Don't HATE me - Lena Kiefer - E-Book

Don't HATE me E-Book

Lena Kiefer

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Beschreibung

Er hat sie belogen.
Sie will ihn vergessen.
Aber das Schicksal hat andere Pläne.


KENZIE hat sich geschworen: nie wieder Kontakt mit dem Henderson-Clan. Nachdem Lyall ihr Herz gebrochen hat, will sie sich nur noch auf ihr Studium konzentrieren. Doch dann erhält sie von Theodora Henderson das verlockende Angebot, ein Resort auf Korfu mitzugestalten. Kenzie ergreift die Chance – ohne zu wissen, was sie dort erwartet.

LYALL versucht alles, um Kenzie zu vergessen, nachdem sie ihn als Lügner entlarvt und verlassen hat. Die Pläne für den Familienkonzern stehen für ihn nun an erster Stelle. Als seine Mutter Hilfe bei ihrem Hotel-Projekt in Griechenland benötigt, überlegt er nicht lange. Er ahnt jedoch nicht, wie sehr sein Herz dort auf die Probe gestellt werden wird …

Alle Bände der Don't-Trilogie:
Band 1 – Don't Love Me
Band 2 – Don't HATE me
Band 3 – Don't Leave Me
Shortstory – Don't Kiss Me (Nur als E-Book verfügbar)

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Seitenzahl: 554

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Autorin

Lena Kiefer wurde 1984 geboren und war schon als Kind eine begeisterte Leserin und Geschichtenerfinderin. Einen Beruf daraus zu machen, kam ihr jedoch nicht in den Sinn. Nach der Schule verirrte sie sich in die Welt der Paragraphen, fand dann aber gerade noch rechtzeitig den Weg zurück zur Literatur und studierte Germanistik. Bald darauf reichte es ihr nicht mehr, die Geschichten anderer zu lesen – da wurde ihr klar, dass sie Autorin werden will. Heute lebt Lena Kiefer mit ihrem Mann in der Nähe von Bremen und schreibt in jeder freien und nicht freien Minute. Mit der »Don’t«-Reihe startet sie nach dem Erfolg ihrer »Ophelia Scale«-Trilogie nun ihr erstes New-Adult-Projekt.

Von Lena Kiefer sind bei cbj erschienen:

Don’t LOVE me (Band 1) Don’t KISS me (E-Short) Ophelia Scale – Die Welt wird brennen (Band 1) Ophelia Scale – Der Himmel wird beben (Band 2) Ophelia Scale – Die Sterne werden fallen (Band 3) Ophelia Scale – Wie alles begann (E-Short)

Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader

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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin unter Verwendung zweier Motive von © Gettyimages (oxygen/Moment) sh • Herstellung: AJ Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Für Kathrin,

weil du die Kenzie für meine Willa bist.

1

Lyall

Der Lake Michigan sah um diese Jahreszeit aus, als wären wir auf einem fremden Planeten. Eis, so weit das Auge reichte, teils gebrochen, übersät mit Kristallen und Schnee. Ich stoppte und besah mir das surreale Bild, genau wie zahlreiche Leute entlang des Ufers, die ihre Smartphones gezückt hatten und das Schauspiel mit der Kamera festhielten. Meine eigene Faszination hielt sich in Grenzen, stattdessen war ich genervt. Zwar hatte ich nichts gegen Kälte, aber in diesem Fall bedeutete sie, dass ich schon seit Monaten nur im Indoor-Pool meines Wohnhauses schwimmen konnte und nicht draußen. Wahrscheinlich hätte ich vor dreieinhalb Jahren doch besser den Studienplatz in Los Angeles annehmen sollen.

Ich skippte auf meinem Kopfhörer zum nächsten Track in der Running-Playlist und setzte mich wieder in Bewegung. Eisiger Wind blies mir um den Kopf, als ich Richtung Navy Pier joggte, auf den Ohren Water von Bishop Briggs. Ich ließ die Vergnügungsmeile rechts liegen und schlug den Weg abseits der Luxusgeschäfte ein, die links begannen. Es war ein typischer Januartag, grau und irgendwie düster, sodass man glatt vergessen konnte, dass es bald wieder Frühling sein würde. Vielleicht lag das aber auch nur an mir.

Ich wich zwei Leuten aus, die Fotos vor dem Disney Store machten, und wurde langsamer. Vor mir ragte das John Hancock Center auf, dessen beeindruckender Fassade ich nach über drei Jahren in dieser Stadt immer noch nicht müde wurde. Der Teil meines Herzens, der für Architektur schlug, hüpfte erfreut bei diesem Anblick. Was gut war, denn so wusste ich, dass es noch zu Emotionen fähig war. Theoretisch zumindest.

Die Kälte wurde beißender, also steuerte ich auf direktem Kurs meine Wohnung an und war froh, als ich ins warme Foyer kam. Der Portier grüßte mich freundlich, und ich erwiderte es, bevor ich den Aufzug nach oben zu meiner Wohnung nahm, mir ein Handtuch aus dem Schrank schnappte und dann ins Untergeschoss fuhr, wo das Apartmenthaus über ein Schwimmbad verfügte. Das war mir im Gegensatz zur Aussicht oder der Größe der Wohnung damals am wichtigsten gewesen.

Das Becken war verlassen, niemand schien es am späten Nachmittag benutzen zu wollen. Ich zog die Trainingsklamotten aus und sprang nach einer schnellen Dusche ins Wasser, zog meine Bahnen, fast eine Stunde lang. Wie immer fegten mir die Stille und der sanfte Druck auf meinen Ohren alle Gedanken aus dem Kopf. Zu schwimmen war die einzig wirksame Methode, wie ich zur Ruhe kam. Mich von den Gefühlen frei machen konnte, die mich seit Ewigkeiten quälten, von dem Schmerz, der Schuld, dem Abgrund, der sich immer wieder vor mir auftat. Die Schwärze, die sich sonst nur ab und zu gemeldet hatte, war nun mein ständiger Begleiter. Als ich schließlich auftauchte und ausatmete, fühlte ich mich jedoch etwas leichter. Ich sank für einen Moment auf die Liege neben dem Ausgang und atmete durch.

Da sprach mich jemand an.

»Hey, Lyall. Was für ein Zufall. Ich wusste gar nicht, dass du auch um diese Zeit schwimmst.«

Ich sah auf.

»Hey, Sophia. Ist eigentlich nicht meine Zeit, aber ich habe noch an der Projektarbeit gesessen, deswegen bin ich spät dran.«

Sophia wohnte zwei Stockwerke unter mir, ein hübsches Mädchen mit dunklen Haaren, hellen Augen und einer Figur, die selbst meinen Cousin Finlay hätte interessiert aufsehen lassen. Außerdem studierte sie wie ich Architektur, so viel hatte ich auf dem Flur schon erfahren, als sie vor ein paar Wochen eingezogen war.

»Ich habe übrigens die Doku über Norman Foster gesehen, die du mir empfohlen hast«, sagte sie. »Die war echt krass interessant. Keine Ahnung, wieso ich sie noch nicht kannte, wo ich doch so auf strukturellen Expressionismus stehe.«

Ich nickte. »Sag ich doch, es ist ein Geheimtipp.«

»Wo du das erwähnst …« Sie lächelte. »Ich wollte mir heute Abend Pizza holen und die anderen Geheimtipps von dir ansehen. Hast du Lust? Meine Couch ist gestern endlich angekommen, wir müssten also nicht einmal auf dem Boden sitzen.«

Es wäre so leicht gewesen, darauf einzugehen. Mit ihr etwas zu essen, die Dokumentation zu gucken, über Architektur zu quatschen, vielleicht mehr. Wäre ich ein normaler Typ gewesen, hätte ich keine Sekunde darüber nachgedacht. Aber Sophia war keines der Mädchen, mit denen man ins Bett ging und sie danach vergaß. Und ich suchte definitiv nicht nach mehr als Sex. Wenn mich der letzte Sommer eine Sache gelehrt hatte, dann, dass eine Beziehung etwas war, das ich nie haben konnte.

»Würde ich gerne, aber ich habe bald Abgabe für die Projektarbeit und sollte vernünftig sein«, sagte ich deswegen.

Sophias Lächeln wurde schwächer. Jeder Mensch, der auch nur ansatzweise zwischen den Zeilen lesen konnte, musste meine Worte als Abfuhr verbuchen.

»Klar«, antwortete sie also gedämpft. »Uni geht vor.«

»Ja, leider.« Ich hängte mir das Handtuch um den Hals und nahm meine Sachen. »Wir sehen uns.«

Sie nickte nur, und ich ging, ihre Enttäuschung im Nacken. Es war richtig gewesen, sie abblitzen zu lassen, aber es tat mir dennoch leid. Sophia konnte nicht wissen, dass ich sie weder zu wenig interessant noch zu wenig hübsch fand. Sie konnte nicht wissen, dass mein Herz nicht nur gebrochen war, sondern auch besetzt. Dass ich manchmal auf meine Lernunterlagen starrte und nichts davon sah, weil nur sie in meinem Kopf war.

Kenzie.

Fast fünf Monate war es her, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Seit sie mich auf der Straße außerhalb von Kilmore angefaucht hatte, ihr die Wahrheit zu sagen. Immer noch sah ich ihren Gesichtsausdruck vor mir, diese Mischung aus Abscheu, Fassungslosigkeit und Kummer. Und einen Funken Hoffnung darauf, dass das, was sie erfahren hatte, gelogen war.

Ich hatte diesen Funken erstickt. Und sie war gegangen. Für immer.

Seither hatte ich nicht ein einziges Mal versucht, sie anzurufen. Klar, ich hatte oft das Telefon in der Hand gehabt und »Miss Bennet« vor mir auf dem Display gesehen, aber ich hatte nie auf das Symbol mit dem Hörer gedrückt. Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Wie ich das erklären oder wiedergutmachen konnte. Oder ob ich es sollte, wo sie ohne mich doch viel besser dran war. Also hatte ich es gelassen. Ihre Nummer war zwar noch da, und manchmal sah ich sie, wenn ich nach einem anderen Kontakt suchte. Gewählt hatte ich sie jedoch nie.

Wie hatte ich glauben können, dass sie das mit Ada nie erfahren würde? Oder, noch dümmer, dass sie nicht gehen würde, wenn sie Bescheid wusste? Das waren nur zwei der Fragen, die mich seitdem quälten. Aber mit der Zeit waren sie leiser geworden, denn ich kannte die Antwort: Weil ich mich Hals über Kopf in Kenzie verliebt und darauf gehofft hatte, alles andere wäre unwichtig.

Ich fuhr hoch in meine Wohnung und schaltete meinen Laptop ein, um nach den Mails zu sehen. Eine davon war von meinem Cousin Logan, der vor Kurzem seinen Abschluss gemacht hatte und jetzt unsere Augen und Ohren im Familienrat war. Seit er einen Platz am Tisch bekommen hatte, wussten wir – die jüngere Generation, die unsere Familie in naher Zukunft auf einen neuen Kurs bringen wollte – viel besser, was vor sich ging, und ich konnte schneller reagieren, um die Informationen zu nutzen. Immerhin, an dieser Front lief also alles nach Plan.

Als ich aus der Dusche kam und mich abtrocknete, vibrierte mein Telefon nebenan auf dem Bett. Ich steckte das Handtuch um meine Hüften fest und nahm den Anruf an.

»Hey, Mum. Zweimal in einer Woche? Hast du etwa nichts zu arbeiten?«

»Haha«, kommentierte meine Mutter den Scherz. »Vielleicht möchte ich ja nur ab und zu hören, wie es meinem Lieblingssohn so geht?«

»Du hast nur einen Sohn.«

»Ach, Details. Wie geht es dir, mein Schatz?«

Ich unterdrückte ein Seufzen. Seit mich meine Mutter vor ein paar Wochen besucht und festgestellt hatte, dass ich eigentlich nur noch in die Uni und zum Sport ging – wenn ich nicht gerade lernte – hatte sie beschlossen, sich zu sorgen. Dabei hatte sie keine Ahnung, warum ich mich in mein Studium vergrub.

»Mir geht es gut, Mum«, versicherte ich ihr. »Genau wie am Mittwoch. Und in der Woche davor. Du hast keinen Grund, dir Gedanken zu machen.«

Sie unterdrückte ihr Seufzen nicht. »Dann gehst du wieder aus? Hast Spaß? Oder Dates?«

»Klar«, log ich. »Ständig.«

»Du bist ein grauenhafter Lügner.«

Etwas an dem Satz packte mein Inneres und mir blieb mit einem Schlag die Luft weg. Diese Worte waren so gängig, und trotzdem lag ich mit einem Mal wieder blutend auf dem dunklen Weg in Kilmore, Kenzie im Schein der Handytaschenlampe über mir, während sie genau diesen Satz sagte. Aber sie hatte unrecht gehabt, ich war ein hervorragender Lügner. Das hatte sie wenig später selbst gemerkt.

»Ich habe Spaß, okay?«, brachte ich heraus.

»Gut.« Mum wirkte nur halb überzeugt. »Was ist eigentlich mit der Einladung?«

»Welche Einladung?« Ich gab mich unschuldig. Meine Post lag auf dem Schreibtisch am Fenster, darunter auch ein schwerer Umschlag aus teurem Papier, bedruckt mit dem Logo der Henderson-Hotelgruppe. Ich ging hinüber und nahm ihn in die Hand, zog die Karte aber nicht heraus. Ich hatte den Brief schon letzte Woche geöffnet und wusste, was drinstand.

Lieber Mister Lyall Henderson, anlässlich der Eröffnung der Erweiterung unseres Hotels laden wir Sie herzlich zu unserer Eröffnungsfeier am 1. Februar ins Kilmore Grand ein. Abendgarderobe wird erbeten. Antwort bis 18. Januar. Wir freuen uns auf Ihr Kommen, Moira Henderson und das Team des Kilmore Grand.

»Die Einladung, auf die du Moira hin abgesagt hast.«

Wieder zog sich etwas in mir zusammen. »Ah, richtig, die Einladung. Und?« Mit einem präzisen Wurf beförderte ich den Umschlag in den Papierkorb am anderen Ende des Raums. Ich würde ganz sicher nicht zu der Eröffnung gehen.

»Muss ich dir das wirklich sagen?«, fragte meine Mutter. »Man erwartet dich dort. Du warst an dem Projekt beteiligt, außerdem wünscht deine Großmutter die Anwesenheit der gesamten Familie. Nach Weihnachten solltest du dir das wirklich nicht erlauben.«

Richtig, Weihnachten. Da hatte ich eine Grippe vorgetäuscht, um nicht anreisen zu müssen. Grandma hatte natürlich die Nase darüber gerümpft, aber doch eingesehen, dass ich in meinem Zustand besser nicht an den familiären Feierlichkeiten teilnahm.

»Gibt es einen Grund, warum du nicht nach Kilmore willst?«, fragte Mum weiter.

Ich schwieg, weil mir darauf keine Antwort einfiel. Zwar hätte ich ihr die Wahrheit sagen können, aber damit eine riesige Lüge aufdecken müssen: Meine Mutter glaubte nämlich, dass ich mich von Kenzie getrennt hatte, um meine Zukunft nicht zu gefährden. Nachdem sie im Sommer aus Kilmore verschwunden war, hatte ich niemandem außer Finlay erzählt, dass Kenzie über Ada Bescheid wusste. Denn wenn jemand aus der Führungsriege etwas davon erfahren hätte, dann wäre Kenzie unter Beschuss geraten. Man hätte sie Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen lassen und ihr Geld geboten, damit sie den Mund hielt. Nichts davon hatte ich für sie gewollt – und egal, wie sehr sie mich verachtete, hoffte ich doch, sie würde nichts verraten und die Aufnahme von Adas und meinem letzten Telefonat niemandem vorspielen. Also hatte ich Mum gegenüber geschwiegen. Und konnte ihr deswegen jetzt nicht die Wahrheit sagen.

»Lyall Toran Henderson«, hörte ich sie jetzt sagen. Wenn sie meinen vollen Namen nannte, meinte sie es auf jeden Fall ernst. »Du wirst nicht wieder eine Ausrede erfinden, um nicht aufzutauchen.«

»Okay, keine Ausrede. Wie wäre es dann damit, dass ich dieses Jahr meinen Abschluss mache und viel zu tun habe? Oder mit dem Ökowahnsinn, für einen einzigen Abend von Chicago nach Edinburgh zu fliegen? Das sind keine Ausreden, sondern Fakten.«

Keine hundert Pferde würden mich zu dieser Eröffnung bringen. Allein schon bei dem Gedanken, Kenzie in Kilmore zu begegnen, befiel mich blanke Panik. Ich wusste, die Chance, dass sie dort sein würde, war gering. Auch wenn sie an dem Projekt mitgearbeitet hatte, wollte sie vermutlich nicht an den Ort zurückkehren, der für sie vor allem mit schlechten Erinnerungen an mich verbunden war. Und ich konnte es kaum riskieren, dass meine Großmutter mich noch mehr auf dem Kieker hatte als sonst. Aber trotzdem musste ich auf Nummer sicher gehen. Obwohl es einen Teil in mir gab, der alles dafür gegeben hätte, sie noch einmal zu sehen, wusste der andere, rationale Part von mir genau: Wenn ich auf Kenzie traf, würde es mich endgültig in meine Einzelteile zerlegen.

»Es tut mir leid, Mum«, sagte ich. »Ich kann nicht.«

Dann legte ich auf.

2

Kenzie

»Du gehst schon?« Ein fragender Blick traf mich. Ein Blick aus schönen blauen Augen, die zu einem hübschen Gesicht mit zerstrubbelten blonden Haaren und einem sehr ansehnlichen Körper gehörten. Dem meines Ex. Und der war heute offenbar anhänglicher als sonst.

»Ja, ich bin mit dem Kochen dran.« Eilig zog ich Shirt und Pullover zusammen über den Kopf – genauso, wie Miles mir beides ausgezogen hatte – und fahndete nach meiner Jeans. Lag die noch im Flur?

»Okay, aber …« Er stützte sich auf seine Ellenbogen und sah mich an. »Wollen wir am Wochenende etwas essen gehen? Vielleicht in London. Du mochtest doch diesen Thai so gerne, draußen in Camden.«

Ich atmete ein. »Ehrlich gesagt … Ich glaube, das ist keine gute Idee. Du weißt doch, wir taugen nicht für eine Beziehung.« Der letzte Versuch war schließlich desaströs gewesen. »Für mich ist es gut so, wie es ist. Aber wenn du anders darüber denkst, sag es einfach. Dann beenden wir das hier.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Quatsch, ich dachte nur, dass du … keine Ahnung. Dass dir das irgendwann nicht mehr reicht, eine schnelle Nummer und dann Ciao.«

Ich lächelte ihn kurz an. »Es reicht mir, okay?« Eigentlich war es genau das, was ich wollte. Mein Hirn abschalten, nichts fühlen müssen, mich auf keinen Fall wieder öffnen. Miles war perfekt für dieses Arrangement. Ich kannte ihn, und auch wenn er ein Idiot war, konnte ich sicher sein, er würde mir nicht das Herz brechen. Denn dazu bedeutete er mir zu wenig. Ganz anders als … Nein. Aus.

»Willst du mir eigentlich irgendwann sagen, was da los war? Im Sommer in Schottland?« Miles setzte sich auf und zog die Stirn kraus. »Du fährst weg, kommst wieder und bist … das hier.« Er deutete auf seine Wohnung, auf sein Bett, und fasste damit alles zusammen, was in der letzten Stunde passiert war. So lief das nämlich seit Monaten zwischen uns. Einer von uns rief an, es gab Sex, wir verabschiedeten uns, fertig. »Ich meine, ich will mich nicht beschweren, es ist toll, aber –«

»Dann beschwer dich doch einfach nicht.« Ich lächelte leicht und war schon halb draußen. »Mach’s gut, Miles.«

Die Wohnungstür lag hinter mir, bevor er antworten konnte, und ich lief eilig die Treppe hinunter, um zum Parkplatz zu gehen. Der alte Fiat meiner Schwester Willa stand in der hintersten Reihe, also zog ich meinen Mantel zu, während ich darauf zu stiefelte. Januar war definitiv mein Hass-Monat. Die behagliche Wärme von Weihnachten war weg, gute Vorsätze hatte ich mir gleich gespart und wurde stattdessen von dem Verdacht verfolgt, dass dieses Jahr kaum besser werden würde als das letzte. Wobei … schlimmer ging ja kaum.

Ich rammte den Schlüssel in das vereiste Schloss, zog die knarzende Tür des Mini-Autos auf und ließ mich auf den Fahrersitz fallen, bevor ich den Wagen anließ. Oder eher, es versuchte – denn er gab nur ein hustendes Röcheln von sich, das schnell wieder erstarb.

»Oh, komm schon, Fozzie Bear, lass mich nicht im Stich«, flehte ich den altersschwachen Fiat an, den Willa so sehr liebte, dass sie sich nicht dazu überreden ließ, ein zuverlässigeres Auto zu fahren. Sie behauptete beharrlich, dass der Wagen mit Benzin und Liebe einwandfrei fuhr. Was wohl der Grund dafür war, warum das Mistding trotz vollem Tank bei mir streikte.

Du weißt aber schon, dass du einen kaum drei Jahre alten Campervan in der Halle deines Vaters stehen hast, oder? Ja, das wusste ich. Nur behauptete ich seit dem Sommer, Loki brauche ein paar Verbesserungen, und fuhr seither alles, nur nicht ihn. Genau genommen hatte ich den Motor nicht mehr angelassen, seit ich den Wagen nach meiner Gewaltfahrt aus Schottland Ende August vor dem Haus abgestellt hatte. Mein Dad hatte ihn ausgeräumt und in die Firma gebracht, wo er in einer Ecke stand und geduldig darauf wartete, dass ich mich wieder hineintraute. Was wohl nie passieren würde. Am besten schenkte ich ihn Willa. Oder ich wartete, bis Eleni alt genug war, um zu fahren.

Fozzie hatte schließlich doch noch ein Einsehen und sprang, nachdem ich auf eine von Willas früheren Anweisungen hin das Armaturenbrett gestreichelt hatte, an. Miles wohnte nicht weit von meinem Elternhaus entfernt, also verbrachte ich die Fahrtzeit in eisiger Kälte, denn die Heizung des Fiat wurde erst nach einer halben Stunde warm – oder manchmal auch gar nicht.

»Ist jemand da?«, rief ich, nachdem ich die Haustür aufgeschlossen hatte und mich noch in Mantel und Schal bibbernd vor den Kamin hockte.

»Nur ich.« Willa kam die Treppe herunter, in Trägertop und Jogginghose. Im Gegensatz zu mir fror sie im Winter so wenig wie im Sommer. »Bist du zurück von deinem Sexdate?«

Ich rümpfte die Nase. »Nenn es nicht so.«

»Wieso nicht? Es ist doch genau das.« Sie stieg die restlichen Stufen hinunter und ging zum Kühlschrank. »Wie findet Miles das eigentlich? Kann er sein Glück kaum fassen?«

»Sozusagen.« Ich verlor kein Wort darüber, dass er mich nach einem Date gefragt hatte, sondern zog meinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Dann wickelte ich mir den Schal vom Hals und schaute ins Wohnzimmer. »Wieso hat Juliet die Weihnachtsdeko denn immer noch nicht abgehängt und auf den Dachboden gebracht? Wir haben Mitte Januar, Herrgott.«

Willa hob die Schultern. »Wir mögen die Lichterketten eben. Sie spenden Wärme in dieser dunklen Zeit.« Sie nickte bedeutungsvoll.

»Ich dachte, diese Ciara spendet dir Wärme«, grinste ich. Willas neueste Eroberung war eine Kollegin von ihr aus dem Kino und erst seit zwei Wochen aktuell.

»Nein, das ist vorbei. Aber ich habe am Samstag was mit Bear ausgemacht. Du weißt schon, der Typ aus dem Fitnessstudio. Hot. As. Hell.« Sie betonte die drei Wörter mit Nachdruck.

Ich lachte auf. »Na, hoffentlich isst er Kohlenhydrate nach 19 Uhr.« Die Bemerkung war unbedacht, aber sie katapultierte mich abrupt zurück in den vergangenen Sommer, als ich eine folgenschwere Entscheidung getroffen und geglaubt hatte, das Richtige zu tun. Nur um kurz darauf zu erfahren, dass alles, was ich geglaubt hatte, falsch gewesen war. Fuck. Wieso war es immer noch so furchtbar, daran zu denken? Es war doch schon fast ein halbes Jahr her.

Ich war aber nicht die Einzige, die daran dachte. Meine Schwester sah mich aufmerksam an. »Hast du eigentlich etwas von … du weißt schon wem gehört?«

»Nein.« Ich wandte mich ab, um das Gemüse für das geplante Abendessen aus dem Kühlschrank zu holen. »Hilfst du mir beim Kochen? Ich wollte Auflauf machen und bräuchte dringend noch zwei Hände und ein Messer.«

Willa wackelte mit den Fingern. »Sie gehören ganz dir. Wenn du meine Frage beantwortest.«

»Hab ich doch. Ich habe nichts von ihm gehört.« Und es tat weh. Natürlich war ich schockiert gewesen, stinksauer und abgrundtief enttäuscht. Aber er hatte nicht einmal versucht, es richtigzustellen.

Hast du das zu ihr gesagt, Lyall?! Hast du es gesagt und danach hat sie sich umgebracht? – Ja.

Das war alles gewesen. Ein schlichtes Ja. Kein Lass es mich erklären, kein Bitte hör mir nur fünf Minuten zu. Ich weiß, dass ich zugehört hätte. Vielleicht hätte es nichts geändert, aber ich hätte es getan. Nur war nichts gekommen. Er hatte nichts mehr gesagt, mich nicht angerufen, mir keine Nachricht geschickt, keine Mail, keine verfluchte Brieftaube. Damit hatte er es bestätigt: dass ich mich in jemanden verliebt hatte, dessen dunkle Seite ich nicht hatte sehen wollen. Und dass es falsch gewesen war, ihm zu vertrauen. Lyall hatte damit nicht nur mein Herz gebrochen. Er hatte mich gebrochen. Und ich hasste ihn dafür. Zumindest meistens.

»Kenz?«, fragte Willa. »Ich weiß, du willst nicht darüber reden, aber bist du sicher, dass du ihn nicht anrufen solltest?« Meine Schwester gab sich immer tough, dennoch war sie empfänglich für die Stimmungen von uns anderen. Sie wusste, da war etwas faul.

Ich hatte meiner Familie nie gesagt, dass Lyall und ich uns in Kilmore wieder versöhnt hatten – und was danach passiert war. Daher glaubten sie immer noch, dass ich das zwischen uns beendet hatte, um ihn zu beschützen. Und dass ich mich deswegen zurückgezogen hatte oder diese Sache mit Miles begonnen hatte. Sie wussten nichts davon, was ich erfahren hatte: dass der Kerl, in den ich mich mit jeder Faser verliebt hatte, für den Tod eines jungen Mädchens mitverantwortlich war – und es mir verschwiegen hatte. Natürlich hätte ich jedes Recht gehabt, es jemandem zu sagen, aber ich wollte nicht zugeben, dass ich mich geirrt hatte. Nicht die schockierten Blicke sehen, wenn meiner Familie bewusst wurde, mit wem ich da zusammen gewesen war.

»So sicher wie nie«, antwortete ich und begann, die Paprika zu waschen. »Er ist kein Thema mehr, Willy. Ich bin einfach nur ein bisschen gestresst von allem. Hier, kannst du die Karotten schälen?« Ich trocknete die Hände ab und schob ihr einen Beutel hin. »Wo ist eigentlich Leni? Sie sollte doch längst zurück sein.« Die Uhr an der Wand zeigte viertel vor sieben.

Willa bearbeitete die Karotten mit dem Sparschäler, als wäre sie König Artus und das Gemüse ein stumpfes Schwert. »Sie ist noch bei Cameron. Seine Mum bringt sie, hat sie vorhin geschrieben.«

Ich lachte bitter auf. »Na, immerhin eine von uns, die in der Lage ist, eine längere Beziehung zu führen.«

»Wenn man vierzehn ist, dann ist das ja auch einfach. Da reicht es, wenn du den Typen süß findest und zusammen Hausaufgaben machen kannst.« Meine Schwester trug die Karottenschalen zum Mülleimer in der Ecke. »Kompliziert wird es erst, wenn … Moment, was ist das denn?« Mit spitzen Fingern zog sie etwas aus dem Abfall und hielt es hoch. Oh nein. Ich habe sie doch extra unter die Kartoffelschalen von gestern gestopft.

»Willy –«, begann ich.

»Eine Einladung?«, fragte meine Schwester mit großen Augen, als sie das schmutzige Schriftstück entzifferte. »Vom Kilmore Grand? Du bekommst eine Einladung von den Hendersons und wirfst sie in den Müll? Bist du komplett bescheuert?«

»Nein, bin ich nicht.« Entschlossen nahm ich ihr das durchgeweichte Papier ab und warf es wieder in den Eimer. »Ich werde da nicht hinfahren.«

Willa verschränkte die Arme. »Aber es ist die Eröffnung. Von dem Neubau, in dem dein Konzept umgesetzt wurde. Bist du nicht gespannt, wie es da aussieht?«

»Natürlich bin ich neugierig. Aber ich will mit dieser Familie nie wieder etwas zu tun haben.« Das Öffnen der Haustür hielt mich davon ab, weiterzusprechen. Eleni kam herein, Camerons und Miles’ Mutter – Melinda – im Schlepptau.

»Danke, dass du sie hergefahren hast«, lächelte ich sie an, nachdem wir uns begrüßt hatten. Ich hatte sie schon immer sehr gemocht – sie zu verlieren, hatte ich nach der Trennung schwerer verkraftet, als Miles nicht mehr zu sehen.

»Ach, für Eleni doch immer gerne. Wir haben es ja nicht so weit.« Sie sah mich an. »Sag mal, Kenzie, ich habe gehört, du und Miles, ihr seid wieder …?«

Ich gab mir Mühe, den Schreck über diese Frage zu verbergen. »Hat er das gesagt?«

»Nein, er hat nur erwähnt, dass ihr euch wieder trefft. Ich bin davon ausgegangen, dass das bedeutet, ihr würdet es noch einmal versuchen.«

Na toll. Wie sagte man der Mutter des Ex, dass man ihn nur sah, um mit ihm zu schlafen und dann fluchtartig das Haus zu verlassen? Willa hätte sicher genau das gemacht, aber ich wollte Elenis Freundschaft zu Cameron nicht gefährden.

»Wer weiß?«, lächelte ich. »Vielleicht wird ja wieder etwas draus. Momentan ist es eher eine lose Sache.«

Sie strahlte. »Das wäre toll, Kenzie, wirklich. Du hast ihm so gutgetan.«

Zum Glück bewahrten mich mein Vater und Juliet davor, ihr eine Antwort geben zu müssen, und nach ein paar Minuten Small Talk verabschiedete sich Melinda und ging. Als ich die Tür hinter ihr schloss und in die Küche zurücklief, tuschelten meine Schwestern miteinander.

»Was?«, fragte ich.

»Kilmore«, antwortete Juliet. »Ist es wahr, dass du nicht hinfahren willst?«

Ich verdrehte die Augen. »Ja, ist es. Danke, Willy, dass du es zu einem Fall für das Plenum machst.«

»Sehr gerne, Schätzchen.« Sie grinste nur. »Hör dir ruhig an, dass niemand versteht, warum du nicht dorthin willst.«

»Ich zumindest nicht.« Juliet runzelte die Stirn. »Ich würde sofort fahren, wenn ich du wäre.«

Eleni nickte. »Ich auch. Es ist bestimmt echt schön dort im Winter.«

»Und die würden dir sicher auf die Schulter klopfen, weil du deine Arbeit gut gemacht hast«, sagte Willa. »Könnte für deine Karriere hilfreich sein.«

Ich holte Luft. »Seid ihr mal auf die Idee gekommen, dass er da sein könnte?«, raunzte ich meine Schwestern an. »Und dass ich ihm nicht begegnen will? Er war an dem Projekt beteiligt, garantiert verlangt seine Familie, dass er zur Eröffnung kommt. Ich bin endlich über ihn hinweg, und ich will nicht, dass ein Treffen das kaputtmacht.«

Eleni sah mich an. »Du sagst nie seinen Namen«, stellte sie fest. »Ist man über jemanden hinweg, wenn man seinen Namen nie sagt?«

»Alles klar, dann nur für dich – ich will Lyall nicht begegnen, okay?« Ich bemühte mich, eiskalt zu wirken, gefestigt, stark. Aber Fakt war, ich hatte seinen Namen nicht mehr ausgesprochen, weil ich Angst davor hatte. Angst vor genau dem Gefühl, das mich jetzt überfiel, vor dem Schmerz, der Trauer über das, was wir hätten sein können. Ein Für immer. Wie lächerlich mir das im Nachhinein vorkam.

Meine Schwestern wechselten einen dieser Blicke, die ich nur zu gut kannte. Ich ignorierte sie und warf die rohen Karotten in die Form. Ich wollte nicht über Lyall reden. Am besten nie mehr.

»Ich werde nicht hinfahren«, sagte ich mit fester Stimme. »Also spart euch die Mühe. Und jetzt häng die Lichterketten ab, Juliet. Kein Mensch braucht diesen Mist noch.«

Sie funkelte mich an, dann stapfte sie hinüber ins Wohnzimmer. »Ich mochte dich lieber, bevor du was mit Lyall angefangen hast«, hörte ich sie murmeln.

Ja, dachte ich. Ich mich auch.

3

Lyall

Missmutig starrte ich auf mein Modell, das auf dem Couchtisch inmitten von Pappschnipseln stand und mir mit jeder Sekunde weniger gefiel. Je länger ich es betrachtete, desto überzeugter war ich, dass ich damit den Kurs niemals bestehen konnte. Es war uninspiriert, langweilig und hatte nichts von dem, was ich rüberbringen wollte. Ich war kurz davor, das ganze Ding in die Ecke zu pfeffern und komplett neu anzufangen. Und das, nachdem ich die halbe Nacht daran gearbeitet hatte. Jetzt war es acht Uhr morgens und ich wusste nicht, wie ich es bis heute um fünf am Nachmittag retten sollte. Denn da war spätestens Abgabe.

Eigentlich war es ein einfaches Thema – wir hatten freie Wahl in Bezug auf das Gebäude, und ich hatte mein absolutes Traumprojekt genommen, ein Hotel in New York, das modern war und sich dennoch perfekt in die Struktur der alten Gebäude der Stadt einfügte. Die Details hatte ich schon seit Jahren im Kopf, aber jetzt bekam ich es ums Verrecken nicht hin, sie auch umzusetzen.

Ein Klingeln an der Tür hielt mich davon ab, dem Modell den Todesstoß zu versetzen. Ich sah hoch und runzelte die Stirn. Wer konnte das denn sein? Es gab nur ein paar Leute, die vom Portier hochgelassen wurden, ohne dass er mich vorher anrief. Also war es entweder Sophia, was ich nach der Abfuhr nicht glaubte, oder aber jemand aus der Familie. Finlay, meine Mum oder …

»Edina«, stellte ich fest, als ich die Tür öffnete.

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Bruderherz.« Sie hielt eine Papiertüte hoch und lächelte. »Ich habe Frühstück dabei.«

»Was machst du hier?«, fragte ich, ohne auf ihre Worte einzugehen. Seit ich erfahren hatte, dass meine Schwester Kenzie im letzten Sommer dazu überredet hatte, sich von mir zu trennen, um mich zu beschützen, war unser Verhältnis alles andere als gut. Zwar war sie an der späteren Katastrophe nicht schuld gewesen, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass mit ihrer Intrige alles angefangen hatte, den Bach runterzugehen. Und obwohl Edina mir fehlte und ich ein seltenes Gefühl der Wärme spürte, weil sie hergekommen war, verzog ich keine Miene.

»Ich wollte dich sehen.« Ihre Schultern sanken ein wenig und sie atmete aus. »Mum hat gesagt, mit dir stimmt was nicht. Und nachdem du schon an deinem Geburtstag niemanden von uns sehen wolltest, dachte ich, jetzt muss ich nach dir schauen.«

Ich ging zur Seite und ließ sie damit in die Wohnung. »Du hättest nicht kommen müssen, mit mir ist alles in Ordnung. Mum übertreibt, wie immer.«

»Du siehst nicht aus, als wäre mit dir alles in Ordnung, Lye.« Der besorgte Ton in der Stimme meiner Schwester ließ mich innehalten. Ich presste die Lippen aufeinander und drehte mich zu ihr um. Edina deutete auf meine Klamotten, und ich ahnte, wie ich auf sie wirkte – in Jogginghose und ausgeleiertem Shirt, dazu barfuß und unrasiert. Natürlich sah ich nicht aus, als wäre ich okay.

»Wenn du vorher angerufen hättest, hätte ich mir was anderes angezogen«, sagte ich nur. Keine Erklärung, dass ich heute Nacht an dem Modell gesessen hatte, weil ich es später an diesem Tag abgeben musste – und deswegen so aussah. Ich musste mich vor ihr nicht rechtfertigen. Ich wollte es auch nicht.

Edina legte die Tüte auf den Tresen meiner offenen Küche und seufzte. »Du weißt, dass es mir leidtut, was ich getan habe, oder?« Wie immer verlor sie keine Zeit mit Small Talk.

»Ja«, antwortete ich. »Schließlich habe ich ungefähr dreihundert Sprachnachrichten auf dem Handy, in denen du mir das mitteilst.«

»Und trotzdem kannst du mir nicht verzeihen?« Sie sah mich bittend an.

Ich ging an ihr vorbei zur Kaffeemaschine. »Ich weiß, wieso du es getan hast. Und ich bin auch nicht sauer, weil du mich beschützen wolltest. Sondern weil du es hinter meinem Rücken gemacht hast, so wie sie es tun würde. Das ist genau Grandmas Stil. Immer schön unbemerkt die Fäden ziehen.«

Edina sank auf einen Küchenhocker. »Ich wusste einfach nicht, wie ich es in deinen sturen Dickschädel kriegen soll, dass du alles riskierst. Ich kenne dich, du hättest dich nicht davon abhalten lassen, mit Kenzie zusammen zu sein.«

Ich funkelte sie wütend an. »Das ist kein Grund, sie dafür zu benutzen, oder? Ihr aufzuladen, mir wehtun zu müssen, obwohl sie …« Ich beendete den Satz nicht, weil ich merkte, dass es sinnlos war. Das mit Kenzie war lange vorbei. Darüber zu reden brachte es nur wieder an die Oberfläche.

»Liegt es daran, dass das mit euch nicht weitergegangen ist?«, fragte Edina fast schon zaghaft. »Weil ich sie darum gebeten habe?« Meine Schwester wusste nichts vom wahren Grund für Kenzies und meine endgültige Trennung. Normalerweise wäre sie mit Finlay die Erste gewesen, der ich davon erzählt hätte. Aber wir hatten ja keinen Kontakt gehabt.

»Nein«, sagte ich ehrlich. »Das war nicht der Grund. Willst du einen Kaffee?« Ich holte zwei Becher aus dem Schrank, weil ich die Antwort auf die Frage kannte.

»Immer«, nickte Edina und wartete, bis ich ihr einen vollen Becher und die Milch aus dem Kühlschrank hinstellte. Zum ersten Mal sah ich sie aufmerksam an und stellte fest, dass ich nicht der Einzige war, der dunkle Schatten unter den Augen hatte. Edina sah müde und traurig aus – außerdem schien sie abgenommen zu haben, denn der blaue Pullover, den sie trug, wirkte zu groß für sie.

»Was ist los mit dir?«, fragte ich und merkte, dass meine Sorge die Wut auf sie zurückdrängte. »Macht dir das Studium zu schaffen?« Sie hatte erst im Herbst in London angefangen – Wirtschaft und Politikwissenschaften. Ich glaubte zwar nicht, dass irgendein Fach zu schwer für meine Schwester war, aber nach dem viel wahrscheinlicheren Grund wollte ich nicht fragen.

»Nein, das Studium ist okay.« Edina nickte, dann traten ihr jedoch Tränen in die Augen und sie kämpfte mit sich, um sie in Schach zu halten.

Sofort war ich bei ihr und zog sie in meine Arme, wie ich es schon mit zehn, mit vierzehn oder achtzehn getan hatte. Und sie lehnte sich an mich, wie sie es schon immer getan hatte, aber sie weinte nicht. Sie atmete nur tief ein und ließ mich nach kurzer Zeit wieder los.

»Geht schon«, murmelte sie und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Heilige Scheiße, Lyall! Auf welche Stufe hast du die Maschine eingestellt?«

»Die höchste.« Anders war mit so wenig Schlaf nicht über die Runden zu kommen.

»Offensichtlich.« Sie griff nach der Milchpackung und füllte ihren Becher damit bis zum Rand. Ich ging derweil zum Sofa und setzte mich hin, wartete darauf, dass Edina mir folgte. Sie faltete ihre langen Beine unter den Körper und schwieg.

»Geht es um Finlay?« So viel dazu, dass ich das Thema nicht hatte ansprechen wollen. »Was hat er jetzt wieder angestellt? Es war doch alles gut mit euch.« Oder so gut, wie es sein konnte. Nach der Entscheidung des Rates hatten sowohl Edina als auch Finlay alles darangesetzt, einander zu vergessen, das wusste ich von ihm. Meine Schwester hatte sogar damit angefangen, in London ein paar Kommilitonen zu daten, das wusste ich von Mum. Und mein Cousin … der fuhr sein übliches Programm – Models, Partys, ein bisschen Studium nebenher. Er hatte mir nicht gesagt, dass etwas vorgefallen war. Aber gut, auch mit ihm hatte ich sicher schon zwei Wochen nicht mehr geredet.

»Ja, war es«, schnaubte Edina, die Finger fest um ihren Becher gelegt. »Bis wir dann zufällig beide an Silvester in New York waren.«

Ich ahnte nichts Gutes. »Was ist passiert?« Ich wusste, wie verletzend beide werden konnten, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten. Und da sie nach Monaten Funkstille aufeinandergetroffen waren, hatten sie bestimmt übel gestritten. »Seid ihr euch an die Gurgel gegangen?«

»Schlimmer.« Sie sah mir in die Augen. »Wir haben miteinander geschlafen.«

Schockiert starrte ich sie an. »Fuck«, stieß ich dann aus.

»Ja, so nennt man das auch«, sagte sie mit einem trockenen Lachen.

»Scheiße, Edie! Wie konntet ihr nur?« Das war die Grenze gewesen, die die beiden nie überschritten hatten. Obwohl sie seit vier Jahren ineinander verliebt waren, hatten sie nie Sex gehabt – weil sie glaubten, dann wäre es unmöglich, sich noch voneinander fernzuhalten. Zu Recht, wenn ich mir meine Schwester so ansah.

»Es war … es war nicht geplant, Lye. Wir haben uns auf einer Party getroffen, sind aber bald verschwunden, durch die Stadt gefahren und irgendwann auf dem Dach des Mandarin Oriental gelandet. Dort haben wir geredet, gelacht, es war so entspannt wie seit Jahren nicht mehr zwischen uns. Aber als zwölf Uhr war, hat sich die Stimmung plötzlich komplett verändert. Fin hat mich geküsst, und ich habe es abgebrochen, weil ich wusste, es endet sonst in einem Desaster. Nur … dann stand ich unten vor dem Hotel und wusste, er ist da oben in der Suite … ich habe es nicht ausgehalten, also bin ich zu ihm. Wir dachten wohl beide, dass es der Schlussstrich sein könnte, den wir nie hingekriegt haben. Dass wir merken, es ist überhaupt nicht so besonders zwischen uns, wie wir es uns immer vorgestellt haben.«

Ich schnaubte, weil das genau nach Finlay klang. »Und? Wie beschissen war die Idee auf einer Skala von 1 bis 10?«

»24 ungefähr.« Edina schaute unglücklich in ihren Becher. »Ich bin früh am Morgen abgehauen und seitdem haben wir nicht mehr geredet.«

»Und wie geht es dir damit?« Ich wusste nicht, warum ich fragte. Ich konnte ihr die Antwort schließlich vom Gesicht ablesen.

Edina lachte auf, weil sie wohl das Gleiche dachte. »Wenn ich gedacht habe, vorher wäre es schlimm gewesen … vergiss es. Ich halte es kaum aus, ihn nicht zu sehen, ihn nicht anzurufen und mit ihm zu reden. Nicht nur, weil wir Sex hatten, sondern weil ich wieder gemerkt habe, wie wichtig er mir ist. Fin ist der Einzige, den ich will, Lye. Ich werde niemals einen anderen so lieben können wie ihn.« Sie holte tief Luft. »Aber ich weiß, dass wir keine Chance haben. Also versuche ich, mich damit abzufinden.«

Es war das alte Lied, und es wurde nicht schöner, nur weil man es immer wieder spielte. Aber noch während ich nach Worten suchte, die nicht klangen, als hätte ich bei einer früheren Aufnahme auf Repeat gedrückt, schüttelte Edina schon den Kopf. »Ich bin deinetwegen hier, nicht weil ich dich vollheulen will.« Sie deutete auf den Papierkorb, aus dem die Einladung ragte wie ein erhobener Zeigefinger. »Du wirst nicht zur Neueröffnung gehen?«

»Nein, ich habe abgesagt.«

»Es ist echt unklug, dich nicht dort blicken zu lassen. Das weißt du, oder?«

»Ja, aber ich kann nicht. Sie … Kenzie ist vielleicht dort, und es ist besser, wenn wir uns nicht begegnen.« Vor allem für mich. Denn wenn ich Glück hatte, war sie längst darüber hinweg. Ich wünschte ihr so sehr, dass es so war. Obwohl sich mein Magen bei dem Gedanken, dass sie mit jemand anderem zusammen war, schmerzhaft verknotete.

»Hast du nie wieder mit ihr gesprochen seitdem?«, fragte Edina.

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?« Meine Schwester verengte die Augen. »Offenbar magst du sie immer noch und Kilmore ist kein Hinderungsgrund mehr.«

»Es liegt nicht an Kilmore, dass ich sie nicht anrufen kann.«

»Woran denn dann? Sie ist bestimmt nicht nachtragend. Ich bin sicher, dass –«

»Sie weiß Bescheid«, unterbrach ich sie. »Kenzie weiß über Ada Bescheid, Edie.« Es gab keinen Grund, meiner Schwester das noch länger zu verheimlichen. »Und deswegen wird sie nie wieder auch nur ein Wort mit mir reden.«

Edina sah mich alarmiert an. »Was weiß sie darüber?«

»Alles.« Ich holte Luft. »Dass sie tot ist, wie sie gestorben ist und was ich damit zu tun hatte.«

»Seit wann schon?«

»Ende August. Sie hat es erfahren, bevor sie abgereist ist.«

»Etwa von dir?«

Ich schüttelte den Kopf und verkniff mir ein Ich wünschte, sie hätte es von mir erfahren. Denn auch dann hätte man das zwischen uns nicht retten können. Wer würde so etwas schon akzeptieren? Jemandem zu sagen, er solle sich umbringen, war unverzeihlich. Völlig egal, was mich dazu gebracht hatte. »Nein, sie hat die Aufnahme von Adas und meinem letzten Gespräch von jemandem bekommen. Wahrscheinlich von Freddie.«

»Meine Güte, Lye!« Jetzt war der Schock Edina ins Gesicht geschrieben. »Und du hast es niemandem gesagt? Du weißt, dass das eine Sache für den Rat wäre.«

»Ja, weiß ich! Aber ich wollte nicht, dass man die Kavallerie auf Kenzie hetzt.« Zum Teil ihretwegen, jedoch auch, weil ich ihr nicht noch demonstrieren wollte, wie meine Familie tickte – und dass sie tatsächlich davon überzeugt war, alles mit Geld kaufen zu können, sogar ihr Schweigen. Kenzie wäre sicher zu stolz gewesen, den Betrag anzunehmen, aber sie hätte gewusst, dass man ihr nicht traute. Dass ich ihr nicht traute.

»Und stattdessen riskierst du, dass man dir das Leben ruiniert? Deine Zukunft?« Meine Schwester sah mich so streng an wie sonst nie. »Kenzie ist echt cool, aber wie konntest du so leichtsinnig sein? Da hätte alles passieren können. Sie hätte es der Presse erzählen können oder –«

Ich unterbrach sie. »Aber das hat sie nicht.«

»Nein. Was bedeutet, dass sie noch viel anständiger ist, als ich dachte.« Edina stieß die Luft aus. »Oder dass es für euch noch eine Chance gibt.«

»Das sicher nicht«, schnaubte ich und es galt mir selbst. »Du warst nicht dabei. Du hast nicht gesehen, wie Kenzie mich angeschaut hat, als hätte sie mich noch nie im Leben gesehen. Ihr ist in dem Moment klar geworden, dass alles, was sie über mich gedacht hat, falsch ist. Wenn sie noch irgendetwas für mich empfindet, dann Hass.«

»Hass ist ein heftiges Wort.«

»Das stimmt. Aber ich habe ihr ins Gesicht gelogen, in einer Situation, als sie mir zu hundert Prozent vertraut hat. Wenn sie mich nicht wegen dem hasst, was ich Ada angetan habe, dann auf jeden Fall deswegen.«

Edina fischte die Einladung aus dem Eimer und strich das Papier auf ihrem Oberschenkel glatt. »Logan meinte, dass im Rat über dich gesprochen wurde, seit du Weihnachten nicht in Kilmore warst. Öfter sogar. Grandma hat durchblicken lassen, dass es Konsequenzen haben wird, wenn du nicht zeigst, dass die Familie wichtig für dich ist.«

So etwas Ähnliches hatte meine Mutter auch gesagt.

Meine Schwester beugte sich vor. »Wir müssen nach vorne sehen, Lyall. Weitermachen, uns auf unsere Ziele konzentrieren. Das Studium abschließen, in den Rat eintreten, Grandmas Entscheidungen sabotieren, die Regeln ändern … und vielleicht ist dann ja noch Zeit für die Weltherrschaft.« Sie grinste.

Ich lachte leise auf, sagte aber nichts.

»Höre ich da ein ›Ich gehe zu der verdammten Eröffnung‹ heraus?«, fragte Edina.

»Ich denke darüber nach, okay?«

»Okay. Dann jetzt dazu.« Sie zeigte auf mein Modell. »Was wird das, wenn es fertig ist? Sieht aus wie eine Mischung aus dem Empire State Building, dem Coldwell House und diesem Pförtnerkabuff auf Grandmas Anwesen.« Sie zog mich nur auf, aber ich schnitt eine Grimasse.

»Es ist mein Untergang«, murrte ich unwillig. »Und null das, was ich wollte, viel zu plump, langweilig und einfallslos. Aber ich muss es heute Nachmittag abliefern, wenn ich eine Chance auf die Punkte haben will.«

»Alles klar.« Edina stand auf. »Dann frühstücken wir jetzt etwas und anschließend retten wir deine Note. Und das ohne Trübsal zu blasen. Deal?«

Ich lächelte, weil ich sie wirklich vermisst hatte.

»Deal.«

4

Kenzie

»Wie geht es Ihnen heute, Miss Stayton?«

»Gut. Ich meine … es war schon besser, aber ich schätze, besser geht es immer.« Ich lächelte schief und strich mit den Händen über die Armlehnen des roten Ledersessels.

»Ja, das ist wohl wahr.« Dr. Hanson lächelte zurück und nahm ihr Klemmbrett in die Hand. »Gab es denn in den letzten zwei Wochen Momente, in denen es Ihnen nicht gut ging?«

Sofort schoss mir die Erinnerung an die Einladung der Hendersons in den Kopf. »Ja. Aber ich habe das überwunden.«

»Und wie? Erzählen Sie mir davon.«

Ich schwieg. Wenn ich ihr das sagte, musste ich über Lyall sprechen – und dagegen sperrte sich etwas in mir.

Die Verhaltenstherapie hatte ich begonnen, zwei Monate nachdem ich aus Kilmore zurückgekehrt war. Nicht wegen Lyall, sondern meinetwegen. Als meine Mutter gestorben war, war meine ganze Familie zu Dr. Hanson gegangen – nur ich nicht. Ich hatte damals allein damit fertigwerden und keine Hilfe annehmen wollen, aber nachdem mich Kilmore in jeder Hinsicht erschüttert hatte, war ich nun doch hier. Vor allem, weil ich nach der Sache mit Lyall das Gefühl hatte, mir selbst nicht mehr trauen zu können. Ich war so sehr davon überzeugt gewesen, es besser zu wissen als ganz Kilmore – und hatte feststellen müssen, dass ich auf meine Menschenkenntnis einen Scheiß geben konnte. Und nachdem ich mich nicht einmal mehr auf die Uni hatte konzentrieren können und meine Familie mich jeden Tag gefragt hatte, was los war, hatte ich entschieden, Hilfe zu suchen. Seit drei Monaten kam ich alle 14 Tage hierher, aber nie hatte ich auch nur ein Wort über Lyall verloren. Es ging nicht um ihn, sagte ich mir immer wieder, sondern um mich. Es gab keinen Grund, über ihn zu sprechen und ihm damit Platz in meinen Gedanken einzuräumen.

»Miss Stayton? Wieso zögern Sie?« Die Therapeutin sah mich aufmerksam an. Sie war von der jung gebliebenen, dynamischen Sorte, ein Faktor, warum ich mich bei ihr wohlfühlte. Ich brauchte niemanden, der mich bemutterte. Sondern jemanden, der mir die Wahrheit sagte und half, mit mir zurechtzukommen. Und wir machten Fortschritte, was das anging. Langsam, aber immerhin.

»Weil … keine Ahnung. Es gibt da diese Einladung nach Kilmore, die ich bekommen habe. Das Hotel dort eröffnet den Neubau, an dessen Konzept ich beteiligt war. Aber ich will nicht hingehen.«

Dr. Hanson schaute von ihren Notizen auf. »Warum möchten Sie nicht hingehen?«

Es wäre leicht gewesen, ihr zu erzählen, dass ich nicht wieder mit dem Tod meiner Mutter konfrontiert werden wollte, mit den alten Geschichten über sie. Dr. Hanson hätte mir gesagt, dass diese Gefühle normal waren, und mir Handwerkszeug gegeben, damit ich in der Situation nicht kopflos wurde. Aber es wäre gelogen gewesen. Natürlich war der Gedanke nicht angenehm, wieder nach Kilmore zurückzukehren. Das hatte jedoch kaum etwas mit Mums Tod zu tun.

Ich zögerte, aber dann entschied ich mich für die Wahrheit. Denn über Lyall zu schweigen war das eine, aber zu lügen etwas ganz anderes. Wenn ich das tat, dann war ich genau wie er.

»Als ich im Sommer in Kilmore war, habe ich jemanden kennengelernt, einen Architekturstudenten, der an dem Projekt mitgearbeitet hat«, begann ich. »Wir haben uns erst nicht besonders gut verstanden, er war ein ziemlich arroganter Idiot, aber mit der Zeit … wir haben gemerkt, dass wir einander mögen. Mehr als das. Er war da, als ich wegen der Bilder meiner Mutter ausgeflippt bin, und er hat mir geholfen, nach London zu kommen, als Eleni den Unfall hatte.« Von diesen Geschehnissen wusste meine Therapeutin, aber Lyall hatte ich dabei grundsätzlich ausgespart. »Ich habe mich in ihn verliebt und dachte, er wäre der Richtige. Dumm, oder?« Ich schnaubte. »Wir kannten uns gerade mal ein paar Wochen, und ich habe geglaubt, es wäre für immer.«

Dr. Hanson hob die Schultern. »Wieso nicht? Es gibt keine Regel, ab wann man glauben darf, jemand wäre der Richtige. Und ich glaube nicht, dass Sie ein Mensch sind, der sein Herz leichtfertig verschenkt.«

»Nein, wohl nicht. Nur, dass ich es dem Falschen geschenkt habe.«

»Warum war er der Falsche?«

Ich schwieg erneut. Es wäre die Gelegenheit gewesen, ihr alles zu erzählen, denn die Sache mit Lyall war eh auf dem Tisch. Nur schaffte ich es nicht, diesen Weg bis zum Ende zu gehen. Und damit zuzugeben, wie sehr ich mich getäuscht hatte.

»Er hat mich angelogen«, sagte ich also nur und sah förmlich vor mir, wie die Chance, an dieser Front weiterzukommen, den Hut nahm und aus der Tür verschwand. »Es ging um eine Ex-Freundin von ihm und er hat mir nicht die Wahrheit gesagt. Daraufhin habe ich mich getrennt und ihn seither nicht wiedergesehen.«

Dr. Hanson nickte. »Ich verstehe«, sagte sie, obwohl sie sicher ahnte, dass mehr dahintersteckte. »Was sind also Ihre Bedenken, wenn es um diese Veranstaltung geht? Was ist das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte, wenn Sie dort hingehen?«

»Dass er da ist«, antwortete ich. Es war die Wahrheit. Ich wusste nicht, was mit mir passierte, wenn ich Lyall wiedersah. »Und dass es alles schlimmer machen würde, sollte ich ihm begegnen.«

»Inwiefern könnte es schlimmer werden?«

Darüber musste ich kurz nachdenken. »Ich glaube, dass ich mittlerweile halbwegs damit zurechtkomme, was geschehen ist. Deswegen hätte ich Angst davor, alte Wunden wieder aufzureißen.«

»Gibt es denn auch Gründe, warum Sie hingehen wollen würden?«

Ich nickte. »Natürlich. Ich bin sehr neugierig darauf, wie das fertige Hotel aussieht und wie viele meiner Ideen hineingeflossen sind. Schließlich ist dieses Projekt das Herzstück meiner Bewerbung für die UAL.«

»Das sind doch sehr wichtige Gründe. Und könnten Sie sich vorstellen, dass es Ihnen auch bei Ihren schmerzhaften Erinnerungen helfen könnte, wenn Sie noch einmal nach Kilmore gehen?«

Jetzt war es an mir, sie fragend anzusehen. »Sie meinen, dieses Gerede von ›Es könnte die Chance sein, damit abzuschließen‹? Daran glaube ich nicht.«

Sie lachte. »Ich auch nicht. Aber es würde Ihnen sicherlich helfen, Ihre Empfindungen besser zu ordnen. Als Sie im letzten Sommer dorthin gefahren sind, kam der Schmerz über den Tod Ihrer Mutter nach oben – und Sie machen gute Fortschritte, damit umzugehen. Vielleicht würde es Ihnen mit dieser enttäuschten Liebe genauso gehen, ganz egal, ob er da sein wird oder nicht. Sie sind eine sehr starke junge Frau, Miss Stayton. Vielleicht merken Sie, dass die Angst vor dieser Situation größer ist als die Bedrohung durch die Situation selbst.«

Ich ließ ihre Worte auf mich wirken. Es war so einfach, sich vor dem Termin zu drücken. Und es war auch Zeit, die ich eigentlich nicht hatte – neben meinem Studium, das ich mir in diesem Trimester vollgepackt hatte, und der Arbeit für meinen Dad durfte ich immer wieder zu Projekten von Olsen mitfahren, um noch eine Referenz für meine Mappe zu sammeln. Offenbar war das schlechte Gewissen des Chefs wegen der Absage meines Praktikums im letzten Jahr groß genug gewesen, um mir das anzubieten. Theodora Henderson hatte ich nie wegen der versprochenen Empfehlung kontaktiert. Ihre Visitenkarte lag unangetastet in meinem Schreibtisch, weil ich sie auch nicht hatte wegwerfen wollen. Aber selbst wenn ihr Sohn vielleicht nicht bei der Eröffnung sein würde, dann sie garantiert. Ich wusste nicht, ob ich ihr begegnen wollte.

»Sie meinen also, ich soll hingehen?«, fragte ich Dr. Hanson.

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, Sie sollten darüber nachdenken, was das Beste für Sie ist – für Sie und Ihr Weiterkommen. Die Entscheidung liegt jedoch bei Ihnen.«

Da hatte sie recht.

Aber das machte es nicht einfacher.

5

Lyall

Diesen kurzen Moment, wenn ein Flugzeug vom Boden abhob, hatte ich noch nie gemocht. Ich hatte immer das Gefühl, als würde mein Körper sich dagegen wehren, sicheren Grund zu verlassen, bis er dann nachgab und sich damit abfand. Als mich die erhöhte Schwerkraft aus den Klauen ließ, atmete ich auf und entspannte mich.

»Wie kommen wir eigentlich zu der Ehre deiner Anwesenheit?«, zog mich mein Cousin Logan auf. »Du bist schließlich der Erste in der Geschichte der Hendersons, der sich erfolgreich vor Weihnachten gedrückt hat. Ich war schon gespannt, was du als Nächstes aus dem Hut zauberst.«

Finlay neben ihm grinste. »Du weißt doch, dass Lye einem Flug im Privatjet nicht widerstehen kann. Dieser ganze Luxus, der Champagner, die Ledersitze … erst, wenn er davon umgeben ist, lebt er richtig auf.«

Ich zeigte ihm mit einem freundlichen Lächeln meinen Mittelfinger, aber er lachte nur. Er hatte schließlich das luxuriöse Transportmittel für uns organisiert. Es gehörte dem Vater irgendeines Freundes, der ohnehin in Edinburgh abgeholt werden musste. Und so hatten wir immerhin auf dem achtstündigen Flug unsere Ruhe.

»Im Ernst«, nahm Logan den Faden wieder auf. »Wieso fliegst du mit? Kilmore ist ja nicht gerade dein bevorzugtes Reiseziel.«

»Nein.« Es kam sogar ganz weit hinten auf der Liste. »Aber Mum und Edina haben mir klargemacht, dass ich entweder auftauche oder Grandma mich durch den Wolf drehen wird.« Außerdem waren es nicht einmal 24 Stunden. Ich würde schon am nächsten Vormittag wieder zurück nach Chicago fliegen.

»Und du meinst, du kommst damit klar? Den Erinnerungen, meine ich.« Finlay kramte in einem der Schränke und holte eine Packung M&Ms heraus. Akribisch sortierte er die braunen in eine kleine Schüssel und schob sie mir über den Tisch.

»Wird schon«, antwortete ich vage, als ich danach griff und meinem besten Freund einen Blick zuwarf. Ich hätte ihn am liebsten direkt nach Edinas Besuch angerufen und gefragt, wieso zur Hölle er mir nichts von New York erzählt hatte, aber ich wollte warten, bis er von allein damit zu mir kam. Mit Logan einen Sitz weiter war das jedoch unwahrscheinlich. Auch wenn die beiden Brüder waren, das Thema Edina hatten sie immer ausgeklammert.

»Hast du in letzter Zeit was von Jamie gehört?«, fragte mich Finlay.

»Ja, wir haben vorgestern telefoniert. Es geht ihm echt gut bei Diane in dem Projekt für ehemalige Süchtige. Offenbar hat er die ganze Truppe schon mit seinen Kochkünsten um den Finger gewickelt.« Auch wenn mein Onkel behauptet hatte, er könne nicht mehr auf dem Niveau kochen wie früher, reichte es für seine Mitbewohner anscheinend aus. »Was gibt es Neues aus dem Rat?« Ich sah Logan an.

»Das Projekt deiner Mutter auf Korfu ist momentan Thema Nummer eins.« Er runzelte die Stirn. »Die Standortanalyse hat ergeben, dass es eigentlich nicht infrage kommt – es liegt zu nah an zwei anderen Hotels in der Bucht, der Privatstrand ist ziemlich schmal und für unser Segment ist Korfu nicht exklusiv genug.«

Ich grinste. »Lass mich raten, sie möchte es genau deswegen machen.«

»Hat sie dir davon erzählt?«

»Nein, aber sie will seit Ewigkeiten etwas anderes aufziehen – Hotels, die auch für normale Leute erschwinglich sind.« In ihrem Inneren war Mum eigentlich ein kleiner Hippie und wollte nach Jahren, in denen sie ihre Kreativität in immer neue Luxushotels investiert hatte, vermutlich mal ihr eigenes Ding machen.

»Der Rat war dagegen«, sagte Logan mit einem Augenrollen. »Ich habe dafür gestimmt, aber Fiona, Moira, Mum und Grandma natürlich nicht.«

Ich schnaubte. Natürlich. Es durfte bloß keiner aus der Reihe tanzen, sonst wurde er standrechtlich erschossen.

»Grandma hat mich außerdem gefragt, wann ich mir endlich eine Frau suchen will.« Logan griff sich in seine rotblonden Haare, wie immer, wenn ihn etwas beschäftigte.

»Verdammt, im Ernst?«, fluchte Finlay und sah seinen Bruder an. »Was hast du ihr daraufhin gesagt?«

»Was schon? Dass es niemanden gibt momentan.« Er senkte den Blick wieder. Logan war trotz seiner Henderson-Gene im Gegensatz zu uns anderen schrecklich schüchtern, wenn es um Frauen ging, und deswegen in größter Gefahr, dass man ihm irgendein passendes Mädchen vor die Nase setzte. Jeder von uns wusste, was das bedeutete – dass es nicht zählen würde, ob er sie mochte, sondern nur, ob sie gut für die Firma war. Und auch wenn uns diese Vorgehensweise gegen den Strich ging, hatten wir keine andere Lösung, als auf Zeit zu spielen. Um die Strategie, die wir seit Jahren verfolgten – den Rat zu übernehmen und Grandma damit die Macht über Familie und Unternehmen zu entziehen – irgendwann umsetzen zu können und uns von den Regeln zu befreien.

»Und was willst du jetzt machen?«, fragte ich.

Logan hob die Schultern. »Erst mal gar nichts. Ich bin 24, ich schätze, ein paar Jahre kann ich mich noch rausreden. Und bis dahin haben wir ja vielleicht schon etwas geregelt.«

»Tut mir leid, Mann«, sagte ich. »Das alles.« Wie oft musste ich das eigentlich noch sagen, bis wir endlich einen Weg fanden, selbst über uns bestimmen zu dürfen – ohne dass die Familie uns den Rücken kehrte?

»Muss es nicht.« Logan lächelte schief. »Auch wenn sie bald mit ein paar Kandidatinnen anrückt, kriege ich das schon hin. Und alles andere ist nur eine Frage der Zeit.«

Finlay sah aus dem Fenster und schien die Wolkendecke plötzlich sehr interessant zu finden, aber ich wusste, was er dachte: Ja, für euch vielleicht. Es dauerte jedoch wie immer nur ein paar Sekunden, dann riss er sich aus seiner Starre, machte einen blöden Scherz über Grandma und war wieder ganz der Alte. Die nächste Stunde verbrachten wir damit, die schlimmsten Situationen mit dem Familienoberhaupt Revue passieren zu lassen, danach guckten wir einen Film und schließlich zog Finlay seinen Laptop hervor.

»Schauen wir doch mal, wer uns alles beehrt.« Er hatte die Gästeliste geöffnet. »Oho, das ist ja eine illustre Runde. Sogar das Königshaus gibt sich die Ehre, wenn auch nur in Form von Prinzessin Eugenie.« Er las weitere Namen vor, von denen mir gerade mal die Hälfte bekannt vorkam. Aber dann wurde er plötzlich blass und sah schnell zu mir, bevor er den Blick wieder auf den Bildschirm heftete.

»Was?«, fragte ich, weil ich ahnte: Das hatte nichts Gutes zu bedeuten.

Er schwieg und schien die richtigen Worte zu suchen.

»Fin, komm schon, sag es einfach.«

Mein Cousin drehte den Laptop um, sodass ich auf den Bildschirm sehen konnte. Eine Zeile in der Excel-Liste war markiert und ich las den Namen, der dort stand.

Kenzie Stayton.

Ein Fluch lag mir auf der Zunge, aber ich sprach ihn nicht aus. Stattdessen presste ich die Lippen aufeinander und atmete tief ein. Als ich die Luft wieder ausstieß, schüttelte ich den Kopf.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie kommen würde«, sagte ich leise. Im Gegenteil, ich hatte mir in den letzten Tagen eingeredet, sie würde nie wieder einen Fuß nach Kilmore setzen. Aber Kenzie war kein Feigling. Sicher hatte sie gut darüber nachgedacht und dann entschieden, sich nicht von der Vergangenheit mit mir davon abhalten zu lassen, das Ergebnis ihrer Arbeit zu sehen. Nur – hätte sie nicht zu einem anderen Zeitpunkt vorbeikommen können? Musste es ausgerechnet die Eröffnung sein?

Finlay drehte den Computer wieder zu sich und klappte den Deckel herunter.

»Brauchst du einen Drink, Alter?«, erkundigte er sich mitfühlend.

Ich rieb mir über die Augen. »Viele Drinks. Aber eher heute Abend.«

»Okay, dann haben wir einen Plan«, sagte Logan. Er wusste nichts davon, was wirklich passiert war, aber er kannte die Story, die ich auch meiner Mutter erzählt hatte. »Wir füllen dich ab und nach einer Stunde musst du dann leider in deine Gemächer, weil du nicht mehr stehen kannst.«

»Tolle Idee«, nickte ich sarkastisch. »Das wird Grandma sicher noch besser finden als meine Abwesenheit an Weihnachten.«

»Dann finden wir eine andere Möglichkeit, damit du Kenzie nicht begegnest«, versprach Finlay.

»Vergiss es. Egal, wie viele Leute da sind, wir werden uns begegnen. Die Frage ist nur, wie das ausgeht.« Es war jetzt fünf Monate her. Fünf Monate – und ich dachte jeden Tag an Kenzie. Wie würde das sein, wenn ich sie nun wiedersah?

»Betrachte es positiv.« Finlay legte den Kopf schief und holte Luft, aber als ihm bewusst zu werden schien, dass Logan neben ihm saß, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Sie hat zu niemandem etwas gesagt, oder? Wahrscheinlich hat sie dich zu den Akten gelegt und ist mit dem Thema längst durch.«

Ja, aber ich bin es nicht, dachte ich. Ich war nicht über sie hinweg, das merkte ich in diesem Augenblick nur zu deutlich. Da war die vertraute Mischung aus Schuld, Verachtung für mich selbst und großer Sehnsucht. Ich hatte mich nie so gefühlt wie mit Kenzie, so glücklich, so zuversichtlich, so vollkommen. Und ich hatte daran geglaubt, dass wir es schaffen würden. Wie dämlich von mir. Ada war ein tiefschwarzer Fleck auf meiner Seele, der sich nicht entfernen ließ. Es war dumm gewesen, zu denken, Kenzie würde ihn nicht früher oder später entdecken.

»Ja, vielleicht«, sagte ich nur.

Aber ob ich darauf hoffen sollte, wusste ich nicht.

Kilmore war natürlich auch im Winter ganz das verdammt idyllische Kaff, das es im Sommer war – zwar mit Eiseskälte und kahlen Bäumen, dafür aber jeder Menge mysteriösem Charme. Wir waren am Nachmittag im Grand angekommen, und ich hatte erleichtert bemerkt, dass man mir diesmal eines der Gästezimmer in Moiras Haus zugedacht hatte, gemeinsam mit Finlay. Es gab eine erstaunlich entspannte Tea Time ohne unangenehme Fragen – was sicher daran lag, dass Grandma noch nicht da war und Moira alle vier Minuten angerufen wurde, weil irgendein Lieferant sie im Neubau sehen wollte – und nicht einmal Fiona fiel durch ihre nervtötende Art auf. Zumindest nicht, solange die anderen dabei waren. Erst am Abend meldete sie sich zu Wort.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst«, sagte sie in diesem speziellen Fiona-Tonfall, als ich im Anzug in die Eingangshalle von Moiras Haus trat und feststellen musste, dass meine Cousins wohl schon vorgegangen waren. Unzufrieden zerrte ich an dem Krawattenknoten herum, bis er richtig saß. Immerhin war heute keine schottische Tracht angesagt. Meinen Kilt hatte ich vor meiner Abreise im Sommer entsorgt. Nicht nur wegen des Blutes.