So tödlich nah - Jonas Moström - E-Book
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Jonas Moström

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Beschreibung

"Jonas Moström schreibt mit einer nie nachlassenden Intensität, die den Leser durch die Nacht treibt." Arne Dahl Was würdest du tun, wenn dein schlimmster Alptraum wahr wird? Psychiaterin Nathalie Svensson unterstützt die Polizei bei besonders drastischen Fällen. Eines Nachts allerdings kann sie nur hilflos zusehen, wie ihr Liebhaber in Stockholm auf offener Straße erschossen wird. Er verblutet in ihren Armen. Sie fühlt sich in einem Alptraum gefangen, denn zehn Jahre zuvor wurde ihr damaliger Freund ebenfalls ermordet. Nathalie versucht, auf eigene Faust zu ermitteln. Doch jemand stellt Nathalie nach. Sie bekommt bedrohliche Nachrichten und hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden? Und ist sie das eigentliche Ziel?

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Das Buch

Psychiaterin Nathalie Svensson hat sich endlich aus ihrer unglücklichen Ehe befreit. Jetzt muss sie zwar um das Sorgerecht für ihre beiden Kinder kämpfen, genießt aber auch die neugewonnene Freiheit. Als sie eines Abends nach Stockholm fährt, um sich mit ihrem Liebhaber zu treffen, einem bekannten schwedischen Schauspieler, findet ihre Unbeschwertheit ein jähes Ende. Er wird auf offener Straße erschossen und verblutet vor Nathalies Augen.

Sie fühlt sich um ein Jahrzehnt zurückversetzt. Damals wurde ihre große Liebe, der Journalist Adam, ermordet – bis heute wurde der Täter nicht gefasst. Als Nathalie bedrohliche SMS erhält, wird sie das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtet und verfolgt. Hängen die beiden Morde womöglich zusammen? Ist Nathalie das nächste Ziel des Mörders?

Der Autor

Jonas Moström wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit damit, an seinem ersten Roman zu arbeiten, der 2004 erschien. So tödlich nah ist der erste Teil einer neuen Krimiserie um Psychiaterin Nathalie Svensson und in Schweden ein großer Bestseller.

Jonas Moström

So Tödlich nah

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Nora Pröfrock

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1424-2

Deutsche Erstausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

1. Auflage Januar 2017

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

© Jonas Moström, 2014

Titel der Originalausgabe: Himlen är alltid högre (Lind & Co, Stockholm)

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © Jamie Heiden / Trevillion Images

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Es wird bald regnen, doch sie lässt es darauf ankommen. Wenn sie sich beeilt, sollte sie es nach Hause schaffen, bevor das aufziehende Unwetter sie eingeholt hat. Über die Abkürzung durch den Wald sind es nur sieben Minuten bis zu ihrer Haustür.

Den ganzen Tag war sie hinter massiven Steinmauern eingesperrt. Es kommt ihr so vor, als würde der Frühlingseinbruch mit seinen sprießenden Knospen und Blättern völlig an ihr vorbeigehen. Und jetzt, da sie endlich ins Freie kann, schlägt das Wetter plötzlich um, fast wie zum Hohn.

Sie schlüpft in ihre Jacke und macht sich auf den Weg. Die Jacke kneift, ihre neuen Turnschuhe scheuern an den Füßen, und überhaupt fühlt sie sich irgendwie unwohl in ihrer Haut. Vermutlich wegen all des Unsinns, mit dem sie sich den lieben langen Tag herumplagen muss.

Die Wolken verdunkeln die weißgraue Krankenhausfassade hinter ihr, und schon ist das Prasseln der ersten Regentropfen auf dem Blechdach zu erahnen. Sie beschleunigt das Tempo.

Als sie den Waldpfad erreicht, wird alles still, bis auf den böigen Wind in den Baumwipfeln. Bald kommt der Radweg. Von dort sind es nur noch drei Minuten bis nach Hause. Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf geht, erhellt ein kräf­tiger Blitz den Wald. Eine Sekunde ist alles um sie herum gestochen scharf, jedes Blatt, jede Tannennadel, jeder Grashalm hinterlässt einen grellen Abdruck auf ihrer Netzhaut.

Reflexartig zählt sie die Sekunden im Kopf, wie es seit Kindertagen bei Gewittern ihre Angewohnheit ist.

Sieben.

Ein erdbebenartiges Donnergrollen ertönt.

Sie sieht die Einfamilienhäuser und Mietblöcke am Waldrand und atmet auf. Der Himmel ist mittlerweile pechschwarz. Mit erstaunlicher Wucht treffen die ersten Regentropfen ihren Nacken. Sie zieht sich die Kapuze über den Kopf und vergräbt die Hände in den Jackentaschen.

Noch ein Blitz, drei Sekunden.

Mit einem Mal ist das Unwetter genau über ihr. Der Regen schlägt auf den Asphalt wie ein Kugelhagel, in den Gärten ringsum raffen die Leute panisch ihre Kleidung, Gartenpolster und was sie sonst auf die Schnelle greifen können zusammen. Das Wasser steht brodelnd auf der Erde, die Nässe dringt durch Kleidung und Schuhe.

Noch zwei Minuten, spornt sie sich an, als sie in den Gustaf Kjellbergs Väg biegt und zwischen den Mietshäusern durchläuft. Wieder blitzt es, doch jetzt ist der Regen so stark, dass sie nur ein schwaches Aufflackern wahrnimmt, und durch das Trommeln auf ihrer Kapuze ist das folgende Donnergrollen nicht zu hören. Sie verfällt in den Laufschritt, denkt an die heiße Dusche, die zu Hause auf sie wartet.

Da erst sieht sie ihn: den weißen Lieferwagen, der vor ihrem Haus auf der Straße steht. Als sie daran vorbeiläuft, gehen die beiden Hintertüren auf, und zwei schwarzgekleidete Männer springen heraus. Aus dem Augenwinkel nimmt sie einen dunklen Schatten wahr, der sich von hinten nähert. Noch bevor sie sich umdrehen kann, spürt sie auch schon ein Tuch über dem Mund und eine Hand am Oberarm. Sie versucht zu schreien, doch alles, was sie hervorbringt, verkommt zu einem dumpfen Vibrieren in dem feuchten Stoff.

Die Männer sind jetzt ganz nah, ihre Gesichter jedoch nicht zu erkennen. Sie halten sie fest, ihre Hände sind überall. Sie beißt, tritt und schlägt um sich. Erzielt ein paar Treffer, aber die Griffe lösen sich keinen Millimeter.

Wie von Sinnen windet sie sich, zerrt an allem, was sie in die Finger bekommt, ringt nach Atem. Schließlich spürt sie, wie ihr schwindelig wird, wie das Gefühl in ihren Gliedern allmählich abstirbt.

Dann heben ihre Füße vom Gehweg ab. Sie wird schwerelos, der Regen fällt ihr mitten ins Gesicht.

Ein dumpfer Aufprall auf einem harten Boden. Zwei Türen werden zugeschlagen.

*

Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie auf einem anderen Untergrund. Ihr dröhnt der Kopf, vor ihren Augen flimmert es. Nach und nach sieht sie wieder klarer, bis sie schließlich durch einen Spalt in ihrer Augenbinde etwas erkennt: eine breite Diele und darauf eine Maserung in Form einer Wichtelmütze.

Allmählich spürt sie auch wieder ihren Körper. Sie liegt auf der Seite, ihre Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden. Als sie versucht, sie zu bewegen, schmerzt es so sehr in den Handgelenken, dass sie aufschreien will, doch in ihrem Mund steckt ein Stück Stoff, das sich nicht ausspucken lässt. Auch an den Beinen ist sie gefesselt, mit dicken Seilen um Fußgelenke und Knie.

Sie versucht, den Kopf anzuheben, doch ihre Muskeln gehorchen ihr nicht. Es fühlt sich an, als wäre sie mehrere Stunden bewusstlos gewesen. Ihre Jeans und der Pullover sind feucht, die Jacke ist verschwunden.

Wo bin ich? Wer hat mich hierhergebracht?

Nur das leise Trommeln des Regens auf einem Blechdach ist zu hören. Dann öffnet sich eine Tür. Mit energischen Schritten läuft jemand über den Dielenboden.

Alles, was sie sieht, sind ein Paar braune Schuhe mit Lederquasten, die einen Meter vor ihr an der Wichtelmützenmaserung stehen bleiben. Breitbeinig, die Fußspitzen nach außen gerichtet, die linke ungeduldig auf und ab wippend.

Plötzlich hält der Fuß inne, und eine angespannte Stille erfüllt den Raum. Sie vernimmt ein leises metallisches Rasseln. Der Schatten ihres Gegenübers gleitet auf sie zu. Dann wird ihr schwindelig. Erneut senkt sich die Dunkelheit über sie.

Das Letzte, was sie wahrnimmt, ist der Klingelton eines Handys.

1

STOCKHOLM,

SONNTAG, 27. APRIL 2014

Nathalie Svensson bedankte sich für den Champagner, rutschte vom Barhocker und ließ den großzügigen, aber uncharismatischen Börsenmakler, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte, allein zurück. Er war ihr zu schüchtern und zu zögerlich gewesen. Es hätte sicher noch Wochen gedauert, bis er irgendetwas anderes unternommen hätte, als sie nur erneut auf einen Drink einzuladen. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass er verheiratet war, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Als sie zum ersten Mal miteinander angestoßen hatten, war ihr ein heller Streifen auf der sonnengebräunten Haut seines linken Ringfingers aufgefallen.

Auf dem Weg zur Garderobe geriet sie ins Schwanken, was nicht allein auf die neuen Dior-Schuhe mit den hohen Absätzen und die flackernden bunten Lichter zurückzuführen war, die die Discokugel in den Raum warf. Dem Glas Champagner war ein Dry Martini vorausgegangen, nachdem sie zum Essen bereits eine halbe Flasche Wein getrunken hatte. Das war offenbar mehr als sie vertrug, auch wenn sie sich wie gewohnt zwischendurch Wasser nachgeschenkt hatte.

Sie ließ sich ihren Mantel geben und fragte den etwas zu vorwitzigen Garderobier nach der Uhrzeit. Der lachte nur und antwortete: »Halb vier – soll ich ein Taxi rufen?«

»Nein danke, ist nicht nötig«, erwiderte sie und ging.

Vor dem Café Opera standen etwa zehn bis fünfzehn Leute Schlange. Die Türsteher ließen gerade zwei junge Typen zum VIP-Eingang hinein, die Nathalie aus dem Fern­sehen kannte. Wahrscheinlich waren sie mal bei X-Factor, Superstar oder einer der anderen Talentshows aufgetreten, mit denen sie sich abends nach einem anstrengenden Tag in der Klinik berieseln ließ.

Kriegen die Leute eigentlich nie genug?, dachte sie und merkte im nächsten Moment, dass sie sich an die eigene Nase fassen musste. Sie lächelte den Türsteher an, als dieser die Absperrung für sie öffnete, konzentrierte sich darauf, einen möglichst nüchternen Eindruck zu machen, und steuerte auf den Fußgängerweg zwischen dem Kungsträdgården und dem Karl XII’s Torg zu.

Die Luft war kühl. Über Stockholms Straßen und Plätzen lag eine angenehme Dunkelheit. Ein kleiner Spaziergang war jetzt genau das Richtige, wenn sie am nächsten Tag einigermaßen in Form sein wollte, um zur geplanten Zeit die Heimfahrt nach Uppsala anzutreten. Im besten Fall würde sie sich sogar noch zu ihrer üblichen Jogging­runde um den Kungliga Djurgården aufraffen. Für ihre fünfundvierzig Jahre sah Nathalie zwar nach wie vor gut aus, doch in letzter Zeit war ihr aufgefallen, dass sie schnell ein paar Kilo zunahm, wenn sie nicht für ausreichend Bewegung sorgte. Sie war schon immer eher mollig gewesen, aber die Kurven befanden sich bei ihr an den richtigen Stellen, so dass sie durchaus als attraktiv wahrgenommen wurde. Ein typisches »Plus Size Model«, wie Tyra Banks in America’s Next Top Model zu sagen pflegte. Doch auch weiblichen Rundungen waren Grenzen gesetzt. Sobald Nathalie ihr Idealgewicht überschritt, fühlte sie sich nicht mehr sexy, sondern nur noch aufgedunsen.

Aus diesem Grund hatte sie – obwohl sie Sport verabscheute und immer behauptete, die wöchentlichen Chorproben genügten ihr als körperliche Betätigung – in ein Paar neonfarbige Laufschuhe investiert und angefangen, sich dreimal pro Woche zum Joggen zu zwingen (woraus gelegentlich auch zwei- oder keinmal wurde, wenn sie die Schuld aufs Wetter schieben konnte). Das Laufen fand sie genauso langweilig wie die Sportsendungen im Fernsehen, aber wenigstens konnte sie dabei Backstreet Boys, One Direction oder eine der anderen Boygroups hören, die sie vor ihren Kollegen und den Freunden im Chor lieber unerwähnt ließ.

Schon komisch, überlegte sie, als sie einem Fahrradfahrer auswich, der auf dem Radweg Richtung Oper angesaust kam. Heute gehe ich zum ersten Mal allein nach Hause, seit mein neues Leben begonnen hat.

Im Laufe des halben Jahres, in dem sie die Einzimmerwohnung in der Artillerigatan nun schon besaß, war sie ausnahmslos jedes kinderfreie Wochenende und hin und wieder auch wochentags nach Stockholm gependelt, um sich mit Männern zu treffen, die sie im Internet oder beim Ausgehen kennengelernt hatte. Nach den neun Jahren Ehe mit Håkan, die sie zunehmend gelangweilt und eingeengt hatte, war sie nun endlich ausgebrochen. Hatte getan, wovon sie heimlich geträumt hatte, ihre Flügel getestet und herausgefunden, dass sie nach wie vor trugen.

Anfangs hatte sie es noch vorsichtig angehen lassen, doch mit dem wachsenden Selbstvertrauen, das ihre geglückten Eroberungen mit sich brachten, legte sie schließlich immer weitere Strecken zurück. Romantische Abendessen, verrückte Ausflüge und aufregender Sex. Neue Persönlichkeiten, neue Körper, neuer Spaß. Es war keinen Tag zu früh losgegangen.

Bis zu ihrer Trennung von Håkan hatte sie immer versucht, ein möglichst angepasstes Leben zu führen. In der Schule war sie brav und strebsam gewesen, hatte in sämtlichen Fächern Bestnoten erzielt. Nach dem Gymnasium wusste sie zunächst nicht, was aus ihr werden sollte. Nur, dass sie irgendeinen angesehenen Beruf ergreifen wollte, mit dem sie Menschen helfen konnte. So fiel ihre Wahl auf Medizin. Trotz aller Selbstzweifel und des Gefühls, nie gut genug zu sein, hatte sie diese Entscheidung nie bereut. Die Ehe mit Håkan hingegen bereute sie umso mehr.

Im Laufe der Jahre war es ihm geglückt, sie immer mehr in die Rolle der Anwaltsgattin und Mutter zu drängen, deren einzige Ziele im Leben darin bestanden, eine perfekte Fassade aufrechtzuerhalten, sich als Letzte hinten anzustellen und höchstens einmal pro Woche singen zu gehen. Ihre beruflichen Erfolge als Wissenschaftlerin und Psy­chiaterin hatten in Håkans geldfixierter Welt keinerlei Bedeutung. Die Sicherheit war zur Tristesse verkommen, und sie hatte sich damit abgefunden.

Bis zu einem gewissen Dienstagabend zwei Wochen nach ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag, als sie mit derselben Präzision und Sorgfalt wie immer die Spülmaschine einräumte. Mit einem Mal war es ihr so vorgekommen, als würde sie plötzlich von all der verlorenen Zeit eingeholt, als würden sich sämtliche unterdrückten Gefühle zu einer einzigen klaren Empfindung verdichten, und sie hatte sich vorgenommen, aus dem Gefängnis auszubrechen, das sie sich selbst errichtet hatte. Noch bevor sie die Spülmaschine anstellte, hatte sie den Entschluss gefasst, Håkan zu verlassen, auch wenn ihr das in dieser Deutlichkeit erst später bewusst wurde.

Nun wollte sie die verlorenen Jahre nachholen, und zwar so richtig. Der Schwarzweißfilm ihres Lebens sollte endlich Farbe bekommen. Nicht eine Sekunde würde sie mehr davon verpassen.

In aller Heimlichkeit hatte sie einen Teil ihres straff durchorganisierten Alltags, der sich bislang nur um Arbeit, Kinder und eine etwas zu fordernde Mutter gedreht hatte, gegen Freiheit, Glamour und unverbindliche Affären ausgetauscht. Endlich fühlte sie sich wieder attraktiv und glücklich – wie sie es ihrem Selbstverständnis nach im Grunde immer gewesen war. Und je wohler sie sich in ihrer Haut fühlte, desto besser kam sie auch bei den Männern an.

Tea und Gabriel gegenüber hatte sie zwar oft ein schlechtes Gewissen, doch das verflog, sobald sie sich vor Augen hielt, dass es auch ihnen letztlich besserging. Gabriels ADHS-Symptome waren schwächer geworden, und das erste Halbjahr der zweiten Klasse hatte er zum größten Teil ohne Betreuer geschafft. Die stille und brave Tea spielte endlich mit ihren Freundinnen aus der Vorschulklasse, anstatt sich immer nur allein mit Büchern oder Computerspielen zu beschäftigen. Vor allem aber hatten die Kinder jetzt eine fröhlichere, zufriedenere Mutter.

Das große Problem war nur, dass Håkan nach der Trennung das alleinige Sorgerecht beantragt hatte. Nathalie war natürlich bereit, es sich mit ihm zu teilen, und im Grunde wollte er das auch, wie sie sehr wohl wusste. Seine Argumente beschränkten sich darauf, dass er sie für selbstbezogen und unverantwortlich hielt. Ihr Anwalt hatte ihr versichert, dass Håkan damit nicht durchkommen werde. Der Sorgerechtsstreit war Håkans Art, sie zu bestrafen. Nur ein weiterer Beweis dafür, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sich von ihm zu trennen.

Hin und wieder kam es ihr so vor, als wüsste Håkan, was sie in Stockholm tatsächlich trieb – dass sie nicht bei Louise übernachtete und nicht ganz so oft ins Theater und in die Oper ging, wie sie behauptete. Doch diese Gedanken konnte sie normalerweise abtun. Wenn Håkan von ihrem Doppelleben wüsste, hätte er sie längst damit konfrontiert. Das Schlimme war ja, dass er vor nichts zurückschreckte und sich im Kampf um die Kinder alles zunutze machen würde.

Mein Leben hat wirklich keinen Tag zu früh angefangen, sagte sie sich noch einmal. Altersmäßig war sie zwar noch längst nicht am Ende der Fahnenstange angekommen, dennoch machten sich die Jahre inzwischen deutlicher bemerkbar. Sie würde spät, aber dafür lange blühen, sagte sie sich, genau wie der Frühling in diesem Jahr.

Sie ging am Blasieholmstorg vorbei und folgte der Arsenalsgatan weiter Richtung Nybroplan. Das Geräusch ihrer Absätze auf dem Gehweg hallte von den Steinfassaden wider, als wäre es das Einzige, was in der schlafenden Stadt in diesem Moment existierte. Wie immer machte sie einen Bogen um die Gullideckel mit einem A in der Mitte, die einem Stockholmer Aberglauben zufolge Unglück in der Liebe brachten, und lief kleine Umwege, um auf die Gullideckel mit einem K in der Mitte zu treten, über die das Gegenteil erzählt wurde.

Am Auktionshaus Bukowskis blieb sie unvermittelt stehen. Da war es wieder. Dieses deutliche Unbehagen. Das Gefühl, dass sie jemand verfolgte.

Ruckartig wandte sie sich um. Hinter ihr war alles still, es war niemand zu sehen. Sie atmete einmal tief durch und ließ den Blick über die Hauseingänge, Straßenecken und die Pferdestatue auf dem Blasieholmstorg gleiten.

Reine Einbildung, beruhigte sie sich und setzte ihren Weg fort. Verfluchte sich für ihre Schreckhaftigkeit, deren Ursache ihr jedoch durchaus bewusst war: eine Person in dunkelgrünem Anorak, die seit etwa einem Monat so gut wie überall aufzutauchen schien, wo sie sich befand. Na­thalie hatte ihn oder sie immer nur aus relativ großem Abstand gesehen, vor dem Eingang des neuen Psychiatriegebäudes, vor dem Ikea in Boländerna und auf der Treppe vor der Carolina Rediviva. Die Person war von durchschnitt­licher Statur, trug ein blaues Paar Jeans und hatte die grüne Anorakkapuze stets über den Kopf gezogen, so dass das Gesicht nicht zu erkennen war.

Anfangs hatte sie das Ganze für einen Zufall gehalten, doch dafür war es mittlerweile einfach zu oft vorgekommen. Sie hatte keine Ahnung, um wen es sich bei dieser unbekannten Person handeln konnte. Natürlich hatte Nathalie eine ganze Reihe schwieriger Patienten und erhielt zum Teil auch Drohungen, wenn sie einem von ihnen mal wieder den Ausgang verwehrte oder keine Medikamente verschreiben wollte, die als Betäubungsmittel eingestuft waren. Einen konkreten Verdacht aber hegte sie nicht.

Als Ärztin musste sie mit gutem Beispiel vorangehen, vor allem jetzt, da man sie für ihre herausragenden Leistungen als Medizindozentin ausgezeichnet hatte. Ihre Studenten wären sicher überrascht, wenn sie wüssten, wie sie ihre Freizeit verbrachte.

Ob es vielleicht mit ihrer Tätigkeit für das schwedische Zentralkriminalamt zu tun hatte? Als führende Expertin für antisoziale Persönlichkeitsstörungen war sie mittlerweile inoffizielles Mitglied der Einheit für operative Fallanalyse, die für die Erstellung von Täterprofilen zuständig war. Ihre Doktorarbeit zu verdrängten Erinnerungen bei Psychopathen hatte große Aufmerksamkeit erregt, und um Weihnachten war sie an der Aufklärung des Mordes an einer Prostituierten in Malmö beteiligt gewesen.

Oder verfolgte sie da womöglich einer der Männer, mit denen sie sich privat getroffen hatte? Der Neurochirurg, der Schreiner oder dieser Dichter, der noch auf seine erste Veröffentlichung wartete? Nein. Auch wenn einige von ihnen enttäuscht gewesen waren, als sie ihnen erklärte, dass sie kein Interesse an weiteren Verabredungen hatte, war doch keiner dabei gewesen, der offensichtlich gestört war.

Nathalie warf noch einen Blick über ihre Schulter. Die Straße hinter ihr lag verlassen da, und allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Zuweilen, wenn Håkan besonders aufdringlich wurde, hatte sie auch schon daran gedacht, dass vielleicht er sie verfolgte. Dass er irgendein dämliches Spiel mit ihr spielte, um ihr Angst zu machen. Bei genauerem Nachdenken erschien ihr dieser Einfall jedoch zu weit hergeholt, und sie verwarf ihn sofort wieder. Dieses Wochenende war Håkan zudem auf einer Konferenz in Oslo.

Am Nybro-Imbiss blieb sie stehen und bestellte sich eine Schokomilch und eine überbackene Wurst mit allem. Der Verkäufer nickte müde, und kurz darauf bekam sie ihr deftiges Nachtmahl. Während sie gierig aß und trank, spürte sie, wie ihr Kopf allmählich klarer wurde.

Als sie wenig später die Birger Jarlsgatan überquerte, vibrierte es plötzlich in ihrer Lederjacke. Sie zog das Handy aus der Tasche und sah, dass sie eine SMS bekommen hatte.

Hallo, bist du noch wach? War im R und bin jetzt auf dem Heimweg. Sollen wir uns sehen? Rickard.

Sie spürte Wärme in sich auflodern und musste lächeln. Er kam wahrscheinlich aus dem Riche.

Gerne. Stehe gerade vor deinem Arbeitsplatz.

Vor ein paar Monaten wäre ihr der Gedanke an ein Date mit dem jungen Nachwuchsstar des Königlichen Dramatischen Theaters ebenso lächerlich vorgekommen wie die Vorstellung, in einem tiefausgeschnittenen schwarzen Kleid an der Bar des Riche zu sitzen, nonchalant mit den Füßen zu wippen und die himbeerfarbenen Sohlen ihrer Schuhe, die perfekt zur Handtasche passten, aufblitzen zu lassen.

Die Nacht in seiner Wohnung vor ein paar Wochen war nicht zu übertreffen gewesen. Nathalie schloss einen Moment die Augen. Rief sich noch einmal seine Berührungen, die heisere Stimme und seine Ausdauer in Erinnerung.

Eine Weile blieb sie noch mit dem Handy in der Hand stehen und wartete, doch es kam keine Antwort. Nach etwa einer Minute stellte sie sich auf die Treppe hinter Strindbergs Bronzebüste und blickte über das Wasser. Langsam brach die Dämmerung über dem Vergnügungspark Gröna Lund herein. Nathalie fühlte sich ebenso zaghaft und ebenso glühend wie dieses Licht.

Über ihr flatterte eins der beiden Banner im Wind und brachte sie abrupt zurück in die Wirklichkeit. Eine Ankündigung für Hamlet mit Rickard in der Hauptrolle und für die neue Operninszenierung Don Juan. Ihr Vater hatte Karten für diese einzigartige Kooperation zwischen Theater und Oper besorgt. Die Vorstellung, die sie sich mit ihm und Louise ansehen würde, war diesen Freitag, wenn sie sich recht erinnerte.

Sie warf erneut einen Blick auf das Handydisplay. Noch immer keine Antwort. Da sie nicht zu anhänglich wirken wollte, beschloss sie, einfach nach Hause zu gehen, doch genau in dem Moment vibrierte ihr Handy.

Komm in 10 Minuten zum Karlaplan.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, sie stünde auf Abruf bereit, wartete sie zehn Sekunden, bevor sie antwortete:

Ok.

Wie immer, seit Håkan eines Abends in ihrem Handy herumgeschnüffelt hatte, löschte sie die Nachrichten sofort und steuerte dann auf den Strandavägen zu. Zwischen der Artillerigatan und der Sibyllegatan kam sie an Louises Praxis für plastische Chirurgie vorbei. Sie betrachtete die Fotos von all den schönen Männern und Frauen im Fenster und dachte über Louises Angebot nach, ihr den Busen anzuheben und etwas Fett am Bauch abzusaugen. »Nach der Scheidung von Frank habe ich das auch machen lassen, und ich habe es keinen Tag bereut«, hatte Louise ihr eines Abends bei ein paar Drinks im Sturehof gesagt. »Und du bekommst natürlich einen Freundschaftspreis.«

Ja, warum eigentlich nicht, überlegte Nathalie und knuffte sich die Brüste. Was ihre Größe und Festigkeit anging, konnte sie sich zwar nicht beschweren, aber wieso sollte sie sich mit etwas zufriedengeben, was nur noch besser werden konnte?

Dann fiel ihr Rickard wieder ein, und sie ging weiter. An der Djurgårdsbrücke kehrte sie dem Wasser und dem errötenden Himmel den Rücken zu und bog in den Narvavägen ein. Gegenüber dem Historischen Museum kam sie an Franks Haustür vorbei. Sie fragte sich, ob er an diesem Abend wohl arbeitete, denn er hatte sich noch gar nicht bei ihr gemeldet. Sonst wollte er sich immer mit ihr treffen, wenn sie in der Stadt war. Sowohl er als auch Louise hatten nach ihrer Scheidung wieder verstärkt Kontakt zu ihr gesucht. Louise brauchte eine Freundin zum Quatschen und Spaßhaben, Frank jemanden, dem er sich anvertrauen konnte.

Nathalie warf einen Blick auf die Uhr. Seit der SMS war jetzt eine Viertelstunde vergangen. Ich komme also genau richtig, stellte sie bei sich fest.

Als sie am Fußgängerüberweg zum Karlaplan angelangt war, erblickte sie Rickard. Er stand ein Stück vom Springbrunnen entfernt und sah auf sein Handy. Sie hob die Hand und wollte ihm gerade etwas zurufen, hielt jedoch inne, als sie sah, wie plötzlich jemand von einer Bank am Springbrunnen aufstand. Mit energischen Schritten ging er – oder war es eine Sie? – auf Rickard zu, der mit dem Rücken zu der sich nähernden Gestalt dastand. Im Schein des erleuchteten Springbrunnens blitzte irgendetwas auf, was die Person in der Hand hielt. Nathalie kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkel besser sehen zu können.

Dann ertönte ein dumpfer Knall, und Rickard sank zu Boden. Der oder die Unbekannte packte ihn unter den Armen, zog ihn zum Springbrunnen und hievte ihn ins Wasser.

Nathalie verstand nicht, was passierte. Die Nervenbahnen, die ihren Sehsinn mit dem Denkvermögen verknüpften, waren wie blockiert.

Schließlich rannte die Gestalt zu einem Fahrrad, das an einer der Ulmen um den Springbrunnen lehnte. Nathalie gefror das Blut in den Adern, als sie die dunkle Jacke erblickte. Wie gelähmt stand sie da und starrte der Person hinterher. Keine Kapuze, stattdessen trug der oder die Fremde eine schwarze Mütze auf dem Kopf. Im grauen Licht der Morgendämmerung und halb verborgen durch die dunkle Kleidung war das Gesicht nicht zu erkennen.

Erst als die Person in die Pedale trat und in Richtung U-Bahn-Haltestelle davonfuhr, stürzte Nathalie zum Springbrunnen. Mit dem Gefühl, dass alles unendlich lange dauerte, näherte sie sich dem Wasser.

Das Erste, was sie sah, als sie vor Rickard stand, war das Blut, das sich wie ein Heiligenschein um seinen Kopf ausbreitete. Er lag mit halbgeschlossenen Augen auf dem Rücken, die schwarzen Stiefel waren auf den Boden des Springbrunnens gesunken, sein grauer Mantel trieb im Wasser und wurde nach und nach dunkler.

Sie stieg in das Becken.

»Rickard?«, hörte sie sich sagen, halb als Frage. Im Rauschen des Springbrunnens war ihre Stimme kaum zu hören.

Sie fasste ihn am Nacken und hob seinen Kopf aus dem Wasser. Das Blut quoll nur so hervor, und sie spürte die klebrige Wärme an der Hand.

Rickard rang um Atem, er heftete den Blick auf sie. Unter Aufbringung seiner ganzen Kraft hob er die Hand und drückte ihren Arm. Mit röchelnder, undeutlicher Stimme stotterte er: »Wi … Wi …«

Dann ging sein Blick ins Leere. Das Kinn sank auf seine Brust, der Körper erschlaffte und wurde gleich doppelt so schwer in ihren Armen.

Zwei Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Das hier passiert nicht.

Adam.

2

Die Geschehnisse der folgenden halben Stunde blieben Na­thalie Svensson nur bruchstückhaft in Erinnerung. Wie sie Rickard Ekengård aus dem Wasser zog und ihn neben dem Springbrunnen auf den Boden legte. Wie sie versuchte, die Blutung zu stillen, indem sie ihm seinen Schal auf die Brust drückte, und gleichzeitig die Nummer des Notrufs tippte. Wie sie Puls und Atmung kontrollierte, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte, auch wenn er auf ihre verzweifelten Rufe nicht reagierte.

Ein Krankenwagen bremste fünf Meter von dem schwerverletzten Körper auf dem Schotter, und gleichzeitig fuhr der erste Polizeiwagen durch eine Öffnung in dem Baumkreis, der den Springbrunnen umgab. Die grüngekleideten Rettungssanitäter gingen professionell vor, waren aber offensichtlich gestresst von all dem Blut, das den Boden und die Kleidung des Angeschossenen rot färbte. Dass es sich bei dem Opfer um Rickard Ekengård handelte, erkannten sie sofort, doch nachdem sie das einmal festgestellt hatten, fuhren sie unbeeindruckt mit ihren routinierten Handgriffen fort. Her mit der Trage, hinauf mit dem schlaffen Körper und rein in den Wagen. Tropf und Sauerstoffmaske angelegt und einen Druckverband am Brustkorb angebracht.

Der Fahrer des Wagens drängte Nathalie zurück und schlug die Türen zu. Drei Sekunden später verbreiteten die rotierenden Blaulichter ihr grelles Flackern in der Morgendämmerung. Die Sirenen hallten von den Steinfassaden wider, als der Krankenwagen mit Hochgeschwindigkeit über den Karlavägen verschwand.

Zwei uniformierte Polizisten legten ihr eine Decke um die Schultern und führten sie zu einer Bank jenseits des blauweißen Plastikbandes, das schon bald den Bereich um den Springbrunnen und einen Ausläufer in Richtung U-Bahn absperrte, wohin der Mörder mit seinem Fahrrad geflüchtet war.

Der Beamte und seine Kollegin stellten Fragen und sprachen Anweisungen in ihre Funkgeräte. Wenig später wimmelte es auf dem Platz nur so von Uniformen. Nathalie hörte sich antworten, doch es war, als gehörte die Stimme jemand anderem.

Rickard Ekengård.

Vor ihren Augen erschossen und in einen Springbrunnen gezerrt.

Aber ihr einziger Gedanke galt Adam, der Liebe ihres ­Lebens, die ihr so brutal entrissen worden war. Es war jetzt zehn Jahre her, doch das Bild, wie jemand ihm in den Rücken geschossen hatte, um ihn dann blutend im Springbrunnen vor dem Hauptbahnhof in Uppsala zurückzulassen, war kein bisschen verblichen. Dabei hatte sie die Szene nicht einmal mit eigenen Augen gesehen. Seit damals war kein Tag vergangen, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte. Und nachdem der Fall Anfang des Monats in der Fernsehsendung ­Ungelöste Verbrechen aufgegriffen worden war, hatte die Erinnerung nur zusätzlich an Lebendigkeit gewonnen.

Nun hatte sie mit ansehen müssen, wie Rickard auf ganz ähnliche Weise niedergeschossen worden war. Das kann einfach nicht wahr sein, dachte sie, weck mich doch bitte jemand aus diesem Albtraum.

Auf dem Platz trafen noch mehr Polizisten ein. Sie hörte, wie einer von ihnen jemanden ans Telefon zu bekommen versuchte, der das Wasser abstellen konnte, drei neugierige Jugendliche blieben an der Absperrung zum Narvavägen stehen, das Surren einer Kamera war zu hören, als ein Fotograf eine Serie von Bildern schoss. Zwei Männer fuhren in einem schwarzen Wagen vor, zogen sich weiße Anzüge, Handschuhe und Überschuhe an und näherten sich der Blutlache.

Nathalie fröstelte und zog die Decke enger um sich, ohne dass es jedoch etwas nützte. Wie lange sie so dasaß, den Blick auf das Wasser gerichtet, wusste sie nicht. Schließlich setzte sich jemand neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Hallo, Nathalie, wie geht es dir?«

Frank. Auch wenn seine Stimme den sonst so dunklen, erdigen Klang vermissen ließ, erkannte sie ihn sofort. Na­thalie wandte sich um und blickte in seine tiefliegenden grauen Augen. Sie waren gerötet und starrten sie auf eine prüfende Art an, die nach der anfänglichen Erleichterung über seine Anwesenheit unmittelbar Unbehagen in ihr aufkeimen ließ. Er saß dicht neben ihr, sein zerfurchtes Gesicht wirkte besorgt. Wie üblich trug er eine schwarze Lederjacke, T-Shirt und Jeans. Am Kinn hatte er eine Wunde, die anscheinend gerade erst aufgehört hatte zu bluten. Unter seiner Oberlippe klemmte eine Portion Snus, die aschblonden Bartstoppeln standen in alle Richtungen ab.

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Arbeiten, Nathalie«, sagte er in einem Versuch, möglichst beherrscht zu wirken, doch seine Stimme klang immer noch eigenartig fremd. »Ich habe heute Bereitschaftsdienst für die Kripo, vor zehn Minuten hat mich der Notruf erreicht.«

Die Sinneseindrücke überschlugen sich und wurden zu einem undurchdringlichen Wirrwarr in ihrem Kopf. Sie hörte sich sagen: »Ich bin vorhin an deiner Haustür vorbeigegangen … vor einer Minute … Ich wollte dich eigentlich heute anrufen … aber dann kam was dazwischen und ich … dann bin ich hierhergekommen und …«

Ihre Stimme versagte, und ihr kamen die Tränen.

»Ich weiß in etwa, was passiert ist«, sagte Frank und legte den Arm um sie, so dass sie eine wohlige Wärme durchströmte. »Es muss furchtbar gewesen sein …«

Sie nickte und betrachtete ihn.

»Was hast du am Kinn?«

»Ach, das ist nichts«, antwortete er. »Nur eine Schnittwunde vom Rasieren.«

Man brauchte jedoch keine medizinischen Fachkenntnisse, um zu sehen, dass er nicht die Wahrheit sagte.

»Warst du zu Hause?«, wollte sie wissen.

»Ja«, sagte er und ließ sie wieder los. »Was hast du hier gemacht?«

»Ich war auf dem Weg nach Hause … vom Café Opera … wollte noch ein bisschen frische Luft schnappen und bin einen Umweg gegangen.«

Die Lüge kam ihr wie von selbst über die Lippen. Um davon abzulenken, fragte sie: »Wird er überleben?«

»Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Er kommt jetzt in den OP. Wir gehen natürlich vor wie bei einem Mord. Alle verfügbaren Streifen suchen gerade das Gebiet ab, in dem der Täter verschwunden ist«, ergänzte er und deutete mit dem Kopf in Richtung U-Bahn.

Nathalies Gedanken wanderten zu der Ermordung der Außenministerin Anna Lindh. Auf der Pressekonferenz hatten die Ärzte ihren Zustand zunächst als stabil be­zeichnet. Wenige Stunden später war sie für tot erklärt worden.

»Es war furchtbar«, sagte sie und blickte auf ihre Schuhe, die so rot wie Rickards Blut waren. Über den Schotter näherten sich Schritte, und eine kleine, magere Gestalt erschien in ihrem Blickfeld.

»Hallo, Nathalie.«

Sie wandte den Kopf und begegnete Angelica Hübinettes Blick.

»Was machen Sie denn hier?«, wollte die Gerichtsmedizinerin wissen und sah abwechselnd von ihr zu Frank.

Nathalie hatte sie im Zuge ihrer Arbeit für die operative Fallanalyse kennengelernt. Sie war nett, kompetent und geradeheraus.

»Sie ist hier als Zeugin«, erklärte Frank.

»Verstehe«, sagte Angelica. »Ich dachte zuerst, die OFA-Einheit wäre vielleicht schon eingeschaltet.«

»Nein«, sagte Frank, »das wäre wohl etwas zu früh.«

»Ja«, stimmte Angelica zu. »Ich bin auch nur im regulären Dienst hier.«

Ein erneuter Blick in Richtung Nathalie und ein Nicken, das mit etwas Wohlwollen als ein Zeichen von Mitgefühl gedeutet werden konnte.

»Alles Gute, Nathalie. Wir hören voneinander.«

Damit ging Angelica Hübinette zu ihren Kollegen am Springbrunnen. Frank wandte sich zu Nathalie um und hob vielsagend eine Augenbraue. Er hatte sie zwar selbst der OFA-Einheit empfohlen, aber trotzdem war er jedes Mal skeptisch, wenn sich das Team in die Arbeit der örtlichen Kripo einmischte.

»Kannst du noch einmal beschreiben, was du gesehen hast?«, bat Frank sie und schaltete ein Diktiergerät ein.

Sie zwang sich, ein weiteres Mal den Hergang der Er­eignisse zusammenzufassen. Nur die Verabredung mit Ri­ckard ließ sie unerwähnt. Frank wusste nichts von den Männern, mit denen sie sich traf, und so sollte es auch bleiben. Vor allem aber ging sie davon aus, dass ihr Date wohl kaum etwas mit dem Überfall zu tun hatte.

Frank strich sich mit dem Finger über die Wunde am Kinn.

»Nathalie, ich weiß, wie schwer das für dich sein muss«, sagte er.

»Ich verstehe es einfach nicht«, antwortete sie mit halb­erstickter Stimme. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, als ihr erneut die Tränen kamen.

»Zehn Jahre ist es jetzt her«, murmelte sie.

»Ich weiß. Er fehlt mir auch.«

Frank schwieg.

Er war Adams bester Freund gewesen. Nathalie und Louise hatten die beiden zu Beginn ihres Medizinstudiums kennengelernt. Ein paar Wochen später waren aus den vier Freunden zwei Pärchen geworden.

»Gibt es noch etwas, was für uns wichtig sein könnte?«, fragte Frank nach einer Weile.

Nathalie hielt den Blick geradeaus gerichtet und atmete tief ein. Die Ulmen um den Springbrunnen verschmolzen zunehmend mit der weißen Wassersäule. Sie schloss die Augen. Spürte, wie sie auf der kalten Bank ganz schwer wurde, wie ihre Lippen taub wurden und sämtliche Geräusche um sie herum erstarben.

»Ich muss nach Hause.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Frank. »Wann fährst du nach Uppsala?«

»Weiß nicht, ich nehme die Bahn, wie immer. Spätestens heute Abend um sieben muss ich zu Hause sein.«

»Ruf mich an, sobald du wach bist.«

Frank stand auf und beorderte einen Beamten namens Hansson, sie nach Hause zu bringen. Zu ihrer Wohnung in der Artillerigatan waren es nur fünfhundert Meter, doch sie protestierte nicht.

Eine Minute später stand sie an dem Fußgängerüberweg, von dem aus sie Zeugin des Angriffs geworden war, und öffnete die Beifahrertür eines Streifenwagens. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie die Tür zuzog, war der Ruf eines weißgekleideten Kriminaltechnikers. Er stand an der Ulme, an der das Fahrrad des Täters gelehnt hatte. »Frank! Ich habe hier etwas gefunden, das müssen Sie sich mal ansehen!«

3

»Soll ich noch mit reinkommen?«

Hansson hatte vor der Artillerigatan 32 gehalten. Na­thalie wandte sich zu ihm um, sah seine Finger gegen das Lenkrad trommeln.

»Nein danke, ich komme schon zurecht«, sagte sie und drückte die Tür auf. »Danke fürs Fahren.«

Damit stellte sie die hohen Absätze auf den Asphalt und stieg aus. Ohne hinzusehen, hob sie die Hand zum Gruß und kehrte dem Polizisten den Rücken zu. Tief sog sie die kühle Luft ein und hörte die Glocke der Hedwig-Eleonora-Kirche ein Mal schlagen. Halb sechs. In den Bäumen auf dem Friedhof gegenüber zwitscherten die Vögel. Blaue, weiße und violette Blausterne kämpften sich zwischen den schneebedeckten Flecken Erde, die stets im Schatten der asymmetrisch angeordneten Grabsteine zu liegen schienen, ans Tageslicht.

Bevor sie ins Haus ging, sah sie noch, wie der Streifenwagen nach rechts in die Storgatan abbog. Sie überzeugte sich, dass die Tür hinter ihr auch wirklich ins Schloss gefallen war, und stieg die Treppe in die vierte Etage hinauf. Jede Zelle ihres Körpers vibrierte vor Unruhe, und gleichzeitig war sie unsagbar müde.

In dem winzigen Flur ihrer Wohnung, in dem sich fünf Kleiderhaken, ein Schuhregal, ein Spiegel und die Tür zur Toilette befanden, hängte sie ihren Mantel auf und zog sich die Schuhe aus. Erleichtert spürte sie ihre Füße auf dem Parkettboden, als wäre sie nach einer langen Flugreise endlich wieder gelandet. Ihr Blick fiel auf die ordentlich hingestellten neonfarbigen Joggingschuhe. Aus der Laufrunde um den Kungliga Djurgården würde dieses Wochenende wohl nichts mehr werden, ging ihr durch den Kopf. Als spielte das jetzt noch eine Rolle.

Beim Blick in den großen Spiegel an der Wand erschrak sie. Ihre dunkelbraunen Locken hingen in langen Strähnen herunter, der Mascara hatte schwarze Schatten unter ihren Augen hinterlassen, ihr Gesicht war aufgequollen, die Lippen bleich.

Schaudernd ging sie in das einzige Zimmer der Wohnung. Das graue Morgenlicht fiel durch das nordwestlich ausgerichtete Fenster, vor dem die knospenden Zweige noch immer den Blick über den Friedhof bis zum Östermalmstorg freigaben.

In dem Bemühen, sich etwas zu sammeln, ließ sie den Blick über die ihr so vertrauten, sorgfältig möblierten zweiundzwanzig Quadratmeter schweifen. Links das Bücherregal mit der Stereoanlage, auf der sie Aviciis Debütplatte gespielt hatte, bevor sie zum Café Opera aufgebrochen war. Rechts der Kleiderschrank, das Bett und die Kochnische. Die eingerahmten Fotocollagen ihrer Mutter, der orienta­lische Teppich, den sie von ihrem Vater bekommen hatte, und der Arne-Jacobsen-Sessel, den sie im Internet ersteigert hatte.

Zwischen den Blumentöpfen mit den weißen Orchideen lagen die viel zu teuren Videospiele, die sie für Gabriel und Tea gekauft hatte. Mitten im Raum stand der Notenständer mit den Chornoten der Woche, an den sie die Medaille vom Frauenlauf vergangenes Jahr gehängt hatte – zur Erinnerung daran, das sie mehr trainieren musste. Sie hatte sich bemüht, eine möglichst wohnliche Atmosphäre zu schaffen.

In diesem Moment aber kam ihr irgendetwas komisch vor. Das Gefühl von Sicherheit, das sich normalerweise einstellte, war wie weggeblasen. Ihr Blick irrte umher und versuchte, den Grund dafür zu finden. An dem weißgestreiften Vorhang zwischen Bett und Kochnische, hinter dem sich die Putzecke verbarg, blieb er hängen. Fielen die Falten nicht irgendwie anders als sonst? Was ragte da einen halben Meter über dem Fußboden hervor? Mit weit aufgerissenen Augen ging sie darauf zu und schob den Vorhang zur Seite.

Dahinter stand natürlich niemand. Nur ihre Putzsachen und das Bügelbrett. Der Staubsaugerschlauch war nach vorne gefallen und hatte sich in den Raum geschoben.

Mit einem Seufzen ließ sie die angehaltene Luft aus ihren Lungen entweichen und schüttelte den Kopf über ihre Hirngespinste. Noch einmal rief sie sich die Bilder ihres unbekannten Verfolgers in Erinnerung. Wie er oder sie um eine Ecke verschwunden war. Das Gefühl, dass da immer jemand war, aber nie greifbar.

Sie zog sich das Kleid aus und hängte es zu den anderen in den Kleiderschrank. In der Kochnische ließ sie eine Brausetablette in ein Glas Wasser fallen. Durch das Rauschen hörte und sah sie noch einmal den Springbrunnen vor sich. Die Person auf der Bank, den plötzlichen Angriff und das Blut, das das Wasser rot gefärbt hatte. Rickards Hand an ihrem Arm und seine Worte: »Wi … Wi …«

Sein letzter Moment bei Bewusstsein, ihr Anblick hatte ihn bis zum Schluss begleitet.

Was hatte er gemeint?

Wir beide?

Rickard. Wirst du überleben?

Sie unterdrückte den Impuls, im Krankenhaus anzurufen und sich nach ihm zu erkundigen. Sah ein, dass es zwecklos war und dass sie, so schwer es ihr fiel, versuchen musste zu schlafen.

Sie ging zurück zum Bad, klappte den Spiegel am Badezimmerschrank zur Seite, um nicht noch einmal ihr Spiegelbild sehen zu müssen, und holte eine halbe Tablette Benzodiazepin aus dem Kulturbeutel. Normalerweise nahm sie keine Beruhigungsmittel, doch das war ein Notfall.

Dann legte sie den Haken an der Tür vor, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Drehte so viel heißes Wasser auf, bis ihre Haut brannte und sie von einer Dampfwolke umhüllt war. Die Hitze und der harte Strahl auf der Haut ließen ihre Gedanken in all dem Gefühlschaos ein wenig klarer werden.

Was geschehen war, war unbegreiflich und dennoch geschehen. Als Ärztin war sie es gewohnt, zwischen Empathie und Analyse hin- und herzuwechseln, doch in diesem Moment fühlte sie sich ebenso hilflos wie die Patienten, die manchmal vor ihr zusammenbrachen.

Sie war Zeugin eines Mordversuchs an Rickard Ekengård geworden.

Hätte ich nicht so schnell die Blutung gestillt und den Krankenwagen gerufen, wäre er jetzt tot, mutmaßte sie und spülte sich den Schaum aus dem Haar.

Rickard. Warum wollte er sie ausgerechnet heute treffen? Hatte er einfach nur zu viel getrunken, Lust auf Sex gehabt und darauf gesetzt, dass sie bestimmt mit ihm nach Hause kommen würde?

Nathalie dachte an den Abend im Riche vor ein paar Wochen. Wie sie dort an der Bar saß und ein Glas Wein getrunken hatte, bis er sich plötzlich neben sie gesetzt und Hallo gesagt hatte. Wie verblüfft sie gewesen war. Zwar hatte er ihr von dem Tisch, an dem er zuvor mit seinen Schauspielerkollegen saß, schon die ganze Zeit Blicke zugeworfen, aber dass er zu ihr herüberkommen würde, hätte sie nie gedacht.

Sofort hatte sich zwischen ihnen ein unbeschwertes Gespräch aus der üblichen Mischung von Faktenaustausch und Scherzen entsponnen. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern hatte er aufrichtiges Interesse an ihren Antworten gezeigt. Das hatte sie sehr angenehm gefunden und gefreut. Er hatte sich nach ihrer Familie erkundigt, wollte wissen, wie es war, als Psychiaterin zu arbeiten, und hatte sowohl Fragen zum Chor als auch zu ihrer Scheidung gestellt (die sie im Normalfall gar nicht erwähnte).

Die Stunden waren nur so verflogen. Als der Bartender sagte, dass bald geschlossen würde, hatte Rickard sie noch auf eine Flasche gutgelagerten Amarone, die er vom Theaterchef bekommen hatte, zu sich eingeladen. Er war fröhlich und ausgelassen gewesen, hatte von dem Stück erzählt, für das er gerade probte, und von seinen kommenden Filmprojekten.

Als sie aber auf seinem großen Ledersofa Platz genommen und mit dem rubinroten Wein angestoßen hatten, war er plötzlich ernst geworden. Er hatte erzählt, dass er gerade an einer Autobiographie arbeite. Er wolle alles auffliegen lassen.

Noch bevor sie fragen konnte, was genau er darin auffliegen lassen wolle, hatte er sich vorgebeugt und sie geküsst. Seine Hand war an ihr hinaufgewandert, und sie hatte seinen Nacken umfasst. Wieder und wieder hatten sie sich geliebt. Anschließend hatte er gesagt, dass er es gewohnt sei, allein zu schlafen. Bis zu seiner SMS hatten sie nichts mehr voneinander gehört.

Nathalie drehte das Wasser ab. Die Wärme und die Ta­blette machten sie ganz schläfrig und betäubt. Sie trocknete sich sorgfältig mit dem neuen Ralph-Lauren-Handtuch ab, schlüpfte in ihr Seidennachthemd und putzte sich drei Minuten die Zähne. Dann löschte sie überall das Licht und ging zum Fenster, um die Jalousien herunterzulassen. Eine Weile blieb sie dort stehen und blickte auf den Friedhof, wo drei Spatzen über einen der Kieswege hüpften, bis die Gräber zu einem einzigen großen, grauen Stein vor ihren Augen verschwommen.

Noch einmal hallte die grauenvolle Nachricht von Adams Tod in ihr wider. Die Worte der Polizisten hatten ihr Leben zerstört, und was sie selbst in dieser Nacht erlebt hatte, war in einer undurchdringlichen Finsternis verschwunden, die sie seither in sich trug.

Die Mordermittlungen, an denen Frank als frischgebackener Kommissar beteiligt gewesen war, hatten rein gar nichts ergeben. Man wusste nur, dass Adam noch spät wegen einer Story ausgerückt war, worum es ging, war allerdings nicht klar. Der Saab, den er sich mit einem Kollegen teilte, stand vor dem Haus des Kollegen in der Salagatan. Adam hatte ihn im Laufe des Abends genommen und wie besprochen wieder zurückgebracht, vermutlich gegen 23:15 Uhr. Da es keine andere plausible Möglichkeit gab, nahm man an, dass er sich danach auf den Weg in die Redaktion der Upsala Nya Tidning gemacht hatte. Was er dort mitten in der Nacht wollte, wusste niemand, doch seit er eine Woche zuvor einen anonymen Hinweis bekommen hatte, war sein Verhalten ohnehin etwas seltsam gewesen.

Trotz aller Anstrengungen hatte die Polizei nie herausgefunden, worauf sich der Hinweis bezog, dem Adam heimlich nachgegangen war. Der einzige Zeuge war ein Taxifahrer, der gegen Mitternacht eine Zigarettenpause eingelegt und Adam im Springbrunnen gefunden hatte.

Bevor der Mann aus seinem Wagen gestiegen war, hatte er eine Person Richtung Norden zum Parkplatz vor dem Rathaus eilen sehen. Zehn Sekunden später hatte er gehört, wie ein Auto mit quietschenden Reifen davongefahren war. Eine genauere Beschreibung des Autos oder des Flüchtenden konnte er nicht abgeben. Dann war er zum Springbrunnen gegangen und hatte Adam vornüber im Wasser liegend gefunden.

Das Blut hatte ihn wie eine rote Wolke umgeben. Sein Körper war noch warm gewesen, als der Krankenwagen eintraf, doch sämtliche Wiederbelebungsversuche waren erfolglos geblieben.

Etwa zur selben Zeit hatte Nathalie das Furchtbare ereilt. Neue Bilder, neue Qualen. Sie stand noch immer am Fenster und hielt sich krampfhaft am Fensterrahmen fest.

Die Polizei hatte die Theorie, dass es sich um einen Raubüberfall handelte, der aus dem Ruder gelaufen war. Adams Kamera und Portemonnaie waren verschwunden, und in Uppsala trieb gerade eine gewalttätige Bande aus Osteuropa ihr Unwesen. Nathalie hatte nie daran geglaubt, und diese Überzeugung war noch stärker geworden, nachdem sie die Sendung Ungelöste Verbrechen gesehen hatte. Darin war zwar nichts Konkretes erwähnt worden, was die Theorie der Polizei widerlegt hätte, doch der Einschätzung des anwesenden Professors nach gab es in dem Fall diverse Ungereimtheiten. Im Anschluss an die Sendung war Nathalie auf den Dachboden gegangen und hatte die Kisten mit Adams Sachen hervorgekramt. Als sie im Begriff war, den ersten Karton zu öffnen, überlegte sie es sich jedoch anders. Sie hatte nie in diese Kisten hineingeschaut. Kurz nach dem Mord war sie zu traurig gewesen, und später, als sie mit ihrer Trauer umgehen konnte, hatte sie zu große Angst gehabt, erneut von ihr eingeholt zu werden. Außerdem hatte die Polizei den Inhalt bereits gründlich untersucht.

Dieses Mal hatten die Ermittler hoffentlich mehr Erfolg. Vielleicht war der Täter ja bereits gefasst. Vielleicht würde Rickard überleben.

Adam. Rickard.

Zehn Jahre, die plötzlich wie weggeblasen waren.

In einem Moment mühsam erkämpfter Handlungs­fähigkeit ließ Nathalie die Jalousien herunter und wankte ins Bett. Sie zwang sich, die Augen zu schließen, dämmerte ein und wurde schließlich von einem tiefen Schlaf übermannt.

Um halb sieben vibrierte ihr Handy auf dem Schreibtisch. Eine neue SMS erleuchtete das Display:

Schön, dass du gut nach Hause gekommen bist. Ich hoffe, du schläfst jetzt. Du hast es doch nicht vergessen? Freundschaftliche Grüße.

Doch sie träumte bereits von Adam und hörte nichts mehr.

4

UPPSALA, 2004

Als sie nach Hause in die Mietwohnung im Gustaf Kjellbergs Väg kam, war sie völlig erschöpft. Der Tagesdienst in der psychiatrischen Notaufnahme war chaotisch gewesen. Von der Begutachtung zur Unterbringung des psychotischen Lkw-Fahrers, die gleich nach Dienstantritt auf sie gewartet hatte, bis zur Aufnahme der selbstmordgefährdeten Algerierin, deren Ausweisung nun amtlich war, hatte sie gerade mal zehn Minuten Pause gehabt. Der verantwort­liche Oberarzt befand sich auf einer Computerfortbildung, und so hatte sie Entscheidungen treffen müssen, die weit über ihre Kompetenz als Ärztin im Praktikum hinausgingen. Zu allem Überfluss hatte dann während der Mittagspause auch noch ihre Mutter angerufen und sie gebeten, die Einladung zur Vernissage für irgendeine bevorstehende ­Fotoausstellung zu formulieren. Obwohl Nathalie tausend Gründe gehabt hätte, nein zu sagen, hatte sie versprochen, ihrer Mutter zu helfen. Ihr klarzumachen, dass sie keine Zeit hatte, hätte nur doppelt so lange gedauert.

Hoffentlich hat Adam Essen gemacht, dachte sie, als sie die letzten Stufen zu ihrer gemeinsamen Zweizimmerwohnung in der dritten Etage hinaufstieg. Zu ihrer Übe­r­raschung war die Haustür abgeschlossen. War Adam etwa nicht nach Hause gekommen, wie er es versprochen hatte, als sie vor der Nachmittagsvisite miteinander telefoniert hatten? Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Fünf nach sechs. Er hätte schon vor über einer Stunde zu Hause sein sollen.

Sie schloss die Tür auf und ging in die Wohnung. Auf dem Küchentisch standen noch die Reste des Frühstücks. Die Müdigkeit und ihr niedriger Blutzuckerspiegel ließen sie laut fluchen. Über Adams miserablen Sinn für Ordnung konnte sie sich kolossal aufregen. Wütend wählte sie seine Nummer. Nichts. Nur die freundliche Ansage, man solle es später noch einmal versuchen oder sich an die Redaktion wenden.

Sie räumte das Geschirr ab und warf die mit Marmelade bekleckste Tischdecke in die Waschmaschine. Sicher saß er noch an diesem Artikel über das Jugendheim, von dem er letzte Woche geredet hatte, ärgerte sie sich. Oder es war wieder irgendwas mit diesem gekränkten Schauspieler, der ihn neulich in der Universitätsbuchhandlung bedroht hatte. So oder so wurde Adam garantiert von einer seiner Storys aufgehalten – eine wichtiger als die andere und unmöglich in eine Rangfolge zu bringen.

Adam machte oft Überstunden. In letzter Zeit war es eher die Regel als ein Ausnahmefall. Immer gab es irgendwelche neuen Interviews, dringenden Artikel oder Chro­niken, die geschrieben werden mussten. Bisher hatte Na­thalie ihren Unmut noch für sich behalten, aber allmählich hatte sie die Nase voll. In einer Stunde wollten sie zu einer Party im Studentencenter, und vorher waren sie mit Louise, ­Håkan und der übrigen Clique zum Vorglühen bei Frank verabredet. Wenn sie noch eine realistische Chance haben wollte, zu duschen und sich fertigzumachen, hatte sie jetzt keine Zeit, Putzfrau und Köchin zu spielen.

Sie sah Adam vor sich und musste trotz allem lächeln. Darüber, wie ehrgeizig er war, wie er jeden Tag aufs Neue seine Qualifikation beweisen wollte, wie er mit Klauen und Zähnen dafür kämpfte, dass seine Vertretungsstelle bei der Upsala Nya Tidning zum Herbst hin in eine feste Stelle umgewandelt würde. Sie wusste, dass er tief im Inneren Komplexe hatte, weil sie aus einer »vornehmeren Familie« stammte, wie er immer voller Ironie zu sagen pflegte. Adam kam aus einer Arbeiterfamilie – seine Mutter war nach dreißig Jahren als Pflegehelferin wegen gesundheitlicher Pro­bleme in Frührente gegangen, und sein Vater arbeitete als Gabelstaplerfahrer bei einer Kaffeerösterei. Ihre Eltern trugen zwar den gewöhnlichen Nachnamen Nilson, doch ihr Vater Victor war ein angesehener Geschäftsmann, der mehrere Hotels besaß und oft wegen seines Engagements für mehr Gleichberechtigung in den Medien vertreten war. Sonja, ihre Mutter, stammte aus einer adeligen Stockholmer Familie und hatte den Standesdünkel bereits mit der Muttermilch eingesogen.

Nathalie ging ins Bad und warf ihre Kleidung in den Wäschekorb. Nahm den Verlobungsring ab und reinigte ihn mit dem Desinfektionsmittel, das sie aus der Notaufnahme mitgenommen hatte. Als sie unter der Dusche stand und das warme Wasser auf der Haut spürte, musste sie wieder an Adam denken.

Morgen waren sie seit genau neun Monaten verlobt. Sie freute sich aufs Heiraten und Kinderkriegen. Das war ein klares Ziel für sie. Sie stellte sich oft vor, wie ihre zukünftigen Kinder wohl aussehen, wie sie reden und sich bewegen würden. Der Kinderwunsch brannte in ihr und wurde jeden Tag stärker.

Bald war sie fünfunddreißig. Allmählich wurde es höchste Zeit, doch sie wollte es Adam überlassen, einen Termin für die Hochzeit vorzuschlagen. Vielleicht irgendwann im Herbst, hoffte sie und massierte die Pflegespülung ins Haar. Als sie aus der Dusche kam, hörte sie seine Stimme im Flur: »Nathalie? Hallo?«

Obwohl sie Wasser im Ohr hatte, bemerkte sie, wie auf­gewühlt er klang. Schnell wickelte sie sich ein Handtuch um und öffnete die Badezimmertür. Als sie in seine braunen Augen blickte, fand sie ihren Verdacht bestätigt: Irgendetwas war passiert.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete er und zog sich die Schuhe aus.

»Doch, jetzt sag schon! Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.«

»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagte er und warf einen Blick auf die Armbanduhr, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.

Sie legte ihm eine feuchte Hand auf die Wange und sah ihm in die Augen.

»Komm schon, erzähl es mir! Wir haben nicht viel Zeit.«

Er marschierte in die Küche. Trank den restlichen Apfelsaft direkt aus der Tüte und stellte sie anschließend auf der Spüle ab. Dann sah er Nathalie ernst an.

»Ich habe einen Tipp bekommen, deshalb bin ich so spät dran. Daraus kann etwas richtig Großes werden …«

Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, ging einen Schritt auf sie zu und sagte mit einem Ernst, den sie so noch nicht von ihm kannte: »Dafür kann ich den Großen Journalistenpreis bekommen, Nathalie.«

5

STOCKHOLM,

MONTAG, 28. APRIL 2014

Das fahle Weiß ging allmählich in ein helles Orange über, und sie spürte die morgendliche Wärme auf den Lidern. Langsam tauchte sie aus ihrem Traum auf, in dem Adam sich so wirklich angefühlt hatte wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte seine Stimme gehört, ihn umarmt, seinen Geruch wahrgenommen, das Salz seiner Haut geschmeckt. Alles in einer unlogischen Abfolge von Ereignissen, die ihr wie das Natürlichste auf der Welt vorgekommen war.

Die Seele kennt keine Zeit, sagte sie immer, wenn sie Eindrücke aus weit zurückliegenden Phasen ihres Lebens noch einmal mit derselben Intensität durchlebte wie zum ursprünglichen Zeitpunkt.

Adam. Sie versuchte ihn festzuhalten, doch er entglitt ihr und wurde durch die quälenden Bilder von dem Angriff auf Rickard verdrängt. Erneut überkam sie dieses unangenehm unwirkliche Gefühl, mit dem sie eingeschlafen war. Diese erdrückende Finsternis, die sie weder in Worte fassen konnte noch wollte.