“, doch es war nicht ganz leicht, so unvermittelt Hände und Münder still zu halten, sodass sie sich im Dunkeln aufsetzen musste. „Ist das hier nur Spaß oder will einer von euch mehr?“

Eine Fangfrage…! Mark wusste seine Antwort schon schnell und sagte „Nur Spaß!“. Toms Gehirnzellen rauchten. In Windeseile entschied er sich für „Da ist auch ein bisschen mehr.“ und wusste im gleichen Moment, dass es die falsche Antwort war. Dabei stimmte es noch nicht einmal, er wollte nur etwas erleben. Aber traf das tatsächlich auch auf Ina zu!? Anscheinend ja, denn sie küsste Tom noch einmal und fuhr ihm durchs Haar, bevor sie sagte, dass es dann aber mit ihm leider nicht weitergehen könne. Er hätte also zugeben müssen, dass er nur kleine Sexspielchen wollte. Aber hätte sie nicht genau das zum Objekt herabgewürdigt? Es war ganz schön kompliziert, den richtigen Code zu finden. Da hatten es die 68er viel leichter gehabt...

Noch etwas durcheinander von dem begonnenen Rausch, seinem abruptem Ende und den verschiedenen Alkoholika nahm er seinen Schlafsack und legte sich etwas unschlüssig in eine andere Ecke des Zimmers, um sich noch eine Weile das schreiend stille Schmatzen und Keuchen der beiden anzuhören, das Knacken und blasige Knistern sich berührender und wieder trennender, feuchter Schleimhäute, bis er schließlich seine Sachen packte und die Party gleich ganz verließ.

6

Danni war endlich alt genug, um auch mal eine Weile allein zu bleiben. Außerdem gab es noch die Prickertz im Haus nebenan, zu denen sie immer gehen konnte, wenn etwas nicht in Ordnung sein sollte. Fred freute sich schon lange auf die Geburtstagsfeier von Sven. Caro und er hatten sich ein wenig schick gemacht. Bei Sven war alles immer eine Spur reicher und edler. Er war ein gefragter Architekt, und weil er das nun mal wirklich konnte, hatte er auch das eigene Haus entworfen. Es beeindruckte weniger durch seine nicht geringe Größe als vielmehr durch ein weißes und kühles Design vom Türknauf bis zu den gläsernen Dachaufbauten. Er öffnete ihnen selbst die Tür als sie eintrafen. Es waren bereits zahlreiche Gäste da. Sven wirkte schon etwas gelockert, ein Sektglas in der Hand und das weiße Hemd zwei Knöpfe offen. Irgendwie hatten Sven, er selbst und Tom sich im Laufe der Jahre kaum verändert, abgesehen von ein wenig bindegwebsschwachem Bauchansatz und einigen Falten im Gesicht, aber die knapp untergewichtige Statur und die immer noch vergleichsweisen vollen Haare in einer undefinierbaren Straßenkötertönung waren geblieben. Einzig Tom hatte vielleicht ein paar Kilo mehr zugelegt, aber gewachsen war er auch nicht mehr.

Fred breitete die Arme aus. „Willkommen im Club! Komm an meine Brust und lass dich drücken.“ Er umschlang seinen Freund herzlich, küsst ihn auf die Wange und sprach verschiedene Glückwünsche aus. Caro trug das Päckchen, in dem sich vier ausgesprochen kostbare Weingläser befanden. Nicht das alleroriginellste Geschenk für den Weinfreund, aber er hatte sie sich gewünscht, ausdrücklich von Fred, was er natürlich gerne hatte erledigen lassen – von Caro. Aber er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, für Sven, gewissermaßen aus alter Tradition, eine CD zusammenzustellen. Die Auswahl würde ihn erfreuen, da war er sich ganz sicher. Aber er wusste auch, dass er diese Art der Zusammenstellung zunehmend als anachronistisch empfand. Er hörte seine Musik nur noch vom Computer, MP3-Player und IPhone. Das Konzept eines Albums war ihm dabei etwas abhanden gekommen und so würde er auch diese CD mit dem amateurhaften Cover fleddern und ihre Besonderheiten dem großen Musikkollektiv hinzufügen – Widerstand ist zwecklos.

Sven freute sich erkennbar, und auch Caro begrüßte er herzlich mit einer langen Umarmung. Sie lachte und wünschte ihm alles Gute. Fred wusste genau, dass Caro ihn nie so sehr gemocht hatte, wie Fred sich das vielleicht einmal gewünscht hatte. Aber das spielte heute und hier keine Rolle. Es stand nur die Feier auf dem Programm. Drinnen lief gerade unverkennbar etwas aus diesem großen Musikfundus, den Fred ziemlich genau kannte, und fühlte sich sogleich zuhause. Er nickte und lachte den Leuten zu, die aus der Tiefe des Wohnraumes seine und Caros Ankunft beobachtet hatten und ihm verschiedentlich schon die Gläser entgegenhielten, während sie ablegten. Natürlich waren er und Fred nicht mehr jeden Nachmittag zusammen, wie zu Schulzeiten, aber ihre Treffen waren regelmäßig genug, um den größten Teil des jeweiligen Umfeldes zu kennen und so sah Fred zwischen den vielleicht zwanzig Personen, die er gerade beim Hereinkommen überblickte nur zwei oder drei gänzlich unbekannte Gesichter.

Nach kurzer Zeit hatten sie bereits ihre ersten Gesprächspartner gefunden. Es wurde freundlicher Smalltalk geführt, wie ihn Leute führten, die keinen Smalltalk mochten. Die Themen waren nicht ganz belanglos, betrafen die Alltagsbewältigung, Kindererziehung und das Zuviel an Arbeit allenthalben. Kopfnickerthemen, deren Verlauf feststand.

Caro redete mit ihrem Ex Steve, wie immer bei diesen Gelegenheiten, Fred registrierte es mit routinierter Toleranz. Mehr war leider nicht drin, nachdem Steve Caro zu lange und zu oft mit der Verweigerung von Unterhaltszahlungen genervt hatte. Das wusste Fred eigentlich nur von Caros Erzählungen, denn als Fred mit ihr zusammengezogen war, kamen sie sehr gut aus, sodass er Steves Weigerung zu weiteren Zahlungen fortan hatte verstehen können.

Fred ließ sich von einer Runde alter Freunde und Bekannter zur nächsten treiben. Ja, die Praxis lief gut, leider zu wenig Freizeit, aber ja, natürlich träume ich auch von Neuseeland, wollt ich schon Jahre hin, aber die Ökobilanz ist mit so einem Flug natürlich hin. Gladbach-Bayern? Die beiden Tore kurz vor Schluss? Wahnsinn! Und während er mit den seichten Gesprächswellen schwamm, behielt er Tom und Sven im Auge und freute sich schon darauf, zu späterer Stunde mit ihnen zusammenzuhocken. Sven konnte hier nicht weg und er hoffte, dass auch Tom lange genug Ausgang hatte, denn er wollte unbedingt seinen kleinen, feinen Plan mit ihnen bereden.

Nachdem die Gesellschaft sich in beste Partystimmung gebracht hatte und an manchen Stellen die Frauen schon ein wenig das Tanzbein schwangen, suchte Fred den geeigneten Absprung bei seinem Kommilitonen Karlo, dessen Bericht über eine von der Industrie gesponserte Fortbildung in Monacco eine Spur zu lang geriet. Onkologe müsste man sein.

„Die Jachten dort im Hafen sind fan-tas-tisch. Im Vergleich dazu ist meine eine Nussschale!“ Er schüttelte den Kopf und war gleichzeitig voller Bewunderung für soviel Protzerei. „Aber es war schön, das alles mal im Kreis der Kollegen zu genießen. Man sieht sich auf den ganzen Fortbildungen immer wieder. Wir sind schon ein richtig kleines Klübchen geworden. Man trifft sich irgendwo in der Welt, und nach den Veranstaltungen erkunden wir dann auf eigene Faust das Nachtleben, wenn du weißt, was ich meine. Ich finde, das haben wir uns auch verdient.“

Fred wurde ein bisschen übel.

„Das freut mich für dich, vor allem weil wir mit unseren Kassenbeiträgen eure schönen Reisen unterstützen. Soll noch jemand sagen, in unserer Gesellschaft gäb es keine Solidarität…“

Carlo schaute ein wenig irritiert. Offenbar hatte er etwas mehr getrunken, als er gedacht hatte. Seine Zunge entzog sich etwas seiner Kontrolle.

„Ich glaub, ich muss mal zur Toilette“, sagte er, was aber nur zur Hälfte eine Flucht war, denn irgendetwas wollte bei ihm oben oder unten raus.

Es blieb beim Wasser, doch weil er den Alkohol stärker als gewünscht spürte, nahm er sich etwas Alkoholfreies und machte einen kleinen Spaziergang durch den Garten, dem nur wenig fehlte, um als Park durchzugehen.

Caro ließ sich immer noch von Steve zutexten. Wahrscheinlich wieder Liebeskummer und die ewigen Geschichten von Frauen, die ihn nicht verstanden. Das würde noch endlos so weitergehen, war sich Fred sicher, und irgendwann würden dann die Frauen, die ihn nicht verstanden, einfach ihre Hörgeräte ausstellen.

Freds Kopf wurde in der abendlichen Frühsommerluft etwas klarer. Als er wieder hineinging, sucht er gleich nach Sven, der gerade eine neue Flasche Wein öffnete und fachmännisch verkostete.

„Na, macht`s Spaß?“

„Ja, ist prima. Willst du mal den `04-er probieren. Ein Fuligni Brunello di Montalcino, 95 Parker-Punkte!“ Sven hielt sein Glas noch einmal schräg gegen das Licht.

„Nein, vielen Dank, brauch´ grad´ `ne kleine Pause.“

„Würd´ ich Dir bei diesen spitzen Kirchenfenstern auch empfehlen.“ Er schaute immer noch auf den Rotwein in seinem Glas, bis er endlich langsam und genussvoll trank.