Dominotod - Jonas Moström - E-Book
SONDERANGEBOT

Dominotod E-Book

Jonas Moström

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Jonas Moström schreibt mit einer nie nachlassenden Intensität, die den Leser durch die Nacht treibt.« Arne Dahl In den tiefen Wäldern Nordschwedens wird der Arzt Thomas Hoffman tot aufgefunden. Alles weist darauf hin, dass er mehrere Tage gefangengehalten und gequält wurde. Einer der Kollegen des Toten ist spurlos verschwunden, nur sein Namensschild und ein Dominostein sind zurückgeblieben. Er scheint in die Hände desselben Mörders geraten zu sein. Psychiaterin Nathalie Svensson, Spezialistin für die härtesten Fälle, wird nach Sundsvall gerufen. Ausgerechnet ihre eigene Schwester war die letzte, die das Entführungsopfer lebend gesehen hat. Ist sie in den Fall verwickelt?   »Es geht auch fast ohne Blut … und ist trotzdem wahnsinnig spannend.« Oliver Steuck, WDR 2 Lesen »Gut geschrieben und spannend mit einem außergewöhnlichen Fall. Absolut lesenswert.« Ölandsbladet

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 422

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Psychiaterin Nathalie Svensson wird von der Polizei nach Sundsvall gerufen. Dort sind zwei Ärzte aus dem Krankenhaus verschwunden. Kurz darauf wird die Leiche von Thomas Hoffman, einem der beiden Vermissten, gefunden. In seinem Hals steckt ein Dominostein, und auf seinem Rücken finden sich merkwürdige Male. Die einzigen Spuren von seinem Kollegen Oberarzt Erik Jensen: sein Namensschild und ein Dominostein. Kommissar Johan Axberg, Eriks bester Freund, setzt alles dar­an, ihn mit Nathalies Hilfe noch rechtzeitig zu finden.

Nathalie hat ebenfalls ein persönliches Interesse an dem Fall, denn ihre Schwester Estelle kannte Erik Jensen gut, und sie ist auch die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat. Könnte sie etwas mit den Verbrechen zu tun haben?

Der Autor

Jonas Moström wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit damit, an seinem ersten Roman zu arbeiten, der 2004 erschien. Dominotod ist der zweite Teil der erfolgreichen Krimiserie aus Schweden um Psychiaterin Nathalie Svensson.

Von Jonas Moström sind in unserem Hause erschienen:

Aus der Nathalie-Svensson-Reihe:

So tödlich nah

Dominotod

Jonas Moström

Dominotod

KRIMINALROMAN

Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt und Nora Pröfrock

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1593-5

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Dezember 2017

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

© Jonas Moström, 2015

First published by Lind & Co, Stockholm, Sweden

Titel der schwedischen Originalausgabe: Dominodöden

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München (Struktur und Ast);

plainpicture/© SuzetteBross (Haus)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Personen

Nathalie Svensson, 45 Jahre. Psychiatrische Oberärztin an der Uniklinik Uppsala, Schwedens führende Expertin für Psychopathen und neuerdings auch Mitglied der Einheit für operative Fallanalyse (OFA) des Zentralkriminalamts, mit der sie die örtliche Kriminalpolizei im ganzen Land bei der Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen ­unterstützt. Nathalie hat sich kürzlich von dem Anwalt Håkan Svensson scheiden lassen, mit dem sie zwei Kinder hat: Gabriel, 8 Jahre, und Tea, 6 Jahre.

Sonja Nilson, 67 Jahre. Nathalies wein- und martiniselige Mutter, die sich abwechselnd der Fotografie und diversen Wohl­tätigkeitsprojekten mit ihren Freundinnen vom Lions Club widmet.

Victor Nilson. Nathalies Vater, der in So tödlich nah, dem ersten Teil der Serie,ums Leben kommt.

Estelle Ekman, 43 Jahre. Nathalies jüngere Schwester, die vor neun Jahren nach einem abrupten Bruch mit der Familie nach Sundsvall gezogen ist, wo sie als Krankenschwester in der ­Chirurgie arbeitet. Verheiratet mit dem Trabrennpferdebesitzer Robert Ekman.

Louise af Croneborg. Nathalies beste Freundin aus dem Medizinstudium in Uppsala, die eine Praxis für plastische Chirurgie im Stockholmer Strandvägen betreibt. Ehemals verheiratet mit dem Kriminalhauptkommissar Frank Hammar, der nach der Scheidung Interesse für Nathalie zeigt.

Ingemar Granstam, 61 Jahre. Ein behäbiger Nordschwede, der die OFA-Einheit leitet und aufgrund seines Körperbaus, eines beeindruckenden Schnäuzers und seiner unerschütterlichen Gerechtigkeitsliebe den Spitznamen »Walross« trägt.

Tim Walter, 22 Jahre. Kriminaltechniker und jüngstes Mitglied der OFA-Einheit, dem Tabellen und Verhörprotokolle weitaus weniger zu schaffen machen als der Umgang mit Menschen.

Angelica Hübinette, 55 Jahre. Die knallharte und kompetente Gerichtsmedizinerin der Einheit. Lässt sich eher von Kostümfilmen und romantischen Komödien rühren als von Obduktionen.

Kriminalhauptkommissar Johan Axberg, 40 Jahre. Leiter der verdeckten Ermittlung und Lebensgefährte der Fernsehreporterin Carolina Lind, 37 Jahre. Die beiden ­haben einen anderthalbjährigen Sohn namens Alfred.

Oberarzt Erik Jensen, 40 Jahre. Johans einziger enger Freund, der sich gerade von Sara Jensen getrennt hat. Die ehemalige Hausfrau ist mittlerweile Erfolgsautorin und hat ein Verhältnis mit ihrem Literaturagenten José Rodriguez. Erik und Sara haben zwei Töchter: Sanna und Erika, 8 und 10 Jahre alt.

Rosine Axberg, 88 Jahre. Johans Großmutter, die auf der Insel Frösön lebt und ihn großgezogen hat, nachdem er mit zwölf seine Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren hat.

Prolog

Hätte er gewusst, dass dies das letzte Omelett seines Lebens würde, wäre er bei der Zubereitung vielleicht etwas bemühter gewesen. Doch nach dem langen Arbeitstag war er müde und hungrig, und da nahm er es mit der Sorgfalt nicht so genau. Sie kümmerte sich ohnehin nicht um ästhetische Details, erst recht nicht, wenn sie krank war.

Seit neun Tagen und Nächten hatte sie nun schon diesen Husten. Er hatte es auf ihre hartnäckige Erkältung geschoben, die sich auf die Bronchien gelegt hatte. Sie hingegen war der Meinung, der ungewöhnlich starke Pollenflug verschlimmere ihr Asthma. Wie immer hatte sie recht gehabt: Nachdem sie gestern Kortisontabletten verschrieben bekommen hatte, ging es ihr schon etwas besser. Bald war sie hoffentlich wieder gesund und ganz die Alte.

Im Moment kam er mit der Arbeit kaum hinterher, sosehr er sich auch in jeder wachen Minute ins Zeug legte. Es gab einfach zu viel zu tun, wie jedes Frühjahr.

Während er darauf wartete, dass das Teewasser im Topf zu kochen begann, schaute er hinaus in den Regen. Der unvorhersehbare Weg der Regentropfen über die Fensterscheibe verstärkte seine innere Unruhe nur. War zwischen ihnen alles in Ordnung? In den letzten Wochen war sie so launisch und gereizt gewesen. Liebte sie ihn nicht mehr? Hatte er irgendetwas Falsches gesagt oder getan? Wie sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm wollte einfach nichts einfallen, und trotzdem wusste er, dass genau das, was er nicht sagte oder tat, sie oft am meisten auf die Palme brachte.

Das Wasser im Topf warf die erste Blase auf. Er goss es in ihre Lieblingstasse, legte einen Beutel Kamillentee hinein und gab zwei Stücke Zucker hinzu. In der Küche kamen ihm seine Hände grob und ungeschickt vor, aber darüber durfte er vor ihr kein Wort verlieren. Sie legte großen Wert auf Gleichberechtigung in ihrer Beziehung.

Er stellte Tasse und Teller strategisch auf das Tablett und machte sich damit auf den Weg in die obere Etage. Als die erste Treppenstufe knarrte, kam erneut Unruhe in ihm auf. War es nicht ungewöhnlich still dort oben? In den zehn Minuten seit seiner Ankunft konnte sie doch nicht schon eingeschlafen sein, sie hatte ihn doch noch mit einer Umarmung begrüßt.

Er rief ihren Namen. Keine Antwort, nur das Geräusch seiner Wollsocken auf dem Kiefernholz und das Prasseln der Regentropfen auf dem Dachfenster, das er nach der letzten Frostperiode eingebaut hatte. Sie ist wohl doch eingeschlafen, redete er sich ein und ging weiter die Treppe hinauf.

Oben schlug ihm das Herz bis zum Hals. Noch einmal rief er nach ihr. Wieder keine Antwort. Er verzog das Gesicht, als etwas Tee aus der Tasse schwappte und über seinen Daumen lief. Er hatte sie zu voll gemacht, das passierte ihm sonst nie – nur ein weiterer Beweis dafür, wie nervös er war.

Die Zimmertür war angelehnt. Ein kalter Luftzug kroch über den Boden, so als stünde ein Fenster offen. Vielleicht brauchte sie ja frische Luft, aber bei Regen das Fenster zu öffnen sah ihr eigentlich nicht ähnlich. Er schob die Tür mit dem Fuß auf, vorsichtig, für den Fall, dass sie tatsächlich schlief.

Der Anblick, der sich ihm dann bot, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht.

1

SUNDSVALL,

SAMSTAG, 3. MAI

»Das ist also in den kommenden Tagen unser Arbeitsplatz«, sagte Ingemar Granstam, Leiter der zentralen Einheit für Operative Fallanalyse, und guckte durch die Windschutzscheibe.

»Ja«, bestätigte der 22-jährige Kriminaltechniker Tim Walter, ein echter Überflieger, der mitten auf dem Rücksitz saß. »Die Stadt hat 50 780 Einwohner, die ganze Gemeinde fast doppelt so viele.«

Tim drehte den Schirm seiner Baseball-Cap zur Seite und fügte mit einem überheblichen Grinsen hinzu: »Und einen ­Täter, für den wir bald ein Profil haben, damit er hier nicht mehr lange frei rumläuft.«

»Seien Sie sich da mal nicht so sicher«, erwiderte Grans­tam und überholte einen Holztransporter. »Das ist der merkwürdigste Fall, der mir jemals untergekommen ist.«

»Dabei müsste das doch inzwischen Ihr siebenunddreißigster mit der OFA-Einheit sein, oder?«, fragte Nathalie Svensson neben ihm auf dem Beifahrersitz.

»Stimmt genau«, sagte Granstam mit Nachdruck. »Der sechzehnte außerhalb von Stockholm, der erste in Sundsvall. Manchmal komme ich mir vor wie Nils Holgersson, nur dass wir hier auf den Spuren des Todes durch Schweden reisen.«

»Und jetzt geht es ins Chicago von Nordschweden«, sagte Walter amüsiert. »Stimmt es, dass Sie bisher nur ­einen Fall nicht aufklären konnten?«

»Ja«, sagte Granstam, und seine Miene verfinsterte sich.

»Dieser Serienmörder namens …«

»Ich will nicht darüber reden«, schnitt Granstam ihm das Wort ab. »Konzentrieren wir uns lieber auf die anstehende ­Ermittlung.«

Eine Weile herrschte Schweigen in dem schwarzen BMW. Nathalie betrachtete den Rauch, der von den Fabriken am Meer landeinwärts über Sundsvall zog und sich wie ein Deckel zwischen den beiden Stadtbergen über den Ort legte. Für sie war es der zweite Einsatz mit der OFA-Einheit. Als führende Expertin für Psychopathen hatte sie um Weihnachten herum bei der Überführung eines Serienvergewaltigers in Malmö geholfen. Sie hatte sich gefreut, dass Ingemar Granstam sie auch weiterhin in der Einheit haben wollte, selbst wenn die Umstände im Moment nicht die glücklichsten waren.

Erst Freitag hatte sie mit ansehen müssen, wie ihr Vater ums Leben gekommen war. Die Bilder und Geräusche dieses Vorfalls ließen sie nicht los, sie schnitten ihr in Leib und Seele wie die Splitter der Fensterscheibe, die er durchstoßen hatte. Ungeachtet des Schmerzes konnte sie das Geschehene nach wie vor nicht fassen.

Sonja, ihre Mutter, war nach einer lebensbedrohlichen Vergiftung gerade noch einmal dem Reich der Toten entkommen. Inzwischen befand sie sich wieder in ihrem Haus im Süden von Uppsala, wohlbehütet von ihren Freundinnen, so dass Nathalie es als vertretbar empfunden hatte, sie dort zurückzulassen. Länger als einen Tag wäre sie ohnehin nicht unterwegs. Morgen Abend um sieben musste sie die Kinder bei Håkan abholen. Was auch immer geschehen würde, bis dahin wäre sie allerspätestens zurück in Uppsala. Wenn sie sich nicht an die Abmachung hielt, würde Håkan das eiskalt im Sorgerechtsstreit gegen sie verwenden. Vor allem aber wollte Nathalie Tea und Gabriel vom Tod ihres Opas erzählen, bevor Håkan sich womöglich »aus Versehen« verplapperte. In der Presse war zum Glück nur die Rede davon gewesen, dass der bekannte Geschäftsmann und Verfechter von Gleichberechtigung Victor Nilson bei einem Sturz ums Leben gekommen war.

Nathalie öffnete ihre italienische Lacklederhandtasche, holte den Taschenspiegel heraus und strich sich die Augenbrauen zurecht. Neben dem Täterprofil, das zu erstellen war, gab es noch einen weiteren Grund, warum Granstam sie an diesem Tag dabeihaben wollte: Die Polizei in Sundsvall hatte einen außerordentlich gestörten Psychopathen festgenommen, den Nathalie verhören sollte. Die Anfrage hatte ihr natürlich geschmeichelt, doch in Hinblick auf die jüngsten Ereignisse und ihre Verantwortung den Kindern gegenüber war ihr die Entscheidung alles andere als leichtgefallen. Was sie schließlich zum Mitfahren bewogen hatte, war der Anruf ihrer jüngeren Schwester Estelle heute früh gewesen, die sie gebeten hatte zu kommen.

Sie hatte Estelle nun schon seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen, und das Gespräch mit ihr hatte sie gleichermaßen ­gefreut, neugierig gemacht und beunruhigt. Sie wusste, dass ihre Schwester sowohl als Zeugin als auch als Geliebte eines der beiden verschwundenen Ärzte in den Fall verwickelt war. Granstam hatte die Verdachtsmomente gegen Estelle zwar heruntergespielt, Nathalie wusste aber, dass er sie nur beruhigen wollte. Am Telefon hatte ihre Schwester nicht näher erklärt, warum Na­thalie nach Sundsvall kommen sollte. Sie hatte nur gesagt, dass sie der Polizei nicht vertraue, alles ziemlich verfahren sei und sie Unterstützung brauche. Ihre Stimme hatte so angespannt und fremd geklungen, wie Nathalie es von ihr nicht kannte.

Sie brannte darauf zu hören, warum Estelle vor neun Jahren so abrupt mit der Familie gebrochen hatte. Ihre bisherige Erklärung lautete, dass sie einfach ihr eigenes Leben führen, mal etwas Neues ausprobieren wollte. Nathalie hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass das nur die halbe Wahrheit war, aber da auf ihre wiederholten Nachfragen immer dieselbe Antwort gekommen war, hatte sie die Erklärung irgendwann akzeptiert. Die Ereignisse der letzten Tage hatten jedoch ein neues Licht auf Estelles überstürzten Aufbruch geworfen. Man brauchte kein psychiatrisches Fachwissen, um zu vermuten, dass Estelle von dem unbegreiflichen Doppelleben ihres Vaters gewusst hatte. Die Frage war nur, wie viel. Und die unangenehmste aller Fragen lautete: War sie seinen Machenschaften womöglich ebenfalls ausgeliefert gewesen?

Ingemar Granstam zwirbelte seinen Schnäuzer zwischen den Fingern und hielt vor einer roten Ampel am Rande des Zentrums. Es war Viertel vor zwei, und die Häuser und Straßen waren in ein graues Licht getaucht. Die Spitzen und Türme der Stadt waren von Nebel umhüllt, das Meer lag ruhig und glänzend da wie eine Platte Aluminium.

»Um zwei treffen wir Hauptkommissar Johan Axberg, der uns mit dem Fall vertraut machen wird«, sagte Grans­tam und gab Gas, sowie die Ampel auf Gelb umsprang. »Wir fahren direkt zum Polizeigebäude, im Hotel einchecken können wir auch später noch.«

»Wo wohnen wir denn?«, wollte Tim Walter wissen.

»Im Knaust«, antwortete Granstam.

»Wo die Holzbarone früher logiert haben.« Tim grinste und schob sich seine Baseball-Cap zurück in die Stirn. »Wussten Sie, dass einer von ihnen die Marmortreppe im Foyer auf einem Pferd hochgeritten ist?«

»Ja, davon habe ich gehört«, sagte Granstam, schien jedoch in Gedanken bereits woanders zu sein.

Nathalie wusste, dass er genau wie sie während der Fahrt die spärlichen Informationen verarbeitete, die sie über den Fall erhalten hatten. Zu den internen Übereinkünften der Einheit gehörte unter anderem die Ab­machung, keine Spekulationen anzustellen. Für ein brauchbares Täterprofil war es wichtig, den Tatort zu betrachten und zu versuchen, sich dort in das Denken, Fühlen und Handeln des Täters hineinzuversetzen. Voreilige Schlüsse behinderten die Arbeit oder führten auf falsche Fährten. In diesem Punkt kannte Granstam kein Pardon.

»Ich freue mich schon auf das Frühstücksbuffet«, sagte Tim und tippte auf sein iPad. »Scheint ja ein nettes Hotel zu sein.«

Nathalie musste noch einmal an Estelles Angebot denken, dass sie auch bei ihr, Robert und den Kindern übernachten könnte. Instinktiv hatte sie es abgelehnt. Granstam wäre sicher nicht sehr begeistert gewesen, außerdem lautete die Lehre der vergangenen vierundzwanzig Stunden, dass sie niemandem vertrauen konnte – nicht einmal den Menschen, die sie vermeintlich am besten kannte.

Sie fuhren ins Zentrum. Stolze Gründerzeithäuser reihten sich in die typische Bebauung einer mittelgroßen Stadt ein, deren sämtliche Gebäude aus Stein waren.

»Wussten Sie, dass neunundneunzig Prozent der Bevölkerung durch den Stadtbrand 1888 obdachlos wurden?«, fragte Tim Walter und legte das Tablet beiseite. »Das war im Übrigen der größte Brand, den wir hierzulande jemals hatten. Die Drachenskulpturen an den Straßenecken dienen als Wächter und sollen die Stadt vor neuen Bränden schützen …«

Nathalie und Granstam wechselten flüchtige Blicke, und Nathalie sah Tim an. »Danke für die Informationen, Tim. Ich wünschte, ich hätte Ihr Gedächtnis, dann hätte ich im Medizinstudium nicht so viel büffeln müssen.«

Mit einem zufriedenen Gesicht lehnte Tim sich zurück und legte die Arme auf die Rückenlehne. Als auf der linken Seite eine große rote Backsteinkirche hinter knospenden Birken und Ahornbäumen sichtbar wurde, warf Granstam einen Blick auf das GPS-Gerät.

»Jetzt sind wir bald da. Tim, Sie kennen doch sicher den ­Namen der Kirche, oder?«

»Gustav-Adolf-Kirche, auch gemeinhin als G2 bezeichnet«, antwortete Tim, ohne zu registrieren, dass er die Kollegen mit seinem Wissen eher amüsierte als beeindruckte.

Im Kreisverkehr am Olof Palmes torg nahm Granstam die linke Abzweigung und bog in die Storgatan ein. Auf der rechten Seite war zwischen Laubbäumen und Mietshäusern nun der Fluss Selångersån zu sehen, der parallel zur Storgatan durch die Stadt floss. Nathalie fiel auf, wie weit die Natur hier hinter dem Frühlingsausbruch in Uppsala zurücklag, doch dieser Eindruck konnte auch durch das graue, verregnete Wetter entstanden sein, das gerade für pollen- und insektenfreie Luft sorgte.

Das Polizeigebäude war ein braunes, vierstöckiges Backsteinhaus mit dicht aneinandergereihten Fenstern. Nathalie schob die Füße in ihre Pumps und zog ihren rechten BH-Träger hoch, der unter der pflaumenblauen Bluse über ihre Schulter gerutscht war. Sie sah noch einmal nach, ob Portemonnaie und Handy an Ort und Stelle waren, schloss ihre Handtasche dann sorgfältig und stieg aus – wie immer als Letzte.

»Bin ja mal gespannt auf Johan Axberg«, sagte Tim Walter.

»Ich auch«, stimmte Granstam zu und schloss den Wagen ab.

»Axberg gehört zu den besten Ermittlern des Landes.«

»Hat er nicht auch den Terroranschlag auf das Musikfestival Storsjöyran diesen Sommer verhindert?«, fragte Nathalie.

»Stimmt genau«, sagte Granstam und drückte mit schmerzverzerrter Miene den Rücken durch. »Aber er kann ein bisschen eigenwillig sein, war eine Weile suspendiert und hatte ein Disziplinarverfahren am Hals, nachdem er vor zwei Jahren den Exmann seiner Freundin niedergeschlagen hat. Er wurde zwar freigesprochen, aber wie heißt es doch so schön …«

»Wo Rauch ist, ist auch Feuer?«, schlug Tim vor und hängte sich die Schultertasche mit den drei Laptops um.

»Das wollte ich eigentlich nicht sagen, aber egal«, murmelte Granstam und trottete auf den Eingang zu.

Nathalie sah ihren jungen Kollegen streng an. Er wusste ­genauso gut wie sie, dass Granstam vor kurzem erst aufgrund eines Disziplinarverfahrens vom Dienst suspendiert worden und dies sein erster großer Fall seit über einem Jahr war. Ein gewisses Maß an Feingefühl konnte man wohl selbst von einem Menschen erwarten, dessen Gehirn zu neunzig Prozent mit dem Abrufen von Zahlen und scheinbar bedeutungslosen Buchstabenkombinationen beschäftigt war.

Vor dem Eingang blieb Ingemar Granstam stehen, drehte sich schwerfällig zu seinen Kollegen um und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf.

»Und denken Sie daran, die örtlichen Ermittler sind nicht gerade begeistert über unser Kommen. Ihr Leiter, Poli­zei­direk­tor Ulf Ståhl, hat uns hergebeten.«

»Die Provinzbullen müssen hier wohl ihr Revier markieren«, sagte Tim grinsend zu Nathalie, als sie durch die Glastür gingen.

Nathalie erwiderte das Lächeln nicht. In Gedanken hörte sie noch einmal die Angst in Estelles Stimme, ihre verkrampfte Bitte um Hilfe.

2

Da sind sie also, dachte Kriminalhauptkommissar Johan Axberg mit einem Seufzen. Er stand am Fenster seines ­Büros im dritten Stock des Gebäudes und sah das Trio vom Zentralkrimi­nalamt auf den Eingang zukommen. Hauptkommissar Granstam, das legendäre »Walross aus ­Kiruna«, kannte er bereits aus den Medien, die kurvenreiche Frau mit dem langen braunen Haar und den Typen mit der Schirmmütze sah er allerdings zum ersten Mal. Ganz unbekannt kam sie ihm jedoch nicht vor.

Er ging zum Schreibtisch und warf die leere Packung ­Nikotinpflaster in den Papierkorb. Nach kurzem Zögern stellte er auch das Foto von Carolina und Alfred in den Kleiderschrank. Er hatte sich bereit erklärt, die Neuankömmlinge in seinem Büro in den Fall einzuweisen, und wollte vor ihnen nicht sein Privatleben zur Schau stellen. Wer wusste schon, welche Schlüsse die Fallanalytiker aus einem stinknormalen Familienfoto ziehen würden? Seine übertriebene Skepsis rang ihm ein schiefes Lächeln ab, aber es ärgerte ihn immer noch, dass Polizeidirektor Ståhl so schnell um externe Hilfe gebeten hatte. ­Johan hatte immerhin zur Aufklärung der meisten Morde in diesem Land beigetragen, wenn man Granstam mal außen vor ließ. Das hier war nun zwar sein erster Mordfall, seit er nach Weihnachten aus dem Vaterschaftsurlaub zurückgekommen war, doch er und sein Team wären ganz sicher auch allein zurechtgekommen.

Er trank drei Schlucke kaltes Wasser direkt aus dem Hahn und ermahnte sich zu positivem Denken. Jetzt kam es einzig und allein darauf an, dass Erik gefunden wurde. Die Nachricht von seinem Verschwinden war ein Schock gewesen, und die ­Parallele zu dem Psychiater, dessen Leiche gestern auf Alnön gefunden wurde, war offensichtlich. Seither hatte Johan an nichts anderes mehr denken können. Carolina beschwerte sich schon darüber, dass er noch geistesabwesender war als sonst, auch wenn sie seine Sorge um Erik teilte. Das Einzige, was ihn den Fall zwischendurch mal vergessen ließ, war Alfreds Freude über einen neuen Entwicklungsschritt, das nächtliche Geschrei des kleinen Räubers hingegen war im Moment das Letzte, was er bei seinem ohnehin schon bis zur Sinnlosigkeit gestörten Schlaf gebrauchen konnte.

Johan wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und überlegte, ob er den Fallanalytikern sagen sollte, dass Erik sein bester Freund war. Er beschloss, erst einmal abzuwarten. Erfahrungsgemäß würden die Hauptstadtkollegen vermutlich wenig Verständnis dafür haben, dass man hier draußen in der Provinz nun mal nicht darum herumkam, auch in Verbrechen gegen Freunde und Angehörige zu ermitteln.

Das Telefon klingelte. Monika Roos von der Rezeption teilte ihm mit, dass die Kollegen vom Zentralkriminalamt da seien. Er bat sie, die drei hinaufzuschicken, und machte sich auf den Weg zu den Aufzügen.

3

»Dritter Stock«, sagte die metallische Stimme, als der Aufzug schwerfällig zum Stehen kam. Die Türen öffneten sich, und das Erste, was Nathalie auf dem Korridor sah, war ein Mann, der ihrem Blick begegnete und sie mit einer Art erstauntem Widerwillen anlächelte. Durch das kurze zerzauste Haar, den Drei­tagebart und das tiefenentspannte Outfit, bestehend aus einem weiten Leinenhemd, schwarzen Jeans und abgetragenen Boots, hatte er einige Ähnlichkeit mit Frank, der allerdings nicht ganz so groß und schlank war wie der Mann vor ihr. Bei seinem Anblick musste sie unwillkürlich an den Wettschwimmer denken, mit dem sie nach der Scheidung von Håkan eine Zeitlang ausgegangen war. Etwas in seinen grünen Augen erregte ihre Aufmerksamkeit.

»Hallo, ich bin Hauptkommissar Johan Axberg.« Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Nathalie Svensson«, sagte sie. »Und das sind meine Kollegen Ingemar Granstam und Tim Walter.«

»Damen begrüße ich immer zuerst, auch wenn ich natürlich weiß, dass sie nicht die Chefin in der Runde ist«, sagte Axberg lächelnd, als er Granstam und anschließend Walter die Hand schüttelte.

Nathalie musste innerlich seufzen. Dämliche Frauenwitze hatte sie gründlich satt, auch wenn die Bemerkung im Grunde harmlos war. Johan sah sie prüfend an.

»Sie haben ein bisschen Ähnlichkeit mit dieser Fernseh­köchin, deren Sendung meine Freundin immer guckt, wie heißt sie noch gleich … Backen mit Leila, oder?«

»Ja, das höre ich nicht zum ersten Mal«, sagte Nathalie ­lächelnd. »Leider bekomme ich nicht mal Muffins hin, ohne dass sie mir anbrennen.«

Johan nickte und wurde wieder ernst.

»Hier entlang«, sagte er und führte sie durch einen Korridor, der sich genauso gut in jedem beliebigen anderen Polizei- oder Verwaltungsgebäude hätte befinden können.

Sie betraten einen Raum mit Blick auf die Straße, in der sie soeben geparkt hatten. Hinter den hellen Mietshäusern auf der anderen Seite war der Selångersån zu erahnen, der sich wie ein blauschwarzer Wurm durch eine Allee knospender Linden schlängelte.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Johan Axberg und deutete auf die Stühle, die auf der Besucherseite seines Schreibtisches aufgereiht waren. »Entschuldigen Sie die Unordnung, aber wie Sie sich denken können, geht es hier in letzter Zeit ganz schön rund.«

»Ja«, sagte Granstam und zwirbelte sich den Schnurrbart. »Am besten kommen wir sofort zur Sache.«

»Ich aktiviere nur schnell die Technik«, sagte Tim Walter und klappte einen Laptop auf seinem Schoß auf.

»Im Großen und Ganzen sind Sie ja schon informiert, aber ich fasse noch mal zusammen«, begann Axberg und öffnete ­einen Ordner auf seinem Schreibtisch. »Es geht hier also um zwei vermisste Ärzte, von denen einer heute Morgen ermordet aufgefunden wurde.«

Johan Axberg legte zwei vergrößerte Passfotos auf den Tisch und deutete auf den älteren der beiden abgebildeten Männer. Er war um die fünfzig Jahre alt, hatte dunkles, welliges Haar, markante Augenbrauen, sonnengebräunte Haut und ein strahlendes Lächeln. Ein bisschen erinnerte er Nathalie an einen in die Jahre gekommenen George Clooney.

»Oberarzt Thomas Hoffman ist Montagnacht mitten im Dienst spurlos verschwunden, irgendwann zwischen zwei und drei«, sagte Axberg. »Nach einer Narkose in der Chirurgie war er auf dem Weg zurück in die psychiatrische Notaufnahme, wo er allerdings nie ankam. Freitagmorgen gegen acht wurde seine Leiche in einem Waldstück auf Alnön gefunden.«

Johan Axberg ging zu einer Karte an der Wand. Tim Walter schaute von seinem Bildschirm auf. »Alnön ist die dreizehntgrößte Insel in Schweden. Bis zum Bau der Ölandbrücke war die Alnöbrücke mit 1 042 Metern die längste Brücke von Schweden. Auf der Insel gibt es einen Haufen Tiere, vor ein paar Jahren wurde dort sogar ein Bär geschossen …«

»Eine Frau, die mit ihrem Schäferhund gerade Fährtensuchen trainierte, hat Hoffman gefunden«, unterbrach Axberg ihn und zeigte auf eine Markierung im Süden der Insel. »Alles deutet darauf hin, dass er schon tot war, als er hier abgelegt wurde. Zu Tode kam er durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand an die Schläfe, möglicherweise ein Hammer.«

»Kann man etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Nathalie wissen.

»Die Gerichtsmedizin arbeitet daran, aber da das Blut noch nicht vollständig geronnen war, lag der Mord wohl noch nicht allzu viele Stunden zurück, als Hoffman gefunden wurde.«

»Dann wurde er also seit Montagnacht irgendwo festgehalten«, folgerte Granstam.

»Gut drei Tage lang«, bestätigte Johan Axberg mit einem ­Nicken und kehrte zu seinem Platz am Schreibtisch zurück. »Aus irgendeinem Grund hat ihn der Täter dann erschlagen und auf die Insel gebracht.«

»Unsere Kollegin Angelica Hübinette ist gerade in Umeå«, murmelte Tim Walter. »Sie ist Expertin für Zeitbestimmungen.«

»Und es gibt keinen Anhaltspunkt, wo er möglicherweise festgehalten wurde?«, fragte Nathalie.

»Nein«, sagte Johan Axberg. »Hoffmans Handy ist verschwunden und wurde zeitgleich mit dem Überfall deaktiviert. Weder am Fundort noch an der Leiche haben wir irgendwelche Hinweise gefunden.«

Johan Axberg holte ein weiteres Foto hervor, auf dem Thomas Hoffman halb sitzend und nur in Unterhose an einem Stein lehnte. Nathalie wandte den Blick ab. Das Blut an Hoffmans Schläfe rief ihr den Anblick ihres auf dem Asphalt liegenden Vaters ins Bewusstsein. Sie atmete tief ein, schob die Erinnerung beiseite und konzentrierte sich auf Axberg, der in seinem Bericht fortfuhr: »Wir sind auf zwei Besonderheiten gestoßen. Erstens wurde Hoffman auf beiden Seiten der Wirbelsäule ein jeweils drei mal fünf Zentimeter großes Rechteck aus der Muskulatur geschnitten.«

Ein weiteres Foto. Nathalie wagte einen flüchtigen Blick und sah dann schnell hinaus in den grauen Himmel. Ob es so eine gute Idee gewesen war, sich an den Ermittlungen zu beteiligen? Vielleicht hätte sie lieber nur Estelle besuchen sollen.

»Ist das zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel?«, fragte Tim und hörte einen Moment auf zu tippen.

»Mitten in der Lendengegend«, bestätigte Axberg.

»Was für ein Werkzeug hat der Täter da verwendet?«, wollte Granstam wissen und beugte sich blinzelnd über seinen dicken Bauch.

»Der Gerichtsmediziner geht von einem Stechbeitel aus. Und aufgrund der Blutungen kann man wohl darauf schließen, dass Hoffman noch gelebt hat, als ihm diese Wunden zugefügt wurden.«

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

»Perfekte Symmetrie«, stellte Tim Walter schließlich fest. »Das spricht für einen zwanghaften Menschen.«

»Jetzt bitte keine voreiligen Schlüsse«, mahnte Granstam. »Was ist da für Dreck in den Wunden?«

»Erde, Tannennadeln und Gras. Das Opfer wurde von einem Forstweg aus etwa zwanzig Meter zum Fundort gezogen. Der Täter hat die Leiche vermutlich mit dem Auto auf die Insel gebracht, aber eindeutige Spuren fehlen bisher.«

Granstam nickte, und Axberg fuhr fort: »Bei der zweiten Besonderheit handelt es sich um einen Dominostein, der in Hoffmans Rachen gefunden wurde. Er steckte so tief drin, dass er nach dem Mord hineingedrückt worden sein muss.«

Das nächste Foto. Dieses Mal sah Nathalie hin. Das Bild zeigte einen Dominostein mit sechs Punkten auf jedem Feld. Es hätte ein Schwarz-Weiß-Foto sein können, wäre da nicht die Metallfläche unter dem Stein gewesen, die im oberen Teil des Bildes bläulich schimmerte.

»Noch mehr Symmetrie: sechs plus sechs«, bemerkte Tim Walter. »Und die Markierungen auf dem Rücken haben dieselben Proportionen wie die Felder auf dem Stein.«

Axberg, Nathalie und Granstam tauschten Blicke. Dann verglichen sie die beiden Fotos miteinander und stellten fest, dass Walter recht hatte. Eine Weile sagte niemand etwas. Nur ­Walters emsiges Tippen und die Lüftung des Laptops waren zu hören. Nathalie musste an ihren eigenen Ordnungsdrang denken, den sie seit der Scheidung zugunsten eines möglichst ungezwungenen Lebensstils zu unterdrücken versuchte. Das Vorgehen des Täters aber zeugte von einer Zwangsstörung, von der sie weit entfernt war.

Ihre Gedankenkette riss ab, während es vor dem Fenster dunkler wurde, als hätte sich die graue Wolkendecke über der Stadt noch weiter verdichtet.

»Hoffmans Kleidung oder andere seiner Habseligkeiten wurden also nicht gefunden?«, fragte Nathalie.

»Nein«, antwortete Axberg. »Die Schleifspuren an den Beinen deuten darauf hin, dass der Täter ihn vor dem Mord ausgezogen haben muss. Die Frage ist, wieso.«

»Um an seinen Rücken zu kommen«, schlug Tim Walter vor.

»Das erklärt aber nicht, warum Hoffman auch keine Hose mehr anhatte«, wandte Granstam ein.

»Um ihn zu demütigen?«, spekulierte Nathalie.

Niemand ging auf den Gedanken ein. Johan Axberg stand auf und schaltete die Deckenlampe an. »Ich habe uns Kaffee und ein paar Brötchen bestellt, sie sollten jeden Moment da sein.«

Mit einem dankbaren Nicken änderte Granstam seine Sitzposition. Axberg kehrte zum Schreibtisch zurück und präsentierte ein Foto von Erik Jensen: ein gutaussehender Mann Anfang vierzig mit länglichem Gesicht und blonden Locken.

Nathalie nahm in Axbergs Stimme eine zunehmende Unruhe wahr, als er erzählte: »Bei dem zweiten Fall handelt es sich, wie Sie schon wissen, um den Oberarzt Erik Jensen. Er ist in der Nacht von Donnerstag auf Freitag während des Dienstes verschwunden, also drei Tage später als Hoffman. Dr. Jensen war wegen eines Notfalls in die psychiatrische Klinik gerufen worden – ein Patient dort hatte einen Herzstillstand. Anschließend hat er sich umgehend auf den Rückweg in die somatische Notaufnahme gemacht. Eine Krankenschwester, die ihm unten im Gang begegnet ist, in dem aller Wahrscheinlichkeit nach auch Hoffman überfallen wurde, war die Letzte, die ihn gesehen hat. Zu diesem Zeitpunkt war es Viertel nach zwei.«

Johan Axberg fuhr sich mit der Hand durchs Haar und fasste zusammen: »Hoffman und Jensen sind also in etwa zur selben Uhrzeit am selben Ort verschwunden. Der ausschlaggebende Grund, warum wir einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen sehen, ist dies hier …«

Damit zog er ein weiteres Foto aus einem Umschlag. Zuerst dachte Nathalie, es handele sich um eine Kopie der ersten Abbildung des Dominosteins: dieselben Proportionen, dieselbe Symmetrie und dieselbe blau schimmernde Metallplatte. Doch dann entdeckte sie den Unterschied: Anstelle eines Sechserpaares befanden sich auf dem Stein jeweils zwei einzelne Punkte.

»Der wurde neben Erik Jensens Namensschild gefunden«, informierte sie Johan Axberg.

»Ein kleines Souvenir vom Täter«, sagte Tim Walter.

»Vermutlich«, sagte Axberg. »Fragt sich nur, was er damit sagen will.«

»Darauf können wir später noch zurückkommen«, sagte Granstam. »Gibt es weitere Beweise?«

»Vielleicht«, sagte Axberg und deutete auf das Foto von dem ersten Dominostein. »Auf dem Stein aus Hoffmans Rachen hat der Gerichtsmediziner ein Haar gefunden, ein erster Abgleich hat ergeben, dass es nicht von ihm selbst stammt. Wenn wir Glück haben, gehört es dem Täter. Der zweite Stein ist leider klinisch sauber, und auf Dr. Jensens Namensschild finden sich nur seine eigenen Fingerabdrücke.«

Es klopfte an der Tür. Johan Axberg sah von den Fotos auf und erhob sich.

4

Nathalie spürte einen Luftzug an den Beinen, als Axberg die Bürotür öffnete. Ein junger Kerl mit kariertem Flanellhemd und Hipsterbart grüßte gut gelaunt in die Runde und rollte ­einen Wagen mit einer Kaffeekanne und vier Brötchen herein. Nathalie bot Granstam ihres an, und er nickte bereits eifrig kauend. Nach ein paar Minuten Kaffeepause und Smalltalk kehrten sie zu ihren Plätzen am Schreibtisch zurück.

»Neben Erik Jensens Namensschild haben die Techniker noch etwas anderes gefunden: ein bisschen Erde, die sich aus den Rillen einer Schuhsohle gelöst haben muss, wie bei einem Stiefel oder Boot.«

Die drei Fallanalytiker sahen Axberg fragend an.

»Eine erste Schnellanalyse hat ergeben, dass es sich um ein besonderes Erdgemisch handelt, das unter anderem Spuren von Asche enthält. Ein Agronom beim Landwirtschaftsamt sieht sich das jetzt genauer an.«

»Klingt ziemlich aus der Hüfte geschossen«, sagte Tim ­Walter und wischte sich einen Kaffeerand von der Oberlippe. »Es ist doch nicht gesagt, dass der Täter das hinterlassen hat.«

»Das stimmt«, gab Axberg ihm recht. »Aber wenn wir die Erdprobe einem bestimmten Ort zuordnen können, ist trotzdem viel gewonnen. Bei der Gemeinde gibt es offenbar einen Mitarbeiter, der sich mit der Bodenbeschaffenheit hier in der Umgebung auskennt. Und das mit der Asche ist durchaus inter­essant.«

»Woran denken Sie? Ein möglicher Zusammenhang mit ­einem Brand?«, fragte Granstam und schluckte einen letzten Bissen Brötchen hinunter.

Johan Axberg machte eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte.

»Lässt sich etwas über die Schuh- oder Stiefelgröße sagen?«, wollte Nathalie wissen.

»Nein«, antwortete Axberg.

Nathalie überflog ihre Notizen. »Wenn ich das richtig verstanden habe, ist Erik Jensen Donnerstagnacht zwischen zwei und drei verschwunden, und Hoffmans Leiche wurde Freitagmorgen auf die Insel gebracht.«

»Genau«, bestätigte Axberg. »Der Mörder muss die beiden Opfer also ein paar Stunden gleichzeitig festgehalten haben. Über das Warum habe ich mir schon vergeblich den Kopf zerbrochen.«

»Vielleicht wollte er sie mal zusammenbringen?«, sagte ­Walter mit einem Grinsen.

»Sofern sie überhaupt am selben Ort festgehalten wurden«, überlegte Nathalie. »Auf jeden Fall aber scheint der Täter alles ziemlich genau geplant zu haben.«

»Möglich«, sagte Granstam und strich sich über den Schnurrbart. »Aber mit dem Täterprofil warten wir noch. Das Ganze kann ja auch praktische Gründe gehabt haben: Vielleicht konnte der Täter einfach nur zu den gegebenen Zeitpunkten zuschlagen.«

Schweigend sannen sie einen Moment über den Gedanken nach. Granstam fasste sich an den Rücken und verzog das Gesicht.

»Johan, können Sie noch ein paar Worte zu den Opfern sagen? Gibt es neben den Dominosteinen und der Tatsache, dass beide Ärzte und zur selben Uhrzeit am selben Ort verschwunden sind, noch andere Parallelen?«

»Ja«, sagte Axberg mit düsterer Miene. »Sie sind … beziehungsweise waren beide relativ frisch geschieden. Thomas Hoffman hat sich vor einem Jahr von seiner Frau Maria getrennt, mit der er zehn Jahre verheiratet war, Kinder hatten die beiden nicht. Sie arbeitet als Betriebswirtin bei der Svenska Handelsbanken und war zum Zeitpunkt des Mordes auf einer Konferenz in Västerås. Hoffman war seit dem Jahrtausendwechsel am Krankenhaus angestellt und hat einen guten Ruf als Arzt; aber es gibt Gerüchte, dass er angeblich das weibliche Personal belästigt hat.«

»Nur angeblich?«, fragte Granstam.

»Soweit wir wissen, schon.«

»Haben Hoffman und seine Exfrau neue Partner?«, wollte Nathalie wissen.

Aus ihrer langjährigen Praxis als Psychiaterin wusste sie, dass vielen Konflikten Beziehungsprobleme zu Grunde lagen. Und wie sie Granstams wiederkehrenden Schwänken aus seiner Ermittlungsarbeit entnehmen konnte, verhielt es sich bei Morden nicht anders.

»Soweit wir wissen, hat Thomas Hoffman allein gelebt«, antwortete Johan Axberg. »Maria wohnt seit einem halben Jahr mit einer Pastorin zusammen. Die Scheidung hat ihr zufolge allerdings nichts mit dieser neuen Beziehung zu tun, sondern nur mit dem Üblichen: Sie haben sich auseinandergelebt, die Leidenschaft ist verloschen. Keine schwerwiegenden Konflikte oder möglichen Motive.«

»Und der aggressive Patient, den ich beurteilen soll?«, sagte Nathalie.

»Auf den komme ich noch«, sagte Johan Axberg.

»Lassen Sie ihn erst mal den Fall umreißen«, bat Granstam und zog eine Dose Snus aus der Lederweste.

Axberg betrachtete das Foto von Erik Jensen und trank ­einen Schluck Kaffee. Nathalie ahnte etwas, eine Verbindung zwischen den beiden Männern, die über das rein Berufliche ­hinausging. Die etwas zu ausführlichen Informationen zu Jensens Privatleben, die nun folgten, bestätigten ihren Verdacht.

»Erik Jensen hat sich im Januar von Sara Jensen scheiden lassen. Die beiden haben zwei Kinder im Alter von acht und zehn Jahren, Sanna und Erika. Sie waren fünfzehn Jahre verheiratet, die Trennung ging von Sara aus.«

Tim Walter schaute verwundert von seinem Bildschirm auf.

»Die Erfolgsautorin Sara Jensen? Die Me and my Selfie geschrieben hat?«

»Ja«, bestätigte Axberg. »Inzwischen ist sie mit ihrem Literaturagenten José Rodriguez liiert. Erik hat sich eine Wohnung gesucht, Sara ist im Haus geblieben, und die Kinder sind im ­wöchentlichen Wechsel bei ihm beziehungsweise bei ihr. In der Nacht, als Erik verschwand, waren sie bei Sara und José.«

»Die beiden sind sicher schon verhört worden?«, vermutete Granstam und schob sich den Tabak etwas weiter unter die Lippe, so dass sein Schnäuzer eine neue Wölbung annahm.

»Ja«, antwortete Axberg. »Sie haben keine Ahnung, was passiert sein könnte. Sara macht sich natürlich große Sorgen.«

»Kann ich verstehen«, sagte Tim Walter keck. »Wenn der Täter es mit der Zeit so genau nimmt wie mit der Symmetrie, sollten wir Erik Jensen besser vor Montagmorgen finden …«

Axberg biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kiefermuskeln hervortraten, und nickte. »Im Moment sind Sara und José geschäftlich in Berlin, sie kommen aber morgen früh zurück. Ich habe ihnen die Reise gestattet.«

»Und die Kinder?«, fragte Nathalie.

»Sind bei Saras Eltern.«

»Erik Jensen wird von seinem Kollegium ebenfalls sehr geschätzt, er hat keine offensichtlichen Feinde. Sein Handy ist ausgeschaltet, und wir wissen nicht, wo er sich aktuell befindet«, fuhr Axberg fort.

»Vermutlich da, wo auch Hoffman festgehalten wurde«, grunzte Granstam und schenkte sich zum zweiten Mal Kaffee nach.

»Die Gegend um das Krankenhaus haben wir erfolglos abgesucht«, erklärte Axberg. »Die Techniker haben jetzt natürlich jede Menge Zeug auf dem Tisch – unglaublich, was die Leute alles so wegwerfen: leere Dosen, Bonbonpapier, Snusdosen, Plastikspielzeug, Kondome, Münzen, Schlüssel … die Liste ist lang. Bisher leider nichts, was uns weiterbringt.«

Es klopfte an der Tür, und Polizeidirektor Ulf Ståhl betrat den Raum. Wie immer trug er einen grauen Armani-Anzug mit einem frisch gebügelten Hemd darunter. Er begrüßte die Fallanalytiker aufs Herzlichste und bedankte sich für ihr Kommen.

»Wie läuft es?«, fragte Ståhl, nachdem er die Willkommensfloskeln hinter sich gebracht und sein exklusives Rasierwasser das Büro eingenommen hatte.

»Hauptkommissar Axberg führt uns gerade vorbildlich in den Fall ein«, erklärte Granstam.

»Ich habe für achtzehn Uhr eine Pressekonferenz einberufen, ich hoffe doch, Sie können dabei sein?«

»Das werden Sie allein machen müssen«, sagte Johan Axberg. »Wenn wir den Fall hier lösen wollen, müssen wir uns ranhalten.«

Ståhl musterte seinen Mitarbeiter. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte er ihn zurechtweisen. Doch dann lächelte er Nathalie und Granstam zu. »Faulheit kann man ihm jedenfalls nicht vorwerfen.«

Wieder an Axberg gerichtet, ordnete er an: »Um halb sechs erwarte ich einen Bericht. Ich verlasse mich auf Sie. Auf Sie alle!«

Ståhl nickte noch einmal in die Runde und verließ dann das Zimmer. Johan Axberg stand auf, öffnete ein Fenster und warf einen Blick auf die IKEA-Uhr an der Wand. Viertel vor drei. Die Kollegen von der verdeckten Ermittlung warteten bereits im Konferenzraum. Es war höchste Zeit, das Einführungsgespräch abzuschließen.

»Kommen wir jetzt also zu unserem Hauptverdächtigen, zu dem wir gern Ihre Einschätzung hätten«, fuhr Axberg mit ­einem Blick in Nathalies Richtung fort. »Kent Runmark, 39 Jahre alt, war mehr oder weniger sein Leben lang in Kontakt mit der Psychiatrie. Mit 17 hat er seine Pflegeeltern gefoltert und ermordet, nachdem sie ihn nicht mehr bei sich wohnen lassen wollten. Vermutlich hat er sie mit einem Hammer erschlagen.«

Johan Axberg blätterte durch die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Zu Nathalies Erleichterung zeigte er jedoch keine weiteren Fotos. Stattdessen erhob er sich, ging hinüber zum Stadtplan und deutete auf eine Landzunge im Norden von Alnön.

»Die beiden Leichen wurden hier im Wald gefunden, knapp einen Kilometer vom Zuhause der Familie entfernt. Kent hat sich bei der Polizei gemeldet und gesagt: ›Jetzt habe ich die Arschlöcher umgebracht.‹ Fünf Jahre später hat er einen Polizisten mit einem Schraubenschlüssel zu Tode misshandelt, nachdem er aus einem Park in Umeå verwiesen worden war. Im Anschluss daran war er zeitweise in der forensischen Psychia­trie untergebracht. Vor einem Jahr wurde er auf eine offene Station verlegt, weil sein Zustand stabil war, wie es in einer Krankenakte heißt, die ich hier irgendwo in meinem Chaos habe.«

»Wie lautet seine Diagnose?«, fragte Nathalie.

»Multiple Persönlichkeitsstörung mit paranoid-psychotischen Schüben«, sagte Johan.

Granstam legte Nathalie seine Bärenpranke auf die Schulter. Ein leichter Snusgeruch stieg ihr in die Nase.

»Jetzt wissen Sie, warum ich Sie dabeihaben wollte«, flüsterte er.

Sie nickte, ohne jedoch Johan Axberg aus den Augen zu lassen. Granstam ließ ihre Schulter wieder los, und Johan fuhr fort: »In letzter Zeit hat Kent Runmark seine Medikamente nicht mehr regelmäßig eingenommen, so dass sich sein Zustand verschlechtert hat. Samstagnacht hat er die psychiatrische Notaufnahme aufgesucht. Da ist er dann Thomas Hoffman begegnet …«

»Zwei Tage, bevor er verschwunden ist«, warf Tim Walter ein.

»Genau«, sagte Johan. »Runmark ging es schlecht, einer Krankenschwester zufolge wollte er sich einweisen lassen. Weil aber alle Stationen belegt waren, hat Dr. Hoffman ihn mit einer erhöhten Dosis wieder nach Hause geschickt.«

»Was war denn mit der Forensischen?«, fragte Nathalie.

»Die hatten auch keinen Platz und konnten ihn nicht akut aufnehmen. Also hat Kent Runmark die Psychiatrie wieder verlassen, offenbar ziemlich aufgebracht. Das Letzte, was er der Krankenschwester zufolge über Hoffman gesagt hat, war: ›Der sollte besser verdammt gut aufpassen.‹ Wo er sich danach aufgehalten hat, ist unklar. Er behauptet, in seiner Wohnung Computer gespielt zu haben, aber das kann niemand bestätigen. Weder für Hoffmans Entführung noch für den Zeitpunkt, zu dem die Leiche auf Alnön abgelegt wurde, hat er ein Alibi.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Draußen auf der Straße knatterte ein Moped vorbei.

»Diese Folter, von der Sie sprachen …«, sagte Granstam nachdenklich.

»Weder Dominosteine im Rachen noch Schnittwunden auf dem Rücken«, sagte Johan. »Da kamen vor allem Schläge und brennende Zigaretten auf der Haut zum Einsatz.«

Johan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, massierte sich die Schläfen und fuhr fort: »Was Kent Runmark so interessant für uns macht, ist die Tatsache, dass er noch ein weiteres Mal in der psychiatrischen Notaufnahme war und bei der Gelegenheit zur Beobachtung dabehalten wurde.«

Schweigend betrachtete er seine zugereisten Kollegen. Sah, wie Ingemar Granstam und Nathalie Svensson langsam der ­Zusammenhang dämmerte, während Tim Walter nur ein Ich-hab’s-kapiert-also-weiter-Gesicht machte.

»Das war Donnerstagabend, neun Stunden bevor Erik Jensen verschwunden ist. Während Dr. Jensen sich um den Pa­tienten kümmerte, der mit einem Herzstillstand auf dem ­Korridor zusammengebrochen war, kam Kent Runmark aus seinem Zimmer und verfolgte den missglückten Wiederbelebungsversuch. Als Erik Jensen die Notaufnahme wieder verlassen wollte, soll Runmark ihm hinterhergebrüllt haben: ›Mörder! Du wirst deine Strafe schon bekommen, du Todes­engel!‹«

»Allerliebst«, kommentierte Tim Walter.

»Wurde Kent Runmark denn nicht beschattet?«, fragte ­Nathalie.

»Doch«, sagte Johan. »Aber als es zu dem Herzstillstand kam, herrschte erst mal Chaos, die Routine auf der Station wurde nicht eingehalten. Im Anschluss an seine Drohung ist Runmark aus der Psychiatrie geflohen und verschwunden. Und Dr. Jensen ist noch eine Weile dageblieben, bevor er sich auf den Rückweg durch den Gang machte.«

»Dann kann Runmark sich also theoretisch auch ihn geschnappt haben«, schloss Granstam und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er könnte Hoffman irgendwo eingesperrt, ihn am nächsten Morgen ermordet und auf Alnön abgelegt ­haben, stimmt’s?«

Johan nickte ernst. »Kent Runmark hatte seinen Wagen, ­einen schwarzen Van, in der Tiefgarage stehen, die sich fünfzig Meter vom Fundort von Dr. Jensens Namensschild befindet. Die Techniker sind schon dabei, das Fahrzeug zu untersuchen, aber bisher ohne Ergebnis.«

»Ist er denn groß und stark genug, um Erik Jensen überwältigen zu können?«

Erneut nickte Johan Axberg.

»Aber wie soll er das angestellt haben?«, fragte Nathalie.

»Er kann ihn doch einfach bewusstlos geschlagen und zur Garage geschleppt haben«, schlug Tim Walter vor. »Immerhin scheint er ziemlich gewalttätig zu sein.«

»Ja«, stimmte Granstam zu. »Oder er hatte eine Waffe und hat Jensen gezwungen, mitzukommen. Wo wohnt Runmark?«

»In einer Wohnung im Stadtteil Granloholm, ein paar hundert Meter hinter dem Krankenhaus. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich das Opfer dort aufgehalten hat.«

»Aber wenn er es wirklich war, wozu dann die Dominosteine und die Wunden am Rücken?«, fragte Nathalie.

Johan zuckte mit den Schultern.

»Er sitzt schon in einer Isolationszelle im Keller und wartet auf Sie«, sagte er ohne die geringste Spur von Sarkasmus. »Kent Runmark gehört zu den unangenehmsten Menschen, die mir je begegnet sind. Es ist, als würde er sich in einen hineinfressen, wie eine Ratte, die sich durch einen Betonboden nagt, langsam und zielstrebig, ohne mit der Wimper zu zucken. Nach einer Weile hat man das Gefühl, man wäre selbst der Angeklagte.«

Nathalie unterdrückte ein Seufzen. Ständig diese Patientendarstellungen, die eine mutierte Variante von Hannibal Lecter heraufbeschworen. So grotesk das äußere Erscheinungsbild auch sein mochte, dahinter verbarg sich stets ein Mensch, und den zu sehen war ihre Aufgabe.

»Hat man von ihm eine Speichelprobe genommen?«, wollte Tim Walter wissen.

»Ja«, sagte Johan. »Dafür waren vier Männer vom Einsatzkommando nötig.«

Nathalie erhob sich ungeduldig.

»Sollen wir?«

5

SUNDSVALL 2005

Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er das Dach ihres Hauses sehen. Es war rot und rostig und leuchtete wie Glut in der kräftigen Julisonne. Seit ihrem Einzug um Mittsommer hatte er jeden Tag nach dem Frühstück, Mittag- und Abend­essen eine Weile am Wohnzimmerfenster gestanden und an sie gedacht. Auch vor dem Zubettgehen dachte er stets an sie, dann erlaubte er sich sogar ein paar Minuten mehr als tagsüber. Anschließend trug er die Erinnerungen an ihr Lächeln, ihre exotischen Gesichtszüge und flinken Bewegungen mit ­hinauf ins Schlafzimmer und in die nächtlichen Träume.

Ob das Liebe war? Er war sich nicht sicher, schließlich war er noch nie verliebt gewesen. Bisher hatte er niemandem von seinen Gefühlen erzählt, nicht einmal seinem großen Bruder oder Oskar. Wie auch, er fand ja kaum in Gedanken Worte dafür, wie er empfand.

Er hatte sich vorgenommen, mal mit ihr zu reden. Doch zu mehr als einem schüchternen Nicken, wenn sie sich im Supermarkt, in der Apotheke oder an der Tankstelle über den Weg liefen, hatte sein Mut natürlich nicht gereicht. Er wusste nicht, wer sie war oder woher sie kam, aber ein Landei war sie nicht, das merkte man an ihrem Kleidungsstil und Verhalten. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein und schien unentwegt gute Laune zu haben. Warum sie das alte Haus der Witwe Granheden gekauft hatte, wusste er nicht. Oskar hatte gehört, dass sie aus Uppsala sei und das Stadtleben satthabe.

Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Das Streichen der Terrasse war eine schweißtreibende Angelegenheit gewesen, eigentlich musste er unter die Dusche. Es war einer der heißesten Tage des Sommers, und da er wie bei allen anfallenden Arbeiten auf dem Hof nun mal unbedingt einen Blaumann tragen musste (wenn auch nur mit Unterwäsche darunter), lief sein körpereigenes Kühlsystem auf Hochtouren. Noch lagen aber die Aufgaben des Nachmittags vor ihm, die Dusche musste also warten.

Er ging in die Küche, nahm seine Mittagstablette und schluckte sie mit etwas Wasser direkt aus dem Hahn hinunter. Wenn er sie das nächste Mal traf, musste er sich einen Ruck geben und etwas zu ihr sagen. Bei dem schlechten Zustand ihres Hauses konnte er ja einfach fragen, ob sie vielleicht bei irgendetwas Hilfe brauchte. So schwer konnte das doch nicht sein.

Aber es war schon klar, was sie antworten würde, dachte er betrübt. Er war jetzt einunddreißig Jahre alt und hatte noch nie näher mit einer Frau zu tun gehabt. Es war wie ein Fluch. Widerwillig hatte er sich mit einem Leben allein abgefunden. Er war wohl einfach zu schüchtern und gleichzeitig zu taff, nur auf die falsche Art. Hin und wieder kam ihm der Gedanke, dass seine plumpen Witze eine abschreckende Wirkung auf Frauen hatten, oder war vielleicht sein kräftiger, aber schwerer Körper das Problem? Andere Männer betrachteten ihn in der Regel als harten Kerl, doch da er nicht besonders viel redete, war Oskar sein einziger enger Freund. Er bekam oft zu hören, dass er in seiner eigenen Welt lebte. Eine seltsame Aussage, wie er fand. Galt das nicht für alle?

Bei der Erinnerung an Oskars aufmunternde Worte jedoch musste er lächeln: »Mit dir ist alles in Ordnung! Wenn ich eine abgekriegt habe, dann bekommst du das auch noch hin.«

Und Oskar war es tatsächlich geglückt. Seit er die neuen Medikamente bekam, hatte er seine bipolare Störung gut in den Griff bekommen und aufgehört zu trinken. Eva-Marie war eine herzliche und liebe Frau, und die Arbeit im Krankenhaus machte ihm Spaß. Das Beste aber war, dass Oskar, wenn alles nach Plan lief, in einem Monat Vater wurde.

Er holte den Teller Makkaroni mit Fleischwurst aus dem Kühlschrank und stellte ihn in die Mikrowelle. Während er auch den Ketchup und das Leichtbier holte, ertappte er sich dabei, wie er ein Lied aus dem Radio pfiff, dessen Text ihm entfallen war.

Nach dem Essen wollte er rüber zu Mikael gehen und ihm helfen, die Pferde zu striegeln, und eine Kuh festhalten, die operiert werden sollte. Sein großer Bruder war in letzter Zeit immer öfter auf Hilfe angewiesen, sowohl in der Tierklinik als auch bei sich im Stall. Die Aufgaben waren zwar spannend und machten Spaß, aber allmählich wurde es etwas viel. Ich werde mal mit ihm reden müssen, sagte er sich und stellte den Salzstreuer auf die grün-weiß gestreifte Wachstischdecke, gleich neben das Besteck.

Er warf einen Blick aus dem Fenster, und da war er: ihr roter Golf, das kleinste und sauberste Auto, das seit Jahren in der Nachbarschaft zu sehen gewesen war. Sein Herz machte einen Salto, er stand wie angewurzelt da und sah den Wagen auf dem Schotterweg vorbeifahren, gefolgt von einer Staubwolke.

Kaum war der Golf außer Sichtweite, stand seine Entscheidung fest. Reflexartig kontrollierte er Mikrowelle und Wasserhahn und stürmte aus der Küche. Die Autoschlüssel steckten in einer Tasche seines Blaumanns, und als er die Haustür öffnete, verspürte er eine eigenartige Energie.

Nach etwa einem Kilometer sah er den roten Kleinwagen vor sich auf der Straße. Wohin sie wohl fuhr? Es war Samstag, und sowohl der Laden als auch die Tankstelle hatten geöffnet. Oder war sie auf dem Weg in die Stadt?

Mit einem Mal überkamen ihn Zweifel. Was dachte er sich eigentlich? Sollte er nicht lieber wieder umkehren?

Nur noch ein kleines Stück, sagte er sich.

Sein Herz schlug höher, als sie auf den Parkplatz vor dem einzigen Lebensmittelladen der Insel fuhr. Dort standen kaum Autos, was mitten am Tag und bei dieser Hitze kein Wunder war. Er fuhr ebenfalls auf den Parkplatz, ein paar Dinge brauchte er tatsächlich auch.

Sie stieg aus, behände und anmutig wie immer. Helle Ledersandaletten, sonnengebräunte Beine und weiße Shorts. Ein ­rosafarbenes Polohemd und ihr kurzer blonder Haarschopf, bei dessen Anblick er erst einmal das Fenster herunterlassen und tief durchatmen musste.

Er blieb noch sitzen, bis sie im Laden verschwunden war. Auf keinen Fall sollte sie mitbekommen, dass er ihr folgte. Vermutlich aber hatte sie ihn ohnehin nie bewusst wahrgenommen, so war es ja meistens. Vielleicht war es sogar besser so.

Zweifelnd blickte er die Straße hinunter, die zurück nach Hause führte. Glaubte er wirklich, dass er es heute schaffte, sie anzusprechen? Ausgerechnet jetzt, da er so verschwitzt war und in seiner Arbeitskluft und den mit Farbe beklecksten Holzschuhen steckte.

Er rief sich noch einmal Oskars Rat in Erinnerung: »Mach dir nicht zu viele Gedanken, lass es einfach passieren. Sobald du nachdenkst, wirst du nervös, und dann geht es in die Hose.«

Mit diesem Mantra näherte er sich schließlich dem Eingang. Ein Hauch ihres Duftes lag in der Luft, eine Mischung aus Maiglöckchen und Zitrusaromen, und er spürte, wie sich ihm der Magen zuschnürte.

Wie in Trance nahm er sich einen Einkaufswagen und ließ den Blick durch den Laden schweifen. Sie war nirgendwo zu sehen, also bewegte er sich in Richtung Obstabteilung. Die klimatisierte Luft war angenehm kühl, und er überlegte angestrengt, was er zu ihr sagen konnte.

Beim Obst sah er, wie sie gerade zwei Liter fettarme Milch aus dem Kühlregal zehn Meter weiter nahm. Da drehte sie plötzlich den Kopf in seine Richtung und schaute ihn an, noch ehe er den Blick abwenden konnte. Ihr strahlendes Lächeln hob sich hell von dem dunklen Teint ab und ging ihm durch Mark und Bein. Er versuchte zurückzulächeln, nickte zum Gruß und brachte ein »Hallo« heraus, das genauso verkrampft klang, wie es sich anfühlte. Sie erwiderte den Gruß freundlich und ging weiter zur Wursttheke.

Der Moment war vorbei. Er griff nach ein paar Dosentomaten und ließ sie in den Wagen fallen. Sie landeten mit einem so lauten Scheppern, dass er Angst hatte, sie würde sich noch einmal umdrehen und ihn fragen, was er da eigentlich trieb, stattdessen aber wandte sie sich an die Mitarbeiterin an der Theke und erkundigte sich nach Kartoffelsalat und Steaks.

Langsam ging er mit seinem Wagen näher heran, blieb am Gewürzregal stehen, nahm eine Tüte Lorbeerblätter und tat so, als würde er lesen, was auf der Rückseite stand. Die Tüte ­raschelte in seiner großen Hand, und nun bemerkte er auch, dass er zitterte.

An der Kasse ließ er einen älteren Mann vor, so dass er nicht unmittelbar hinter ihr in der Schlange stand, doch er wandte den Blick nicht von ihr ab. Die flinken Hände, an denen nirgendwo ein Ring zu sehen war, die lachenden Augen, die ihren Gesichtszügen so ein eigentümliches Strahlen verliehen, als wäre sie einst von einem glücklichen Gott erschaffen worden. Wie es wohl war, ihr mal so richtig nahzukommen?