Don Quijotes Schwester (eBook) - Root Leeb - E-Book

Don Quijotes Schwester (eBook) E-Book

Root Leeb

4,8

Beschreibung

Eine fantasievolle, von Gerechtigkeitssinn und Hilfsbereitschaft beseelte Studentin, ein weiblicher Don Quijote - das ist AnnaRosa. Sie kämpft jedoch nicht gegen Windmühlen, sondern dafür. Mit oft skurrilen Aktionen tritt sie wie ihr großer literarischer Bruder für Gerechtigkeit ein und gegen Missstände an, die bisweilen nur von ihr selbst wahrgenommen werden: Sie befreit Schweine, heiratet den Bruder eines libanesischen Attentäters, veranstaltet eine Demonstration mit Kindergartenkindern und versucht sich mit Mailing-Aktionen und Blogs in die internationale Politik einzumischen, unterstützt von ihrer Mitbewohnerin Kerstin, ihrem Sancho Pansa. So kennt AnnaRosas heroischer Idealismus keine Grenzen, Realität und Vision verschwimmen, sie taucht oder hebt ab, in Gefilde, in die ihr andere oft nicht folgen können. Und bewegt sich dabei manchmal am Abgrund ihrer Kräfte, strauchelt, stürzt und richtet sich immer wieder auf. Sie, die die Welt retten will, scheint selbst nicht zu retten zu sein. Doch im Gegensatz zu ihrem legendären Vorbild erfährt sie eine leidenschaftliche Liebe ... Ein Roman um eine mutige junge Frau und ihren Traum, die Welt zu retten und gleichzeitig die Geschichte einer Freundschaft die sich immer wieder in verrückten Visionen und Aktionen bewährt.

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Seitenzahl: 343

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Root Leeb

Don Quijotes

Schwester

Roman

ars vivendi

 

Alle hier genannten Orte und Menschen sind real, aber ich habe sie verfremdet und empfehle, nicht in ihnen spazieren zu gehen oder Bekannte zu suchen.

 

 

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage September 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg, unter Verwendung einer Grafik von © frilled dragon/fotolia

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-603-5

 

Für S. und E.

und O. und M.

und H. und I.

und so weiter

 

Inhalt

Prolog

I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 11

 

II

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

 

III

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

 

IV

 

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

 

V

Kapitel 57

Kapitel 58

 

Epilog

 

Die Autorin

 

Die einen werden die Welt für kritisierbar halten, die anderen nehmen sie hin. Die einen werden die Welt für so veränderbar halten, wie man einem Stein mit einem Meißel eine bestimmte Form zu geben vermag, die anderen werden zu bedenken geben, dass sich die Welt samt ihrer Undurchschaubarkeit verändere, wie ein Ungeheuer, das immer neue Fratzen annimmt, und dass die Welt nur insoweit zu kritisieren sei, wie die hauchdünne Schicht des menschlichen Verstandes einen Einfluss auf die übermächtigen tektonischen Kräfte der menschlichen Instinkte besitzt. Die einen werden die anderen Pessimisten schelten, die anderen jene Utopisten schmähen.

 

Friedrich Dürrenmatt, »Das Sterben der Pythia«

 

 

 

 

Natürlich hab ich leider recht

Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.

Wir wären gut – anstatt so roh

Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

 

Bertolt Brecht, »Die Dreigroschenoper«

 

Prolog

Alles begann mit dem Hahn. Sie hätte ihn retten müssen. Sie hieß noch Annarosa und war an diesem Tag genau fünf Jahre alt. Auf diesen Geburtstag hatte sie sich besonders gefreut, und dann passierte das.

Sie war mit ihren Eltern und der Schwester in einem Gebirgsdorf in Frankreich angekommen. Die Nachmittagsgewitter waren zum Abend hin stärker geworden, und Annarosa war traurig, weil ein Geburtstag auf Reisen nicht schön ist. Auch bei Sonnenschein nicht. Sie hatte keine ihrer Freundinnen dabei, kannte außer der Familie niemanden, und sie verstand nicht, warum sie ausgerechnet in diesem Ort übernachten sollten, so hoch in den Bergen, so alt, fast wie in der Bibel, und auch so urtümlich und erhaben. Sie wusste als Kind diese Worte noch nicht, aber sie fühlte sie. Der Gasthof eine Trutzburg, mit dicken, nass glänzenden Mauern und gewölbten dunklen Gängen. Es roch modrig, und das Versprechen, dass die Reise gleich am nächsten Morgen weiter in Richtung Süden ans Meer gehen werde, tröstete sie wenig.

Nur das Gepäck für eine Nacht, einen Koffer und zwei kleine Taschen, hatten sie in ihr Zimmer bringen lassen. Zu viert würden sie in diesem einen Raum mit den hohen, grob verputzten Wänden schlafen. Es war klamm und kalt, im Sommer wurde nicht geheizt, auch wenn die Kinder mit den Zähnen klapperten. Annarosa beschloss, zum Schlafen zu ihrer Schwester Melissa ins Bett zu kriechen. Sie flüsterte ihr das ins Ohr, und Melissa, die Ältere, wollte noch überlegen, da sagte Annarosa schnell, sie wünsche sich das zum Geburtstag. Melissa lächelte und legte ihr den Arm um die Schultern. Eine gute große Schwester.

Zum Händewaschen goss die Mutter den Kindern Wasser, kalt wie geschmolzenes Gletschereis, in eine Schüssel. »Kommt direkt vom Nordpol« und »was einen nicht umbringt, macht stark«, sagte der Vater, lachte und rubbelte ihnen die kleinen steifen Finger wieder warm. Dann gingen sie gemeinsam in den großen Speisesaal.

Sie bestaunten die steil gewölbte Decke, die hohen Fenster und die Stühle mit den geschnitzten Lehnen und hatten sich gerade zu den anderen Gästen an den großen runden Holztisch gesetzt, den einzigen im Raum, da kam der Hahn.

Stolz, mit funkelndem Blick, schien er zu sagen »seht her, da bin ich!«. Obwohl er aufgeregt und in Not war. Der Hausherr, wohl gleichzeitig der Koch, trug ihn lächelnd einmal um den Tisch, zeigte Beifall heischend das kräftige Tier, ein Prachtexemplar. Genau richtig für ein feierliches Geburtstagsessen. Annarosa war entsetzt, weil der Mann jetzt den Hals des Tieres mit seiner kräftigen Hand weit zurückbog. So weit, dass der Hahn den Schnabel aufriss. Annarosa erstarrte vor Mitgefühl. Der Hahn funkelte sie an, ja, sie war ganz sicher, dass er ihr zugezwinkert hatte. Nur ihr, obwohl doch auch andere Leute am Tisch saßen.

Der Hahn hatte sie gemeint, vielleicht wusste er, dass sie es war, die Geburtstag hatte, sie die Ursache für das Festessen und seinen Tod sein würde, sie musste ihn retten. Stattdessen begann sie zu weinen.

Was dann kam, sah sie nicht richtig, obwohl sie mit weit aufgerissenen Augen dabeisaß. Ein Helfer, vielleicht ein Küchenjunge, ging zum Wirt, reichte ihm ein langes Messer, das nur kurz durch die Luft schwebte, und schon schoss ein Strahl sehr dunklen Blutes aus dem Hals des Hahns; eine Frau, aus dem Nichts erschienen, drückte ein Gefäß an die Wunde, um die schwarz-rote Flut aufzufangen.

»Doch nicht vor den Kindern«, hörte Annarosa ihre Mutter aus großer Ferne. Es klang entrüstet und zugleich ein bisschen hilflos.

Annarosa würde später keinen Bissen zu sich nehmen. Obwohl sie noch so klein war und gar nichts zur Rettung des Hahns hätte tun können, sah sie das Folgende als Strafe Gottes.

Nach dem Essen, der Regen hatte aufgehört, ein flackerndes Abendrot glühte durch die schmalen Fenster, gingen alle nach draußen, denn es gab ein großes Dorffest mit Musik und Feuerwerk, »extra dir zu Ehren«, sagte der Vater. Was Annarosa glaubte und sie stolz machte.

Die Luft war jetzt wieder sommerlich, wenn auch noch frisch, es roch sehr würzig, und gleich vor dem Tor des Gasthofs wurden sie von Menschenmengen mitgezogen, die zum Marktplatz strömten, wo das Feuerwerk gezündet werden sollte. Die Dunkelheit kam schnell, die Familie blieb eng zusammen, und sobald das Schieben und Drücken es zuließ, zog der Vater sie zu einem freien Platz an einer Hauswand, von der die Erwachsenen ungehinderten Blick auf das Geschehen hatten. Die Kinder reckten die Hälse und schauten in den Himmel.

Da passierte es. Gerade war die erste Salve in die Luft gegangen, hatte sich mit Geknatter, Krachen und scharfem Zischen in rotbunte Glitzersterne zerstäubt, die Menschen auf dem Platz riefen laut Ah und Bravo, da öffnete sich hinter Annarosa die Hauswand, sie schwankte und stürzte nach unten. Sehr tief, sehr schwarz, sehr still war es. Sie war weich gefallen, hatte sich nicht verletzt. Aber sie war wie gelähmt vor Angst. Erst nach einer Weile stand sie auf, zupfte die Strohhalme von ihrem Kleid, zur Feier des Tages hatte sie ihr weißes Kleid mit den aufgestickten Kirschen an, und wartete auf den Auftritt Gottes oder des Teufels. Vielleicht kamen ja beide, um über sie Gericht zu halten. Ich muss ordentlich aussehen, dachte sie und strich sich schnell die Haare aus dem Gesicht.

Sie wartete eine Ewigkeit. Nichts geschah.

Dann begann sie zu rufen, erst zaghaft, dann immer lauter. Jetzt hörte sie auch wieder ein Krachen, wie aus weiter Ferne. Und ein Raunen. Sie hatte große Angst. Alles wegen dieses schönen Hahns, der gestorben war, weil sie es nicht verhindert hatte. Alles, weil sie Geburtstag hatte.

Sie machte ein Gelübde.

Da öffnete sich plötzlich ein großes Tor, dasselbe, durch das sie zuvor in diesen alten verlassenen Stall gefallen war. Lärm schwallte herein, dahinter Menschen, die Mutter, der Vater, Melissa und viele, die sie nicht kannte. Alle sprachen in verschiedenen Sprachen durcheinander, jemand holte eine Fackel. Sie war gerettet. Und hatte die Warnung verstanden.

 

I

 

1

Manchmal endet eine Spanne Zeit mit einem Geräusch wie dem leisen Platzen einer Seifenblase oder, etwas lauter, dem Schnalzen der flachen Zunge am Gaumen. Und manchmal sind in dieser Zeit Dinge geschehen, die lange erinnert werden, die Eindrücke, manchmal tiefe Narben hinterlassen. Zwanzig Jahre waren vergangen, und Annarosa hatte nichts vergessen.

Auch ich war erwachsen geworden, hatte mein Studium abgeschlossen und arbeitete in der psychiatrischen Klinik der Universität. Ich war jedoch oft in der Stadt, in der Annarosa noch studierte, nie ganz zufällig. Auch wenn ich immer so tat, als ob. Ihr Studium würde noch dauern, sie war vier Jahre jünger als ich, und sie wollte den Dingen auf den Grund gehen.

Sie muss zu der Zeit schon diese ganzen Bücher gelesen haben, die dann viel, viel später zu mir, auf mich (wenn man die Belastung in Betracht zieht) gekommen sind. Dicke Wälzer über Zivilisationsgeschichte, Kulturgeschichte, Wirtschaftskritik, Das Prinzip Verantwortung und im Gefolge diese utopischen Weltrettungsmodelle.

Was studiert man, wenn man die Welt retten will? Annarosa hatte sich nach einigen Umwegen, die sie selbst sicher nicht so bezeichnet hätte, für Ethnologie entschieden, im Hauptfach. Sie würde die Menschen, nein, die Menschheit kennenlernen, meinte sie, wenn sie möglichst viele Völker verstand und erforschte. Ihr Professor war Universalienforscher und sah genau darin ein friedenstiftendes Potenzial. Annarosa war natürlich sofort überzeugt. Als Nebenfach (Luxus, wie sie sagte) hatte sie Archäologie gewählt. Auch da suchte sie nach Universalien, wollte etwas finden, das allen gemeinsam war. Nicht nur, was die Menschen der Gegenwart an verschiedenen Orten machten und wie sie es machten, wollte sie wissen, sondern dazu, im Vergleich, wie die Menschen früher gelebt hatten. Vielleicht, sagte sie, gebe es doch eine Verbindung zwischen uns allen, und wir hätten mehr Gemeinsames als Trennendes. Ich nickte nur.

Warum ich Psychologin geworden war, verstand jeder, der unsere Familie kannte. »Problematisch« ist wohlwollend formuliert. Schon vonseiten der mütterlichen Familie, den Nielsens, hatten wir ein gewaltiges Maß, mindestens eine Tonne, an Belastung und krankhaften Störungen vererbt bekommen. Ich konnte also gar nicht anders, als nach Erklärung und Heilung zu suchen. Das entwickelt sich manchmal wie bei einer Gewitterfront, die Probleme kumulieren wie Wolken, türmen sich auf, bis es kracht. Ich hätte der erlösende Platzregen sein sollen, der alles reinigt. Aber es fehlte der Temperaturunterschied. Wir waren uns zu ähnlich, und so war ich selbst oft nur Blitz und Donner, war Begleitmusik ohne Erlösung.

Ich heiße Melissa. Mit dem Namen hatte ich noch Glück, verglichen mit Annarosa. Auch wenn er nur durch das Unglück einer anderen auf mich kam. Die ältere Schwester der Mutter, nein, sie war nicht meine Tante, sie hatte nicht so lange warten können, hatte sich Jahre vor meiner Geburt das Leben genommen. Siebzehn war sie damals gewesen. Dass sie dadurch umgehend zur Familienheiligen werden würde, hatte sie sicher nicht geahnt oder gar beabsichtigt. Jeder fühlte sich ihr gegenüber schuldig. Ihre jugendlichen Depressionen, heute würde man sie wahrscheinlich als Bipolare Störungen diagnostizieren, nahm niemand ernst, und dann hat sie es allen gezeigt. Und ausgerechnet meine Mutter, die zu der Zeit ja noch niemandes Mutter war und einfach Linda hieß und die als Jüngste wirklich nichts hätte tun können, erkaufte sich später ihre Absolution, ihren Ablass, indem sie ihrer Erstgeborenen, also mir, den Namen dieser Schwester gab. Melissa, nicht übel – solange man die Geschichte dahinter nicht kennt. Nur unsere Mutter, nach Aussagen anderer selbst von Anfang an alles andere als stabil, war nach der ganzen Geschichte ängstlich und versteckte sich, als wir dann auf die Welt kamen, hinter einer Fassade aus Stärke und Strenge und beobachtete genau, ob auch alles richtig lief, wir alle »normal«, gesund und glücklich waren. Der Vater übernahm seinen Teil und war also doppelt besorgt, um seine Frau, deren Gefährdung ihm bekannt war, und um uns, seine Töchter. Ich konnte mich durch die Wahl meines Berufes befreien, war zur Fachfrau für die seelische Gesundheit meiner Familie aufgestiegen. Ich würde mich ja jetzt auskennen, dachten sie und strichen mich aus ihrem Sorgenkinder-Fürbittenverzeichnis. Spätestens ab da blieb alles an Annarosa hängen. Kein Wunder, dass sie schlechte Karten hatte. Alle Ängste, alle Fürsorge konzentrierten sich auf sie. Aber sie hatte mich. Ich habe meine kleine Schwester schon als Kind nur dann beschützt, wenn sie das wollte, und später, als sie meinen Schutz nötig hatte, aber nicht mehr darum bitten konnte (warum auch immer), habe ich gelernt, es sie nicht spüren zu lassen. Jetzt ist das vorbei. Ich kann sie nicht mehr beschützen.

Mit ihrem Namen hatte Annarosa mehr Pech. Bei ihr stritten die beiden Großmütter derart eifersüchtig um die Vererbung ihres Namens, dass unsere Eltern sich für einen Kompromiss entschieden und aus Anna und Rosalind kurzerhand Annarosa komponierten. Was wir Mädchen beide sehr schrecklich fanden. Aber Annalind oder Rosanna wäre noch furchtbarer gewesen, in unseren Augen.

Annarosa hat dann an sich gearbeitet. An ihrem Mut und an ihrem Namen. Wenn man Annarosa hieß, gab es nur eine Rettung. Anna alleine war schön, klang nach Blau, war aber zu häufig und würde zu Verwechslungen führen, fanden wir. Rosa kam überhaupt nicht in Frage. Würde nach kleine Mädchen, zickig und Weichspüler klingen, sagte meine Schwester. Keine Frau mit einem Funken Verstand würde sich freiwillig Rosa nennen. Ein schwuler Mann, ja, um ein Zeichen zu setzen, so wie eine lesbische Frau sich vielleicht Lila nennt. Ihr blieb nur diese eine Möglichkeit. Das große R in der Mitte. AnnaRosa. Ich fand das gut. So konnte sie die von den Eltern erzwungene Verbindung der beiden Großmütter zwar nicht aufheben, aber am Schnittpunkt sichtbar machen. Alle stolperten darüber, und ihr machte es Spaß. Sonst hatte sie nicht viel zu lachen, es war eher so, dass die anderen über sie lachten, über ihre Sicht der Welt und ihre Art, die Probleme des Daseins, die diese anderen gar nicht oder anders sahen, zu bekämpfen.

Deshalb war es gut, dass ich da war.

Vor Jahren, als unsere Eltern eines Tages nicht mehr über sie lachen konnten, sie AnnaRosas Sicht der Welt nicht mehr lustig fanden, steckten sie das Mädchen, sie war damals knapp fünfzehn, in eine Nervenheilanstalt. Was aber nichts änderte. Oder vielleicht doch. Irgendwie war AnnaRosa danach erst richtig wunderlich geworden. Vielleicht hatte das aber auch mit dem darauffolgenden Umzug zu tun.

Wenn man ihren Namen hörte, kam man nicht auf die Idee, dass AnnaRosa noch jung war. Fünfundzwanzig Jahre. Auch wenn sie sprach, vor allem mit Fremden, legte sich ihrem Gegenüber das Wort gesetzt auf die Zunge. Ihre Ansichten, ihre Vorlieben, ihr Lebensstil ließen sie wie ein Relikt aus einem anderen Jahrhundert erscheinen, ein Fossil. Und ich selbst kam mir manchmal vor wie eine sehr viel jüngere Schwester.

Wer kannte schon eine Frau, die mit fünfundzwanzig noch nie in einem Club gewesen war. Noch nie in einem Fitnesscenter. Die keine laute Musik mochte und keine Schnelligkeit, die abschätzig, ja ablehnend auf die vielen elektronischen Geräte schaute, die unser Leben erleichtern und bunt machen (sie selbst wählte sehr genau, was sie für ihre Zwecke benützte). Die genau drei Eskapaden, wie sie es nannte, mit Männern hinter sich hatte, glücklicherweise, wie sie betonte. Eine Frau, deren Lebensmotto lautete: brauch ich nicht, mach ich alleine, kann ich selbst am besten.

Was sichtlich nicht stimmte. Man musste nur einen Blick auf ihre selbst gestrickten Pullover, ihre gewebten und genähten Röcke und vor allem auf ihre in Wochenendworkshops hergestellten Schuhe werfen. Sie sah aus wie die Bewohnerin eines Flüchtlingscamps oder wie einem Flyer entsprungen, der zur Rettung indigener Völker aufruft. Alles Natur, Wolle, Baumwolle, echt Leder, sehr schöne Farben – aber nichts passte ihr, alles schlotterte, flatterte, wirkte grob, vor allem die Schuhe. Wir haben uns in der Familie oft über ihr Aussehen lustig gemacht, ja, sie manchmal direkt ausgelacht. Andere dachten wohl einfach: Schade um diese schöne junge Frau. Denn tatsächlich war sie eine hübsche junge Frau. Was ich erst jetzt überdeutlich sehe. Sie hat mir einen Karton mit Fotografien hinterlassen. Jemand (dieser B. vielleicht?) muss eine ganze Serie Aufnahmen von ihr gemacht haben. Nahaufnahmen in Schwarz-Weiß von ihrem Gesicht, der Augen­partie. Wie eine Landschaft mit glasklarem See, tiefes Schwarz in der Mitte, der Schwung des Augenlids die Wiederholung der gewölbten Braue. Auf anderen Bildern meine Schwester in irgendeiner Stadt als elegant anmutende Frau, in einem (für ihre Verhältnisse) engen Rock mit feminin geschnittener Bluse. Und noch ein Bild, meine Schwester im Bikini! Mit nassen, nach hinten fließenden Haaren. Sie lächelt glücklich (verliebt?) in die Kamera. Man sieht ihr Grübchen auf der linken Wange. Sie hatte nur eines, und das nicht von Geburt an, sondern von mir. Das hatte eine eigene Geschichte. Ich drehte das Bild um. Für meine Amorosa, aha, dachte ich, also doch.

Für AnnaRosa war jede Geschichte ein Geschenk (für das Drehbuch des Lebens, wie sie einmal lachend sagte), also das Beste, was einem Menschen passieren konnte, selbst wenn sie schlecht ausging. Für mich jedenfalls war diese Geschichte mit dem Grübchen damals nur schrecklich. Sie war elf Jahre alt, ich gerade fünfzehn geworden, wir waren als Familie wieder einmal unterwegs nach Südfrankreich, und an irgendeinem kleinen, für uns immer namenlos gebliebenen Nebenflüsschen der Yonne machten wir Pause. Die Gegend war mückenreich, was wir sofort, und der Fluss fischarm, was wir erst später feststellten. Nach der kurzen frugalen Mahlzeit legten sich die Eltern unter einem Moskitonetz schlafen, während AnnaRosa und ich mit der neuen Angel loszogen. Eigentlich war es ihre, sie hatte sie vom Vater zum Geburtstag bekommen. Wir hatten beide keine Ahnung vom Angeln (die Einführung stand für Vater erst später auf dem Programm), aber ich als Ältere musste natürlich so tun, als ob. »Schau, so macht man das«, rief ich, holte mit weitem Schwung aus, um die Schnur mit Senkblei, dem Angelhaken und unserem Brotkügelchen möglichst weit in die Mitte des Flusses zu werfen. In dem Moment schrie AnnaRosa hinter mir auf, nicht aus Begeisterung. Das war mir sofort klar, als ich mich umdrehte. Sie hatte den Angelhaken ins Gesicht bekommen, er steckte mitten in der Wange. Natürlich kamen die Eltern sofort. Sie sahen, wie sie später immer wieder erzählten, eine sich vor Lachen biegende AnnaRosa, die das Ganze unglaublich komisch fand. Offensichtlich tat es ihr nicht so weh wie uns allein der Anblick. Ich selbst war wie gelähmt, aus der Stelle, in die sich der Haken gebohrt hatte, lief das Blut in einem dünnen Rinnsal neben ihrem Mund das Kinn entlang. Das Blut erschreckte mich, und auch AnnaRosas Lachen – und meine Schuld. Der Schlag des Vaters in mein Gesicht tat gut (erst später begriff ich, dass es eine Schockreaktion in bester Kombination mit seinem Jähzorn war) und holte mich zurück. Wir mussten den Haken von der Angelschnur abschneiden, der kleine Widerhaken steckte zu fest. Und beim Versuch, ihn herauszuziehen, hatte AnnaRosa begonnen zu schreien. Die Mutter bekam fast einen Nervenzusammenbruch und konnte sich auch nicht beruhigen, nachdem in der nächsten Kleinstadt ein Arzt den Haken schon längst entfernt, die Wunde versorgt und AnnaRosa mit Pflasterverband und einem Vorrat an Desinfektionsmitteln entlassen hatte. Es hätte ins Auge gehen können, lamentierte sie, es hätte einen Nerv treffen, eine Blutvergiftung hervorrufen … hätte, hätte, hätte. Nichts von alldem war und nichts von alldem kam.

Nur dieses Grübchen blieb, das in den folgenden Jahren mit AnnaRosa mitwuchs und eigentlich eine Narbe war.

2

Ach, November, man kann so leicht umkommen. Genau die Zeit zu sterben. AnnaRosa litt und ergriff jeden Strohhalm, um nicht unterzugehen. Natürlich konnte Melissa, die begleitende Wolke, die Allgegenwärtige, nicht alles wissen. Auch wenn AnnaRosa ihr so vieles anvertraute und auch wenn Melissa als Psychotherapeutin anderes erforschte, erkannte und als Schwester erahnte. Also vieles von dem wusste, was in AnnaRosa vorging. Das, was vorwiegend nachts über AnnaRosa herfiel, diese grauenhafte Welt-Endzeit-Angst im Paartanz mit schmerzhaften Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühlen, die wiederum der niederdrückenden übermächtigen Verantwortung für diese Misere der Welt entsprangen, konnte sie niemandem schildern. Auch dass sie sich in diesen Nächten mit Beruhigungsmitteln, Tabletten und Tropfen ungeklärter Provenienz ihr Überleben bis zum nächsten Morgen sicherte, behielt sie für sich. Das heißt, sie schrieb es auf, für wen auch immer.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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